Modellgeschichte ist
Kulturgeschichte
Eine Chronik von Modellgebrauch und
Modellbegriff
A chronicle of model use - a chronicle of model concept
Ein Literaturbericht
zusammengestellt März 2001
August/ September 2008: Präzisierung und Erweiterung der Geschichte der Wörter „modulus“ (lat.) und „modello“ (it.)
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Literatur
Siehe auch die ca. 30seitige Kurzfassung:
Modellgeschichte ist Kulturgeschichte
Ferner die ca. 30seitige englische Kurzfassung:
The Concept of Model and its Triple History
Stark erweiterte englische Version:
Model history is culture history
Abbildungen
Chronologie der Modellverwendung und -herstellung
Wortgeschichte von "modell", "model", "modèle", "modul(e)", "moule", "mould"
500-1500 Denkmodelle und Verhaltensanweisungen
„Ebenen“ von Modellen in Mathematik und Naturwissenschaften
Inhalt (ca. 100 Textseiten)
Was sind Modelle?
Eine Warnung: Begriffsgeschichte ist
nicht gleich Sachgeschichte
Vom Bewusstsein, dass wir Modelle
verwenden
Wortgeschichte von "modell", "model",
"modèle", "modul(e)", "moule", "mould"
Model und Modelle in Mittelalter und
Renaissance
Erste Bild- und Modelltheorien
Das Wort "modello"
Die Arbeit mit Modellen
Ab 1542: Modell im Französischen,
Deutschen und Englischen
Das
Schöpferische im Menschen: Modellieren im
Kopf
Die Konkurrenten des Modellbegriffs
1550-1750: Die "Mechanisierung des
Weltbildes"
Ab 1600: Der Gebrauch von Modellen in
Wissenschaft und Unterricht
19. Jahrhundert: Realität,
Anschauung und Theorie in Mathematik und Naturwissenschaften
1800-1916: Auseinandersetzung mit dem
symbolischen Erfassen, mit Bildern und Vorstellungen, Zeichen und
Fiktionen, Nachbildungen und Scheinbildern
Die Frage nach der Realität
Atomvorstellungen im 20. Jahrhundert
1. Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Bildhaftes Denken und Problemlösungen
1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Fast Funkstille für Modelle
2. Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Explosion der Modell-Literatur
Modelle werden entwickelt und
diskutiert
Seit 1960: Erneut Forschungen über
Imagery, Analogien und Metaphern
1960-2004: Verwirrender Gebrauch von „Repräsentation“
Fazit für die Modellbetrachtung
Modellgeschichte ist Kulturgeschichte
Die Beschäftigung mit Modellen ist
die farbigste Art, Kulturgeschichte zu betreiben. Die Schaffung und
Verwendung von Modellen gehört zu den elementaren
Beschäftigungen des Menschen.
Sogar die neueste Physik ist
kulturgeschichtlich, man denke nur daran, dass Begriff und Idee
"Atom" etwa 2500 Jahre alt sind oder dass der Begriff "Quark" (im
sog. "Standardmodell") dem Roman "Finnegans Wake" von James Joyce
entlehnt ist.
Die Geschichte des Modellbegriffs in der
westlichen Welt ist ebenfalls 2500 Jahre lang.
Ebenfalls zu beachten: Die
Beschäftigung mit "Modell" ist gleichzeitig eine
Entdeckungsreise in das geheimnisvolle und verwirrende Reich der
menschlichen Sprache.
Was sind Modelle?
Definition und Funktion von Modellen
Folgende Definition ist knapp und
präzis und deckt fast alle möglichen Fälle ab:
"Modelle sind vereinfachte Ausschnitte
der Wirklichkeit oder Möglichkeit."
Modelle sind je nach Blickwinkel entweder
Vorbild, Abbild, Entwurf oder Ersatz, aber auch Urbild, Muster und
Form, Mass, Typ und Exemplar.
Die meisten Modelle sind materielle,
grafische oder geistige Hilfsmittel zur Erreichung eines
Zieles. Solche Ziele können sein: Spielen oder Bewegen,
Regulieren oder Testen, Gestalten und Formen, Planen und
Entscheiden, Registrieren, Verdeutlichen und Vermitteln von
Kenntnissen, Erklären von Sachverhalten, Ermitteln und
Überprüfen von Hypothesen.
Eine schöne Formulierung hat Holm
Tetens 1986 gefunden, wenn er fragt: "Modelle in der Physik. Ars
inveniendi für Strategien der technischen Verfügung
über die Natur?"
Seit 1993 spricht man auch von "Models as Mediators" (Mary S. Morgan, Margaret
Morrison 1999, 36, 168-196).
Modelle werden vielfach spielerisch - in
der Wissenschaft: heuristisch (Herman Meyer 1951) oder
gnoseologisch (Viktor A. Stoff 1969, 10, 323-328) - gebraucht, sie
dienen dem Schaffen und Ausprobieren von Möglichkeiten und dem
Erkennen durch Ausprobieren.
Viktor A. Stoff (1969, 32) definiert
daher: "Unter einem Modell wird ein ideell vorgestelltes oder
materiell realisiertes System verstanden, das das Forschungsobjekt
widerspiegelt oder reproduziert und es so zu vertreten mag, dass
uns sein Studium neue Informationen über dieses Objekt
vermittelt."
Müssen Modelle bildhaft sein?
Modelle leben vom Drang nach
Bildhaftigkeit: Es sind in vielen Fällen Versuche,
Sachverhalte möglichst
anschaulich (Friedrich Kaulbach 1958;
Viktor A. Stoff 1969, 10, 41-45, 279-328; Brigitte Falkenburg
1999), einfach und verständlich darzustellen.
Bedauerlicherweise enthalten die meisten
Bücher über Modelle keine Abbildungen.
Dabei sind selbst die abstraktesten
heutigen Modelle - sei es das Harrod-Domar-Modell in der
Ökonometrie (1952) oder das "Honnefer Modell" der
Studienförderung in Deutschland (1957), seien es die
Weltmodelle der 1970er Jahre (Christian Lutz 1983) oder das "Entity
Relationship Model" in der Informatik (Peter Pin-Shan Chen 1977) -
immer noch Versuche, Nicht-Sichtbares, z. B. wirtschaftliche
Vorgänge oder Lagerströme, Verknüpfungen von Daten
oder Elektronenflüsse sichtbar darzustellen, und zwar zum
Verständnis der Sache, zum Brauchen, nicht als
Selbstzweck.
Auseinandersetzungen um Modelle werden
rasch emotional, egal, ob es um die Sache Modell allgemein oder um
spezifische Inhalte geht. Die Gründe dafür werden durch
die nachfolgenden Erläuterungen klar.
Eine Warnung: Begriffsgeschichte ist
nicht gleich Sachgeschichte
Wir müssen von mehrerem
ausgehen:
1.
Die Geschichte eines Begriffs und die Geschichte
der damit bezeichneten Sachen sind zweierlei.
Gewiss haben schon die Frühmenschen
und die Höhlenbewohner Modelle gebaut, erzeugt und verwendet,
aber wir wissen nicht, wie sie das nannten. Desgleichen die
frühen Hochkulturen und alle Völker des Altertums und des
frühen Mittelalters. Immerhin können wir bei den alten
Griechen und Römer für die verschiedenen Arten von
Modellen vielerlei Bezeichnungen ausfindig machen.
Der Modellbegriff in den modernen
Sprachen ("modell", "model", "modèle", "modul(e)",
"moule", "mould") hat sich erst seit dem Jahr 1000 n. Chr. in
mehreren Schritten herausgebildet.
2.
Die Geschichte der Sachen selbst ist gar nicht
leicht festzustellen.
Es kommt einerseits auf die
Reichhaltigkeit und Qualität des archäologischen oder
archivalischen Materials an, anderseits auf die Darstellung und
Deutung desselben. Gerade bei den Höhlenbewohnern und den
ersten Hochkulturen ändert sich diese Deutung laufend.
Da gibt es ein breites Spektrum von
begründeten Hypothesen bis zu den wildesten Spekulationen.
Etwas bösartig kann man dies als "wissenschaftliche Folklore"
(André Leroi-Gourhan 1981, 85 u. 165) bezeichnen.
3.
Man müsste ernst nehmen, ob der
Autor selber von einem Modell spricht oder nicht.
Rückblickend können wir alle
Auffassungen, "Philosophien", "Systeme" oder "Theorien" als
"Modelle" bezeichnen. Doch weder Ptolemäus noch Kopernikus,
weder Galilei noch Newton, weder Darwin noch Marx, usw. haben ihre
Weltdeutungen oder -entwürfe als "Modelle" bezeichnet.
Einer der wenigen, die sich dessen
bewusst sind, ist der holländische Ökonomieprofessor
Geert Reuten, der 1999 das "Kapital" von Marx analysierte. Er
bekennt: "Marx does not use the term model; he uses the term
'schema'. Without necessarily implying that these notions are the
same generally, I will use the terms interchangeably in this
chapter. The reason is, as I will argue, that Marx's schema may be
conceived of as a model in the modern economic sense"
(1999, 199).
4.
Es gibt viele andere "eigenständig"
gebrauchte Begriffe, die dem Begriff "Modell" die Bedeutung oder
Teile der Bedeutung streitig machen.
Dazu gehören etwa: Darstellung und
Repräsentation, Abstraktion oder Konkretion, Vorstellung oder
Idealisierung, Illustration, Versinnlichung oder Anschauung,
Schema, Gestalt und Konfiguration, Bild, Symbol, Zeichen und Ikon,
Metapher und Allegorie, Beispiel und Analogie, Fiktion und Vision,
Konzept und Plan, usw.
Beliebt sind auch Prototyp und
Archetypus, Paradigma und Exemplar.
Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch seit
etwa 1600 sind es System und Hypothese, Theorie, Philosophie,
Traktat und Prinzipien, Doktrin und Lehrgebäude, Gesetz,
Regel, Formel, usw.
Zu vielen dieser Begriffe bieten das
"Reallexikon Antike und Christentum" (Theodor Klauser 1941-1960),
das "Archiv für Begriffsgeschichte" (Erich Rothacker et al.
1955ff) und das "Historische Wörterbuch der Philosophie"
(Joachim Ritter et al. 1971-1998) reichhaltig Auskunft.
Funk & Wagnalls' "New International
Dictionary of the English Language" (1987) gibt für das
Englische folgende Synonyme: archetype, copy, design, ectype,
example, facsimile, image, imitation, mold, original, pattern,
prototype, replica, representation, type; dazu: idea. ideal.
Noch mehr Synonyme für das Substantiv "model" hat "Collins English Dictionary and Thesaurus" (1993), nämlich:
1. copy, dummy, facsimile, image, imitation, miniature, mock-up, replica, representation
2. archetype, design, epitome, example, exemplar, gauge, ideal, lodestar, mould, norm, original, par, paradigm, paragon, pattern, prototype, standard, type
3. poser, sitter, subject
4. mannequin
5. configuration, design, form, kind, mark, mode, stamp, style, type variety, version
Synonyme für "mould" sind hier:
1. cast, die, form, matrix, pattern, shape, stamp
2.brand, build, configuration, construction, cut, design, fashion, form, format, frame, kind, line, make, pattern, shape, stamp, structure, style
3. calibre, character, ilk, kidney, kind, nature, quality, sort, stamp, type.
5.
Die Sprache lebt im Gebrauch.
Daher wäre es wünschenswert,
dem realen Sprachgebrauch der wissenschaftlichen Forschern und
ihren Alltagsaktivitäten empirisch, d. h. durch Beobachtung
und Befragung, nachzugehen.
Solches geschieht seit etwa 1975.
Pioniere waren Harry M. Collins, bekannt durch seine
"Golem"-Bücher (1991, 1993) und Bruno Latour, bekannt durch
seine "Pandora"-Essays (1999). Eine vergleichende Übersicht
bietet Karin Knorr-Cetina (1999).
Einen lebhaften Bericht, wie in der
Debatte über zwei theoretische Modelle der Quantentheorie das
eine "siegte", gibt Andrew Pickering in "Constructing Quarks"
(1984).
Ähnliches berichtet Peter Louis
Galison (1997). Noch mehr auf das Bildhafte in der Wissenschaft
ausgerichtet ist der monumentale Sammelband, den er zusammen mit
Caroline A. Jones (1998) herausgegeben hat. Der Modelbegriff kommt
darin allerdings erstaunlicherweise nicht vor.
Einen anderen Ansatz verfolgt mit Hilfe
der kognitiven Psychologie Nancy J. Nersessian (1992, 1993).
Wöchentliche Labor-Meetings von Molekularbiologen und
Immunologen untersuchte Kevin Dunbar (1995, 1997, 1999).
Wie die Molekularbiologie entstand, erarbeitete in Interviews mit über hundert Beteiligten, darunter Max Perutz und Francis Crick, in zehn Jahren Horace Freeland Judson (1979): "Doing Physics" beleuchten Martin H.
Krieger (1992) und Jed Z. Buchwald (1995).
6.
Manche Theoretiker verwenden den Begriff
"Modell" gedankenlos.
Vielfach verwenden Autoren den Begriff
"Modell" so, dass man sich fragt, ob sie sich überhaupt
Rechenschaft über seine Bedeutung abgelegt haben, z. B.
·
Martin Frank: Ein automatentheoretisches Modellkonzept für ein
fachgebietsbezogenes Simulationssystem zur Untersuchung diskreter
technologischer Prozesse. 1979.
·
Jianchi Wie: Modellgesteuerte Szenen-Interpretation durch Fusion
von Intensitäts- und Abstandsbildern. Diss. Univ. Karlsruhe
1989.
·
Xiao-Yi Jiang: Ein modellbasiertes Erkennungssystem
dreidimensionaler Objekte basierend auf Baumsuche und
EGI-Vergleich. Diss. Univ. Bern 1990.
·
Heike Köpke, Hermann Schmidt, Gudrum Schmidt-Naake: Modellverbindungen für reversible Vernetzung. Technische Universität Dresden 1993.
·
Jürgen Becker, Ralf Hartmann, Jörg Hubrich: Das Modell
des standortgerechten Kompostes. Universität Bremen 1995.
·
Antje Korsten: Modelling the modelling language. Manchester:
University of Manchester 1995.
·
Sabine Georg: Modell und Zitat. Mythos und Mythisches in der
deutschsprachigen Literatur der 80er Jahre. Diss. Univ. Hannover
1995; Aachen: Shaker 1996.
·
Raymund Werle, Christa Lang (Ed.): Modell Internet? Frankfurt:
Campus 1997.
·
Daniel Frey: Kleine Geschichte der deutschen Lyrik. Mit
liebeslyrischen Modellen. München: Fink 1998.
·
Jörg Friedrich, Dierk Kasper (Ed.): Modelle einer rationalen
Architektur. Sulgen: Niggli 1998.
· Uwe
Saint-Mont: Kontexte als Modelle der Welt. Subjektive Erkenntnis-
und Wissenschaftstheorie. Berlin: Duncker & Humblot 2000.
Mehrere Autoren haben den Titel gewählt: „Model(l)ing Nature“, z. B. Sharon E. Kingsland (1985), Richard J. Gaylord und Kazume Nishidate (1996), William A. Wallace (1996) und Margaret C. Morrison (1998).
7.
Zur Definition eines Begriffs werden meist
zahlreiche andere "grosse" Begriffe gebraucht, die ihrerseits
genauso definitionsbedürftig sind.
Zum Beispiel: "'Modell' heisst in der
Logik ein System aus Bereichen und Begriffen, insofern es die
Axiome einer passend formulierten Theorie erfüllt."
Oder: "Modell <ital.> das,
Muster, Vorbild; Nachbildung oder Entwurf von Gegenständen
(vergrössert, verkleinert, in natürlicher Grösse).
Modell können ausser wirklichen Gegenständen auch
gedankliche Konstruktionen sein."
8.
Noch schwieriger wird die Lage, wenn
man zwei geschichts- und bedeutungsschwere Wörter
kombiniert.
Das ergibt etwa
·
"Modellvorstellungen" (Carl Friedrich von Weizsäcker 1938;
Carsten Bresch 1950; Hans Haalck 1952; Heinrich Dietz 1961 und
viele andere)
·
"Vorstellungsmodelle" (Hans Thomae 1961)
·
"learning models" (S. Karlin 1953; Patrick Suppes, Richard C.
Atkinson 1960)
·
"self-organizing models" (B. G. Farley 1960) oder sogar
·
"Analogiemodelle" (Hermann Lienhard 1971; Jörg Bernet 1973;
Jürgen Golde 1976; Wifried Fiedler 1978; Albert Mülln
1984).
Ausserordentlich beliebt sind
·
"System Models" (Robert Chin 1962), im Deutschen ab Mitte der 60er
Jahre "Systemmodelle" (z. B. Heinz Ries 1969; Franz Xaver Bea 1979;
Matthäus Schobesberger 1986; Manfred Schneider 1993) und
·
"Modellsysteme" (z. B. Karl Netter 1953; Hannelore Fischer, Joachim
Piehler 1974; Manfred Pils 1976).
Noch extremer sind die Titel von John
Peter van Gigch: "System Design Modeling and Metamodeling" (1991),
Romuald I. Zalewski: "Similarity Models" (1991), Peter F. E.
Sloane: "Modellversuchsforschung" (1992) und H. Paul Williams:
"Model Solving" (1993).
Seit 1985 ist in Physik und Kosmologie
häufig vom "Standardmodell" die Rede (z. B. Herbert Steger 1985;
Reinhard Breuer 1993).
9.
Dieselben Objekte oder Sachverhalte
werden in jeder Sprache anders bezeichnet.
Schleiermacher sprach von der
"Irrationalität der Sprache" und meinte damit den Umstand,
dass Begriffe der einen Sprache (z. B. gr. phantasia) nicht ihre
genauen Entsprechungen in den anderen Sprachen haben (z. B. lat.
imago; scholast. imaginatio; engl.: idea; frz. idée; dt.:
Einbildung, Vorstellung, aber auch Phantasie, Imagination).
10.
Es gibt bisher weder eine umfassende
Erkenntnistheorie noch eine differenzierte Ontologie der
Modelle.
Die meisten Gelehrten im 20. Jahrhundert
hatten nur die Abbild-Relation des Modells im Visier. Einer der
ersten, der dafür die
dreistellige Relation
Subjekt-Modell-Original herausgearbeitet hat, war Klaus-Dieter Wüstneck (1963). Georg Klaus übernahm sie 1967 in sein
"Wörterbuch der Kybernetik".
Dabei wurde seit 1542 "Modell" nicht nur
für Entwürfe und Muster aller Art
verwendet, sondern auch für geistige Sachverhalte wie die
Reformation oder die Weltbilder von Ptolemäus und Kopernikus.
Nicht nur nebenbei, sondern ganz bewusst wurde das Wort im Sinne
von Vorbild gebraucht, Abhandlungen und Utopien
wurden "Modell" genannt, man sprach von Modellen für
Lebens-, Staats- und Regierungsformen und im Deutschen von
"Modellen von Schuhen und Kleidern".
Das Malermodell und andere Modelle
in Kunst und Handwerk werden von der Wissenschaft gerne völlig
ignoriert. Eine Ausnahme ist Bernd Mahr (2008), der auch kompliziertere Modellrelationen als Wüstneck vorschlägt.
Eine weiter Frage geht nach der
Realität, die "hinter" dem Modell steckt. Und umgekehrt: Was
ist die Realität des Modells selbst? Gedanke oder Idee,
Hypothese oder Idealisierung? Im Deutschen spricht man häufig
von "Vergegenständlichung" (Hypostasierung) und
"Objektivität", "Vorstellung" (imaginatio) und "Einbildung"
(phantasia).
Im kommunistischen Machbereich sprach man
oft von "Widerspiegelung der Wirklichkeit" (Viktor A. Stoff
1969).
Interessante Beiträge zu solchen
Fragen bringen u. a.: Peter Achinstein (1968), Rom Harré
(1970), May Brodbeck (1972), Bernard d'Espagnat (1979), Bas C. van
Fraassen (1980), Ronald Nelson Giere (1985), Michael A. Arbib,
Mary Brenda Hesse (1986), Rom Harré, Michael Krausz (1986),
Frederick Suppe (1989), Werner Diederich (1989), Jerrold L.
Aronson, Rom Harré, Eileen Cornell Way (1994), George A.
Cowan, David Pines, David Meltzer (1999), Wolfgang Eichhorn
(2000).
Vom Bewusstsein, dass wir Modelle verwenden
Modellgeschichte in Kurzform
In äusserster Kürze kann man
die Modellgeschichte wie folgt darstellen:
ab 2,5 Mio. v. Chr.
Schaffung und Verwendung von realen und mentalen Modellen
(Werkzeugherstellung, Essensbeschaffung, Behausung, Sozialleben, ab
1,5 Mio. v. Chr. Feuerunterhalt; ab 500 000 v. Chr. Kalender,
Sprache, Kannibalismus, Kult)
30 000 v.
Chr.
"creative explosion" (Kunst, Skizzen, Waffen, Schmuck,
Instrumente)
ab 6000 v.
Chr. viele gut
erhaltene Modelle in Osteuropa, später Ägypten und Sumer
(Haus- und Tempelmodelle, Kultschreine, Töpfereien,
Siegelstempel, Kupferguss)
ab 3000 v.
Chr. Mythen,
Grundrisse, Spielsachen, Gärten, Prozessionen mit Modellen
ab 750 v.
Chr.
schriftliche Zeugnisse über Modellgebrauch (Bibel, Griechen,
Römer)
ab 540 v.
Chr.
Ansätze zu Reflexion auf Modellbildung (Xenophanes,
Platon)
ab
1000
fünffache Entwicklung des Begriffs "modulus"
ab
1092
erste Reflexionen auf Modellbildung (Nominalismus; Hugo; Grosseteste; Scotus, Ockham;
Kues)
ab
1355
Herausbildung des Modellbegriffs beim Dombau zu Florenz
ab
1450/60
Modellmethode (Alberti, Filarete)
ab
1542
Modellbegriff im Französischen, Deutschen und Englischen
ab
1840
Anschaulichkeit und Analogien in den Naturwissenschaften
ab
1942
Reflexion auf das Modelldenken.
Theologische und wissenschaftliche Eiferer
Von "falschen Vorstellungen" sprachen in
16. und 17. Jahrhundert manche Theologen. Die Katholiken (z. B.
Giacomo Moronessa 1555) bezichtigten die Reformierten der
Häresie, die Puritaner (William Perkins 1607, John Sheffield
1659, John Owsen 1682) umgekehrt die Anhänger des Papstes.
Eine andere Art von Reflexion finden wir
zu Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft bei Francis Bacon in
seiner Idolenlehre (1620), der Lehre von den falschen Vorstellungen
oder Begriffen, die sich die Menschen machen. Er unterschied
insbesondere "vier Arten von Vorurteilsgötzen, die im Besitze
des menschlichen Gemüts sind", nämlich kollektive und
individuelle "Abirrungen", öffentliche Meinung und Tradition
(Reinhard Gammel 1983; Edmund Siegl 1983).
Das Bewusstsein verläuft in Schüben
19. Jahrhundert: Erste Studien zu
Induktion, Zeichen und Symbolen, Fiktionen und Bildern
Es empfiehlt sich, zu Fragen der
Modellbildung und -verwendung vier Gruppen von Forschern und
Theoretikern zu beachten:
· den
Cambridge-Philosophen William Whewell (1840), den
amerikanischen Naturwissenschafter und Philosophen Charles Sanders
Peirce (1868-1903), den deutschen Philosophen Hans Vaihinger (1911)
und den russischen Physiker Nikolai Alekseevich Umov
· die
ursprünglich von der Medizin herkommenden Inspiratoren der
modernen Psychologie Rudolf Hermann Lotze (1952),
Gustav Theodor Fechner (1860; 1882), Wilhelm Wundt (1862; 1874) und
Hermann von Helmholtz (1865; 1867; 1921) mit ihren Theorien der
Raumwahrnehmung. Dazu kommen die eigenständigen Aussenseiter:
der schottische Philosoph Alexander Bain (1855; 1859), die
Engländer Herbert Spencer (1855) und Sir Francis Galton (1883)
sowie der amerikanische Mediziner James Rush (1865)
· den
bekannten irischen Physiker John Tyndall (1870) und die
französischen Wissenschafter Ernest Royer (1867),
Joseph-Florentin Bonnel (1890) und Charles-Ernest Adam (1890) zur
Imagination in der Wissenschaft
· die
beiden österreichischen Physiker Ernst Mach (1883,
1902, 1905) und Ludwig Boltzmann (1892, 1902; 1905, 1909), den
deutschen Physiker Heinrich Hertz (1894) und den französischen
Physiker Henri Poincaré (1902, 1906, 1908).
1900-1932: Rolle und Bedeutung von
mechanischen Modellen
Die meisten Wissenschaftsphilosophen
beschränken sich beim Rückblick auf den Modellgebrauch in
der Wissenschaft auf die unterschiedlichen Auffassungen von Pierre
Duhem (1906) und Norman Robert Campbell (1920).
Dabei wäre von Josef Clemens Kreibig
(1909), Paul Volkmann (1910), Moritz Schlick (1918), Alfred North
Whitehead (1919; 1920; 1926), Ludwig Wittgenstein (1921), Charlie
Dunbar Broad (1923), Ernst Cassirer (1923; 1950), Henry Jackson
Watt (1925), Edwin Arthur Burtt (1925), Percy William Bridgman
(1927), Joshua Craven Gregory (1927), Hermann Weyl (1927), Charles William Morris (1927; 1938;
1946), Hugo Dingler (1928; 1938; 1951), Herbert Feigl (1929), Aloys
Wenzl (1929; 1935; 1954), Hans Reichenbach (1931; 1938; 1944),
Philipp Frank (1932; 1946; 1949) und Cyril Edwin Mitchinson Joad
(1932) noch einiges zum Thema beizubringen.
Etwas später kommen Abram Cornelius
Benjamin (1936; 1937), Lizzie Susan Stebbing (1937; 1941) und
William Heriot Watson (1938; 1963).
(Weitere Literatur gegen Ende dieses
Artikels im Kapitel: Und was ist die "Realität"?)
1933-36: Logischer Empirismus
Der Logische Empirismus (Alfred Tarski;
Rudolf Carnap; Morris Raphael Cohen und Ernest Nagel) hat Modelle
zunächst nur als Randphänomene der Wissenschaft
wahrgenommen. Dabei werden Theorien syntaktisch als
uninterpretierte Kalküle oder Axiomensysteme
rekonstruiert.
1942-50: Entdeckung der Modelle
Die gegenwärtige Reflexion auf das
Modelldenken und die Verwendung von Modellen lag fast
ausschliesslich in den Händen von Amerikanern und Briten sowie
einigen wenigen Deutschen.
Sie setzt mit dem deutschen Physiker
Jürg Johannesson (1942) und dem schottischen
Experimentalpsychologen Kenneth James William Craik (1943) ein. Zu
Craik heisst es in einem Bericht über mentale Modelle: "The
idea that people rely on mental models can be traced back to
Kenneth Craik's suggestion in 1943 that the mind constructs
'small-scale models' of reality that it uses to anticipate
events."
Es folgte ein gemeinsam verfasster
Aufsatz des mexikanischen Physiologen Arturo Rosenblueth und des
amerikanischen Mathematikers Norbert Wiener (1945) sowie ein Buch
des in Budapest wirkenden Arztes Anton Fischer (1947).
Ebenfalls bereits 1945 machte sich der Amerikaner Albert Gailord Hart Gedanken über „Model-Building“ und Steuerpolitik, und der Engländer Arthur Percy Rollett reflektierte über mathematische Modelle und Konstruktionen.
1953 schilderte der gebürtige Litauer Gregor Sebba die Konstruktion von theoretischen Modellen seit den Alten Griechen in der Physik und seit Adam Smith in der Ökonomie.
In den fünf Jahren 1945-1949 erschienen bereits über 80 Publikationen (Artikel und Bücher), in deren Titel das Wort „Modell“ vorkam.
Die Bewegung war so heftig, dass der
Wiener Physiker Erwin Schrödinger schon 1951 in seinem
Büchlein "Naturwissenschaft und Humanismus" auf fünf
Seiten die "Natur unseres 'Modells'" schilderte.
Wortgeschichte von
"modell", "model", "modèle", "modul(e)", "moule",
"mould"
(Abb.
1)
siehe:
Nachschlagewerke für Begriffsgeschichte
Im Deutschen wie in allen andern
europäischen Sprachen müssen Modell, Model und Modul,
resp. "model" und "modèle, "module", moule" und "mould" aus
sprachlicher wie historischer Sicht gemeinsam betrachtet
werden (Randle Cotgrave 1611; Jacob und Wilhelm Grimm 1885;
Godefroy 1888, 1902; Walther von Wartburg 1966; Roland Müller
1980, 1983, 1997).
Besonders schön zeigt sich die
Vielfalt der Schreibweisen im Englischen. Im "Oxford English
Dictionary" (1933) lesen wir folgende Formen für Modell:
"modill, moddell, moddel, modell, modle, modull, modil, modelle,
model".
Ähnlich lesen wir in
Zedlers
"Universallexicon" (1739): "Modell, Modele, Modello, Modulus,
Typus, Exemplar, ein Modell, Vorbild, Abdruck, Form, Muster,
Leisten, Richtschnur, oder Vorschrifft, darnach man etwas machet,
heisset überhaupt eine jedwede cörperliche Abbildung
eines Dinges ins kleine ..."
Festzuhalten ist, dass im Englischen rund
zweihundert Jahre (bis ca. 1750) besonders auch die Schreibweise
"modell" (also mit zwei l) verwendet wurde. Umgekehrt wurde in der
deutschen Sprache bis gegen 1800 noch "Model" (also mit einem l) z.
B. für Malermodell und Architekturmodell gebraucht.
In den Begriffen Modell, Model und Modul,
resp. "model" und "modèle, "module", moule" und "mould", wie
sie sich seit dem Jahr 1000 herausbildeten, verflechten sich
fünf Bedeutungsfelder.
Fünf Bedeutungsfelder
Das erste Bedeutungsfeld geht auf
das griechische Wort "metron" (Massstab, Mass, Grenze) und
das lateinische "modus" (resp. in der Verkleinerungsform:
"modulus") zurück. Die Grundbedeutung ist Mass in einer
doppelten Bedeutung, als Einheit (Inhalt) und als Messinstrument
(Massstab).
Das zweite Bedeutungsfeld geht auf das
griechische Wort "typos" (Form, Skulptur, Gussform,
Geformtes) zurück, lateinisch "forma" (Figur, Gussform,
Abdruck), aber nicht: typus.
"Typus" wird bis heute gebraucht,
unter anderem als Prägeform, geprägte Form und
Ausprägung sowie als" Type" (gegossener Metall- oder
Druckbuchstaben, dt. "Letter", frz. "modèles des
caractères"; engl.: printing types oder letter-forms).
Das dritte Bedeutungsfeld geht auf das
griechische Wort "paradeigma", lateinisch "exemplar"
zurück und wurde gebraucht für kleinmassstäbliche
Darstellungen von Bauten, Schiffe und Maschinen, aber auch für
das (meist männliche) Malermodell.
Die Verwendung von Architekturmodellen
ist seit Herodot (450 v. Chr.) belegt. Teilmodelle - aus Wachs
bossierte Rosetten und Blattschmuck - sind für die Decke des
bald darauf erbauten Erechtheions auf der Akropolis belegt. Wie
damals auch Bauausschreibungen und Wettbewerbe mit der Einreichung
von Plänen wie Modellen aller Art durchgeführt wurden,
beschreibt Otto Benndorf (1902), ferner dass "Modelle von
Städten, Festungen, Schiffen und Belagerungsmaschinen" auf
Wagen oder Bahren bei römischen Triumphzügen
vorgeführt wurden
Freilich wurde das Wort auch abstrakt
gebraucht. Aristoteles kritisiert in seiner "Metaphysik" (991a21)
die Platonische Ideenlehre: "Wenn man aber sagt, die Ideen seinen
Vorbilder/Musterbilder (paradeigmata) und das Andere nehme an ihnen
teil, so sind das leere Worte und poetische Metaphern" (vgl. auch
1013a27).
Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S.
Kuhn hat in den 50er Jahren das Wort Paradigma wieder
hervorgekramt, allerdings in einer Spezialbedeutung, etwa im Sinne
von "herrschender Meinung"; die Kulturanthropologen sprechen von
"belief system". (Kuhn "glaubt" von den Paradigmata, "dass sie
allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen sind, die
für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten
Modelle und Lösungen liefern" 1973, 11)
Im Deutschen gibt es bis heute die
Wendungen "ein Exempel statuieren", "die Probe aufs Exempel
machen", "ein Belegexemplar erhalten" und "ein seltenes/besonders
schönes Exemplar".
Das vierte Bedeutungsfeld ist am
vielfältigsten. Es geht auf die philosophisch schwer
befrachteten griechischen Ausdrücke "idea" und
"eidos" (Gestalt, Form, Idee, Urbild, Bild),
"eidolon" (Abbild, Trugbild) und "eikon" (Bild)
zurück. Im lateinischen werden dafür "imago" und
"effigies" (Bild, Vorbild, Abbild, Vorstellung) verwendet
(Lexikon der Kunst 1987-94).
Auch lat. "species" gehört in
seiner Bedeutungsfülle (Aussehen, Bild, Schein, Idee,
Musterbild, Art) hierher, desgleichen "simulacrum" (Abbild,
Muster, Puppe, Schatten-, Traum-, Trugbild, Charakterbild).
Das fünfte Bedeutungsfeld betrifft
plastische Darstellungen. Das gr. Verb "keroplasteo" (aus
oder in Bienenwachs formen") kommt je einmal bei Hippokrates und
Eubulus Comicus (um 400 v. Chr.) vor. In Platons Dialog "Timaios"
schafft Gott den Körper des Menschen wie eine
"Wachsmodellierer" ("keroplastes"). In den anakreontischen
Schriften heisst dieser Beruf "kerotechnes". Die geformten Objekte
haben aber keinen speziellen Namen.
Erst im Zuge der Wiederentdeckung des
Griechischen am Ende der Aufklärung kam das Wort in die neuen
Sprachen, ca. 1770 ins Italienische als "ceroplàstica" (vgl.
La ceropastica 1977), kurz nach 1800 ins Englische als
"ceroplastic", ins Französische als "céroplastique" und
ins Deutsche (eventuell viel später) als "Zeroplastik".
Philon, der Mechaniker (um 200 v. Chr.)
braucht einmal das gr. Verb "proplasso" im Sinne von
"formen"; gr. "proplasma" kommt erst in der Römerzeit
einmal bei Cicero als "roher Entwurf" und einmal bei Plinius als
"Tonmodell für eine Skulptur" vor.
Für alle Arten von "Wachsbildern"
brauchten die Römer häufig "cera" (Julius von
Schlosser 1911; Reinhard Büll, Ernst Moser 1974; Charlotte
Angeletti 1980; Lexikon der Kunst 1987-94). Mit Wachs-Abgüssen
(effigies) von Köpfen Verstorbener betrieben sie einen
regelrechten Totenpomp.
Goethe berichtet in "Wilhelm Meisters
Wanderjahren" (3. Buch, 3. Kap., 1829) über die Anfertigung
plastischer Modelle in der Anatomie und schuf für deren
Hersteller den Kunstbegriff "Proplastiker".
Die dreifache Entwicklung des Begriffs
"modulus"
Ausgangspunkt für die genaue
Betrachtung des Modellbegriffs ist das lateinische Wort
"modulus". Es wurde dreimal in die europäischen
Sprachen aufgenommen (Walther von Wartburg, 1966):
·
zuerst vom 11.-14. Jahrhundert für Muster, Vorlage und
Gussform als "Modul" und "Model" ins Deutschen, als "modle", "molle",
"mole" und "moule" ins Französische, als "mòdano" ins
Italienische und als "mould" ins Englische.
· in
einem zweiten Anlauf im Sinne des Vitruvschen Masses
über das italienische "mòdulo" (13. Jh.) um die Mitte
des 16. Jahrhunderts als "module" ins Französische und
Englische
· und
schliesslich für Architekturmodell und Figur über
das italienische "modello" (1355) ebenfalls um die Mitte des 16.
Jahrhunderts als "modelle" oder "modèle" ins
Französische, als "Modell" ins Deutsche und als "model" oder
"modell" ins Englische.
Die indogrmanische Wurzel med-: Mass und messen
Das lateinische Wort „modulus“ ist die Verkleinerungsform von „modus“. Beide Wörter haben dieselbe Grundbedeutung: Mass, Massstab (Lewis, Short, 1879; von Wartburg, 1966, pp. 18-19). Das lateinische Wort „modus“ geht zurück auf die
indogermanische Wurzel
med-, die ebenfalls Mass und Messen bedeutet (Julius Pokorny, 1949; William Morris, 1969; Joseph Twadell Shipley, 1984; Calvert Watkins, 1985).
In unmittelbarer Nähe von “modulus” und “modus” finden wir gemäss der indogermanischen Wurzel die folgenden Wörter:
-
im Lateinischen: meditor, modestus, moderare, modius (Julius Pokorny, 1949)
modicus, meditari, meditatum; medicina; etc. (Joseph Twadell Shipley, 1984)
-
im Englischen: modal, mode, model, modern, modicum, modify, modulate, module, modulus, mold, mood, moulage; accomodate, commode, commodious, commodity (William Morris, 1969).
40 v. Chr.-1750: "Modulus" (lat.):
Mass, Rhythmus, Figur, erst ab 1450: kleine Nachbildung
„Modulus“ wurde im alten Rom selten gebraucht. Es taucht kurz nach 40 v. Chr. bei
Horaz und
Varro auf. Horaz hat neben „modulus“ als Mass und Massstab bereits mehrere Bedeutungen im Bereich der Musik: den „modulator“ (Musiker) und das Verb „modulor“ (musizieren, intonieren).
Bisher nicht beachtet wurde, dass schon vorher
Cicero (55- 44 v. Chr.) und Vergil (in der 5. und 10. Ekloge; 42 und 39 v. Chr.) „modulor“ in Abwandlungen verwendet haben, und zwar im Bereich der Musik wie Rhetorik.
In Varros „De re rustica“ kommt „modulus“ nur zweimal vor, und zwar in der Bedeutung „Regel“ und „Grenze“.
Der bekannte Architekt
Vitruv verwendet „modulus“ in seinen „Zehn Büchern über die Baukunst“ (ca. 23 v. Chr.) an unzähligen Stellen, meist als architektonisches Grundmass, nämlich den halbe Säulendurchmesser. Aber er verwendet auch die Variante modulatio“, und zwar einerseits für die Säulenordung (z. B. die Dorische Methode) oder Proportion (Liber 5, Caput 9, 2-3), aber auch für Tonfall oder Melodie in der Musik (z. B. Liber 5, Caput 4).
Für Modelle in der doppelten Bedeutung von Vorbild und Abbild verwendet er „exemplar“ -
siehe: Vitruv über Modelle (exemplaria).
In der ersten Übersetzung ins Italienische durch Cesare Cesariano 1521 werden “exemplar” und “exemplum“ überall durch “exemplario” oder “exemplo” übersetzt. Erst die nächste vollständige Übersetzung von Daniele Barbaro 1556 hat für “exemplar” in Absatz 5 von Kapitel 16 des 10. Buches: “modello”.
Die französische Übersetzung von Jan Martin 1547 hat analog “exemplaire” und “exemple”, in Liber X, Caput 16: “modelle”. Die deutsche Übersetzung von Rivius (1548) hat „Muster oder Model“ (sieh weiter unten).
In Charlton T. Lewis, Charles Short „A Latin Dictionary“ (1879) finden wir:
modulus, i, m. dim. [modus], a small measure, a measure.
I. Lit.
2. In archit., a module
3. In aqueducts, a watermeter
4. Rhythmical measure, rhythm, music, time, metre, mode, melody
II. Trop.
Im "Thesaurus Linguae Latinae" (Vol VIII.2, ca. 1970)
werden für "modulus" folgende Bedeutungen mit unzähligen Belegstellen angegeben:
I.
mensura
A. de quantitate, quae mensuratur
1. pertinet ad corporea
a) de numero
b) de amplitudine spatiorum
c) de pondere
2. pertinet ad incorporea
a) usu generali
b) sensu diminutivo
B. de mensura, qua metimur
1. generatim
a) pertinet ad hominum vitam
moresque
b) pertinet ad liquores
c) pertinet ad
incorporea
2. speciatim (i. q.
forma, exemplum)
II.
ratio ac via, species
A. rerum
B. hominum
Tibull (ca. 20 v. Chr.),
Plinius (77 n. Chr.),
Gellius (um 150) und
Apuleius (um 170) brauchten „modulor“ resp. „modulatus“ und „modulus“ für Töne in der Rhetorik und Musik, z. B. für Rhythmus und Wohlklang. Plinius und Gellius gebrauchten „modulus“ zusätzlich im Bereich der Medizin für den Puls (“arteriarum pulsus … in modulos certos”).
Horaz prägte die Formel: „metiri se quemquem suo modulo ac pede“ („sich halten nach seinem Mass und Vermögen“; Thesaurus Eruditionis, 1572; „sich nach seinem Mass messen, d. i. mit seinem Stande zufrieden sein“, Karl Ernst Georges), Apuleius steuerte die Wendung „pro modulo meo“ („nach meinen Kräften“) bei. Der homo "moduli bipedalis“ (Horaz) wird im Deutschen als „zweifüssiges Wichtlein“ (J. H. Voss), „Duodezmännchen“ (Karl Ernst Georges) oder „Dreikäsehoch“ bezeichnet.
In seinen zehn Büchern über die Wasserversorgung Roms verwendete der Politiker und Schriftsteller
Sextus Julius Frontinus ums Jahr 100 den Begriff „modulus“ rund 30 Mal als Masseinheit. „Moduli“ sind standardisierte Wasserrohre, die es in 25 Grössen gibt.
Der Kirchenvater
Tertullian (um 200) braucht das Wort mindestens in sieben Schriften und in unterschiedlicher Bedeutung. Unter anderem weitet die Bedeutung von „modulus“ auf die kleine Figur aus, welche Bildhauern als Vorlage für eine grössere Skulptur dient („inde circino et plumbeis modulis praeparatio simulacri, in marmor, in lutum uel aes uel argentum, uel quodcumque placuit deum fieri, transmigratura“; NAT. I, 12, 9).
Später wird „modulus“ auch von Ausonius (um 350), Ambrosius (vor 400), Augustinus (um 400), Paulus von Nola (um 400) und Fulgentius (um 500) mehrfach verwendet.
Nachher wird „modulus“ nur noch selten gebraucht, aber immerhin bis etwa 1750, als Latein aufhörte als Gelehrtensprache zu dienen.
Der englische Gelehrte Francis Bacon schrieb sein “Novum Organon” (1620) in Latein, ebenso Leibniz seine “Ars inveniendi” (1669) und seinen “Atlas universalis” (1678),
siehe weiter unten.
Einige Gelehrte, beispielsweite Mathematiker wie Carl Friedrich Gauss, schrieben noch 100 Jahre weiter lateinisch, und die katholische Kirche verwendete Latein noch im Vatikanischen Konzil 1962-65.
Zu beachten ist: Bis ganz am Ende des Mittelalters wurde das
lateinische Wort „modulus“ nie für kleinmassstäbliche Abbildungen, Architekturmodelle oder Malermodelle verwendet wurde – wenigstens soweit wir über schriftliche Quellen verfügen (siehe:
Du Cange, 1885; Franz Blatt, 1969; Ronald Edward Latham, 2001). Wer lateinisch schrieb, brauchte dafür stets wie die Alten Römer „exemplum“ (seit Plautus, um 200 v. Chr.) oder „exemplar“ (seit Lukrez und Cicero, um 50 v. Chr.).
Diese Wörter wurden überhaupt für fast alle Objekte in den Bedeutungsbereichen Vorbild und Abbild gebraucht (was wir heute „Modell“ nennen) -
siehe: Paul Lehmann, Johannes Stroux, 2007.
Erst seit 1450 - seit Albertis „De re aedificatoria“ - wird „modulus“ für verkleinerte Abbildungen von realen Objekten gebraucht. Ein prominenter Vertreter ist über 200 Jahre später noch Leibniz. Unmittelbar anschliessend an die Beschreibung der Vorzüge einer Herstellung von "Modulis" für den Festungsbau erwähnt er 1669 in seiner Skizze zur "Ars inveniendi" die in seiner Zeit verbreiteten Modellsammlungen: "de Theatro Naturae et Artis seu de Modulis rerum ipsarum conservatoriis" (G. W. Leibniz 1903, 163).
Wenig später schlägt er in seinem dem "Orbis pictus" nachempfundenen Entwurf eines "Atlas universalis" als Abteilung der Objekte, die den "oculis subjici possunt", vor: "Mechanica, ubi omnis generis Machinae et moduli" (223). Zur gleichen Zeit preist er auch im Detail die Verfertigung von "modulis ligneis (aut cereis)" zur Förderung der Imagination (596f.).
1. Schritt: Aus "modulus" wird dt.
"Model"/ "Modul", frz. "modle"/ "molle"/ "mole"/ "moule", engl. "mould", it.
"mòdano"
Unter dem Stichwort "Model"
behauptet das Grimmsche Wörterbuch ohne Belege, dieses
frühe hochdeutsche Lehnwort aus dem Lateinischen sei
wahrscheinlich zuerst in der Sprache der geistlichen Baumeister
verwendet worden. "Sie lernten das Wort von den namentlich unter
Karl dem Grossen ins Land gezogenen römischen und
südfranzösischen Werkleuten, denen modulus ein
Mass für die Anlegung der Säulen und des
Verhältnisses der einzelnen Teile derselben zueinander war, in
welchem Sinne es auch der späteren Baukunst verblieben ist,
hier wie bei jenen auf Grund Vitruvscher Vorschriften."
Eine der ersten Verwendungen von „Modul“ als Regel findet sich bei Notker Labeo
(um 1000):
“si conditionalis est (syllogismus),
ubi sunt formule eius,
uuâr sint sîniu modul?“
Schon ab1000 ist "Model" - zusammen mit
"Modul" - auch in freierem Gebrauch, einerseits
abstrakt als Regel, Muster, Form, Vorbild, anderseits als gewerbliche Musterform
für Dinge wie Zugnetze und Ziegel, später
Schriftstücke (z. B. Verträge), Gewebe und Stickereien.
Auch die Druckformen für den Zeugdruck und allerlei Hohlformen
für Gusswaren und Gebäcke wurden bald Model genannt.
Zwei schöne Belegstellen gibt es im Minnesang (um 1200):
„nach rehtem model ein zimberman sol mit siten howen, sus
kann uns diu maze leren“
und
„grozer übermuot, daz er dem edeln schöpfer sin
wolte an wirde gar gelichez model schone tragen“.
Ganz ähnlich im Französischen
"modle" (vor 1100), "molle" (1165), "mole" - z. B. bei Villard de Honnecourt 1235 als
Schablone zum Behauen der Steine - und "moule" (ab 1260; sonst: patron) und
im Englischen "mould" (sonst: pattern).
Interessanterweise wurde "mould" im
Englischen zuerst im abstrakten Sinne gebraucht, als "distinctive
nature as indicative of origin" (1225), erst hundert Jahre später wurde es konkret im
Sinne einer Gussform ("pattern", 1320) verwendet. Genauso interessant ist, dass sowohl die Hohlform als auch das geformte Objekt (z. B. Käse, Pudding) bis heute als „mould“ bezeichnet werden.
Das italienische "mòdano" taucht
im 13. Jahrhundert als Instrument für die Sternmessung auf;
erst im 16. Jh. wird es als Mass, Modell und Gussform (für
letzteres eher: stampo) verwendet. Seit 1563 wird auch „modanatura“ für "profilatura" oder „elemento decorativo architettonico“ gebraucht.
Die dazugehörigen Verben sind im Deutschen „modeln“ (seit dem Minnesang), im Englischen „mold“ oder „mould“ und im Französischen „mouler“.
"Moulding" finden wir im Englischen seit 1327, als Ornament oder geformte Leiste in der Architektur seit 1448, als ziselierte Schnitzerei auf Holz oder Metall seit 1679.
„Mollage“ auf Französisch gibt es seit 1415 (droit des mouleurs du bois), „moulage“ seit 1680 (terme de potier), auf Englisch seit 1886, auf Deutsch vermutlich seit etwa 1850.
2. Schritt: Aus "modulus" wird it.
"mòdulo", frz. und engl. "module"
"Mòdulo" kommt im Sinne des
Vitruvschen Säulenmasses schon im 13. Jahrhundert im
Italienischen vor. "Module" erscheint im Französischen
1547, im Englischen 1583 (oder 1586) und wird z. B. im Englischen nicht nur
für "Mass" (measure), "Masseinheit" (standard) verwendet,
sondern auch für Entwurf (design), Architekturmodell, Abbild,
Vorbild.
Im strengen Sinn als "Mass" hat sich
Modul durch die ganze Neuzeit gehalten, ähnlich in der
Physik als Proportionalitätsfaktor bei
Verformungseigenschaften (Elastizität: seit Hooke, 1660/78;
Young, 1807), in der Technik (bei Zahnrädern) und in der
Mathematik, z. B. bei Logarithmen - seit Roger Cotes (1722, lateinisch) resp. Abraham de Moivre (1756) im
Englischen "modulus" -, Kongruenzen, Abelsche Gruppen, usw.
Zum Thema Moduln und Ringe verzeichnet
die Deutsche Bibliothek in Frankfurt von 1960-2000 über 150
deutsche Publikationen. Ein gutes Handbuch stammt von Robert
Wisbauer (1988). Günter Geisler schrieb eine Dissertation:
"Zur Modelltheorie von Moduln" (1994).
Der berühmte Schweizer Architekt Le
Corbusier (1950) entwickelte in den Jahren 1942-48 den "Modulor",
ein architektonisches Grundmass, basierend auf einem 1,83 Meter
grossen Menschen.
Die Verwendung von "module" für eine
standardisierte Baueinheit taucht erst 1946 im Englischen auf; sie
hat sich von da rasch in die anderen Sprachen ausgedehnt. Dazu
Pierre Bussat (1963), György Kepes (1966), Bernhard Bilger
(1992) und "Module und Segmente" (1995).
3. Schritt: Aus „modulatio“ wird it. „modulazione“, frz. und engl. „modulation“
Vitruv verwendete auch eine Variation von “modulus”: “modulatio” für die Säulenordnungen, aber auch für „rhythmisches Mass“.
Im Italienischen taucht „modulazione“ vor 1342 auf und zwar im Sinn von „parlare, cantare, suonare armoniosamente; variazione regolata“. Das dazugehörige Verb heisst „modulare“ (seit vor 1492).
„Modulation“ gibt es im Französischen seit 1365 und im Englischen seit 1398. Die Bedeutungen sind „changement d’intensité dans l’émission de la voix“ und „chant d’allégresse, harmonie“ resp. „the action of singing or making music“. Später wurde die Bedeutung ausgeweitet auf: etwas formen nach Mass und Proportion.
Die dazugehörigen Verben sind „moduler“ (1458) und „moduliser“ (1508) im Französischen, „modulate“ (1557 oder 1567) wie auch „modulize“ (1605 oder 1656) im Englischen.
Im Deutschen erscheint „Modulation“ 1571 für „Akkordfolge, Übergang einer Tonart in eine andere“. Das Verb „modulieren“ taucht zur selben Zeit auf.
Der Gebrauch der englischen Wörter „modulate“ und „modulation“ bei der Nachrichtenübermittlung beginnt 1908. Die Wörter werden rasch auch in den anderen Sprachen verwendet.
4. Schritt: Das lateinische „modulus“ wird direkt aufgenommen
In die englische Sprache wurde modulus“ zuerst als Vitruvsches Mass aufgenommen (1563). Rund 150 Jahre später führte Robert Cotes „modulus“ als terminus technicus in die englische Mathematik ein – allerdings in einem lateinischen Text. Ins Englische wurde „modulus“ erst um 1800 aufgenommen. Gebraucht wird das Wort bis heute in
mehreren unterschiedlichen Bedeutungen in Mathematik und Physik.
In die deutsche Mathematik führte „modulus“ Carl Friedrich Gauss in seinen lateinisch geschriebenen „Disquisitiones arithmeticae“ (1801) ein. In deutschen Texten verwendete erstmals 1847 der Mathematiker Eduard Heine „Modulus“. Der Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Gauss in Göttingen, Peter Gustav Lejeune-Dirichlet, benützte in seinen posthum herausgegebenen „Vorlesungen zur Zahlentheorie“ (1863) gleichermassen „Modulus“ wie „Modul“.
Das Wort „modulo“ findet sich im Deutschen z. B. bei Ernst Eduard Kummer (1847); es wurde später auch im Französischen und Englischen (1887) verwendet.
Model und Modelle in Mittelalter und
Renaissance
0-1200: Bauen nach Modellen und Ideen,
aber ohne Zeichnungen?
Über die Bemühungen der
Baumeister und Künstler seit Vitruv bis etwa 1200 sind wir
nur unzureichend informiert. Was anhand von Quellen rekonstruierbar
ist, findet sich umfassend und hervorragend dargestellt bei Martin
Warnke (1976) und Günther Binding (1993).
Bischof Gregor von Nyssa (380 n. Chr.)
berichtet in einer Osterpredigt über kleine Wachsmodelle
("holigo cero") für ganze Gebäude; daran sind auch
Skulpturformen angedeutet. Beim Bau der Klosterkirche von
Saint-Germain in Auxerre (9. Jh.) verfertigen die mit der
Ausführung betrauten Künstler zuerst ein Modell aus Wachs
("concepti operis exemplar conficitur...caeris brevibus").
Um 830 sandte der Baumeister Einhard
seinem Sohn ein Verzeichnis dunkler technischer Ausdrücke
Vitruvs, die dieser sich an einem Kästchen "mit elfenbeinernen
Säulen, nach Art der Werke der Alten", welches Abt Eigil
verfertigen liess, erklären lassen solle.
Architekturzeichnungen sind erst für
die Gotik erhalten (ab 1230: Reims, Siena, Villard de Honnecourt).
Eine soziologische Erklärung dafür gibt Martin Warnke
(1976, 138):
"Den Plan 'im Kopf' zu haben, bedeutet die
Verfügungsgewalt über den ganzen Baubetrieb innezuhaben.
Die Schriftquellen gehen alle von einer persönlichen
Präsenz des Baumeisters am Bau aus. Ein detaillierter Bauriss
aber könnte einen Baumeister wenigstens zeitweise entbehrlich
gemacht haben."
Im allgemeinen berief sich der Architekt
auf göttliche Eingebung (durch Vision oder Traum) oder
archetypische Vorstellungen. "In mente conceptum" hiess eine
stehende Formel.
Eine erste Modelltheorie dazu stellte kurz vor
1228 Robert Grosseteste, Lehrer von Roger Bacon und Kanzler an der
Universität Oxford, Bischof von Lincoln, in einem Brief an
Magister Adam Rufus auf ("imaginare in mente artificis ... utpote
in mente architecti" - Günther Binding 1993, 20-21,
181-182).
0-1600: Stiftermodelle
Eine kulturgeschichtliche Kuriosität
sind die sogenannten "Stiftermodelle" (Julius von Schlosser 1891;
Otto Benndorf 1902; Dirk Kocks 1971).
Es gibt etwa 100 Berichte oder
Abbildungen von der römischen Kaiserzeit bis 1600. Zuerst
findet man sie auf Bronzemünzen (Neokorate): Eine
Stadtgöttin trägt ein Tempelmodell auf den Händen.
Seit 500 n. Chr. tragen Bischöfe oder Päpste, später
Könige auf Mosaiken oder Fresken - später auch auf
Gemälden und als Plastiken - ein Modell.
Der erste Architekt mit einem Modell
findet sich auf einer Grabplatte des Hugo Libergier in der
Kathedrale von Reims (1266). Um 1300 werden die Modelle
realistischer.
Seit dem 6. Jahrhundert:
Lustgärten
Seit Urzeiten sind Gärten Modelle:
Abbilder oder Entwürfe des "Paradieses" oder Abbilder oder
Entwürfe der "Welt". Derek Clifford (1962, 16) meint: "It is a
world made to our own measure."
Ab dem 7. Jahrhundert sind
grosszügig ausgestattete Teichgärten in Japan bekannt,
die von reichen und meist adligen Grossgrundbesitzern nach
chinesischem Vorbild entworfen wurden, und als Lustgärten
dienten. Oft waren sie als Miniaturansicht der damals bekannten
Welt nachgebildet und mit üppiger Pflanzenpracht
ausgestattet.
In der Blütezeit des
Amida-Buddhismus wurde ein eher esoterischer Gartenstil bevorzugt,
der im Sinne eines "Paradiesgartens" die sagenhafte Inselwelt
chinesischer Mystik verkörperte.
Der Zen-Buddhismus, der gegen Ende des
12. Jahrhunderts die Kultur Japans massgeblich beeinflusste,
beschränkte diesen in Grösse und Ausstattung
überschwenglichen Gartenstil auf eine reduzierte und wieder
der weltlichen Natur entsprechende Form. Der Zweck der Gärten
wurde nicht mehr zur Unterhaltung, sondern zur besinnlichen
Betrachtung und Kontemplation ausgerichtet.
Der Sassanidenfürst Chosru I. (oder
Chosros I.; um 570) soll wunderbare Gärten bei seinen
Lustschlössern in Persien gehabt haben (Hans Sarkoticz
1998).
Etwa zur gleichen Zeit wurden im
arabischen Kulturraum (auch in Spanien unter den Mauren) der Bau
von Gärten mit Blumen, Bäumen und Sträuchern sowie
farbigen Fliesen, Wasserbecken und Fontänen gepflegt. Der
heute noch beeindruckende Garten "Generalife" in Granada soll vor
1250 angelegt worden sein (Germain Bazin 1988).
In dem um 1230 geschriebenen "Roman de la
Rose" beschreibt Guillaume de Lorris einen Traum-Garten, den
"Garten der Freude". Das Werk wurde 40 Jahre später von Jean
de Meun fertiggestellt. Im 15. Jahrhundert wurde er mehrfach reich
illustriert.
Auch von Jean de Garlande (um 1230) sind
Beschreibungen von Gärten erhalten. Er soll in einer Apotheke
Gewürze und aromatische Kräuter verkauft haben.
Um 1257 beschreibt der grosse Gelehrte
Albertus Magnus (im Kapitel "de plantatione viridariorum" im Buch
"de Vegetabilibus") neben Obstbaumsorten, Gemüse-,
Gewürz- und Arzneipflanzen auch Zierpflanzen wie Hortensie,
Lilie, Pfingstrose, Ringelblume, Narzisse und Raute. Als Zierbaum
wird der Buchs empfohlen.
Bereits 1350 wird bei der Burg de Grafen
von Württemberg in Stuttgart ein Lustgarten erwähnt.
In einem Bericht über die
italienischen Gärten der Renaissance lesen wir:
"The earliest stirrings of the
Renaissance period were recorded by Boccaccio in 1348 in his 'Third
Day of the Decameron'; with his vivid description of the
garden at the Villa Palmieri which he reports as having featured
arbors, pergolas, formal parterres with geometrically designed
flower beds and a central fountain made of white
marble.
Not long after Boccacio, Pietro de
Crescenzi in a work entitled 'Ruralia commoda' (1306!), writes
about the design of gardens and advises that small orchards of
fruit trees and small herb and vegetable plots have square borders
planted with scented herbs, that all paths should be of grass, that
the gardens be surrounded by hedges and walls, that they should
contain vined pergolas and have, at their centers, a "lawn" and, if
possible, a fountain as well."
Im "Menagier de Paris" (1393) findet sich
ebenfalls eine Beschreibung von Gärten.
Es ist nicht erstaunlich, dass Leon
Battista Alberti in seinem Buch "De re aedificatoria" (um 1450/60)
auch den idealen Garten beschrieb.
In einem andern Bericht lesen wir:
"Zunächst war die italienische
Gartenkunst vom Willen getragen, innerhalb der Natur und mit der
Natur zu bauen. Sodann kam der Gedanke dazu, das Wesen und die
Gesetze der Natur im Garten darzustellen. Der Garten wurde nun als
Erlebnisraum angesehen, dem eine umfassende Harmonie innewohnen und
der den Betrachter erstaunen lassen sollte. All dies entsprang der
Inszenierung eines Programmes, das in der Gestaltung der Natur Form
annahm. Es beflügelte die Vorstellungskraft und regte die
Phantasie an."
"Die Hypnerotomachia Poliphili des
Francesco Colonna (1499) ist das erste Buch, das am
direktesten auf die architektonische Gestaltung des
Renaissancegartens eingewirkt hat. Einen ebenso starken Einfluss
wie auf die Gestaltung nahm es auch auf Symbolgehalt und geistige
Haltung."
Das erste deutsche Buch über
"Lustgärten und Pflanzungen" erschien 1530 bei Egenolff in
Strassburg und bei Steiner in Augsburg. Von grossem Einfluss war
das Buch "Tutti l'opera architecttura" von Sebastiano Serlio
(1537-1547).
Seit 1494 nannte man die nach Mustern
schön gestalteten Gärten auf Englisch "knot gardens",
seit 1579 auf Französisch "parterres" (Frank Crisp 1966,
65ff).
Seit 400: Kinderspielzeug
Die meisten Spielzeuge schaffen
Modellwelten. Kinderspielzeug ist seit dem frühesten Altertum
bekannt.
Da das mittelalterliche Erziehungssystem
rau und anspruchslos war, wird man sich auch das Spielzeug ebenso
vorstellen müssen.
Weihnachtskrippen werden bereits in
Predigten um das Jahr 400 erwähnt, Lappenpuppen (simulacra de
pannis) im 8. Jahrhundert. Berichte über mechanisch bewegte
Puppen und Vögel gibt es seit dem Jahr 1000 (Indien, Byzanz,
Arabien). Im "Hortus Deliciarum" (1175-95) sind zwei Kinder beim Spiel
mit Ritterfiguren dargestellt, die sie nach dem Prinzip des
Hampelmannes in Bewegung setzen.
Man nimmt an, dass auf den
Jahrmärkten seit dem 12. Jahrhundert von fliegenden
Händlern Spielzeug angeboten wurde (Antonia Fraser 1966). Doch
erst seit etwa 1250 sind erhalten: Frauenfiguren und Fabeltiere aus
Ton, die Zinnfigur eines Reiters in Rüstung auf seinem Pferd,
ein Wasserkännchen in der Gestalt eines Pferdes.
Die "Bücher vom Schach-,
Würfel- und Brettspiel" des Königs Alfons X, des Weisen
(1283), belegen nicht nur den hohen Stand der Kunst des
Schachspiels, sondern geben auch Einblick in andere
zeitübliche Unterhaltungsspiele.
Seit 1300 finden sich einige wenige
bildliche Darstellungen, z. B. Steckenpferd, Windrädchen,
Kasperltheater (Handpuppenspiel 1338), Drachen (1405) und
Papierspielzeug. Szenische Darstellungen mehrerer Spielzeuge gibt
es erst seit 1500, berühmt wurden Pieter Breughels
"Kinderspiele" (1560).
Der erste berufsmässige Puppenmacher
("Dockenmacher") wird in Nürnberg 1413 erwähnt. Die
Erfindung des Guckkastens wird Leon Battista Alberti (1437)
zugeschrieben. Von einem Puppenhaus (baby-house) wird erst 1558
berichtet, von silbernen Hausgeräten für Kinder 1571.
Eine mechanische Weihnachtskrippe mit Musik schuf 1589 der
Augsburger Automatenbauer Hans Schlottheim.
Seit 600: Schönheit des
Bronzegusses
Die Geschichte des Metallgusses reicht
bis etwa 4000 v. Chr. zurück. Reich bebilderte Chroniken
stammen von Karl Stölzel (1978) und Heinz Wübbenhorst
(1984).
Aus dem Altertum sind fast keine
Bronzestatuen erhalten, weil sie leicht eingeschmolzen werden
konnten.
Einen Höhepunkt erlebte der
Kunstguss bereits im Mittelalter. Hervorragende Beispiele für
Endprodukte sind etwa
· die
Torslund-Plaketten der Wikinger, Bronzereliefs aus dem 7. Jh.
· die
vergoldete Platte mit der Krönung des Langobarden Agilulfs (7.
Jh.)
· die
"Wolfstüren" am Hauptportal des Aachener Doms aus der
Giesshütte Karl des Grossen
· die
Bronzestatuette von Karl dem Grossen hoch zu Ross (9. Jh.)
· der
"Thron des Dagobert", ein bronzener Faltstuhl aus der Abteikirche
von Dt. Denis (frühes 9. Jh.)
· die
Bronzetüren des Doms zu Hildesheim (des Heiligen Bernward
1015)
· die
fast vier Meter hohe Bernwardsäule im Dom zu Hildesheim
(1020)
· das
aus Messing gegossene Taufbecken des Rainer de Huy in der Kirche
St. Barthélemy in Lüttich (1118)
· die
Bronzetüre des Westportals von San Zeno in Verona (1138)
· der
Burglöwe von Braunschweig (1166)
· die
Bronzetüre der Sophien-Kathedrale von Nowgorod (um 1200)
· das
bronzene Taufbecken im Hildesheimer Dom (1225)
· die
Bronzetüren des Florentiners Baptisteriums (Andrea Pisano
1356)
· die
Bronzerelief von Antonio del Pollaiuolo am Grabmal des Papstes
Sixtus IV. (um 1490)
· das
Sebaldus-Grab in Nürnberg, ein Messingguss um 1500.
Im 11. Jahrhundert begann die allgemeine
Verbreitung der gegossenen Bronzeglocken für den kirchlichen
Gebrauch. Gebrauchszinn ist seit dem 12. Jahrhundert in Europa
verbreitet. Eisenguss wird seit etwa 1300 praktiziert, zuerst
für Grenzpfähle, bald auch für Kanonenkugeln und
Geschützrohre. Seit 1500 sind viele bilderreiche Kaminplatten
erhalten. Sie wurden mit Holzstempeln (Modeln) geformt.
Das einzige erhaltene Werk, in dem der
Guss von Kunstgegenständen beschrieben wird, stammt von
Theophilus Presbyter (um 1123). Es ist das erste Lehrbuch für
den künstlerisch tätigen Goldschmied und
Metallhandwerker.
Die Renaissance entdeckte den Menschen
wieder, insbesondere den nackten Menschen. Imposant sind die
Standbilder und Skulpturen von Donatello ("David" 1430; "Judith und
Holofernes" 1455-60), Verrocchio ("Il Condottiere Colleoni" 1490),
Michelangelo ("Papst Julius II., nicht erhalten) und Giovanni da
Bologna ("Badende Venus" ca. 1580).
Leonardo da Vinci hatte mit dem
Bronzeguss nicht viel Glück. Er berichtet in seinen
Tagebüchern darüber. Von Benvenuto Cellinis "Perseus"
(1554) ist das Modell erhalten geblieben. Cellini hat auch genau
beschrieben, wie er seine Figuren gegossen hat.
0-1500: Druckmodel
Ebenfalls eine lange Geschichte haben die
Druckformen für den Zeugdruck (Robert Forrer 1894, 1898;
Robert Haller 1951; Anne Jean Richard 1968; Alfred Bühler,
Eberhard Fischer 1974).
In Japan sind schon zur Zeitenwende
druckartige Stoffmalereien bekannt. Nach Robert Forrer geht die
hellenistische Textilkunst Ägyptens auf das 4. Jahrhundert n.
Chr. zurück und zeigt vor allem Direktdrucke auf hellem,
ungefärbtem Leinen.
Chinesische Farbdrucke auf Seide sind
seit dem 7. Jahrhundert erhalten, ebenso Zeugnisse für den
Direktdruck mit Modeln in Europa und in koptischen Gebieten
Nordafrikas. Sie weisen eine derartige Perfektion auf, dass man auf
eine länger zurückreichende Tradition schliessen
kann.
Während in der vorromanischen Zeit
Schwarzdruck auf naturfarbenen Leinengründen bevorzugt wurde,
hat man später grossen Wert auf Drucke in Gold und Silber
gelegt. Die gotischen Bildzeugdrucke waren Andachtsbilder in
Holzschnitttechnik.
Manche Drucke dienten auch als Vorlage
für Stickereien, das heisst sie wurden von Hand
überstickt. Schöne Exemplare sind etwa seit dem 13.
Jahrhundert erhalten.
Erste urkundliche Belege für
Formschneider, d. h. die Schnitzer der hölzernen Druckmodel,
stammen aus dem Jahre 1397 aus Nürnberg und 1398 aus Ulm.
Solche Model wurden sowohl für den Textildruck als auch
für Blockbücher (aus Holzschnitten und kurzen Texten
bestehendes volkstümliches Buch) verwendet. Der Ornamentstich
entstand um 1450.
Der Druck mit beweglichen Lettern soll um
1000 bereits in China praktiziert worden sein. In Europa
führte ihn um 1440 Johannes Gutenberg ein - vermutlich
unabhängig von den Chinesen. Er verlor nach dem Druck seiner
Bibel Hab und Gut, starb als gebrochener Mann und war bald
vergessen.
13.- 15. Jahrhundert:
Backmodel
Eine lange Geschichte haben die
Hohlformen für Gusswaren und Gebäcke (Max Währen
1968, 1972; Herbert Kürth 1981; Edith Hörander 1982).
Das älteste erhaltene Backmodel
(ausser aus dem Altertum) datiert aus der 2. Hälfte des 13.
Jahrhunderts und ist aus Kalkstein. Aus dem 15. Jahrhundert haben
sich im mittleren Europa bereits etwa 150 Model erhalten, vor allem
aus Ton, aber auch aus Schiefer, Speck- und Graphitstein.
Repräsentative, grosse Model bis zu 40 Zentimeter Durchmesser
gibt es ab 1500. Sie wurden in der Regel in Holz gestochen und
für Marzipan, Lebkuchen, Spekulatius und Tirggel (Honigkuchen)
verwendet.
Seit 970: Model- und
Musterbücher
Wie Ottfried Dascher (1984, 32) und
Shai-Shu Tzeng (1993) klarstellen, muss man unterscheiden
zwischen
·
Vorlagen für Kunsthandwerker und Frauen (für
Buchillustrationen, Ornamente und Bauteile später
Nähereien und Stickereien, Möbel und andere
Gegenstände)
· und
"Mustern", im Sinne von Probestücken (vorab von Tuchen und
Seiden, später Möbeln und Keramik), für Handel und
Verkauf.
28 "Modelbücher" mit Bild- und
architektonischen Vorlagen aus der Zeit von 900-1470 hat
Robert W. Scheller nach seinem ersten Versuch (1963) gut dreissig
Jahre später (1995) auf über 400 Seiten akribisch und
reich illustriert vorgestellt. Die bekannte Sammlung von Arthur
Lotz (1933) mit Musterbüchern für Nähereien und
Stickereien schliesst sich daran an.
Wunderschöne Beispiele sind aus dem
11. Jahrhundert das Modelbuch des Mönches Adémar von
Chabannes (1025) und aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhundert
das "Bauhüttenbuch" von Villard de Honnecourt sowie die
"Musterbücher" von Rein und Wolfenbüttel.
Dante (im "Purgatorio", 1321) setzte die
Benutzung eines Musterbuchs beim Maler als selbstverständlich
voraus: "Come pittor che con esemplo pinga ..."
Gemäss Ottfried Dascher ist davon
auszugehen, "dass bereits dem späten Mittelalter die Praxis
der folgenden Jahrhunderte vertraut ist, von Tuchen Proben
(Muster) abzuschneiden und aufzuheben". Schon um 1300 hatte die
Florentiner Tuchindustrie Weltgeltung. Es ist leicht vorstellbar,
dass die Praxis des Zeigens und Versendens von Mustern (it.
"mostra") hier seinen Anfang nahm.
Seit ziemlich genau 1400 gibt es
dafür im Deutschen das Wort "Muster" und im Französischen
"échantillon".
Laut Dascher ist es dann "nur ein
Schritt, diese Muster nach Güte, Farbe und der Art des
verwandten Materials (Wolle, Flachs, Baumwolle, Seide) auf Kartons
aufzukleben. Das mochte ursprünglich zur eigenen Ausbildung,
zur Vervollkommnung eigener Kenntnisse, zum Vergleich, zur
Gedächtnisstütze ("pro memoria") geschehen sein,
versetzte es doch einen Verleger oder einen Kaufmann in die Lage,
fremde Techniken des Webens und Appretierens kennenzulernen und
eigene Musterproben zur Anschauung und Qualitätskontrolle
aufzuheben.
Die Sammlung derartiger Muster
ermöglichte die Anlage von Musterkarten, deren
nachträgliche Bindung das Musterbuch. Das konnte in
einfachsten Formen geschehen, wie die in den Akten des 17. und 18.
Jahrhunderts überlieferten Tuchproben zeigen."
Seit 1300: Kleiderpuppen
Bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. gab es
in Babylon Gliederpuppen. Im Grab des ägyptischen Königs
Tutenchamon fand man ein hölzernes Torso, das vermutlich als
Schneiderpuppe Verwendung fand. Im Alten Griechenland verwendete
man Gliederpuppen aus Ton.
An den Höfen der Adeligen im
Mittelalter gab es Schneiderpuppen in den genauen Grössen der
Herrschaften, damit der Schneider seine Stoffe anpassen konnte,
ohne sie zu belästigen.
Seit etwa 1300 werden Gliederpuppen von
den Künstlern in ihren Ateliers verwendet (Beschreibungen
finden sich z. B. in den Schriften von Filarete, um 1450).
Ebenfalls seit dieser Zeit werden
Kleiderpuppen in verschiedensten Grössen als Trägerinnen
und Botschafterinnen der neuesten Mode eingesetzt. 1396 soll die
Frau des französischen Königs Charles VI., Isabella von
Bayern, ihrer siebenjährigen Tochter Isabella, die gerade vom
englischen König Richard II. zur zweiten Frau auserkoren
wurde, eine lebensgrosse Kleiderpuppe mit den neuesten Kreationen
des französischen Hofes nach London geschickt haben (andere
Quellen nennen die Jahreszahlen 1321 und 1391).
Vor 1600 sandte der französische
König Henri IV. seiner Verlobten Marie de Medici kleine,
elegant gekleidete Puppen nach Florenz, um sie über die
neueste Mode auf dem Laufenden zu halten. Später wurden
Pariser Puppen sogar nach Amerika gesandt.
Seit 950: Cerae und Effigies
Wie die katholische Kirche seit etwa 950 (erste Wallfahrt
nach Santiago de Compostela) einen Kult mit
Votivplastiken aus Wachs (auch "Boti" genannt) betrieb, schildern etwa
Klaus Beitl (1973), Reinhard Büll (1978) und Adolf Reinle (1984).
In seiner Habilitationsschrift über "Bildnis und Brauch" hat
Wolfgang Brückner (1966) den magischen Gebrauch der Effigies bei
Totenriten und bei Bildzauber (Schändung, Hinrichtung) von etwa 1300 bis1800
beschrieben.
Seit 12. Jahrhundert: Künstlerische und anatomische
Wachsmodelle
Vermutlich ohne Unterbruch seit dem Altertum gab es in den
Werkstätten der Künstler stets Tonmodelle und Wachsvorbilder aller Art,
insbesondere zum Üben der gestalterischen Fertigkeiten.
Eine byzantinische Miniatur aus dem 12. Jahrhundert ("St.
Luc. Atelier d'artiste") zeigt sehr schön, wie antike Masken, eine Statue und
eine Säule als Modell verwendet wurden.
Man nimmt an, dass erste anatomische Modelle bereits im
frühen 14. Jahrhundert angefertigt wurden, und zwar zur Darstellung der
Blutgefässe. Dazu wurde geschmolzenes Wachs in sie eingespritzt, und der
erkaltete Guss wurde nachher sorgfältig vom umgebenden Gewebe befreit.
Kein Geringerer als Leonardo da Vinci fertigte einen solchen
Abguss von Kammern des Gehirns an, um die feinen Strukturen deutlich sichtbar zu
machen. Er beschrieb seine Methode sorgfältig in seinen Notizbüchern (T. N.
Haviland, L. C. Parish 1970; J. T. Chen et al. 1999).
Die Herstellung von aus "Helffenbein"
bestehenden Augen- und Ohrenmodellen hat Johann Martin Teuber 1740 beschrieben
(auch: E von Philippovich 1960).
Seit 1400: „Muskelmänner“ („écorchés“)
Das gezeichnete oder rundplastische anatomische Modell eines
Menschen ohne Haut, wird als "Muskelmann" oder frz. "Ecorché" (abgehäutet)
bezeichnet. Die ersten Künstlerzeichnungen stammen von Antonio und Piero Pollaiuolo ("Kampf der zehn nackten Männer", 1465; auch auf 1470 und 1488 datiert) und Leonardo da Vinci (H. Meige 1926; L. v. Szladits
1954).
Dreidimensionale Muskelmänner sind laut
dem Zeugnis Vasaris (1568) bereits seit dem frühen 15. Jahrhundert angefertigt
worden (Boris Röhrl, 2000, 10-11; 79-82). Nach 1550 wurde sie häufiger
gebraucht. 1734 schuf der Bildhauer Ercole Lelli zwei lebensgrosse Muskelmänner
aus Holz für das „Teatro anatomico dell’Archiginnasio“ der Universität Bologna.
Noch Goethe (in seiner „Italienischen Reise“, 1787) war in Rom beeindruckt von
einem „sehr schönen Muskelkörper“. Bedeutende Schöpfer von Muskelmännern zu
dieser Zeit waren die Bildhauer Edme Bouchardon (in Paris), Jean Antoine Houdon
(in Rom), Johann Martin Fischer (in Wien) und Jean Galbert Savage (in Paris).
Sie galten als eigenständige Lehrstücke
für angehende Künstler. Daher gab es lange Zeit keine erklärenden Texte oder
Illustrationen dazu. Erst im Jahre 1586 erschien ein Bildwerk, in dem einige
Platten mit Abbildungen von Lodovico Cigoli’s „Bella notomia“ enthalten waren.
Bekannt für seine markant übertriebenen Zeichnungen von Muskeln ist der
Sammelband von Kupferstichen nach Peter Paul Rubens, die sogenannte „Rubens
Anatomy“ (um 1650). Der Künstler erfand sogar neue Muskeln, und er zeichnete
manche Körperteile ungenau, um den Figuren mehr Ausdruck zu geben, wie das
manche flämische Maler praktizierten (Boris Röhrl, 2000, 101, 120-124, 131).
1679 publizierte der Maler und Graveur Carlo Cesio ein Handbuch „Cognitione de
muscoli“, das unter dem Titel der zweiten Ausgabe, „Anatomia dei pittori“
(1697), bekannt wurde. Es wurde ins Deutsche, Französische und Russische
übersetzt. 1780 und 1781 fertigte Antonio Cattani drei fast lebensgrosse
Radierungen der hölzernen Muskelmänner an, die Ercole Lelli ein halbes
Jahrhundert zuvor für die Universität von Bologna hergestellt hatte.
Seit 1530 Musterbücher der Anatomie
des Menschen
Musterbücher der Anatomie des menschlichen
Körpers tauchen erst nach 1530 auf (Boris Röhrl, 2000, 62-100). Anfänglich
handelte es sich nur um einzelne Blätter, nach denen gezeichnet werden musste.
Frühe Sammlungen sind das sogenannte Bandinelli-Album im British Museum in
London und die Zusammenstellung „Siena MS.S.II.5“ in der Biblioteca Comunale
degli Intronati in Siena, welche auf die Zeit um 1550 datiert werden.
500-1500: Denkmodelle und
Verhaltensanweisungen
(Abb.
1b)
Einige wichtige Weltmodelle, Denkmodelle,
Ideen, Ideale und Verhaltensanweisungen des Mittelalters - in
Europa und Nahost - waren:
- Stile/ Kulturen
Byzanz (330-1200), Islam (650-1250), Karolinger (751-987),
Normannen (800-1200), Romanik (950-1200), Gotik (1140-1400),
Renaissance und Humanismus (1300-1600)
- Wirtschaftsformen
Feudalismus (Anfang 6. Jh.), Dreifelderwirtschaft (6. Jh.),
Lehenswesen (merowingische Landschenkungen; Karl Martell 725), Leibeigenschaft, Fron-Dienst, Herrenhof und
Fronhof, Städte (ab 1000), Sklavenhandel (Papst Urban II.
1095; Heinrich der Seefahrer 1441), Messen (12. Jh.), private
Banken (1163), Franz von Assisi (Armut 1208), Haushalt (Walter de Henley 1250; Leon Battista Alberti 1444; auch Ökologie),
Thomas von Aquin (Zinsverbot, Arbeitslehre, Eigentumstheorie 1270),
Eigentumstheorie (Aegidius Romauns 1279), Greshamsches Gesetz
(Johannes Duns Scotus 1300), Geldwirtschaft löst
Naturalwirtschaft ab, Geldtheorie (Nikolaus von Oresme 1350),
öffentliche Banken (1401), Börse (1460/85 Antwerpen)
- Organisationsformen
gallofränkische Klerikergilden (6. Jh.), karolinigsche
Ortsgilden (2. H. 8. Jh.), Gilden von Berufsleuten, Bruderschaften
mit religiösen Zielen und städtische "Kommunen" (alle ab
1000), Zünfte und Lehrlinge (ab 1149);
Verschwiegenheitspflicht (1212); Gesellen und überregionale
Vereinigungen von Handwerkern (ab 1300), Privatclub (1400)
- Verhaltensanweisungen
Benedikt von Nursia (529), Konstantin VII ("De ceremoniis"
950), Avicebron (1050), "Regimen sanitatis" (1050), Petrus Alfonsi
(1120), Petrus Abaelard ("Ethica" 1136), Johannes von Salisbury
(1159), Kleidermode (12. Jh.)
- Juristische Kodifizierungen
Justinian (534), "Tabulae Amalphitanae" (12. Jh.), "Magna
Charta libertatum" (1215), Eike von Repgow (1232), Accursius
(1250)
- Schulreformen
Schulreformen von Alkuin (782), Hrabanus Maurus (850), Fulbert
(990), Petrus Hispanus (1270), Pier Paolo Vergerio (1404),
Vittorino und Guarino (1423/29: öffentliche Schulen)
- Mathematische Konzepte
Null und Bruchrechnen (Brahmagupta 624), Stellenwert der
Ziffern (Al Khwarizmi 830), Trigonometrie (Al Battani 900),
arabische Zahlen (Gerbert 990), Lösung kubischer Gleichungen
(Omar Khayyam 1100), "Liber abaci" (Leonardo Fibonacchi 1202),
doppelte Buchhaltung (Ranieri Fini 1296; Benedetto Cotrugli
1458)
- Wiederbelebung der esoterischen
Weltsicht:
"Corpus alichimisticum" (8. Jh.), "Liber de causis" (825),
Alchemie (9. Jh.: Geber/Jabir; "Turba Philosophorum"),
Neuplatonismus und Astrologie (Al-Kindi 850), Mystik (Hasan
al-Basri 680; Johannes Eriugena 870; Bernhard von Clairvaux 1110),
Kabbala (Jezira, 9. Jh.; Sohar 1270), Gnosis (Bogumilen 950), erneut Alchemie (Michael Scotus 1220), Tarot
(15. Jh.), Neuplatonismus (Marsilius Ficino 1471)
- Andere Weltmodelle
Weltuntergang (999), Bernhard Silvestris (1148), Hildegard von
Bingen (1180), Joachim de Fiore (1190), Sacrobosco (1220/30),
Robert Grosseteste (Metaphysik des Lichts 1250), Konrad von
Megenberg (1350), Nikolaus von Kues ("coincidentia oppositorum"
1438)
- Entdeckung der
Individualität
Gesinnung und Gewissen (Petrus Abaelard 1136; Albertus Magnus
1280), "aktiver Intellekt" (Thomas von Aquin 1270; Albertus Magnus
1280), Primat des Willens (Johannes Duns Scotus 1300; Wilhelm von
Ockham 1330; Johannes Buridan 1350), Individualität (Dante
1321; Petrarca um 1350; Pico della Mirandola 1486)
- Wissenschaftlichkeit
"Haus der Weisheit" (Bagdad 813), Gerbert (990), Nominalismus
(Roscelin 1092; Wilhelm von Ockham 1330; Nicolaus d'Autercourt
1347), Trennung von Glauben und Wissen (Adelard von Bath und
Wilhelm von Conches, vor 1150; Alfredus Anglicus 1217; Siger von
Brabant 1270; Johannes Duns Sotus 1300), Universitäten (ab
1155: Bologna, Paris, Oxford), Erfahrung (Roger Bacon 1268; Petrus
Peregrinus 1269), Platonische Akademie (1459)
- Religiöse Ideen
Missionsreisen und Beichte (Columban 590; 1215 jährliche
Beichte), "Fegefeuer" (Gregor der Grosse 593), "Heiliger Krieg"
(Mohammed 628; Papst Urban II. 1095), Glockenläuten (800),
Prädestination (850: Gottschalk, Johannes Eriugena),
Pilgerfahrten (950 nach Santiago de Compostela),
Zisterzienser-Kultur (1098), Transsubstantiation (12. Jh.), Maria
als "Madonna" (12. Jh.), "Die Frau ist ein Missgriff der Natur"
(Thomas von Aquin 1270), "Devotio moderna" (Gerhard Groote 1374),
"De imitatione Christi" (Thomas a Kempis 1427)
- Religiöse Orthodoxie
Ketzerei ist ein Verbrechen (Justinian 534),
Unauflösbarkeit der Ehe (Ludwig der Fromme 820), Zölibat
(1074), Judenpogrome (12. Jh.), Ketzerverbrennungen (12. Jh.),
Scheiterhaufen (Friedrich II. 1224), Inquisition (Papst Gregor IX
1231), "Corpus iuris canonici" (Papst Gregor IX 1234), Folter
(Papst Innozenz IV, 1252), Hexenhammer (Heinrich Sprenger: "Malleus
maleficorum" 1487)
- Märchen und Sagen
"Tausendundeinenacht" (9. Jh.), König Artus und Zauberer
Merlin (1135), Gral (ca. 1150; bald mit Lancelot und Parzifal),
Tristan (1165); "Legenda Aurea" (Jacobus de Voragine 1273)
- Ideale Lebensformen
Heldenlied ( "Digenis Akritas", 10. Jh., "Ruodlieb" 1050,
"Rolandslied" 1090; "El Cid" 1140; "Nibelungenlied 1200),
"christlicher Ritter" (Bonizo 1090), Minne, höfisches Leben
(Troubadourdichtung seit 1100), Dienst am Menschen (Franz von
Assisi 1210), "Humanismus" (ab 1300: Dante, Petrarca, Boccaccio),
"Della vita civile" (Matteo Palmieri 1438)
- Besondere Verfahren
Notenlinien (8. Jh.), Notenschrift (Guido von Arezzo 1025),
Portolani-Karten (13. Jh.), Landschaftsmalerei (ab 1300: Giotto,
Duccio, Lorenzetti), Volkssprache benützen (1321 Dante,
Petrarca), geometrische Perspektive (Brunelleschi 1412),
Ephemeriden (1412), Globus (Martin Behaim 1492)
- Medizin
"Liber medicinalis Almansoris" (Rhazes 900), Chirurgie (Abul
Kasim 1000; Roger von Salerno 1180), "Kanon der Medizin" (Avicenna
1025), "Al-Taisir" (Avenzoar 1160), "Colliget" (Averroes 1169),
Chirurgie und Narkose (Theodoricus de Cervia 1266), Beobachtung und
chemische Medizin (Arnaldus de Villanova 1300), Anatomie (Mondino
de'Luzzi 1316), antiseptische Wundbehandlung (Jehan Yperman 1329),
Chirurgie (Guy de Chauliac 1370)
- Politische Verfahren
Volkssouveränität (Manegold 1085), "Domesday Book"
(1086 in England: Grund-, Kataster- und Steuerbuch), Parlament
(1265 in England); "freiwilliger Unterwerfungsvertrag" (Wilhelm von
Ockham 1330)
- Kriegsführung
Schwerter aus Damaszener Stahl (500), "Griechisches Feuer"
(Byzanz, 7. Jh.), Reiterei (725), melée (11. Jh.), Kanonen
(1324), mobile Langbogenschützen gegen schwerfällige
Reiterei (1346)
- Denkmodelle
Schachspiel (500), Dialektik (Berengar von Tours 1050), "Sic
et non" (Petrus Abaelard 1140), Kombinatorik (Raimundus Lullus
1303)
- Sport und Wettkampf
Hockey (10. Jh.), "Jeu de paume" ("hand ball", 11. Jh.);
Turnier (1135), Fussball (12. Jh.), Cricket (1300), Regatta (1315),
Fechten (1410), Golf (15. Jh.)
Erste Bild- und Modelltheorien
Vitruvs Erkenntnisse zu Modellen
Am Schluss seiner „Zehn Bücher über Architektur“ hat Vitruv seine Erkenntnisse zu Modellen prägnant zusammengefasst (Übersetzung von Curt Fensterbusch, 1964):
„Es kann nämlich nicht alles nach denselben Methoden ausgeführt werden, sondern es gibt Dinge, die, in grossem Format hergestellt, ähnlich funktionieren wie in einem nicht grossen; andere aber dulden keine Herstellung in einem
Modell, sondern können nur in ihrer natürlichen Grösse hergestellt werden.
Manche Dinge aber gibt es, die offensichtlich im Modell möglich sind, die aber, wenn man beginnt, sie in immer grösserem Format herzustellen, (von einer gewissen Grösse an) nicht mehr verwirklicht werden können …
So sieht man es auch bei einigen Modellen. Wie sie in sehr kleinem Format hergestellt werden können und in der gleichen Weise auch in etwas grösserem, so können sie doch nicht in der gleichen Weise und mit derselben Methode in sehr grossem Format ausgeführt werden.“
"Repraesentatio" im Mittelalter
"Zum Begriff der repraesentatio im
Mittelalter" fand 1970 eine grosse Mediävistentagung in
Köln statt. Die Referate wurden von Albert Zimmermann (1971)
herausgegeben. Umfassend zur gesamten Geschichte des Begriffs
informieren Hasso Hofmann (1974), Adalbert Podlech (1984) und
Eckart Scheerer (1992, 1993).
Eine grundsätzliche Untersuchung bot
in seinem Todesjahr (1907) der Pariser Professor Octave Hamelin,
eine phänomenologische ein halbes Jahrhundert später
der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker Richard Bernheimer (postum 1961).
Der Repräsentations-Theorie in der römischen Literatur widmete L. Schnorr von Carolsfeld (1980) eine Untersuchung, derjenigen in der Spätscholastik M. M. Tweedale (1990), derjenigen in der französischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts Katharine G. MacCornack (1996).
13.-15. Jahrhundert: Vorstellungs- und
Bildtheorien
Erste Ansätze zu Modelltheorien
lassen sich nach 1200 in der Scholastik finden:
· in
einem Brief von Robert Grosseteste kurz vor 1228 zum Thema Architektur
· in
der Vorstellungstheorie von Duns Scotus (Reinhold Messner 1942;
Etienne Gilson 1952; G. Scheltens 1965; Martin M. Tweedale 1990,
1999; Giovanni Pizzo 1998) und
· im
Konzeptualismus seines Schülers Wilhelm von Ockham mit dem
Begriff der Fiktion (figmentum) (Josef Reiners 1910; Erich
Hochstetter 1926; Sebastian J. Day 1947; Wolfgang Stegmüller
1956/57; G. Leff 1975; Elisabeth Leinfellner 1986; Jan P. Beckmann
1996; Jürgen Goldstein 1998).
Gemäss Ockham sind unsere Vorstellungen nicht Abbilder der
Dinge, sondern Zeichen (signa), die wir auf die Dinge beziehen.
· in
der Bildtheorie, welche der Bischof und geistliche Philosoph
Nikolaus von Kues (Norbert Henke 1969; Norbert Herold 1986: Hubert
Benz 1999) um 1450 entwickelte.
Die schwere Geburt des italienischen Wortes "modello"
Um 1330: spärliche Belege für „modellus“
Die vielfach verbreitete Behauptung, Vorläufer von "modello" oder der verschiedenen Formen von "Modell" sei das vulgärlateinische Wort "modellus", ist nicht plausibel. „Modellus“ taucht weder in den Wörterbüchern von Blatt und Niermeyer noch bei Faber und Forcellini auf.
Einzig
Du Cange (1885) verzeichnet es um 1330/40 in einem militärischen Traktat eines italienischen Autors zweimal als Mauerbrecher, einmal in den Aufzeichnungen eines Pariser Klosters als Flasche;
Latham (2001) fand ebenfalls ein Gefäss (1965 noch als „cheese-mould“ bezeichnet) im Inventar eines irischen Haushalts. Fast zur gleichen Zeit taucht in Italien ein einziges Mal „modelo“ als Backform in einem Haushalt in Modena auf.
1355-1416 it. „modello“ und lat. „modellus“ betreffen Modelle
oder Zeichnungen
Das italienische Wort "modello" entstand in Zusammenhang mit dem
Bau des Florentiner Doms.
Obwohl die Autoritäten des Chronisten Giorgio Vasari (um 1550) und des Basler Historikers Jacob Burckhardt (1868, 26 u. 84) hinter den Behauptungen stecken: Weder der erste Baumeister des seit 1294 geplanten Neubaus, Arnolfo di Cambio, noch der Künstler Giotto hat ein dreidimensionales Modell für den Campanile (um 1334) vorgelegt (Howard Saalman, 1964;
Rolf Bernzen, 1986 = B; Roland Müller, 1988;
Andres Lepik, 1994, 27-38 – anderer Meinung ist auf Grund archäologischer Ausgrabungen Franklin Toker, 1975, 1978, 1983).
Erst unter capomaestro Francesco Talenti werden zwei Holzmodelle erwähnt: 1353 eines für den Campanile, zwei Jahre später eines für die Chorkapellen und einen Teil des Langhauses. Beide wurden als "disegniamento ... di legniame" bezeichnet (B, 77, 81ff, 319f).
Es ist ein Glücksfall, dass zum Bau des Domes eine Fülle von Aufzeichnungen sowohl in Italienisch wie in Lateinisch vorliegen – fast 500 von 1294-1421 (Cesare Guasti, 1887) und viele weitere zum Bau der Kuppel (Cesare Guasti, 1857). Es handelt sich um Buchhaltungsblätter, Notizen, Verträge, Wettbewerbsausschreibungen, etc., die oft in beiden Sprachen gleichzeitig verfasst wurden. Anhand dieser Dokumente können wir die
Entwicklung des Wortgebrauchs wie auch der damit bezeichneten Sachen gut verfolgen.
Es scheint, dass sich das lateinische Wort „modellus“ und das italienische „modello“ parallel entwickelten, nicht konsekutiv.
Weder die Künstler noch die Chronisten kannten damals einen terminus technicus für Modell. Sie gebrauchten dafür mehrere Wörter, neben “disegniamento” auch “asempro” (d. h. “esempio”) und seit 1366 “piccola chiesa”, im Lateinischen seit 1366 “ecclesia parva” und “exemplum” (B, 98, 231).
Das italienische Wort „modello“ wurde zwar erstmals 1355 und
1357 für ein dreidimensionales Objekt verwendet („i modelli delle colonne“ - siehe Andres Lepik, 1994, 30-33, 182-183), aber nachher in Florenz 60 Jahre lang nicht mehr.
Dafür wurde ein Modell, das Heinrich von Gmünd 1392 für einen Pfeiler des Mailänder Domes angefertigt hatte, als „modello“ bezeichnet, desgleichen ein Gewölbemodell für denselben Dom von Simone da Cavagnera (Andres Lepik, 1994, 46-48).
1366 gab die Florentiner Baubehörde Entwürfe für die Vollendung des Doms in Auftrag. Nach kurzer Zeit lagen zwei Zeichnungen und ein Modell aus Ziegelmauerwerk vor. Pikanterweise lief die eine
Grundrisszeichnung unter "desingnum seu modellum". Das dreidimensionale Gebilde nannte man "chiesa piccola". Es musste einem doppelten Ähnlichkeitsverhältnis (similitudo) genügen: Einerseits musste es der Zeichnung ähnlich sein, anderseits musste nachher die Kirche dem Modell ähnlich gebaut werden. (Vermutlich zeigt das bekannte Fresko in der Spanischen Kapelle von S. Maria Novella in Florenz dieses Modell.)
Halten wir fest: Von 1367 bis 1416 wurden in Florenz die neuen italienischen Wörter “modello” und “modeglio” wie auch das lateinische „modellus“ (seit 1366) für Zeichnungen verwendet (B, 91). “Desingnum” (lat.) und “disengno” (it.) wurden schwankend gebraucht, manchmal für Modell, manchmal für Zeichnung (B, 96-111). Zwischen „disegniamento“ und „modello“ taucht 1367 “rilievo” (it.) und “relievum” (lat.) auf, und zwar für eine Aufrisszeichnung, vielleicht auch für ein dreidimensionales Modell (B, 99-103, 111), beispielsweise in einem lateinisch-italienischen Mischsatz: “pro desingno i’rilievo per eos factos in dicto operi” (B, 100).
Erst seit 1417: „modello“, "modelo" und „modeglio“ wie „modellus“ werden ausschliesslich für Architekturmodelle gebraucht
Nach genau einem halben Jahrhundert ändert der Wortgebrauch plötzlich: Seit 1417 wurden die italienischen Wörter „modello“, ”modelo” und “modeglio” wie auch das lateinische “modellus” für Architekturmodelle gebraucht (B, 123ff), besonders für die vielen Entwürfe von Filippo Brunelleschi für die Kuppe des Domes und für die Aufzugs- und Hebevorrichtungen, welche für deren Konstruktion notwendig wurden (schön rekonstruiert bei Howard Saalman, 1980, 108-134).
Der Bezug zum früheren Wortgebrauch wurde mehrfach hergestellt durch die Formel „modellum sive designum“.
In einigen wenigen Protokollen und Notizen zu späteren Bauprojekten taucht das lateinische Wort „modellus“ noch bis ins 16. Jahrhundert auf. Als Gegenstück dazu wurde, z. B. 1436 „designum“ für Zeichnung gebraucht (B, 143).
Die Unsicherheit in der Verwendung der Wörter blieb. So heisst es beispielsweise in späteren Protokollen von Reparaturen an der Kuppel des Florentiner Doms: „quinque modellis vel modulis“ (1507) und „omnes modellos et designamenta necessaria“ (1513). Ein weiteres Beispiel ewähnt
Carmen Bambach Cappel (1990, 1992):
„Soderini's "Io vorrei facessi uno modello, o vogl[i]amo dire disegno, di quella cosa vi scripsi," in a letter of 24 July 1518, or Rosselli's "àne fatto fare uno ischizo
o vero disegno di detta fac[i]ata," in a letter of 4 February 1526, suggest a self-conscious attempt on the part of artists and non-artists to use artistic terms correctly.“
1450/60: Der Architekturtheoretiker Alberti braucht im Lateinischen “”moduli” anstatt das neue “modelli”
Es ist unerklärlich, warum der Universalgelehrte und Exil-Florentiner Leon Battista Alberti einige Jahre nach Vollendung der Kuppel das „alte“ lateinische Wort „modulus“ statt des neuen „modellus“ verwendete, und zwar für Zeichnung wie Modell.
In seiner Schrift „De Pictura“ (geschrieben 1435; gedruckt 1540) zweimal das Wort „exemplar“ (III, 56 und 59), aber auch zweimal „moduli“ (III, 61). „Exemplar“ ist gebraucht für das Modell des Malers – der bekannte Fall des griechischen Malers Zeuxis -, „modulus“ für Zeichnungen oder Skizzen.
Ein Jahr nachdem Alberti seine Schrift in Latein verfasst hatte, übersetzte er sie selber ins Italienische (gewidmet ist sie seinem Freund Brunelleschi; gedruckt wurde sie 1547). Dabei gebraucht er für „exemplar“ „essemplo“ und „essempio“. Den Akkusativplural von „modulus“ übersetzte er zweimal mit „modelli“.
In seinem lateinisch geschriebenen und 1485 posthum erschienenen Werk „De re aedificatoria“ führt Alberti das Wort „modulus“ für
Architekturmodelle ein, mehrmals auch in der merkwürdigen Formel „modulis exemplaribusque“ (Liber II, chap. I-III; Liber IX, chap. VIII-X). Das wäre nicht nötig gewesen, denn er verwendet dafür im selben Werk bereits „exemplar“ (z. B. Liber IIII, chap, II; 1755, ed. 1955, 68; Liber VIII, Chap. III, 1755, ed. 1955, 166).
Die kurz nach der ersten (1546) erfolgte Übersetzung von Albertis Architekturtheorie ins Italienische (1550) gebrauchte die Wörter „modegli“ und „modello“ resp. „modegli & esempi“. Die deutsche Übersetzung von 1912 spricht von Modellen und "Kopien" (wobei sie das erstmalige Auftreten von "exemplar" unterschlägt).
(An anderen Stellen gebraucht Alberti „exemplum“ und „exemplar“ auch bloss für Beispiel.)
Die bislang einzige französische Übersetzung datiert aus dem Jahr 1553. Sie stammt von Jan Martin, der auch Vitruvs Architekturbuch - unter fast demselben Titel (1547) - übersetzt hat. Die Übersetzung von Alberti ins Englische erfolgte erstmals 1726; vielfach neu aufgelegt wurde die Übersetzung durch James Leoni von 1755.
Etwa zur gleichen Zeit wie Alberti schrieb ein weiterer Florentiner,
Antonio Averlino, detto Filarete, einen Traktat über Architektur auf italienisch. Hier taucht nun erstmals in einem Buch (das allerdings nur handschriftlich verbreitet wurde) "modello" für Modell auf, und zwar meist zusammen mit dem synonymen Ausdruck "disegno rilevato" (Rolf Bernzen, 1986, 219-229, 232).
Um 1550: Die ersten italienischen Bücher mit
"Modell" im Titel
Die ersten italienischen Bücher mit
dem Begriff "Modell" im Titel erschien um 1550.
Der Schriftsteller Antonio Francesco Doni
schrieb 1549 unter dem Titel "Disegno" eine Antwort auf den
"Dialogo della pittura" von Paolo Pino (1548), zugleich eine
Anweisung für Malerei und Plastik, darunter auch für
Modelle. Wie frisch der Begriff ist, zeigt sich deutlich in der
sprachlichen Unsicherheit: Auf dem Umschlag steht "modegli", im
Text heisst es: "modelli di terra, di legno".
Kurz darauf zerpflückte der
Mönch Giacomo Moronessa in einer umfangreichen Arbeit: "Il
modello di Martino Lutero" (1555).
In zwei Dialogen gab schliesslich der
Ingenieur Giacomo Lanteri (1557), welcher dem spanischen König
in Neapel und Nordafrika diente, Anweisungen zum militärischen
Festungsbau - gemäss Euklid - und für die Herstellung von
Modellen dazu (Gloria Vivenza 1975).
Das zeigt - was bis heute immer wieder
übersehen wird -, dass der Begriff "Modell" seit Anbeginn
nicht nur für Architekturmodelle, sondern einerseits für
kleine Vorbilder (z. B. für Skulpturen), anderseits auch
für geistige Entwürfe gebraucht wurde.
Die Arbeit mit Modellen
Alberti: Die
Verbesserungsfähigkeit der Modelle
Etwas vom wichtigsten beim Modell sind
Anschaulichkeit. Manipulierbarkeit und Verbesserungsfähigkeit.
Keiner hat das schöner ausgedrückt als Alberti (Roland
Müller, 1988). Er hat als erster versucht, Kunst und
Architektur auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. In "De Pictura" (1435; it. 1436) und "De re aedificatoria" (1450/60) fasst er Kunst
als ein Gebiet objektiver, erforschbarer Gesetze auf. Grosse
Bedeutung misst er der
Arbeit mit Modellen zu (2. Buch, 1.-3. Kap;
9. Buch, 8. u. 9. Kap.).
"Hier kann man ungestraft
vergrössern, verkleinern, ändern, erneuern und
gänzlich umgestalten, bis alles ordentlich zusammenstimmt und
Beifall findet."
Es ist auch sinnvoll, Kopien
herzustellen, damit das ursprüngliche Modell erhalten bleibt,
auch wenn an den Kopien Veränderungen durchgespielt werden.
Alberti rät ja dem Architekten: "Geh, bitte, zweimal, dreimal,
viermal, siebenmal, ja zehnmal mit Unterbrechungen und zu
verschiedenen Zeiten alle Teile des zukünftigen Bauwerkes
durch." Das ist nur risikolos, wenn das Ausgangsmodell, das die
"Idee" verkörpert, separat erhalten bleibt.
Alberti berichtet sogar von sich selber:
"Von mir gestehe ich, dass mir des öfteren viele
Bauentwürfe in den Sinn gekommen sind (multas incidisse
persaepius in mentem coniectationes operum), die mir dann erst in
höherem Masse gefielen, wenn ich sie zu Papier brachte (ad
lineas redegissem). Ich fand sogar in jenem Teile, der mich am
meisten entzückt hatte, tadelnswerte Irrtümer. Als ich
dann wieder die Zeichnung (perscripta) betrachtete, und mit Zahlen
zu messen begann, erkannte ich meine Unachtsamkeit und widerlegte
sie. Hatte ich schliesslich hievon Modelle und Kopien hergestellt,
da kam es mir manchmal beim Durchgehen aller Einzelheiten vor, dass
ich mich darauf ertappte, dass ich mich auch in den Zahlen
getäuscht hatte."
Also: An die Stelle des fertigen -
"idealen" - Konzepts treten versuchsweise Entwürfe, die
fehlerhaft sind und daher schrittweise verbessert werden
müssen. Architektur ist ein ständiges Bemühen.
Alberti: Das Vorbild grosser
Architekten = Erfinder
Alberti geht noch weiter: Durch das
Beispiel hervorragender Architekten werden wir "angeeifert, durch
neue und bessere Entwürfe (novis nos proferendis inventis)
gleiches oder womöglich noch grösseres Lob zu
ernten".
Der Architekt richtet sich nicht mehr nur
nach der göttlichen Weltschöpfung aus, sondern er ist ein
Erfinder. Die Modelle sollen nicht sosehr die "Hand des
Verfertigers" (fabri manum) zum Ausdruck bringen, sondern den
"Geist des Erfinders" (inventoris ingenium).
Ab 1420: Architekturmodelle erhalten
Inspiriert von Florenz begannen um 1390
auch die Baumeister von San Petronio in Bologna und für den
Mailänder Dom - wo es grosse Diskussionen gab - mit zum Teil
riesigen Modellen für ihre Bauwerke zu arbeiten.
Abgesehen von den drei Teilmodellen des Gesamtmodells für den Dom von Florenz aus dem Jahre 1420 (Andres Lepik, 1994, 66-71, 197-198,
Abb. 21ff.) sind erst ab 1490 kleine
Architekturmodelle noch erhalten, beispielsweise vom Palazzo Strozzi in Florenz und vom Dom von Pavia (Ludwig Heinrich
Heydenreich 1937). Das Papiermaché-Modell von St. Maclou in
Rouen (um 1500) ist erst nach der Fertigstellung der Kirche
angefertigt worden.
Luca Pacioli
Das etwa handgrosse Modell eines
Dodekaeders findet sich auf einem Bild, das Jacopo de Barbari 1495
vom Mathematiker Luca Pacioli gemalt hat.
Ferner zeichnete Leonardo da Vinci
zahlreiche Holzmodelle von geometrischen Figuren für Paciolis
Buch "De Divina Proportione", das 1509 erschien, darunter zum
ersten Mal ein Ikosidodekaeder.
Leonardo und Michelangelo
Leonardo da Vinci und Michelangelo
(Herbert von Einem 1959, 1973) haben das Wort "modello" häufig
gebraucht, aber auch alle Arten von Modellen gebaut und verwendet,
und zwar nicht nur für Bauwerke und Geräte aller Art,
sondern auch für Zeichnungen und Gemälde, Skulpturen und
Riesenplastiken.
Über Leonardo schrieb Vasari:
"Und
alle Tage verfertigte er Modelle und Zeichnungen von Vorrichtungen,
um mit Leichtigkeit Berge abzutragen oder sie, damit man von einer
Ebene zur andern gelangen könne, zu durchbohren; desgleichen
zeigt er, wie man mittels Hebeln, Winden und Schrauben grosse
Lasten heben und ziehen könne; ferner erfand er Verfahren zu
Ausbaggerung von Häfen und Pumpen zur Entwässerung tiefergelegener Landstriche; denn niemals hörte dieses
wunderliche Hirn auf zu phantasieren" (Giorgio Nicodemi 1939,
VIII).
Clare Bambach Cappel
(1990, idem 1992) berichtet, dass Michelangelo Buonarotti das Wort “modello” und die Varianten „modelo“ und „modegli“ seit 1505 in etwa 34 Briefen für dreidimensionale Modelle und in weiteren 20
eher für Modelle als für Zeichnungen verwendet hat.
Mehrmals braucht Michelangelo die Formel “disegni e modegli” und “desegni et modeli”. Freilich hat er auch „exemplar“ verwendet. Etwa in dem bekannten Gedicht „S’egli è che n dura pietra“ (1540-44):
„E par ch’esempro pigli
ognor da me, ch’i’ penso di far lei.“
Oder in einer ähnlichen Formulierung auf Deutsch:
„In jedes Bildnis malen
Zugleich mit dem Modelle
Wir Künstler uns hinein“
und
„Oft gleicht ein Bild dem Bildner mehr, o Jammer!
Als dem Modell ...“
Um 1600: Shakespeare beschreibt das Vorgehen beim Bauen
Eine literarische Schilderung des Vorgehens bei Bauen gibt
William Shakespeare um 1600 in seinem Drama Heinrich IV (I, iii):
„Wenn wir bauen wollen,
Beschaun wir erst den Platz, ziehn einen Riss;
Und sehn wir die Gestalt des Hauses nun,
Dann müssen wir des Baues Aufwand schätzen.
Ergibt sich's, dass er über unsre Kräfte,
Was tun wir, als den Riss von neuem ziehn,
Mit wenigern Gemächern, oder ganz
Abstehn vom Bau? Vielmehr noch sollten wir
Bei diesem grossen Werk, das fast ein Reich
Danieder reissen heisst und eins errichten,
Des Platzes Lage und den Riss beschaun,
Zu einer sichern Gründung einig werden,
Baumeister fragen, unsre Mittel kennen,
Wie fähig, sich dem Werk zu unterziehn,
Den Gegner aufzuwiegen; sonst verstärken
Wir uns auf dem Papier und in Figuren
Und setzen statt der Menschen Namen bloss;
Wie, wer den Riss von einem Hause macht,
Das über sein Vermögen; der, halb fertig,
Es aufgibt und sein halberschaffnes Gut
Als nackten Knecht den trüben Wolken lässt
Und Raub für schnöden Winters Tyrannei.“
(Übersetzung 1800ff von August Wilhelm von Schlegel/ Ludwig Tieck. Im englischen Original von 1598 kommt einmal „model“ vor, in der viel längeren Fassung von 1623 heisst es als Vorlage für „Riss“ stets „Modell“.
Christoph Martin Wieland - 1762ff - übersetzte je einmal mit „Riss“, „kleineres Modell“ und „Entwurf“ in Szene I, iv)
Ab 1542: Modell im Französischen,
Deutschen und Englischen
Ab 1542: "modello" gelangt ins
Französische, Deutsche und Englische
Erst um 1550 Jahre kam das italienische
Wort "modello"
als "modelle" oder
"modèle" ins Französische,
als "Modell" ins Deutsche und
als "model" oder "modell"
ins Englische,
wobei sich die Bedeutungsvielfalt rasch
fast in die heutig Fülle ausweitete.
Die erste Belegstelle im
Französischen (1542) findet sich in den "Comptes des
bâtiments du Roi, 1528-1571" (Bd. 2, 282; publiziert Paris:
J. Baur 1877-1880) von Léon de Laborde: "modelle" wurde
gebraucht für eine "figure destinée à être
reproduite".
In der französischen Übersetzung der
Zehn Bücher über Architektur von Vitruvi (1547)
wird „modulus“ ein oder zwei Mal bereits mit „modelle“ (5+) und „Modele“ (33) übersetzt, sonst aber meist mit „module“ (38+, 53+, 56+, 80+, 101+), „reigle“ (38+), „proportions“ (43+) und „mesures“ (149+).
Der erste Beleg für „model“ im Englischen findet sich im Vorwort zu einer Übersetzung der „Elemente der Geometrie“ von Euklid:
“Now, all those thinges, which Vitruuius in his Architecture, specified hable to be done, by dubbling of the Cube: Or, by finding of two middle proportionall lines, betwene two lines giuen, may easely be performed. Now, that Probleme, which I noted vnto you, in the end of my Addition, vpon the 34. of the 11. boke of Euclide, is proued possible. Now, may any regular body, be Transformed into an other, &c. Now, any regular body: any Sphere, yea any Mixt Solid: and (that more is) Irregular Solides, may be made (in any proportiõ assigned) like vnto the body, first giuen. Thus, of a Manneken, (as the Dutch Painters terme it) in the same Symmetrie, may a Giant be made: and that, with any gesture, by the Manneken vsed: and contrarywise. Now, may you, of any Mould, or
Modell of a Ship, make one, of the same Mould (in any assigned proportion) bigger or lesser.“
Der Fluss im Sprachgebrauch zeigt sich
sehr schön im Englischen, wo für Modelle von Bauwerken,
Maschinen und Landschaften seit Mitte des 16. Jahrhunderts "modell"
und "model", seltener "moddel", aber auch "module" verwendet wurde;
umgekehrt wurde Vitruvs modulus mit "module" (1563), "model" (1598) und "modulus" (1664) übersetzt.
Shakespeare gebrauchte “modle” (1597), “model” (1598, 1600), “modill” (1604) und “Modell” (1623) z. B. im Sinne von Architekturmodell (an architect’s set of designs), Abbild (a person that is the likeness or „image” of another) und Gussform (mould).
„Mould“ wurde auch wie frz. „moule“ geschrieben, aber auch „mowle“.
Wenig plausibel ist, was Grimm, wiederum
ohne Beleg, behauptet: Das deutsche Wort "Modell" habe
"schon im
16. Jahrhundert besonders unter oberdeutschen Goldschmieden
bestanden, die von Italien her vielfach Musterformen in Blei und
Gips für ihre Arbeiten bezogen, und ist von
Künstlerkreisen aus nach und nach allgemeiner geworden,
'model' zurückdrängend, und namentlich die Sprache der
Kunst und des höheren Gewerbes beherrschend, bei Formern,
Kunstgiessern, Malern, Bildhauern u. a., auch bei
Kunstgärtnern, wo es in den französischen Gartenanlagen
die zierlichen Blumenbeetfiguren bezeichnete."
Wahrscheinlicher ist die erste Verwendung
im Deutschen für Architekturmodelle. Wie langwierig und subtil
die Bildung eines neuen Wortes erfolgt, erhellt aus der
Übersetzung des Buchs von Vitruv durch den Strassburger
Wundarzt und Mathematiker Walther Rivius (Ryff) ins Deutsche (1548;
1575). Vorne im Register findet sich einmal das Wort "Modell", das
mit einer ungenauen Seitenangabe auf die Schreibweise "Model"
verweist. Für das legendäre Modell (lat. exemplar) einer
Stadtmauer und eines Hebekrans, das Kallias den staunenden
Bewohnern von Rhodos vorführte, findet sich die Formulierung
"Muster oder Model". (Für das "Grundmass" d. h. modulus,
braucht Rivius "Model oder Messstab".)
Zum ersten Mal "richtig" gebraucht wird
Modell dann bei Daniel Speckle ("Architectura von Vestungen",
1589). Es ist ein möglichst detailgetreues Holzwerk für
den Architekten, bei dem "alles nach dem jungen Massstab auffzogen
und für augen gestelt werden kann, wie es gebawen werden soll,
darnach man sich zu richten".
Die Bedeutung wurde rasch ausgeweitet auf
Muster und Vorbild. Die Unsicherheit der Schreibweise hielt jedoch
noch lange an. Beispielsweise finden sich in Briefen von Hainhofer
die Formulierungen: "...dient zu einem modell" (1610) und
"... oder ein klein model machen" (1612).
Im Bereich der Mode (frz. "à la
mode" oder "modo") ist im Deutschen bereits 1640 von "Modellen von
Kleidern und Schuhen" die Rede. In den andern Sprachen scheint dies
erst 200 Jahre später der Fall zu sein.
Die dazugehörigen Verben sind „modeler“ (frz., seit 1585: „rendre semblable“) und „modellare“ (it., 1598), im Englischen „modelize“ (1605 oder 1656) und „model“ (1581), im Deutschen „modellieren“ (siehe 1739 in Zedlers Lexikon).
Ab 1555: Geistige Entwürfe oder
Formen als Modelle
Seit der Mönch Giacomo Moronessa die
Reformation als Modell bezeichnet hat, wurden immer wieder geistige
Entwürfe, Muster, Vorschläge oder Strukturbeschreibungen
als Modelle bezeichnet wurden.
1576 verbesserte und ergänzte der
englische Astronom Thomas Digges die "Prognostication" seines
Vaters und erklärt am Schluss dem Leser:
"Amonge other thinges I founde a
description or Modill of the world and situation of Spheres
Coelestial and Elementare according to the doctrine of Ptolome,
whereunto all Universities sithens have consented.
But in this our age one rare
witte…hath by long studie, painfull practise, and rare
invention delivered a new Theorick or model of the world,
shewing that the earth resteth not in the Center of the whole
world, but only in the Center of thys our mortal world or Globe of
Elements."
1620 verfasste
Francis Bacon sein „Novum Organon“, und zwar lateinisch. Er gebraucht „modulus“ für Druck-Letter (i. 110) und für Versuche, die Welt geistig zu erfassen – für letzteres auch das altbekannte „exemplar“.
“For I lay foundations in the human intellect for a true pattern of the world (verum
exemplar Mundi) as we actually find it and not as someone’s own private reason hands it down to him. And this cannot be achieved unless we undertake a most painstaking dissection and anatomy of the world. But I proclaim that the botched and (if you like) apish patterns of worlds (Modulos vero ineptos Mundorum) which men’s fancies have thrown together into philosophical systems should be utterly destroyed” (i. 124).
Die erste Übersetzung von Bacon’s Novum Organon ins Englische erfolgte erst mehr als ein Jahrhundert später, 1733, durch Peter Shaw. Er schrieb “a true Model of the World” und “ridiculous Mock-models of Worlds”.
Die vielfach aufgelegte Übersetzung von James Spedding (1858) nahm „model“ für „exemplar“ und „image“ für „modulus“. Die neueste Übersetzung von Graham Rees mit Maria Wakely (2004) hat in beiden Fällen „pattern“.
Im Vorwort zu Francis Bacons Utopie "New
Atlantis" (1627) schreibt der Herausgeber William Rawley:
“This Fable my Lord devised, to the end that He might exhibite therein, a
Modell or Description of a Colledge, instituted for the Interpreting of Nature, and the Producing of Great and Marveilous Workes for the Benefit of Men …
Certainely, the Modell is more Vast, and High, then can possibly be imitated in all things; Notwithstanding most Things therein are within Mens Power to effect.
His Lordship thought also in this present Fable, to have composed a Frame of Lawes, or of the best State or
Mould of a Common-wealth …”
In der 11 Jahre später erschienenen lateinischen Fassung heisst es: „modulum quendam et descriptionem“.
Wenig Beachtung fand dagegen Descartes
eigenhändige Mahnung in seinem "Discours de la méthode"
(1637 2.3a): "Zeige ich Ihnen hier also das Modell (frz.:
modèle) meines Unternehmens, weil es mir ziemlich gut
gefallen hat, so bedeutet dies nicht, ich wolle irgend jemandem
raten, es nachzuahmen."
Als Descartes 13 Jahre später in
Schweden starb, verfasste der ihn wie einen Vater verehrende
20jährige Christiaan Huygens ein Klagegedicht, in dem es unter
anderem heisst: "apres avoir produit le modele du monde, s'informe
desormais du mystère des cieux" (R. Specht 1966, S. 31).
Die Vision des Begründers der
Rosenkreuzer Johann Valentin Andreae, der utopische Staat
"Christianapolis" (1619) hiess in einer englischen Übersetzung
bereits "A modell of a Christian Society" (1647).
Ebenfalls als Modelle bezeichnete der
Kameralist Veit Ludwig von Seckendorff seinen "Teutschen
Fürsten-Stat" (1656 I, 36): "darvor sc. von einer Beschreibung
eines Fürstentums wir in diesem Werck hauptsächlich
handeln, und gleichsam ein Modell geben wollen".
James Harrington schliesslich bezeichnete
seine Utopie "Rota" (1660) als "A model of a free-state or equall
common-wealth".
Der Philosoph Pascal definierte (1657) in
diesem Sinne Modell als: "ouvrage d'esprit ou action morale, dont
on peut s'inspirer".
Friedrich Kaulbach schildert (1984) eine
Auseinandersetzung von Leibniz mit Locke um 1700: "Während
Locke die empiristisch-nominalistische Seite auch in der Auffassung
des Modells vertritt, plädiert Leibniz für eine
Orientierung des Wissens an den 'inneren' Wesenheiten der Dinge.
Damit bringt er eine platonisch-augustinische Tradition zur
Geltung." Für Leibniz sind die geistigen Formen, nach denen
Gott die Welt schöpft, "Modelle"; diese dienen zugleich auch
als Vorbilder für das menschliche Erkennen.
Ab 1600: "Modell" in deutschen,
englischen und französischen Buchtiteln
Abgesehen von den zahlreichen
Modelbüchern für Stickereien und dergleichen stammt der
erste deutsche Buchtitel von Christian Gottlieb von Friedberg:
"Newer Calvinischer Modell dess heiligen Römischen Reichs"
(1616). Es ist ein Pamphlet gegen die Calvinisten, welche den
religiösen Frieden stören. Ein weiteres Pamphlet stammt
von Ludwig Camerarius (1620). Im Jahre 1660 sammelte Johann
Kissling Weisheiten berühmter Männer als christliches
Erbauungsbuch: "Hertzbewegliche Buss-, Beicht-, Abendmahls- und
Lebens-Modell. Darinnen gelehret und gezeiget wird: Wie ein
bussfertiges Christen-Hertz seine begangene Sünde bereuen,
beweinen ... soll."
Eine der ersten englischen Publikationen,
in deren Titel "Modell" vorkommt, ist ein Nachruf aus dem Jahr
1603: "Vertues due: or, A true modell of the life of the right
Honourable Katharine Howard, late Countesse of Nottingham" (T. P.
Gentleman, Thomas Powell). Es folgt ein Gartenbuch von William
Lawson (1618) mit "models for trees". Ein nächster Titel ist
religiös: "A modell of divinitie, catechistically composed",
und stammt von John Yates (1622). Das Decamerone, die 100
Erzählungen von Giovanni Boccacio, wurden unter dem Titel "The
modell of vvit, mirth, eloquence, and conuersation" 1620-25 auf
Englisch angeboten.
Weitere frühe englische Buchtitel
heissen: das Anstandsbuch "The English gentleman, and The English
gentlewoman - both in one volume couched, and in one modell
portrayed" (Richard Brathwait 1641), "A modell of the government"
(George Walker, 1646), "A model of true spiritual thankfulnesse"
(Thomas Case, 1646), "Ichnographia. Or a model of the primitive
Congregational way" (William Bartlet, 1647), "A model of
church-government" (John Dury, 1647), "A model for the maintaining
of students of choice abilities at the university" (Matthew Poole,
1658), "A brief answer unto the Cambridge model" (1658) und
schliesslich nach dem grossen Brand von London "Proposals of a new
model for rebuilding the city of London" (Valentine Knight
1666).
Verblüffend ist, dass sich die
französischen Autoren seit 1598 ganz ähnlichen Themen
widmeten, z. B. Joseph Boillot, Jean Gujon, Robert Poisson,
Guillaume Gazet, François Véron, Benedetto Scotto,
Jean de Lannel, R. Dognon, Jean Auvray, Diego Nissenon und Jacques
de Cambolas.
Samuel Fouquet steuerte 1671 "Le modèle du parfait cavalier" bei, wobei es, ganz im
ursprünglichen Wortsinne, um die Bändigung und Haltung
von Pferden ging.
Anweisungen für Handwerker und Bastler
"Muster für Goldschmiede,
Kunstschreiner, Büchsenschäfter usw." gab es weiterhin,
z. B. eines, das 1549 in Zürich gedruckt wurde. Im selben Jahr
erschien von P. Flötner postum in Nürnberg eine Folge von
Ornamentholzschnitten mit Vorlagen für Tischlerarbeiten nach
oberitalienischen Vorbildern. Ihr folgten bald die sogenannten
"Schreinerbücher".
Seit 1545 sind Modellierbögen
erhalten. Auf etwa 1550 datiert Gabriel Schlüsselbergers
"Musterbuch für Stuckaturen".
Spätere Anweisungen für
Handwerker sind z. B. Simon Cammermeier (1678) über das
Vitruvsche Grundmass (mit der Bezeichnung "Modell") oder Thomas
Miller: "The compleat modellist, or, Art of rigging; shewing an
exact way of raising the model of any ship or vessel" (1676).
Eine Fülle von Modell- und
Musterbüchern wurde seit ca. 1750 aufgelegt. Legendär
wurde der Verkaufskatalog für Möbel von Thomas
Chippendale (1754). Ein anderes stammt von Johann Michael
Kirschbaum (1771). Ein Bestseller wurde von Thomas Sheraton: "The
cabinet-maker and upholsterer's drawing-book" ab 1793, sofort auch
in Deutsch erschienen unter dem Titel: "Lehrbuch für
Innenausstatter. Modell- und Zeichnungsbuch" (1794). Umgekehrt
wurde Bernhard Heinrich Blasches "Papparbeiter" (1797, 5. Aufl.
1847) auf Englisch übersetzt: " Papyro-plastics, or The art of
modeling in paper" (1824). Von Johann Riem
erschien: "Modell-Magazin für Ökonomen"
(1802-1803).
Das Schöpferische im Menschen:
Modellieren im Kopf
Die Beschäftigung mit Vorstellungen,
Imagination, Phantasie, Einbildungskraft
Altertum und Mittelalter: phantasia und
imaginatio
Die Verhältnisse im Umkreis von
Vorstellung-Idee-Bild-Anschauung sind mindestens so kompliziert wie
diejenigen im Bereich "Modell". Sie hängen überdies auf
vielfältige Weise mit dem Modelldenken, -erzeugen und
-verwenden zusammen.
Die Alten Griechen bezeichneten die
Modellbildung im Kopf als "phantasia". Grossen Einfluss hatte die
Schilderung von Aristoteles in "De anima III, 3" (Gerard Watson
1988; Dorothea Frede 1992; Bryn Rhys Williams 1996).
Im Lateinischen wurde dafür am
ehesten "imago" (fast nie: imaginatio, repraesentatio, perceptio)
gebraucht (Raimund Daut 1975).
Erst Boethius (um 500 n. Chr.)
erklärt in seiner "Consolatio" (V. Buch): "Imaginatio vero
solam sine materia iudicat figuram" (dt.: Die Vorstellungskraft
beurteilt die Gestalt ohne Materie).
In der mittelalterlichen Philosophie war
dann das Wort "imaginatio" geläufig, z. B. bei Abälard
(Paivi Hannele Jussila 1995), Hugo von St. Viktor (Heinrich Ostler
1906; John Philip Kleinz 1944; Roger Baron 1957; Heinz Robert
Schlette 1961) oder Thomas von Aquin (Pirmin Klaunzler 1949, Karl
Bürgi 1972 - generell: Murray Wright Bundy 1927; John Martin
Cocking 1991).
Reproduktiv oder produktiv?
Was das Verständnis des
Modelldenkens auch heute noch so schwer macht, zeigt sich schon bei
der Vorstellung oder Phantasie; nämlich die Doppeltheit von
reproduktiv und produktiv: Vorstellungen - aber auch Modelle -
können sowohl Abbilder oder Nachbildungen von irgendetwas sein
als auch schöpferische Gestaltungen oder freie
Entwürfe.
Bereits Augustin (400 n. Chr.)
unterschied sogar drei Arten von Phantasie: produktive,
reproduktive und synthetische.
Der Scholastiker Johannes von Salisbury
(1159) meinte, die Vorstellungen (Phantasien!) entstünden
durch Vermittlung von "species", als "rerum imagines in mente
apparentes".
Hochrenaissance: Psychologie des Erkennens
Erst postum (1501) erschien vom Grafen
Pico della Mirandola das Buch "De imaginatione", das bald (1536)
auch unter dem Titel "De Phantasia" gedruckt wurde.
Die Okkultismus-Expertin Fanny Moser
(1935) weist darauf hin, dass "die Alten, so auch Giordano Bruno
und Agrippa von Nettesheim, sehr wohl den Einfluss der
Suggestion kannten und diesem viele der merkwürdigen
Erscheinungen zuschrieben".
Der päpstliche Leibarzt Giovanni
Fracastoro stellte um 1540 eine Psychologie des Erkennens auf,
welche durch sinnliche Symbole erfolgt ("cognitionem omnem per
rerum simulacra fieri"). Verknüpfung und Trennung sind die
Grundfunktionen des Denkens.
Sehr beliebt waren die Wörter
"fantaisie" und "imagination" bei Montaigne. Er verwendet sie je
über hundert Mal in seinen bekannten "Essais" (1580). Dem
Thema ist auch der Essai "De la force de l'imagination" gewidmet
(Ian Dalrynple McFarlane 1968).
1600-1700: unterste Stufe der Erkenntnis
- Götzendienst
Der Arzt Thomas Fienus (1608) diskutierte
bereits die "imaginatio" als Ursache, aber auch Heilmittel für
körperliche Krankheiten (L. J. Rather 1967). Auch der
flämische Arzt und Chemiker Johann Baptist van Helmont (um
1610) war von der Kraft der Imagination überzeugt und von der
Existenz der psychischen Energie, die durch Suggestion aktivierbar
ist (postum: "Aternary of paradoxes" 1650).
Bei Descartes (1641) ist die "imaginatio"
eine Art Anwendung des Erkenntnisvermögens auf den ihm
unmittelbar gegenwärtigen Gegenstand, der folglich existiert
(Jean Henri Roy 1944).
Spinoza (Ethica II, prop. XLIV; 1677)
nannte die unterste Stufe der Erkenntnis "imaginatio". Es ist die
auf Sinneseindrücken beruhende Erkenntnis der Einzeldinge, die
als verstümmelt, verworren, unzulänglich, inadäquat
gekennzeichnet werden muss, während die "ratio", die Vernunft,
adäquate Erkenntnis des Seins vermittelt.
Die höchste Erkenntnisart ist nach
Spinoza die "scientia intuitiva". Sie erschliesst uns als
anschauendes Wissen das Wesen der Dinge, trifft immer das Wahre
(Robert von Voss 1901; Maximilian Herer 1971; Klaus Peters et al.
1975).
Seither befasst sich die Philosophie mit
dieser "modernen" Auffassung von "Intuition".
Zur gleichen Zeit sprach man im
theologischen Bereich gerne von den "natürlichen bösen
Gedanken" des Menschen. Dafür wichtig wurde "A treatise of
mans imagination" (1607) des theologischen Schriftstellers William
Perkins, D. D., Fellow of Christ's College, Cambridge. Dieser wird
gerne als Vater des englischen Puritanismus bezeichnet.
Eine andere Formel benützten zwei
weitere englische Puritaner, John Sheffield und John Owen. Sie
sprachen von den "Chambers of imagery". Das nimmt Bezug auf eine
Bibelstelle (Ez. 8, 12) und bedeutet soviel wie
"Götzendienst".
Offenbar hatte damals "imaginatio" einen
negativen Beiklang.
1700-1800: im Bannkreis der Dichtung und
Philosophie
1711 erschien im Londoner "Spectator" vom
Schriftsteller und Oxford-Dozenten Joseph Addison "The pleasures of
the imagination". Doch ein Bestseller wurde erst das gleichnamige
Lehrgedicht in drei Büchern des Dichters und Arztes Mark
Akenside (1744 - dazu Charles Theodore Houpt 1944; Harriet Jump
1987; John Brewer 1997; Robin Dix 2000).
Um 1700 wurde Imagination in England und
Frankreich vor allem in Zusammenhang mit der Dichtkunst diskutiert
(William Powell Jones 1966; Th. Klimek 1968; Peter-Eckhard Knabe
1972). In Deutschland dagegen blieb sie noch länger im
Einzugsgebiet der Philosophie.
Nach Locke (1690) widmeten sich im 18.
Jahrhundert vor allem die noch sehr theoretischen Philosophen
Leibniz und Wolff, Hume und Reid, Kant und Fichte, Reinhold und
Maimon dem Thema Vorstellung resp. Einbildungskraft (Carl
Knüfer 1911; Hans-Ulrich Baumgarten 1992; Karlheinz Bark 1993;
Gabriele Dürbeck 1998)
Ausgerechnet in diesem
aufklärerischen Jahrhundert entspann sich eine Diskussion
über die "Einbildungskraft der schwangern Weiber, und
derselben Wirkung auf ihre Leibesfrucht" (James Augustus Blondel,
John Henry Mauclerc, Benjamin Bablot).
Gemäss Fanny Moser (1935) hat
bereits 1784 eine französische Expertenkommission bei der
Untersuchung des sogenannten "tierischen Magnetismus" (eine These
des Arztes Franz Anton Mesmer) den Einfluss der Imagination erkannt
und ist zum Schluss gekommen: "Imagination ist alles."
Aufklärung: Verwirrung um Einbildung,
Vorstellung und Anschauung
Paracelsus hatte für "imaginatio"
das deutsche Wort "Einbildung" eingeführt (I. Betschart
1952).
100 Jahre später erfand Georg
Philipp Harsdörffer für "facultas imaginandi" das
Kunstwort "Einbildungskraft" (Hans Langendörfer 1940; Dietmar
Kamper 1981; Isabel Zollna 1990).
Nochmals fast ein Jahrhundert später
führte Christian Wolff den Ausdruck "Vorstellung" in die
philosophische Sprache ein. Ausgerechnet er, der doch
Präzision in der Philosophie voranbringen wollte, schuf damit
heillose Verwirrung. Seine Behauptungen lauten:
·
"Die Vorstellung solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man
Einbildung zu nennen. Und die Kraft der Seele, dergleichen
hervorzubringen, nennet man die Einbildungskraft" (1712).
·
Ideen sind Vorstellungen einer Sache, sofern sie objektiv
betrachtet wird (1734)
· Der
Verstand ist das "Vermögen, das Mögliche deutlich
vorzustellen"
·
Ingenium (Genie) ist die "Leichtigkeit in der Beobachtung der
sinnfälligen Ähnlichkeit der Dinge" (1732).
Kurz darauf machte Christian August
Crusius, der bedeutendeste Gegner von Wolff, die Verwirrung
komplett. Er brachte 1747 den deutschen Begriff "Anschauung"
(ursprünglich für lat. contemplatio gebraucht) ins Spiel
und formulierte: "Es ist also die anschauende Erkenntnis diejenige,
da man sich ein Ding durch dasjenige vorstellet, was es an sich
selbst ist."
Wenig hilfreich ist Kant. In der ersten
Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" (1781) befasst er sich ja
mit den beiden hauptsächlichsten Seelenvermögen:
Sinnlichkeit und Verstand. Über das dritte, die
«Einbildungskraft» (Andreas Heinrich Trebels 1967; Hans
Georg Juchem 1970), geriet er ins Schwanken. Martin Heidegger
meinte, mit der zweiten Auflage (1787) habe er sich "für den
reinen Verstand gegen die reine Einbildungskraft entschieden, um
die Herrschaft der Vernunft zu retten".
Jakob Friedrich Fries habilitierte sich
1801 mit einer Schrift "de intuitu intellectuali". Posthum erschien
von ihm die Klarstellung: "Über den Unterschied zwischen
Anschauung und Denken" (1847). "Zum Wesen der Anschauung"
äusserte sich 1899 Ulrich Diem in seiner Berner Dissertation.
Heinrich Reitz doppelte mit einer Zürcher Dissertation ("Zur
Geschichte und Theorie des Anschauungsbegriffs" 1901) und Karl
Düssel mit einer Heidelberger Dissertation ("Anschauung,
Begriff und Wahrheit" 1906) nach.
Sprachliche Differenzierungen
Im Englischen brauchte man übrigens
zu dieser Zeit für Vorstellung resp. "imaginatio" meistens
"idea" (z. B. Locke, Berkeley, Hume, Reid - John William Yolton
1956, 1990, 1993, 1996; George Pitcher 1971, 1988; Stephen P. Stich
1975; Peter Alexander 1985; Willis Doney 1989; Roger D. Gallie
1989; Michael Ayers 1997), im Französischen "idée"
(Condillac, Bonnet; im 19. Jh.: Fouillée). Um 1900 brauchte
man dafür auch "images".
Im Deutschen wird "Imagination" bereits
seit etwa 1700, aber selten, gebraucht.
Die "Phantasie" wird seit etwa 1750 (Georg Friedrich Meier, Johann Georg Heinrich Feder, Johann Nicolaus Tetens) gerne als "Dichtkraft" oder
"Dichtungsvermögen" gefasst.
Ebenfalls seit 1750 häufen sich die
Betrachtungen über Genie (Edgar Zilsel 1926; Hans Thüme
1927; Jochen Schmidt 1985; Penelope Murray 1989), aber auch
über Heuristik resp. Erfindungskunst (Michael von Matuschka
1974).
Viele unterschiedliche Arten von
Vorstellungen
Für den praktischen Gebrauch
empfiehlt sich die Unterscheidung von über einem Dutzend
verschiedener Vorstellungen.
Da sind einerseits die zehn "klassischen"
Arten, die fast alle auf Platon oder Aristoteles
zurückgehen:
·
Erinnerungsvorstellung ("anamnesis", Gedächtnis; Thomas von
Aquin)
·
Zukunftsvorstellung (Erwartung, Vorfreude, Wunsch, Vorsatz, Ahnung,
Befürchtung, Angst; Antizipation, Plan, Szenario,
Prognose)
·
Phantasievorstellung (durch freie Umbildung von
Wahrnehmungsinhalten; dank der "facultas fingendi" Christian Wolff
1732; Fiktionen, Utopien, Luftschlösser; Tagträume,
Hirngespinste, Dichtung, Kunst)
·
Assoziation (Verknüpfung von Empfindungen oder
Vorstellungen)
·
Abstraktion (Absehen von Merkmalen - dem Besonderen,
Zufälligen, Unwesentlichen - einer Vorstellung oder eines
Begriffs; Thomas von Aquin, Descartes, Kant)
·
Traumbilder in unterschiedlichsten Graden der Lebhaftigkeit
(Vorstellungen ohne Wahrnehmungen)
·
Trugbilder (auch: Sinnestäuschungen, z. B. Illusionen,
Halluzinationen und Visionen)
·
Wahrnehmungsvorstellungen (Komplex von Empfindungen)
·
falsche Vorstellungen ( Schatten-, Trugbilder, Platon; "hairesis";
"böse Gedanken", William Perkins 1607; "Idola",
Götzenbilder; Francis Bacon 1620; Aberglauben, Vorurteile,
Voreingenommenheit, Fehleinschätzungen,
Rationalisierungen)
·
Ideal (Musterbild des Handelns und Gestaltens, oberster Zielpunkt
des Willens, Francesco Lana Terzi 1670, Kant 1781; erlebnis- und
handlungsorientierende Vorbilder, "idées-forces"; Alfred
Fouillée 1890; Leitbilder, Idole)
Hinzu kommen die zehn "neueren" Arten,
die zum Teil nicht scharf auseinanderzuhalten sind:
·
Projektion (Hinausverlegung von Empfindungsinhalten und Bildern in
den Raum ausser uns, Hobbes 1651, 1655, 1658; Condillac 1754;
Tetens 1776; Johannes Müller 1840; Abwehrmechanismus des Ich,
Sigmund Freud 1921; 1924: Mythos).
·
gegenstandslose Vorstellungen (objektive "Vorstellungen an sich";
Bernard Bolzano 1837)
·
Generalisierungen (Verallgemeinerung, John Stuart Mill 1843;
Poincaré 1902; Husserl 1913; Übertragung auf andere
Gebiete, Pawlow, Dewey)
·
Zwangsvorstellungen (fixe Ideen; Max Stirner 1845; Pierre Janet
1897)
·
Wertvorstellungen (Georg Simmel 1900; Ideologien, Destutt de Tracy,
1803, Karl Mannheim 1929; Weltbilder; Normvorstellungen, Regeln,
Prinzipien, Grundsätze, Dogmen, Einstellungen, Meinungen)
·
Lebensplan ("script", Lebensaufgaben; Alfred Adler 1912)
·
Imago (im Unbewussten existierende typenhafte Vorstellung von
realen Personen oder Phantasiegestalten, zu denen im Kindesalter
die ersten Beziehungen geknüpft worden waren, z. B.
Mutter-Imago; Sigmund Freud 1912)
·
eidetische Anschauungsbilder (besonders anschaulich und intensiv;
Erich Rudolf Jaensch 1925)
·
Stereotype ("charakteres", Theophrast, um 300 v. Chr.; Klischees,
Verhaltenserwartungen oder Vorstellungen, welche Einzelne oder
Gruppe von sich oder von andern haben; Walter Lippmann 1922;
Stigma; Erving Goffman 1963)
·
Image (Marken-, Firmenbild, Aura, Ruf, Reputation einer
Persönlichkeit; Burleigh Bradford Gardner, Sidney J. Levy 1955)
Davon abzugrenzen wären, je nach
Vorgang, der dahintersteckt, etwa zwanzig weitere Arten von
Bildern, Vorstellungen oder Phantasmen:
·
beim Lesen und Zuhören
·
beim Riechen bestimmter Düfte, Essenzen, Parfums, beim
Schmecken
· bei
Blindheit
· im
Halbschlaf, bei Dämmerzuständen
· bei
Empathie, Einfühlung
· bei
Erschöpfung, Überreizung, Schwindel, Sensory
Deprivation
· bei
Vergiftung, Delirium, Alptraum
· bei
Mentaltraining, "aktiver Imagination", Ideokinetik,
Desensibilisierung
· bei
Kontemplation, Meditation, Versenkung
· bei
Einfall, Inspiration, Eingebung, Erleuchtung, Channeling
· bei
Indoktrination, Gehirnwäsche
· bei
Suggestion, Heuchelei, Täuschung, Irreführung, List
·
beim Schlafwandeln
· bei
Spuk, Séancen, Geisterbeschwörungen, Astralreisen
· bei
Telepathie, Hellsehen, Präkognition, Mantik
· bei
Jenseitskontakt, medialer Kunst
· bei
Nahtoderfahrungen
·
unter Hypnose
· bei
Rückführungen
·
unter Trance, Ekstase, Ergriffensein ("Begeisterung")
·
unter Drogeneinfluss
Sowie
·
Wahnideen (z. B. Grössenwahn, Euphorie) bei Geisteskranken
·
virtuelle Bilder im Cyberspace.
Die Deutung von Metaphern
"... ein Zeichen natürlicher
Begabung"
Die Alten Griechen produzierten auch
Metaphern (Hugo Blümner 1891; Robert Thomas 1891; Martin
Christinger 1920; William Bedell Stanford 1936; Gerd
Breitenbürger 1975), also Bilder, mit denen ein
gewöhnlicher Ausdruck veranschaulicht - ""Schiff der
Wüste" -, Sinnliches personifiziert - "das Meer tobt" - oder
Abstraktes durch Anschauliches ersetzt wird - "die Säulen des
Staates".
Aristoteles meinte: Die richtige
Verwendung von Metaphern "ist ein Zeichen natürlicher Begabung
(gr. euphyia, lat.: ingenium), denn gute Metaphern erfinden, heisst
einen guten Blick für Ähnlichkeiten haben (homoion
theorein)".
Metaphern in der Bibel
Das Hauptinteresse der Gelehrten
konzentrierte sich aber auf die Deutung von Metaphern und
ähnlichem im Alten und Neuen Testament (Charles Goldwell 1621;
Joannes Janus 1650; Ralph Venning 1652). Das hiess damals Tropology
(Thomas Delaune/ Benjamin Keach 1681; Johann Andreas Fabricius
1736; John Brown 1768) oder Troposchemalogia (Benjamin Keach
1682).
"Die Metaphorik der
spätmittelalterlichen Mystik" untersuchte Michael Egerding
(1997).
Sammlungen schöner Aufsätze zu
Metaphern in der Geschichte stellten 1978 Hayden V. White und 1994
Frank Rudolf Ankersmit zusammen.
Analogien in Sprache und Literatur, Mystik und
Theologie, Kunst und Technik
Selbstverständlich kannten schon die
Alten Griechen Analogien (Franz Brentano 1862; Paul Grenet 1948;
André Rivier 1952; Erhard-Wolfram Platzeck 1954; Karl
Bärthlein 1957; Johannes Hirschberger 1960; Eberhard
Jüngel 1964; Geoffrey E. R. Lloyd 1966; Wilfried Fiedler 1978;
Mario Puelma 1986; Ralf M. W. Stammberger 1995).
Der Analogiebegriff wird seit dem
Franziskaner und Mystiker Bonaventura (um 1250 - Karl Werner 1876;
L. Berg 1955) und dem Dominikaner Thomas von Aquin (um 1270 -
Ludwig Schütz 1881; Gerald Bernard Phelan 1941; George Peter
Klubertanz 1960; Ralph M. McInerny 1961, 1996; Barbara Delp Alpern
1980; Norbert W. Mtega 1981) bis auf den heutigen Tag vor allem in
der katholischen Theologie reich gebraucht und diskutiert (Battista
Mondin 1963; Richard Swinburne 1992).
Legendär und vielfach aufgelegt
wurde von Bischof Josef Butler "The analogy of religion"
(1736).
Die Künstler und Gelehrten der
Renaissance haben die Analogie virtuos und vielfach gebraucht
(Leonardo Olschki 1918-27; Ernst Cassirer 1927).
Michael Randall hat 1996 die "analogical
imagery" der französischen Renaissance untersucht.
Die Konkurrenten des Modellbegriffs
Der Modellbegriff in Konkurrenz mit
"System" und "Hypothese"
Nikolaus Kopernikus hat weder in seinem
"Commentariolus" (ca. 1515) noch in seinem Hauptwerk "De
revolutionibus orbium coelestium" (1543) die Begriffe System und
Modell verwendet. Doch schon im Titel des Hauptwerks kommt das Wort
"Hypothese" vor ("et novis insuper ac admirabilibus
hypothesibus ornatos").
Der Wittenberger Professor Kaspar Peucer
- Schwiegersohn von Melanchthon und kurzzeitiger Lehrer von Tycho
Brahe - eröffnete 1571 den Reigen der Schriften, welche die
Kopernikanischen Auffassungen als Hypothesen bezeichneten mit:
"Hypotheses astronomicae, seu theoriae planetarum. Ex
Ptolemaei et aliorum veterum doctrina ad observationes Nicolai
Copernici, et canones motuum ab eo conditos accomodatae."
"Theses Physicae de mutationibus
et motu" legte 1570 Johannes Bruno vor, "Theses astronomicae"
Lambertus Croppet 1598.
Schon 1540 sprach Joachim Rheticus vom
"systema des Kopernikus"; 1576
schrieb Thomas Digges vom "model of the world" des
Kopernikus. Digges bezeichnete in diesem Zusammenhang auch die
ptolemäische Beschreibung als "modill of the world".
Das bedeutet jedoch nicht, wie Viktor A. Stoff (1969, 13) schreibt,
"dass die Modellmethode schon sehr alt ist".
Seit 1600 wurde System fast
explosionsartig zum Modewort und fasste in allen Wissenschaften
Fuss.
Bereits 1605 erschien in Hannover beim
bekannten Verleger Wilhelm Anton von Clemens Timpler die Schrift
"Physicae seu philosophiae naturalis Systema methodicum". 1610
erschien von Bartolomäus Keckermann im selben Verlag ein
"Systema Physicum", und 1611 ein "Systema astronomiae
compendiosum". 1617 erschien wiederum von Timpler: "Opticae Systema
Methodicum Per Theoremata Et Problemata Selecta."
1613 erschien in Frankfurt von Henricus
Nollius ein "Systema Medicinae Hermeticae generale". Zwei Jahre
später erschien in Hannover von Johann Gigas das "Enchiridon
sphaericum - id est systema cosmographicum compendiosum ...
continens utriusque globi, caelestis et terrestris ...
descriptionem". Galilieo Galilei widmete eines seiner Hauptwerke
(1632) den "due Massimi Sistemi" des Ptolemäus und
Kopernikus.
Während Francis Bacon 1620 bereits
von "philosophischen Systemen" sprach, taucht bei Descartes das
Wort "système" nicht auf (dafür "modèle").
Descartes Auffassungen wurden von
Henricus Regius (1649) und Johann Clauberg (1651) als
"Philosophie", von Petrus Gassendi (1650) als "Metaphysik" und von
Malebranche als "système" bezeichnet.
Der Cambridger Platoniker Ralph Cudworth
schrieb: "The True Intellectual System of the Universe"
(1678). Er stellte seine Auffassung den anderen "systems of
the world" gegenüber. Auch Leibniz nannte seinen
Welterklärungsversuch durchwegs "mon
système".
Weitere Konkurrenz: "Theorie",
"Philosophie", "Traktat", "Prinzipien"
Eine weiter wichtige Bezeichnung ist
"Theorie".
Etwa ab 1470 erschienen mehrere
Bücher mit dem Titel "Theorica planetarum" - unter anderem von
Gerhard von Cremona (um 1180; auch Gherardus de Sabbioneta
zugeschrieben; Venetiis: Florentius de Argentina 1472).
Die "Theoricae novae planetarum"
des Österreichers Georg von Peurbach, dem Erneuerer der
abendländischen Astronomie, erschien erstmals
fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod 1488 (Venetiis:
Santritter/ de Sanctis). Von seinem Schüler und engsten
Mitarbeiter Johannes Regiomontanus war schon 1482 ein Text "Contra
Cremonensia in eorundem planetarum theoricas"
erschienen.
1528 wurde vom französischen
Physiker und Kartographen Oronce Finé "La Theorique
des cielz" über die Bewegungen der sieben Planeten gedruckt.
Seither erschienen unzählige Schriften zur Theorie der
Planeten.
Texte zu Theorien der Medizin gab es
bereits ab 1500, zu Thesen der Medizin ab 1520.
Eine "Theoriae philosophiae hermeticae"
erschien 1617 von dem gerade vorher erwähnten Heinrich
Nolle.
Die Bezeichnung "theoria" wurde
später auch gebraucht von Thomas Burnet ("The theory of the
earth" 1684-90), John Norris (1701-4), George Berkeley ("An Essay
towards a new theory of vision" 1709), Adam Smith ("The theory of
moral sentiments" 1759) oder den Schweizern Euler ("Theoria motus
corporum", 1765) und Sulzer ("Allgemeine Theorie der schönen
Künste" 1773-1775). Eine "Philosophiae naturalis theoria" von
Ruder Josip Boiskovich erschien 1759 in Wien, vier Jahre
später in Venedig (engl. Chicago 1922 und Cambridge 1966).
Schon in Gregor Reischs populärer
enzyklopädischer Übersicht der Wissenschaften "Margarita
philosophica" (ca. 1495 abgeschlossen; erstmals 1503 gedruckt) gab
es zwei verschiedene Kapitel über Naturkunde (VIII: De
principiis rerum naturalium; IX: De origine rerum
naturalium). Veit Amerbach wandte sich nach seiner
Auseinandersetzung mit Melanchthon auch direkt gegen Aristoteles in
seinen "Libri sex de philosophia naturali" (1549).
Doch erst Francis Bacon (1605)
begründete den Unterschied zwischen Naturgeschichte (als
beschreibende Naturwissenschaft) und "Naturphilosophie" oder
Naturlehre ("doctrina de natura"). ("Natural philosophy" heisst
heute noch im Englischen Physik.)
Wenn man nach den Titeln von
Publikationen geht, so waren also beliebt:
·
Philosophie: Agrippa ("De occulta Philosophiae" 1510),
Paracelsus ("Philosophia magna" 1533), Patrizzi ("Nova de universis
philosophia" 1591), Campanella ("Universalis philosophia" 1638),
Clauberg (1651), Boyle ("the corpuscular philosophy",1664), Arnold
Bachimius ("philosophia universalis experimentalis", 1682), Newton
(1687), Johann Hefrich Jüngken ("Chymia experimentalis sive
naturalis philosophia mechanica", 1701), Wolff (1703), Linné
(1751), Klemens Becker ("Philosophia rationalis, experimentalis et
moralis", 1757)
·
Traktat: Pico ("Tractatus de ente et uno" 1498), Ficino
("Tractatus de epidemiae morbo" 1516), Sanchez (1581), Cherbury
(1624), Descartes (1649), de la Forge (1666), Spinoza (1670),
Malebranche (1680), Bayle (1686), Huygens ("Traité de la
lumière", 1690), Locke (1690), Newton (1704), Berkeley
(1710), Crousaz (1715), Huet (1723), Cudworth (1731), Voltaire
(1734), Hume (1740), d'Alembert (1743). La Mettrie (1745) und
Condillac (1749)
·
Prinzipien: Petrus Cracoviensis ("Principia astronomie"
1515), Gemma-Frisius (1548), Nizolius (1553), Telesio (1565),
Descartes (1644 - dazu Spinoza 1663), Newton (1687), Leibniz
(1714), Vico (1725), Swedenborg (1734), Hume (1751), d'Alembert
(1753).
Eine frühe Schrift über "Sir
Isaac Newton's philosophy" erschien 1728 von Henry Pemberton.
Voltaire schrieb sowohl über die Philosophie (1738) von Newton
als auch über dessen Metaphysik (1640) und bekämpfte
Holbachs "Système de la nature" (1777). Der englische
Prediger und Entdecker des Sauerstoffs Joseph Priestley kritisierte
den Begründer der Assoziationspsychologie, David Hartley, in
seiner Schrift: "Hartley's Theory of human mind on the principles
of the association of ideas" (1775).
Weitere Konkurrenten des Modellbegriffs sind in anderer Perspektive „Repräsentation“, „Analogie“ und „Metapher“ – nicht zu vergessen: „Bild“, „Abbild“, „Abbildung“ und „Vorstellung“.
Seit etwa 1960 wurden diese Themen erneut diskutiert, am wenigsten Analogie, in steigendem Mass Metapher und Repräsentation –
siehe weiter unten. Bei letzterer wurde die Begriffsverwirrung bald so deutlich, dass man ab 1990 von einer „Krise der Repräsentation“ sprechen musste. Im englischsprachigen Raum entspann sich zusätzlich eine Diskussion über „imagery“ derart intensiv, dass man ab 1980 einen „pictorial turn“ oder „iconic turn“ diagnostizierte. Deutschland folgte zögernd mit dem Versuch einer „Bildwissenschaft“.
1550-1750: Die "Mechanisierung des
Weltbildes"
Die Loslösung von Platon und
Aristoteles
Erst nach der Hochblüte der
Renaissance begann sich die Welt aus den Fängen der Antike zu
lösen. Seefahrt und Kapitalismus, Akademien und Reformation,
Vernunft- und Wirtschaftsethik, Utopien und Naturrecht führten
zu Horizonterweiterungen.
Einer der ersten Gelehrten, die dem
Aristotelismus weitgehend entsagten, war Bernardino Telesio in
seinem Werk "De natura rerum" (1565; vollständig
1586).Für die Naturerklärung verwirft er alle damals
gerade im Schwange befindlichen astrologischen und magischen
Einflüsse und vertritt wieder einen mechanischen
Grundgedanken, der alle qualitativen Unterschiede auf die Bewegung
zurückführt. Die gegensätzlichen Prinzipien von
Wärme und Kälte rufen durch Ausdehnung und
Zusammenziehung die Mannigfaltigkeit der Gestaltung und des
Geschehens hervor.
Das klingt ein bisschen nach Stoa, und
das stimmt. Es ist fast paradox, in dem Masse als Platon und
Aristoteles in den Hintergrund traten, wurden Stoa und
Epikuräer wiederentdeckt, z. B. durch den erwähnten
Telesio resp. durch Giordano Bruno.
Galilei und Newton haben als Kinder Modelle
gebastelt
Um 1575 beschäftigte sich der junge
Galilei mit Maschinen und mechanischen Spielen. Die ältesten
Biographen berichten davon. "Während Gherardini beständig
auf Galileis technische Tätigkeit in Verbindung mit der
Theorie der Mathematik hinweist, erzählt Viviani mit
überzeugendem Reichtum an Einzelheiten, dass Galilei in den
ersten Jahren seiner Kindheit sich an der Herstellung von
Instrumenten und Maschinen vergnügte, die er selbst erfand
oder den allgemein gebräuchlichen nachbildete" (L. Olschki
1927, III, S. 143).
Später hat er einmal geäussert,
dass ihm gerade die Erfahrung der Maschinen- und Apparatebauer "oft
den Kausalzusammenhang wunderbarer Erscheinungen eröffnete,
die zuvor für unerklärbar und unglaublich gehalten
wurden".
Der vierzehnjährige Newton (1656)
wollte eigentlich Bauer werden. Da er aber die meiste Zeit mit
Problemlösen und Experimentieren sowie dem Bau mechanischer
Modelle verbrachte, fand seine Mutter, jung Witwe geworden, er sei
zu Höherem geboren. Sein Onkel, der selbst am Trinity College
in Cambridge gewesen war, empfahl ihr, Isaac auch hierhin zu
schicken. 1661 trat Newton in Cambridge ein. Seine Erfahrungen
hielt er in einem Tagebuch fest.
Übrigens: Fast 100 Jahre später
bastelte der junge James Watt im Laden seines Vaters (um 1745) an
allerlei Geräten herum und versuchte, sie "wie ein Uhrwerk"
zum Laufen zu bringen. Er lernte später
Instrumentenmacher.
Nochmals 100 Jahre später bastelte
auch der junge James Clerk Maxwell an der Edinburgh Academy (um
1842) Modelle.
Die Mechanisierung des Weltbildes im
17. Jahrhundert
Um 1600 erfolgte die sogenannte
"Mechanisierung des Weltbildes", welcher der holländische
Wissenschaftshistoriker Eduard Jan Dijksterhuis ein dickes
Buch gewidmet hat (1956; holl. 1950). Seine These findet sich im
letzten Satz: "Die Mechanisierung, die das Weltbild beim
Übergange von antiker zu klassischer Naturwissenschaft
erfahren hat, besteht in der Einführung einer
Naturbeschreibung mittels der mathematischen Begriffe der
klassischen Mechanik; sie bedeutet den Beginn der Mathematisierung
der Naturwissenschaft, die in der Physik des zwanzigsten
Jahrhunderts ihre Vollendung findet." Diese These blieb nicht
unumstritten.
Mindestens so wichtig war aber die
Loslösung aus der mythologischen und religiösen Welt,
pauschaler gesagt, die Loslösung sowohl aus der Philosophie
wie aus der Theologie. Ein bezeichnendes Beispiel bietet der
Astronom Johannes Kepler. Anfänglich sah er die Natur noch als
"göttlich beseeltes Wesen" an, seit 1623 bloss noch als
"Uhrwerk" (E. J. Dijksterhuis 1956, 345ff). Er ersetzte in diesem
Jahr auch die Vorstellung, dass in den Planeten "bewegende Seelen"
wären, durch diejenige der blossen Kraft.
Etwas später (1632) legte Galilei
"mit völliger Schärfe endgültig die
wissenschaftliche Methode zur Erforschung der anorganischen Natur
fest" (377) und Descartes begann mit der Mathematisierung. Bei
diesem zeigen sich bereits beide Bedeutungen von "mechanisch",
nämlich 1. mittels der Mechanik (besser: Kinetik als
Mathematik) zu erklären, und 2. in einem mechanischen Modell
nachzuahmen (463f; vgl. 552ff.).
Descartes
Descartes ist in mehrfacher Hinsicht
wichtig für die Sache "Modell".
1) Er wies darauf hin, dass von derselben
Sache ganz verschiedene Modelle möglich sind. Zum Beispiel
sagte er über einen Forscher: "Wie gut seine Theorien auch
alles zu erklären vermöchten, so könne man doch nie
mit Sicherheit behaupten, dass sie richtig seien; der Schöpfer
hätte dieselben Erscheinungen allezeit auch auf einem anderen
Wege hervorbringen können" (467).
Auch wenn später Newton behauptet
haben soll: "hypotheses no fingo", tat er eigentlich "nichts
lieber, als Hypothesen zu ersinnen" (541, 543).
2) Im "Historischen Wörterbuch der
Philosophie" heisst es:
"Bereits Descartes lieferte ein zentrales
Beispiel für den geometrischen Modell-Begriff. Interpretiert
man nämlich die Grundbegriffe der euklidischen Geometrie durch
analytische Koordinaten (z. B. Punkte P durch reelle Zahlenpaare
(x1, x2), Geraden g durch die Verhältnisse y1:y2:y3 von Zahlentripeln, die geometrische Relation 'P liegt auf g' durch die
Gleichung y1x1 + y2x2 + y3 = 0 usw.), so liefern die geometrischen
Axiome wahre analytische Aussagen. Daher liefert das 3-dimensionale
(rechtwinklige) Koordinatensystem des reellen Kontinuums ein
analytisches Modell der euklidischen Geometrie".
Etwa 250 Jahre später gelang den
Mathematikern Beltrami und Klein (1870) ein anschauliches
euklidisches Modell der nicht-euklidischen Geometrie.
3) Wie hinlänglich bekannt, ist
Descartes auch sonst für die Geschichte des wissenschaftlichen
Denkens von eminenter Bedeutung, etwa durch seinen Traum einer
"mathesis universalis" oder durch seine Trennung von "res cogitans"
und "res extensa". Es ist jedoch anzunehmen, dass er manches viel
anders gemeint hat, als es in heutigen Wörterbüchern und
populären Streitschriften behauptet wird.
Die Kontroverse zwischen Newton und
Leibniz
Eine interessante Studie hat Giedeon
Freudenthal "Atom und Individuum im Zeitalter Newtons" (1982)
gewidmet. Ausgangspunkt ist die Diskussion zwischen Newton und
Leibniz über den absoluten Raum. "Newton geht von einer
Annahme über die Beschaffenheit der Elemente aus und schliesst
auf das Resultat für das Weltsystem. Leibniz geht von einer
Annahme über das System aus und schliesst von demselben auf
die Beschaffenheit der Systemelemente" (Giedeon Freudenthal 1982,
79).
Newton hielt einen Eingriff von Gott ins
Weltsystem für notwendig. Er formulierte, der Raum sei das
"Sensorium Gottes". Leibniz dagegen fasste die Welt als eine von
Gott vollkommen konstruierte Uhr, die ohne seine Mitwirkung weiter
funktioniere.
Etwa zur selben Zeit ergab sich
übrigens im theologischen Bereich eine analoge
Auseinandersetzung. Während die bisherige Auffassung, der
Theismus, ein ständiges Eingreifen Gottes in der Welt sieht,
verkündete der Deismus etwa eines John Toland (1696), dass
Gott nicht mehr wundertätig ins Geschehen eingreifen
müsse. Denn Gott hat mit der Welt zugleich auch die Gesetze
geschaffen, nach denen sie sich aus ihrem unvollkommenen
Zustande allmählich zur Vollkommenheit entwickeln soll.
Ein Gott, der Wunder tun müsste, um die Welt im Gang zu
erhalten, würde der Vollkommenheit entraten, ohne die er
unvorstellbar ist. Gottes Wille zeigt sich also im
gesetzmässigen Geschehen in der Welt, vor allem in der
Natur.
Toland führt mit Leibniz
Religionsgespräche, die zum Teil erhalten sind.
Sorgfältig hat Gideon Freudenthal
herausgearbeitet, dass um 1715 zwei verschiedene Arten von Uhren
als Modelle verwendet werden konnten: die grobe Handwerkeruhr
(clock) und die Pendel- oder Wissenschafteruhr à la Galilei
und Huygens (watch). Die erstere bedarf häufig der Eingriffe
eines Aufsehers. Samuel Clarke, ein Newtonianer, nennt daher die
Welt, das Werk Gottes, "clock", und spricht Gott Aufsicht und
Leitung ("inspection and government") zu. Die Wissenschafteruhr
dagegen läuft allein von selbst; bei G. W. Leibniz ist daher
Gott der vollkommene Mechaniker: Wissenschafter und gelehrter
Uhrmacher in einem (108).
Den Briefwechsel von Clarke mit Leibniz
hat der Meiner-Verlag in Hamburg 1990 auf Deutsch
herausgebracht.
Obwohl sich in allgemeiner Betrachtung
eher Newton als Leibniz in der Naturwissenschaft durchgesetzt hat,
kann man mit Dijksterhuis (1956, 549) sagen: "Die Mechanisierung
des Weltbildes führte mit unwiderstehlicher Konsequenz zur
Auffassung Gottes als eines Ingenieurs im Ruhestand, und von da zu
seiner völligen Ausschaltung war es nur noch ein Schritt."
Laplace tat ihn 100 Jahre später.
Desgleichen im Bereich der
Sozialphilosophie: Kurz nach 1800 entwarf Saint-Simon eine
Newton-Religion mit Newton-Tempeln, usw., basierend auf der
Behauptung: "...Die universale Schwerkraft ist die einzige Ursache
aller physischen und moralischen Erscheinungen". Auch sein
Schüler Comte wollte die gesellschaftlichen Erscheinungen
Naturgesetzen unterstellen. Ist die Gesellschaft mechanisch, so
kann sie auch unter wissenschaftliche Kontrolle gebracht, d.h. von
einem Konzil von Sozialphysikern regiert werden (vgl. Floyd W.
Matson 1969).
siehe weiter unten: Seit 1800: Musterschulen seit Pestalozzi
Ab 1600: Der Gebrauch von Modellen in
Wissenschaft und Unterricht
Ab 1600: Die Projektemacher
Etwa zur gleichen Zeit wie die moderne
Naturwissenschaft entstand als praktisches Gegengewicht der Beruf
des "Projektemachers", auch "undertaker" genannt. Der Dramatiker
Ben Johnson schrieb ein Theaterstück zum Thema "What is a
Projector?", Thomas Brugis beschrieb 1641 "The discovery of a
Proiector".
Frühe Projektemacher waren etwa die
Niederländer Simon Stevin und Cornelius Drebbel. Der
vielseitige Mathematiker, Physiker und Ingenieur Stevin begann als
Buchhalter und Kassier und baute das erste mit einem Windsegel
versehene Landfahrzeug (1599). Der Tausendsassa Drebbel baute auch
den ersten alchemistischen Ofen mit automatischer
Temperaturregelung (1610). Sein Unterseeboot soll bei einer
Probefahrt in der Themse funktioniert haben (1624). Das
Geschäft machte er jedoch durch die Einführung einer
scharlachroten Farbe.
Der Chemiker Johann Rudolf Glauber war
Erfinder und Produzent in einer Person. Um 1650 stellte er in
seinem Labor eine ganze Reihe Mineralsäuren und organische
Verbindungen wie Azeton, Benzol und Phenol dar, und verkaufte sie
auch mit Erfolg. Ähnliches Geschick, wissenschaftliche Eifer
und kaufmännisches Talent zu verbinden zeigte um 1700 der Arzt
Friedrich Hoffmann. Neben seinen "Tropfen" erfand er eine ganze
Reihe neuer Arzneien.
Die Pendeluhr des grossen Wissenschafters
Christian Huygens wurde 1657 von den Generalstaaten patentiert.
Seine Erfindung des Torsionspendels (1675) erlaubte erstmals die
Herstellung von Schiffschronometern. Schon ein paar Tage nachdem er
es der französischen Akademie der Wissenschaften
vorgeführt hatte, erhielt er die alleinigen
Herstellungsrechte. Sie machten ihn bald zum reichen Mann.
Sein Zeitgenosse William Petty war ein
Multitalent und unermüdlicher Projektemacher. Weniger
Glück hatte zur gleichen Zeit der Alchemist, Pädagoge,
Arzt und unermüdliche Erfinder Johann Joachim Becher. Er
beriet um 1670 Kaiser Leopold I.
Ab 1600: Modellexperimente
Ebenfalls seit Beginn der neuzeitlichen
Wissenschaft wird nicht nur der Begriff Modell häufiger
verwendet, sondern man beginnt auch mit Modellexperimenten. Der
Geistliche Simon Sturtevant schilderte 1612 in seiner Patentschrift
"Metallica" die heuristische Verwendung von Modellen.
Die ersten Modellexperimente in den
Wissenschaften werden den Holländern Simon Stevin und
Cornelius Drebbel sowie dem Engländer William Gilbert (1600)
- mit seiner terrella, einer kleinen Eisenkugel als Erde -
zugeschrieben.
Der Italiener Galileo Galilei beschrieb
in seinen "Discorsi" (1638) die Idealisierung der schiefen Ebene.
Dazu gibt es ganz unterschiedliche und interessante Gedanken und
Experimente von Viktor A. Stoff (1969, 52-53), I. Bernard Cohen
(1977), Ernan McMullin (1985), Martii Kuokkanen (1994), Andreas
Hüttemann (1995) sowie von Vasilis Raisis (1999) und Jan M.
Zytkow (1999).
Zur Idealisierung in der modernen Physik
hat Niall Shanks 1998 einen Sammelband herausgegeben.
Ein Bild zu Galileis Experimenten zur
Balkenbiegung findet sich bei John Desmod Bernal (1970, 405), eine
ausführliche Betrachtung bei Helga Portz (1994).
Der Deutsche Otto von Guericke
führte1663 seine legendären Versuche mit den Magdeburger
Halbkugeln durch (John Desmond Bernal 1970, 440-442).
Auch die Entwicklung der Dampfmaschine
erfolgte am Modell, wie um 1700 die Beispiele von Thomas Savery,
Thomas Newcomen und John Theophilus Desaguliers und später von
James Watt (ab 1763) zeigen.
Vom berühmten Physiker Desaguliers
stammt auch das Werk: "The Newtonian system of the world, the best
model of government: an allegorical poem. With a plain and
intelligible account of the system of the world, by way of
annotations with copper plates" (1728).
Ab 1600: Schiffsmodelle zu Versuchszwecken
Schiffsmodelle sind bereits aus dem alten
Mesopotamien (Ur), aus Ägypten, Griechenland und dem
römischen Reich erhalten (Arvid Göttlicher, Walter Werner
1971; Arvid Göttlicher 1978; Paul Forsythe Johnston 1984).
Danach ist eine Lücke bis ca. 1450 (Heinrich Winter 1956).
Das türkische Schiffahrtstmuseum in
Istanbul behauptet, es verfüge über Modelle aus dem 14.
Jahrhundert.
Selbstverständlich befasste sich
Leonardo da Vinci auch intensiv mit den Geheimnissen von Wind und
Wellen, beispielsweise mit dem Fliessen des Wassers durch einen
Kanal. Eine schöne Studien-Skizze eines Segelschiffs am Wind
ist von ihm erhalten (Codex Madrid II, fol. 7r, 123v; Ludwig Rank
1984). Seine Wolkenzeichnungen sind kleine Kunstwerke.
Seit 1600 wurden in England, bald auch in
Holland, Frankreich und Russland Schiffsmodelle zu Versuchszwecken
gebaut. Der vielseitige und originelle Barockgelehrte William Petty
brach sich mit 13 Jahren als Schiffsjunge das Bein. Er lernte
Sprachen, Mathematik und Astronomie. 1648 doktorierte er in Oxford
in Medizin. In London gehörte er zu den Gründern der
Royal Society (1662) und bereicherte die von König Charles II.
ins Leben gerufenen Segelregatten mit der Konstruktion der ersten
Katamarane. Bedeutsamer allerdings waren seine Beiträge zur
Statistik und zu sozioökonomischen Fragen.
1679 beauftragte Jean Baptiste Colbert,
Marineminister von Ludwig XIV, die Aufseher aller königlichen
Marinehäfen, von jedem Schiff, das sie zu bauen vorhatten, ein
Modell zu erstellen. Seine Absicht war, auf diese Weise eine
Sammlung von Modellen zu gewinnen, welche als Standard für
sämtliche künftigen Schiffe dienen sollten. In kurzer
Zeit entstanden so Tausende von Schiffsmodellen. Sie fanden
später den Weg in Sammlungen am französischen Hof und in
einem um 1800 speziell errichteten Marinemuseum.
Ab 1600: Anschauungsunterricht unter
Verwendung von Modellen
"Im ausgehenden 16. Jahrhundert begann
man, plastische anatomische Modelle aus Wachs für das
Medizinstudium herzustellen. Vorläufer waren Wachsplastiken,
die als Modelle für Künstler und als Sammelobjekte
für die in jener Zeit beliebten Kunst- und
Raritätenkammern dienten. Als Hersteller sind u. a. bekannt
Ludovico Cardi aus Florenz im 16. (um 1590), der Genuese Guillaume
Desnoues und der Niederländer Swammerdam im 17. Jahrhundert
(um 1650; Charlotte Angeletti 1980, 25).
Ebenfalls um diese Zeit finden wir
Wachsfigurenkabinette. "Einer der ersten, der die von ihm
gefertigten Wachsporträts kommerziell nutzte, war Antoine
Benoist, der 1668 die Konzession für eine öffentliche
Schau von Wachsfiguren erhielt, die Mitglieder des Hofes, der
Gesandtschaften von Marokko, Algier und Moskovien zeigte" (a.a. O.,
31).
Der Dominikaner und Revoluzzer Giovanni
Domenico Campanella, ein Schüler des greisen Telesio, stellte
in seinem "Sonnenstaat" (1602 geschrieben) ein Reformprogramm
für die Erziehung auf, das massgeblich auf der Verwendung von
Modellen beruht. "New Atlantis" (1624 geschrieben) des adeligen
Juristen und Politikers Francis Bacon bringt ähnliches.
Bacon machte auch bereits den Vorschlag, ein Museum mit Erfindungen
und eine Galerie mit Porträts von Erfindern einzurichten.
Der grosse Pädagoge Jan Comenius
betonte in seiner "Böhmischen Didaktik" wie in seiner "Grossen
Didaktik" (1633-38; ersch. 1657) den stets
verbesserungsfähigen Vorbildcharakter von Modellen und
propagierte den Anschauungsunterricht, nämlich: Lernen durch
Nachahmung und Übung am Modell, die Verwendung von Originalen,
Mustern und bildhaften Darstellungen mit Erläuterungen (siehe
auch seinen "Orbis sensualium pictus", 1658), das Bemühen um
stufenweisen Aufbau und Methodik sowie die Förderung des
Verständnisses durch Einsicht statt blossem
Auswendiglernen.
Die Französische Akademie der
Wissenschaften begann bald nach ihrer Gründung 1666 Modelle zu
sammeln, die ihr von Erfindern zugestellt wurden, die sich dadurch
offizielle Anerkennung ihrer Werke erhofften. Ein Katalog dieser
Modelle erschien in sieben Bänden: "Machines et inventions
approuvées par l'Académie royale des sciences, depuis
son établissement jusqu'à present", Paris, 1735-77;
der erste Band enthält die vor 1700 eingereichten.
Unmittelbar anschliessend an die
Beschreibung der Vorzüge einer Herstellung von "moduli"
für den Festungsbau erwähnt Leibniz 1669 in seiner Skizze
zur "Ars inveniendi" die damals weit verbreiteten Modellsammlungen
(Johann Schultes, Mattheus Rembolten 1660; Friedrich Carl Gottlob
Hirsching 1786), welche die bisherigen Naturaliensammlungen
ergänzten ("Theatrum Naturae et Artis").
Wenig später schlägt Leibniz in
seinem dem "Orbis pictus" nachempfundenen "Atlas universalis" eine
Sammlung von allerlei Maschinen und Modellen vor. Zur gleichen Zeit
preist er auch im Detail die Verfertigung von Modellen aus Holz
oder Wachs zur Förderung der Imagination.
Schöne Schilderungen solcher
"Wunderkammern" bieten Julius von Schlosser (1908) und Friedrich
Klemm (1973).
Der Vermittlung anschaulichen Wissens
dienten seit 1635 (Merian) illustrierte Zeitungen und
Wochenschriften.
Johann Joachim Becher strebte seit 1660 mit
"Werkhäusern" und der Forderung nach "Kunstschulen" die
Verbreitung technischer Kenntnisse an. Leibniz folgte 1692 mit dem
Wunsch nach "Handwerkerschulen". August Hermann Franckes Idee einer
Verbindung von Frömmigkeit und Nützlichkeit im
"Werkunterricht" (ab ca. 1670) und ab 1700 auch in sogenannten
"Realschulen" breitete sich bald über ganz Europa aus (Hartmut
Sellin 1972), und zwar als anschaulicher "praktischer Unterricht",
der auf einer breiten Lehrmittelsammlung basiert.
Vermutlich gab es damals für den
Unterricht Modelle mit Schnüren und Drähten, aus Karton
oder Gips für geometrische Körper.
Jedenfalls werden solche in Christian
Wolffs "Mathematischem Lexikon" (1734) erwähnt (vgl. Gerd
Fischer 1986). Zu dieser Zeit gab man sogar im Mathematikunterricht
Anweisungen zum Modellieren anhand der fünf Platonischen
Körper. Die Begründung: "Besonders werden die, welche
sich auf Professionen und Handwercke legen, einen grossen Nutzen
spüren, wenn sie zuvor in der Stereometrie nach den
Geometrischen Handgriffen richtige Modelle machen lernen" (J. H.
Zedler, 1739, Sp. 714f.; später: Ernst Prieger 1978).
Ab 1600: Der Gebrauch von
hydrodynamischen und mechanischen Analogien
Im Zug der "Mechanisierung des
Weltbildes" kamen hydrodynamische Analogien auf. So standen bei
William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs hydraulische
Vorstellungen Pate (1616 - vgl. Franz Vonessen 1989).
Auch Descartes wurde von den
Wasserbaukünsten seiner Zeit zu Bildern angeregt. In "Les
passions de l'âme" und im "Traité de l'homme" (postum
1664) besteht der beseelte Leib aus Blutgefässen, die wie ein
Röhrensystem für den Transport der sog. "Lebensgeister"
(die schon Telesio beschrieb) sorgen. Im Kopf, genauer im Gebiet
der Zirbeldrüse unter dem Hirn "regiert" die Seele als eine
Art Röhrenmeister, welcher bestimmt, welche und wie viel
Lebensgeister wie lange durch die Adern fliessen (Rainer Specht
1966; Richard Burnett Carter 1983).
Giovanni Borelli verwendete seit 1666
ebenfalls gerne Analogien aus der Hydrostatik; er erfand die
Iatromathematik oder Iatrophysik, eine Vorstufe der Biophysik.
Im 18. Jahrhundert hat man Staat und
Wirtschaft gerne als Maschine betrachtet. So schrieb etwa der
Kameralist J. H. G. Justi 1764: "Ein wohl eingerichteter Staat muss
vollkommen einer Maschine ähnlich seyn, wo alle Räder und
Triebwerke auf das genaueste ineinander passen." Für Europa
wurde dies von Ahlrich Meyer (1969) und Barbara Stollberg-Rilinger (1986, 1998), für Amerika 1997 im
Harvard Law Review untersucht. [Genaueres zum Zitat siehe:
Der Staat als Maschine]
Das legendäre
Wirtschafts-Kreislaufmodell des Physiokraten Quesnay (1758) lehnte
sich - obwohl dieser Arzt war - nicht an den Blutkreislauf
an, sondern an die mechanistische Naturphilosophie seiner Zeit. Der
Ökonom Heinz Rieter wies in einer akribischen Untersuchung
1983 nach: "Es ist eine Bewegungs- oder Mechanismusanalogie, die
Erkenntnisse der cartesianischen Physik auf die Ebene der
politischen Ökonomie überträgt mit dem Ziel,
'natürliche' Sozialgesetze abzuleiten" (1983, 65).
Diese mechanistische Tradition bauten die
sogenannten "klassischen" Ökonomen Adam Smith (1776),
Jean-Baptiste Say (1803), David Ricardo (1817) und J. H. von
Thünen (1826) aus.
In der Physik des Elektromagnetismus seit
1820 (Faraday, Gauss, Maxwell) wurden hydrodynamische Analogien
zuhauf gebraucht.
Davon inspiriert konstruierte der Geldtheoretiker Dalgairns Arundel Barker 1906 ein „hydraulisches Modell“ für das Währungssystem zwischen Volkswirtschaften. Ganz ähnlich konstruierte der Ökonom Irving Fisher 1894/1911 ein „connecting-reservoirs model“ (Mary S. Morgan 1999, 369-388; Marcel Boumans, 2005, 149-174). Recht bekannt wurde das nach dem Zweiten Weltkrieg an der London School of Economics erbaute Modell des neuseeländischen Ökonomen Alban William Phillips (Mary S. Morgan, Marcel Boumans, 2004, 369-401; Marcel Boumans, 2005, 11-14).
1895 hat Sigmund Freud in seinem "Entwurf
einer Psychologie" (publiziert 1950) ein hydraulisches Modell
für seine erste Darstellung der "Triebdynamik" des
"psychischen Apparats" gebraucht. Der Physiologe Archibald Vivian Hill (1936) verwendete ebenfalls ein hydraulisches Modell zur Illustration von „Erregung“ und „Anpassung“ in den Nervenzellen.
Konrad Lorenz stützte seine
Instinkttheorie seit 1935 ebenfalls auf ein hydraulisches Modell ab (siehe bereits Robert Aubrey Hinde, 1956). Noch in
den 1970er Jahren musste dieses in einer "Einführung in das
Studium der Psychologie" als einzige Illustration eines "Modells"
herhalten.
Auch der Psychologe Raymund B. Cattell (1957) verwandte
ein hydrodynamisches Modell für "Persönlichkeit und
Motivation".
Ganzheitliches Denken: Der Organismus
als Analogie
Doch auch Analogien in die umgekehrte
Richtung sind möglich. Nicht minder beliebt war der (freilich:
idealisierte) Organismus als Modell für soziale und
wirtschaftliche Gebilde, manchmal auch fürs Weltall.
Der englische Staatsmann und Philosoph
Thomas Hobbes verglich den Staat (1651) mit einem "künstlichen
Menschen". Als um 1670/80 die Eizelle und die Samenzelle entdeckt
wurden, meinte man, darin sei schon der ganze fertige Mensch im
kleinen zu finden (homunculus).
Das "ganzheitliche Denken" wurde
eingeführt von den deutschen Geistesgrössen der Klassik
und Romantik, des Idealismus und Historismus. Vielleicht war es
eine Reaktion auf die seit 1760 anlaufende "industrielle
Revolution", jedenfalls aber eine Gegenbewegung zur Verherrlichung
der Vernunft und des mechanischen Denkens in der
Aufklärungszeit.
Die Romantiker (Adam Müller 1809; Franz von Baader 1832) waren von einem naturphilosophischen Organismusbegriff inspiriert.
Der prominenteste Vertreter des
Organismusdenkens im 19. Jahrhundert war Albert Schäffle. Die extremen Formulierungen seines
Hauptwerks "Bau und Leben des sozialen Körpers" (1875-78) hat
er in der zweiten Auflage (1896) abgeschwächt.
Über organismische Metaphern in der
Entwicklungsbiologie des 20. Jahrhunderts berichtet D. J. Haraway
(1976).
17. und 18. Jahrhundert: Statistik und
Wahrscheinlichkeitslehre
Im 17. Jahrhundert wurden Statistik,
Wahrscheinlichkeitstheorie und "Politische Arithmetik " entwickelt.
Es sind vereinfachte Abbilder von sozialen oder ökonomischen
Situationen und Verhältnissen.
Durch die Diskussion biologischer Fragen
einerseits, die Bevölkerungsverminderung durch Kriege, Seuchen
und Auswanderung anderseits, gewann das Bevölkerungsproblem an
Bedeutung. Statistik wurde um 1610 unter dem Finanzminister von
Heinrich IV., Maximilien de Béthune, Duc de Sully,
eingeführt. Hermann Conring (ab 1660), John Graunt (1661),
William Petty und Gregory King zählten Geburten- und
Sterbeziffern aus.
Petty begründete auch die
"Politische Arithmetik" (1676 geschrieben, 1690
veröffentlicht). Sie ist weit mehr als Statistik. Sie ist eher
eine "politische Anatomie", eine Ganzheitsbetrachtung des
sozioökonomischen Lebens. Sie ist die Grundlage für
wirtschaftliche und politische Pläne und
Regulierungsmassnahmen. Auch der Vorschlag einer
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung findet sich in diesem
Werk.
Petty sieht alle drei Funktionen des
Geldes: Masseinheit, Zirkulationsmittel und Reichtum. Er forderte
ein ganzheitliches und gerechtes Steuersystem, sah, dass
Arbeitsteilung die Dinge besser und billiger macht und entwickelte
eine Arbeitswerttheorie.
Blaise Pascal, der Bedeutendes für
Mathematik, Physik und Religionsphilosophie leistete, konstruierte
auch Rechenmaschinen. Er war sich auch nicht zu gut, auf Anfragen
eines Glücksspielers einzugehen und daraus die
Wahrscheinlichkeitstheorie zu entwickeln. Angeregt durch einen
Briefwechsel mit Pascal und Pierre Fermat (Ian Hacking 1975, 59-92)
entwarf dann der Mathematiker, Physiker und Astronom Christian
Huygens eine vollständige Theorie des Würfelspiels
(1657).
Leibniz befasste sich seit 1663 mit
Mathematik und arbeitete seit 1665 an der Quantifizierung von
logisch begründbaren Wahrscheinlichkeitsaussagen. 1678
entwickelte er für das Glücksspiel eine
Wahrscheinlichkeitslehre, basierend auf dem Erwartungswert ("Spes
est probabilitas habendi"), und trug vier Jahre später eine
juristische Rechtfertigung der Barwertberechnung vor, eine
Grundlage für die Investitionstheorie. Das Rechtsproblem
lautet: Wieviel ist bei einer vorzeitig getilgten Schuld zu
bezahlen?
Bei den Volkswirtschaftern stiesse
Leibnizens Arbeiten zur Bevölkerungsstatistik und
Vorschläge zum Versicherungswesen immer wieder auf
Interesse.
Im 18. Jahrhundert erschienen die ersten
Arbeiten zum Dominanzprinzip in der Wahrscheinlichkeitsrechnung
(Jakob Bernoulli 1713; geschrieben 1692) und zur ökonomisch
orientierten Wahrscheinlichkeitslehre (Daniel Bernoulli 1738).
1763/64 publizierte Thomas Bayes in den
Philosophical Transactions of the Royal Society seinen "Versuch zur
Lösung eines Problems der Wahrscheinlichkeitsrechnung". Der
Mathematiker Condorcet entwarf 1785 die erste
Wahrscheinlichkeitstheorie für Gruppenentscheidungen. Sein
Essay gilt als Vorläufer der Spieltheorie.
Zehn Jahre später folgte Pierre
Simon de Laplace mit seinem "philosophischen Versuch über die
Wahrscheinlichkeit".
Ökonomie und Moral, Erwartungen und
Wertschätzungen, Zweck und Nutzen bilden seither zentrale
Fragen der Auseinandersetzung.
Subjektive Wertlehre und
Arbeitswert
Als Vorläufer der subjektiven
Wertlehre gilt Bernardo Davanzati ("Lezione delle monete" 1588). Er
erkannte bereits, dass der Wert nicht eine den Gütern
anhaftende Eigenschaft ist, sondern sich ständig mit den
Wünschen und Bedürfnissen sich ändert.
Nicholas Barbon (1690) ist nicht nur der
frühestes Verfechter einer nominalistischen Geldtheorie,
sondern er entwickelte auch eine Werttheorie, die in manchem der
Grenznutzenlehre entspricht. Der Wert jedes Gutes beruht auf seinem
Gebrauch oder Nutzen, den es zu stiften vermag; und dieser
resultiert aus der Befriedigung körperlicher oder seelischer
Bedürfnisse, wobei erstere verhältnismässig
begrenzt, letztere unbeschränkt sind. Ein Gut verliert seinen
Wert, wenn das Bedürfnis vollkommen befriedigt ist oder
verschwindet, etwa weil etwas anderes Mode wird oder es ausser
Gebrauch kommt, weil sich die Bedürfnisse ändern. Der
Warenpreis als Ausdruck des Güterwerts richtet sich nach
Angebot und Nachfrage: "plenty, in respect of the occasions, make
things cheap, and scarcity dear." Dabei bestimmen die Konsumenten
das Marktgeschehen. Sie sollen nicht sparsam sein.
Kurz darauf löste Pierre de
Boisguillebert (1695), nach Marx, erstmals den Tauschwert der Ware
in Arbeitszeit auf.
Nachdem Marx 1851 die beiden einzigen
rein ökonomischen Schriften Lockes (1691 und 1695) studiert
hatte, reihte er ihn ein unter die "originellen Köpfe", welche
die Grundlagen der politischen Ökonomie schufen. Das waren die
Arbeitswerttheorie, die Theorie des Geldumlaufs und die
Eigentumstheorie.
Richard Cantillon trennte (um 1730;
publiziert 1755) den "inneren Wert" einer Ware von ihrem
Marktpreis. Dieser wird beeinflusst von Angebot und Nachfrage; er
hängt von der Mode, dem Geschmack ab und kann damit von den
Handelstreibenden selbst beeinflusst werden. Der Marktpreis ist
aber nur von sekundärer Bedeutung; er ist die kurzfristige
Abweichung vom inneren Wert.
Subjektive Werttheorien wurden sowohl von
Ökonomen (Galiani 1751, Genovesi 1766, Graslin 1767) als auch
von Naturforschern (Buffon) und Gelehrten (Condillac: "Le commerce
et le gouvernement", 1766) entwickelt.
Der Mensch als "Vorbild"
Zeichnen nach einem menschlichen Modell
wurde erst wieder in der Renaissance gewagt. Cimabue malte 1270 die
"Gräfin X". Doch es vergingen noch über 100 Jahre, bis
man es (1380/1400) wagte, nach dem nackten Körper (Akt) zu
malen (Kenneth Clark 1956; Friedrich Bayl 1964).
Erst dreihundert Jahre später
brauchte man dafür das Wort "modello" (it. 1672; ab 1800 auch:
modella), "modelle" (frz. 1676), "model" (engl. 1691), "Modell"
(dt. 1717).
1887 erschien in Philadelphia ein Band
von Emile Zola mit dem Titel: "Christine, the model, or, studies of
love."
Die Kurzgeschichte "The Model
Millionaire" (1887) von Oscar Wilde schliesst mit dem Satz:
"Millionaire models are rare enough; but, by Jove, model
millionaires are rarer still!" Ebenfalls 1887 publizierte John
Addington Symonds seinen Essay "The Model", worin er den nackten
männlichen Körper preist.
Zwei Jahre später begann Oscar Wilde
den Essay über "Londoner Malermodelle" mit dem Satz: "Das
Berufsmodell ist eine Erfindung unserer Tage."
Franz von Suppé starb am 21.
Mai1895 während der Arbeit seiner letzten Operette "Das
Modell". Sie wurde am 4. Oktober desselben Jahres
uraufgeführt.
In den Jahren 1953-54 malte Picasso 70
Bilder zum Thema "Der Maler und sein Modell" (Picasso 1956-72).
siehe Literatur:
Maler und Modell/ Aktmodell/ Der nackte Mensch
Mannequins
Das Wort "mannequin" stammt aus dem
Holländischen. Seit 1535 bezeichnet man im Englischen kleine Figürchen des Menschen als "manikin", manchmal auch Gliederpuppen und kleine Skulpturen aus Wachs oder Holz als Vorlagen für Künstler. Im Französischen wird dafür das Wort "mannequin" seit 1671 gebraucht. Seit 1806 wird im Französischen auch die Schneiderbüste
als "mannequin" bezeichnet (auch: poupée).
Es war daher nahe liegend, zwei
bedeutende Innovationen im Bereich der Mode des 19. Jahrhunderts
ebenfalls als "mannequin" zu bezeichnen (Nicole Parrot 1981):
-
eine Frau, die Kleider vorführt (seit etwa 1850 im
Französischen, um 1900 im Deutschen und seit 1902 im Englischen – hier ab 1904 auch: model)
-
eine Schaufensterpuppe (seit etwa 1880 im Französischen,
erst seit 1939 im Englischen; hier auch "display model").
Emile Zola beschreibt in seinem Roman "Au
bonheur des dames" (1883) ein französisches Kaufhaus und die
Faszination, die von den darin aufgestellten lebensgrossen
Kleiderpuppen ohne Köpfe ausging.
Anatole France schrieb einen Roman mit
dem Titel "Le mannequin d'osier" (1893), englisch" The Wicker Work
Women" (1910), deutsch "Die Probierpuppe" (1920); daraus wurde ein
Theaterstück, das 1904 uraufgeführt wurde.
Vor 1920 wurden in England „women to show offgarments“ auch „dummies“ genannt, weil sie so nichtssagend („wooden“) dreiblickten.
Eine Geschichte des "Catwalking" gibt
Harriet Quick (1997). Über das "hässliche Geschäft
der schönen Frauen" schrieb 1995 Michael Gross.
Eines der vielen Beispiele der
"Amerikanisierung" der deutschen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg
ist der Ersatz der Bezeichnungen "Probierfräulein",
"Fotomodell", "Vorführmodell" und "Mannequin" durch "Model"
seit 1968, wobei bis in die 1980er Jahre noch beide Formen
nebeneinander gebraucht wurden (Gertrud Lehnert 1996).
Model als Euphemismus für
Prostituierte ist in England seit 1963 in Gebrauch und kam bald auf
den Kontinent. Im "Duden Fremdwörterbuch" von 1990 ist dieser
Gebrauch verzeichnet.
siehe Literatur:
Mannequin/ fashion model/ Pin-up/ Glamour Girl/ Fotomodell/ Schneiderbüste/ Schaufensterpuppe
19. Jahrhundert: Realität,
Anschauung und Theorie in Mathematik und Naturwissenschaften
Das Problem der Ähnlichkeit
Bereits Vitruv (10. Buch, 16. Kapitel)
schildert folgendes Problem: "Es gibt Dinge, die, in grossem Format
hergestellt, ähnlich funktionieren wie in einem nicht grossen;
andere aber dulden keine Herstellung in einem Modell, sondern
können nur in ihrer natürlichen Grösse hergestellt
werden."
Laut der Dissertation von Moritz Weber
(1919, 364) hat schon Aristoteles in seinen "Mechanica Problemata"
Untersuchungen über das statische Verhalten geometrisch
ähnlicher Holzstäbe gegen Biegung angestellt. Galilei
(1638 - Viktor A. Stoff 1969, 122) beschäftigte sich mit
Betrachtungen statischer Art über Ähnlichkeit von
Maschinen und fand, dass der Festigkeitswiderstand eines
Konstruktionsgliedes nicht im Verhältnis seiner linearen
Abmessungen wächst (1890, 106-109).
Jedoch erst Isaac Newton hat in seinen
"Principia mathematica" (1687) den Begriff der "mechanischen
Ähnlichkeit" klar ausgesprochen, indem er die Frage aufwarf,
unter welchen Bedingungen zwei geometrisch ähnliche
Vorgänge auch mechanisch ähnlich verlaufen.
In einer technologischen
Enzyklopädie wird beschrieben, dass seit den Untersuchungen
von Pierre Bouguer (1746) über den Bau von Schiffen und
Schiffsmodellen zu beachten ist, dass die kleine Kopie "sich bey
der Untersuchung seines Verhältnisses in Folge der Bemastung
unmöglich so bezeugen" kann, "wie das Original in seiner
wahren Grösse. Denn man kann ja den Wind auch nicht
verkleinern" (J. K. G. Jacobsson 1783, 79).
Doch erst im 19. Jahrhundert wurden diese
Probleme mathematisch angegangen, etwa von Augustin Louis Cauchy
(1829), Joseph Bertrand (1847, 1848) William Froude (1870) und
Osborne Reynolds (1883).
Von Hermann von Helmholtz stammt die
schöne Untersuchung: "Über ein Theorem geometrisch
ähnliche Bewegungen flüssiger Körper betreffend,
nebst Anwendung auf das Problem, Luftballons zu lenken" (1873).
Später entwickelte er (1889) eine "Theorie von Wind und
Wellen".
Seither tragen mehrere "Modellgesetze"
die Namen von Cauchy, Froude und Reynolds. Eine breite
Übersicht gab Henry Louis Langhaar in seinem Buch "Dimensional
analysis and theory of models" (1951). Weitere Übersichten
geben Jon Valer L. Chirila (1967), Jürgen Zierep (1972),
Walter Rehwald (1975) und Johann Stichlmair (1990).
Isomorphie
Georg Klaus (1972, 542) greift weit
zurück, wenn er meint:
"Leibniz hat die Bedeutung der
Isomorphierelation für die Erkenntnistheorie erkannt (Dialog
über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten, 1677). Die
Abbildung eines Bereichs der Wirklichkeit auf Begriffe, Aussagen,
Theorien ist letztlich nichts anderes als die Herstellung einer
Isomorphierelation. Den Dingen des objektiv-realen Bereichs, der
abgebildet werden soll, entsprechen Namen für diese Dinge. Den
objektiv-realen Beziehungen zwischen den Dingen entsprechen
logische Beziehungen zwischen den Namen.
Vermöge einer solchen
Isomorphierelation kann dann im Prozess der Erkenntnis u. U. die
praktisch-konkrete Bearbeitung und Handhabung der Dinge und ihrer
Beziehungen durch das gedankliche Operieren mit den Namen der Dinge
und ihren logischen Beziehungen ersetzt werden. Im Idealfall ist es
möglich, objektiv-reale Bereiche isomorph auf mathematische
Theorien abzubilden."
Möglicherweise gibt die Arbeit von
Beate Monika Dreike (1973) darüber näher Aufschluss.
Der Isomorphiebegriff wird in ganz
unterschiedlichen Wissenschaften verwendet.
In der Chemie entdeckte Eilhard
Mitscherlich 1819 den Isomorphismus als Gestaltgleichheit bei
Kristallen (Gottlob Linck 1896; Hans-Werner Schütt, Otto
Krätz 1973; Hans-Werner Schütt 1984, 1992).
Für die Mathematik wird auf die
"Isomorphismen" bei Camille Jordan, 1870, und Felix Klein, 1884,
auf die "Ähnlichkeit" bei S. Lie, 1876, und Georg Cantor, 1884
und 1886; sowie auf die "abstrakten Gruppen" bei Heinrich Weber,
1893, sowie auf den 2. Band der "Principia Mathematica" von
Bertrand Russell und Alfred North Whitehead, 1913, hingewiesen.
Die Isomorphie wurde für die Physik
des 19. Jahrhunderts grundlegend, wie Max Jammer (1965, 169)
beschreibt: "Der Wahrheitsgehalt der Physik wird nicht mehr in
einer objekt-treuen Spiegelung der Realität sondern in
einer strukturtreuen Beziehung gesehen. Da dieser
Isomorphismus keine objekt-treue Abbildungsmöglichkeit
voraussetzt, darf er mit blossen Symbolen arbeiten ..., denen
vielleicht gar kein Element der objektiven Realität
entspricht."
Analogie
Mit Kant und Goethe ist der
Analogiebegriff wieder interessant geworden.
Nach Kant ist die Analogie, wie auch die
Induktion, "nützlich und unentbehrlich zum Behuf der
Erweiterung unserer Erfahrungserkenntnis. Da sie aber nur
empirische Gewissheit gibt, so müssen wir uns ihrer mit
Behutsamkeit und Vorsicht bedienen" (Logik, 1800, § 84 - vgl.
Ernst Laas 1876; Ernst Konrad Specht 1952; Sueo Takeda 1969; Arthur
Melnick 1973; Muus Gerrit Jan Beets 1986; Georg Sans 1999).
Für Goethe (Ferdinand Weinhandl
1932) hat die Analogie "den Vorteil, dass sie nicht abschliesst und
eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induktion verderblich
ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf
denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreisst"
(Maximen und Reflexionen, 1833, 532).
1843 präzisierte
Richard Owen die für die Biologie so wichtige Unterscheidung
von Analogie und Homologie (Leonid J. Bljacher 1982) - just nachdem
ein Jahr zuvor in der Physik William Thomson eine Analogie
zwischen den Formeln der Wärme und der Anziehungslehre
aufgestellt hatte.
Analogie bildete ein recht schwer zu
fassendes Thema. Man konnte sie der Sprachphilosophie (Laurenz
Lersch 1838; Victor Henry 1883), Physik (Ludwig Merz 1842),
Etymologie (Christian Friedrich Ludwig Wurm 1848), Biologie
(Heinrich Hess 1851) oder Logik (Janus Hoppe 1873), dem
Metaphorischen (Alfred Biese 1893) oder dem volkstümlichen
Denken (Abram Smythe Palmer 1882; L. William Stern 1893)
zuordnen.
Als einer der ersten untersuchte William
Stanley Jevons ("The principles of science" 1874) den Gebrauch der
Analogie in der Wissenschaft.
Die Erforschung von Metaphern beginnt 1844 mit Johann Jakob Langbehn und Johann Guthe und breitet sich bald aus. Später
befassten sich Alfred Biese mit dem "Metaphorischen in der
dichterischen Phantasie" (1889) und Gustav Kohfeldt (1892) mit der
Ästhetik der Metapher.
Eine psychologische Untersuchung der
Metapher in der Rhetorik bot Gertrude Buck (1899).
1902 diagnostizierte Ernst Mach "Die
Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotive der Forschung".
Ein Jahr zuvor hatten Albert Thumb, Karl Marbe
im Rahmen der Pionierarbeiten zur Denkpsychologie an der
Universität Würzburg "Experimentelle
Untersuchungen über die psychologischen Grundlagen der
sprachlichen Analogiebildung" angestellt.
Äquivalenz
"Äquivalenz" findet sich zuerst in
der Physik bei der Energieumwandlung (Robert Mayer, 1842), dann in
der Elektrotechnik, Chemie und Optik.
"Äquivalenz" ist auch ein zentraler
Begriff in der Mathematik, insbesondere in der Mengenlehre
(wiederum Cantor, 1886 - vgl. auch Freges "eindeutige Zuordnung",
1884) und in der Logik (eingeführt durch Hugh McColl, 1877-78
und Giuseppe Peano, 1889; ferner bei Peirce und in Russell/
Whiteheads "Principia Mathematica", 4.01).
Tiere als Ersatz für Menschen
Tierpsychologische Forschungen kamen seit
La Mettries "L'homme machine" (1748) in Schwang: Etienne Bonnot de
Condillac und Georges-Louis Leclerc de Buffon, Georg Friedrich Meier und Hermann Samuel Reimarus sowie Charles Bonnet
und David Hume lieferten kurz hintereinander wichtige Erkenntnisse. Dann erlahmte
das Interesse für rund 100 Jahre, bis 1880-1900 neue
Untersuchungen durch George John Romanes und Conwy Lloyd Morgan
vorgelegt wurden.
Seit 1898/99 forschten Robert Mearns
Yerkes hauptsächlich an Affen und Edward Lee Thorndike
hauptsächlich an Katzen und Ratten (Abraham Aaron Roback
1961).
Ähnlich verlief die Entwicklung in
der Medizin. Die Tierversuche des Universalgelehrten Albrecht von
Haller (um 1750) legten den Grundstein für die Neurobiologie.
Ihm folgten François Magendie (seit etwa 1820) und sein
Schüler Claude Bernard. Pierre Flourens, Professor für
vergleichende Anatomie in Paris, entfernte nach der
Exstirpationsmethode vor allem bei Tauben und Hunden bestimmte
Hirnteile und beobachtete danach die Leistungsausfälle, so
entdeckte er z. B. die Lokalisation des Gleichgewichtsorgans im
Ohr. Sein Forschungsbericht (1824) wurde bereits wenige Wochen nach
Erscheinen ins Deutsche übersetzt.
Wie William Paton (1984, 1-2) berichtet,
hat schon 1831 der Neurologe und Physiologe Marshall Hall
Richtlinien für Experimente mit Tieren aufgestellt. Die ersten
Untersuchungen an isolierten Herzen fanden 1846 statt (William
Paton 1984, 104). Und schon regten sich die ersten Proteste gegen
Vivisektion (Evalyn Westacott 1949).
Seit etwa 1850 wirkten Hermann von
Helmholtz und Rudolf Virchow. Weniger bekannt sind die deutschen
Ärzte Ludwig Traube (1847: die Ursachen der Pneumonie) und
Julius Cohnheim (ab 1860. über Entzündungen). Beide haben
ebenfalls Tierexperimente auf neue Weise zur Erzielung von
Resultaten eingesetzt.
1889 entfernten v. Mehring und Oskar
Minkowski einem Hund die Bauchspeicheldrüse und erzeugten
damit einen Diabetes mellitus.
Bereits 1900 berichtete Stephen Paget
umfassend über "Experiments on Animals".
Der vielseitige Sir John Lubbock forschte
nicht nur über die Frühgeschichte sondern auch seit etwa
1870 an Ameisen. Zur selben Zeit begann auch Iwan Petrowitsch
Pawlow mit seinen ersten physiologischen Experimenten. Nicht nur
seine Konditionierungen von Hunden machten ihn später
berühmt, sondern auch die Erzeugung von "experimentellen
Neurosen".
Peter Franz und Nina Hager (1991, 614)
behaupten, in der Biologie werde die Modellmethode bewusst seit
Otto Bütschli und Stéphane Leduc (Ende 19., Anfang 20.
Jahrhundert) angewandt.
Kenneth Joel Shapiro kam 1998 zum
Schluss, dass die Untersuchung von Tieren wenig hergibt für
das Verständnis des Verhaltens von Menschen.
Samples als Ausschnitte aus der Gesellschaft
Schon William Petty hatte 1655-56 die
erste soziographische Untersuchung angestellt und bald darauf die
"Politische Arithmetik" begründet. Erste statistische Arbeiten
stammen ebenfalls aus der Zeit um 1660.
Doch erst sein etwa 1740 - als sich die
ersten Folgen der Industrialisierung zu zeigen begannen -
kümmerte sich die Wissenschaft vermehrt um die Probleme der
einfachen Bevölkerung. Der Franzose Abbé Herni Baptiste
Grégoire und die Engländer David Davies und Sir
Frederick Morton Eden verwendeten seit 1790 bereits eine Art von
Fragebogen.
Bereits soziale Experimente mit
repräsentativem Anspruch führten seit 1800 die
sogenannten utopischen Sozialisten wie Charles Fourier (1804-1836:
"Phalanstère", davon inspiriert ab 1841-46: Brook Farm
Kolonie in Massachusetts), Robert Owen (1824-27: "New Harmony") und
Louis Blanc (1840: Produktivgenossenschaften) durch.
Zu den Pionieren der empirischen
Sozialforschung gehören die Mitglieder der "Royal Commissions"
von 1825, deren Bemühungen im Gesetz für Fabrikinspektion
von 1833 gipfelten. Ihre Forschungsergebnisse wurden noch von Marx
und Engels benützt.
Seit etwa 1840 gehören
Sozialenquêten in vielen Ländern zur Tagesordnung.
Der Journalist Henry Mayhew wandte 1851
bereits Mittel des "nondirective interviews" an. Der
Bergbauingenieur Frédéric Le Play verfeinerte 1855
die "Beobachtungsmethode".
1895 präsentierte der Norweger
Anders N. Kiaer die "repräsentative Methode" erstmals der
Öffentlichkeit. Er verwendete später viele
repräsentative Samples als Grundlage für Statistiken,
besonders in Bezug auf Einkommensverhältnisse. In England
wandte Sir Arthur L. Bowley 1912-14 erstmals das
Stichprobenverfahren (random sample) an.
Einen farbigen Bericht gibt Heinz Maus
(1967).
Seit 1800: Musterschulen seit Pestalozzi
Seit der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi 1800 in Burgdorf seine erst Modellschule errichtet hatte gab es bald darauf in Deutschland „Musterschulen“ (Frankfurt, 1803 – Peter Müller, 1928; Hanno Schmitt, 2001) und seit etwa 1820 im angelsächsischen Raum „model schools“. Das waren musterhafte Volksschulen resp. Ausbildungsstätten (training school; laboratory school) für künftige Lehrer (Outlines, 1827; William Jordan Unwin, 1849) – im Gegensatz zu den herkömmlichen Lateinschulen.
1790-1880: amerikanische Patent
Models
Das amerikanische Patentsystem lehnt
sich, wie das Rechtssystem, an englische Verfahren an.
Präsident George Washington unterzeichnete das erste
Patentgesetz 1790. Bis 1880 mussten sämtliche schriftlichen
Eingaben für ein technisches Gerät an das Patent Office
nicht nur von einer Zeichnung, sondern auch von einem Modell
begleitet sein. Bekannte Beispiele sind Waschmaschinen,
Klärgruben oder Alarmanlagen gegen Einbrecher (William and
Marlys Ray 1974; Jan Greenberg 1977; American Enterprise 1984;
Icons of Invention 1990).
Feuer im Patentamt 1836 und 1877
zerstörten über 80 000 Modelle, doch 150 000 blieben
übrig als man aus Platzgründen den Zwang zur Einreichung
eines Modells abschaffte. Heute verlangt das Amt nur noch ein
Modell, wenn der Gesuchsteller beweisen muss, dass seine Erfindung
auch funktioniert.
Heute gibt es mehrere öffentliche
und private Sammlungen solcher Patentmodelle, z. B. bei der
Smithsonian Institution oder der N. E. C. Group, Inc.
Seit 1840: Der Modellbegriff in den
Naturwissenschaften
Ab etwa 1840 ergab sich eine weiter
Differenzierung des Modellbegriffs. Einerseits wurde er für
massenweise hergestellte industrielle Produkte gebraucht (Floyd
Clymer 1955; David S. Landes 1968), anderseits spielte er in der
Physik eine neue Rolle.
Es heisst, die moderne Modelldiskussion
beginne 1840 mit der von Kant beeinflussten Untersuchung des
Cambridger Professors William Whewell "The Philosophy of the
Inductive Sciences" (Robert E. Butts 1968; 1987; Menachem Fisch
1991; Richard Yeo 1993). Sein Begriff "conception" könnte
für "Modell" stehen.
Gleichzeitig setzte in den
Naturwissenschaften eine zweite Welle der Veranschaulichung ein.
Dafür wurden Begriffe wie Bild, Illustration, Vorstellung,
Analogie, usw. verwendet. 1855 wollte der Schotte James Clerk
Maxwell ein "geometrical model" der physikalischen
Kräfte geben (Peter Michael Harman 1987; 1998).
Im Deutschen taucht der Begriff "Modell"
in der Physik erst 1879, im Todesjahr Maxwells, mit den
Übersetzung von "Matter and Motion" (1976) auf.
Der deutsche Physiker Heinrich Hertz
brachte dann 1894 den Modellbegriff explizit in die deutsche
Fachsprache der Naturwissenschaft ein.
Zwei Arten von Illustration bei
Maxwell
Der Begriff "Analogie" wurde vom
24jährigen Maxwell in seinen 1855-56 gehaltenen Vorlesungen
"über Faraday's Kraftlinien" als Fachbegriff in die Physik
eingeführt:
"Unter einer physikalischen Analogie
verstehe ich jene teilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen
eines Erscheinungsgebietes mit denen eines andern, welche bewirkt,
dass jedes das andere illustriert." Da z. B. der Bereich der
Mechanik, samt Gravitation und Hydrodynamik, sehr anschaulich ist,
kann man seine Gesetze zur Illustration von Erscheinungen in allen
anderen Bereichen verwenden, und zwar, wie Maxwell bezüglich
der Elektrizität betont, "ohne irgendwelche Annahmen über
die physikalische Natur der Elektrizität zu machen" (Maxwell
1895, 4 und 9; vgl. Edmund Taylor Whittaker 1910; Joseph Turner
1955-56; Alan Chalmers 1973; 1986; Nancy J. Nersessian 1984; Walter Kaiser, 1989).
Nun gibt es aber noch eine andere Art von
Illustration. Zur Erklärung der elektromagnetischen
Erscheinungen hat Maxwell eine "Theorie der Molekularwirbel"
(1861-62) entwickelt. Es handelt sich dabei aber bloss um ein
gedachtes Bild. Kernpunkt ist das "Medium", in welchem sich diese
Wirbel wie Räder in einem Mechanismus drehen. Damit sich diese
gleichsinnig drehen, braucht es "Zwischenräder". Also macht
Maxwell "die Annahme, dass sich eine Lage von Teilchen zwischen je
zwei Wirbeln befindet, welche wie Frictionsrollen wirken".
Selbstkritisch bemerkt er allerdings: Die
"Vorstellung" von Friktionsteilchen "mag einigermassen
unbefriedigend scheinen. Ich will sie nicht als die richtige
Ansicht über das, was in der Natur existiert ... angesehen
wissen. Diese Art der Verbindung ist jedoch mechanisch denkbar,
leicht zu untersuchen und geeignet, die wirklichen mechanischen
Beziehungen zwischen den bekannten elektromagnetischen
Erscheinungen darzustellen" (1898, 25, 35, 50).
Maxwell hat also, in seinen eigenen
Worten, einzig gezeigt, "in welcher Weise die elektromagnetischen
Erscheinungen durch die Fiction eines Systems von Molekularwirbeln
nachgeahmt werden können" (52).
Reale Veranschaulichung der "gedachten
Bilder" durch Apparate
Doch damit nicht genug. Diese gedachten
mechanischen Bilder reizten zu einer dreidimensionalen, also
plastischen Darstellung. Vorangegangen sein soll hier Maxwell
selber in den 1870er Jahren. Er löste damit eine richtige
Manie aus (H. A. Lorentz 1904; Leo Graetz 1908; Rudolf Seeliger
1948: Max Jammer 1965; Suzanne Bachelard 1979). Als Apparatebauer
taten sich insbesondere der Engländer Oliver Lodge (der sich
später auch der Untersuchung parapsychologischer
Phänomene widmete) und der Ire George Francis Fitzgerald
(Bruce J. Hunt 1987) hervor.
Im Herbst 1892 führte die Deutsche
Mathematiker-Vereinigung in München eine Ausstellung durch.
Der umfangreichen "Katalog mathematischer und
mathematisch-physikalischer Modelle, Apparate und Instrumente"
(hrsg. von Walther Dyck 1892) erschien mit einem Vorwort von Ludwig
Boltzmann und gibt eine Beschreibungen der abenteuerlichsten
Modelle aus England, Norwegen und Deutschland.
Schon im nächsten Jahr machte sich
der französische Physiker Pierre Duhem (1893)
in einem Aufsatz
über die Bemühungen seiner "englischen" Kollegen,
insbesondere des Schotten William Thomson, lustig (Armand Lowinger
1941; Stanley L. Jaki 1984; Russell Niall Dickson Martin 1991). Er
brachte eine auf 70 Seiten erweiterte Fassung davon als 4. Kapitel
in seinem legendären Werk "La théorie physique - son
objet et sa structure" (1906): "So bedeutet für die Physiker
der englischen Schule ein physikalisches Phänomen verstehen so
viel wie ein Modell zusammenstellen können, das dieses
Phänomen nachahmt" (90).
Wesentlich verständnisvoller für diese Bemühungen zeigte sich der österreichische Physiker Paul Ehrenfest in einem
Nachruf auf seinen Lehrer Ludwig Boltzmann (1906).
Wie sehr suchte William Thomson (Lord Kelvin) nach
Modellen?
Generationen von Wissenschaftshistorikern
und -theoretikern haben folgende Sätze von Sir William
Thomson, später Lord Kelvin, zitiert:
"I never satisfy myself until I can make
a mechanical model of a thing. If I can make a mechanical model, I
can understand it. As long as I cannot make a mechanical model all
the way through I cannot understand; and that is why I cannot get
the electro-magnetic theory… I can get a model in plain
dynamics, I cannot in electro-magnetics."
Diese Sätze stammen vom Anfang der
letzten der 20 Vorlesungen, die Thomson im Oktober 1884 an der
Johns Hopkins Universität in Baltimore gehalten hat. A. S.
Hathaway machte davon eine stenographische Niederschrift. Davon
erschien im Dezember desselben Jahres ein "papyrograph volume". Die
sofort von Thomson in Angriff genommene Revision der Texte nahm
fast 20 Jahre in Anspruch.
Erst im Jahre 1904 erschien die
Buchausgabe der "Baltimore Lectures on Molecular Dynamics and the
Wave Theory of Light". Mehrere Vorlesungen hatte er mittlerweile
ergänzt, Nummern 16-20 in den Jahren 1901-03 völlig neu
geschrieben. Daher fehlen die oben zitierten Sätze.
Man kann sich also fragen, ob es fair
war, über Jahrzehnte die stenographischen Notizen zu zitieren
und die gedruckte Version von 1904 zu verleugnen. Die völlig
unbeachtet gebliebene deutsche Übersetzung erschien 1909 in
Leipzig.
Die 20 Vorlesungen wurden erst 1987 von
Robert Kargon und Peter Achinstein "in their original form"
herausgegeben. Hier finden sich die zitierten Sätze auf Seite
206.
Einen umfangreichen Briefwechsel mit
Hermann von Helmholtz hat Herbert Hörz (2000)
herausgegeben.
Veranschaulichung auch in Chemie und
Mathematik, Medizin und Psychologie
Ursula Klein (1999, 153-164) beschreibt,
wie die Chemiker Justus Liebig und Jean Dumas in den Jahren
1832-1840 "Modelle" bauten; sie versteht darunter Formeln auf dem Papier und bezeichnet sie als „paper tools“.
Archibald Couper, ein Schotte,
führte 1858 die graphische Darstellung durch die
Strukturformel mit den Valenzstrichen ein. Der deutsche Chemiker
August Kekulé baute zur selben Zeit (ab 1857) "aus einem unwiderstehlichen
Bedürfnis nach Anschaulichkeit" aus Kugeln und Drähten
dreidimensionale Atom- und Molekülmodelle (H. A. Staab, 1958; Leopold Horner
1965, 240; Christoph Meinel, 2004, 259).
Ebenfalls zu dieser Zeit wandten sich
viele Mathematiker, darunter Julius Plücker und Ernst
Eduard Kummer, der plastischen Modellierung komplizierter
mathematischer und geometrischer Kurven und Körper zu (Karl
Fink 1890). Gerd Fischer (1986) hat zwei rechhaltige Bildbände
davon herausgegeben.
Seit 1875 bauten Felix Klein und
Alexander Brill an der Technischen Hochschule München eine grosse Sammlung mathematischer Modelle auf. Bis1884 entstanden über 100 Modelle aus Holz oder Gips. Sie gingen um 1900 in die Hände von Martin Schilling über. Dessen „Catalog mathematischer Modelle“ verzeichnete 1903 etwa 300 Objekte.
Kataloge von Sammlungen mathematischer resp. geometrischer Modelle gibt es nicht nur von Walther Dyck (1892), Martin Schilling (1903) und Gerd Fischer (1986). Ebenfalls über Sammlungen berichteten oder stellten Kataloge zusammen: Benjamin Pike (1848), Ferdinand Engel (1854), James W. Queen, S. L. Fox (1859), William Ladd (1868), H. Smith (1876), Alexander Brill (1889), E. M. Horsburgh (1914), Arnold Emch (1921, 1927), George W. Cussons (1929-1973), David Hilbert, Stephan Cohn-Vossen (1932), Hugo Steinhaus (1938), Henry Martyn Cundy, Arthur Percy Rollett (1951), P. A. Kidwell (1996) und Herbert Mehrtens (2004).
siehe auch:
Literatur: mathematische Modelle
Einem vielfach aufgelegten Lehrbuch der
Physiologie von 1876 (Michael Foster, J. N. Langley) ist zu
entnehmen, dass auch in diesem Bereich versucht wurde, mit
Gummischläuchen, Glasverbindungen, Handpumpen und Druckmessern
die Prinzipien der Blutzirkulation zu veranschaulichen.
Von dreidimensionalen Gehirnmodellen aus Drähten und Schnüren oder Kork, Papier und Wachs berichtet bereits 1891 Henry H. Donaldson. Er beschreibt unter anderem diejenigen von Charles Aeby, Sigmund Exner, Ludwig Fick und Adolph Ziegler. Der französische Physiologe Louis Thomas Jérome Auzoux hatte bereits seit 1822 anatomische Modelle des ganzen Menschen und von einzelnen Körperteilen und Organen aus preisgünstiger Papiermaché hergestellt. Sie wurden das ganze jahrhundert verwendet.
Die Psychologie benützte seit Wilhelm Wundt (um 1880) für den Unterricht zwei- und dreidimensionale Demonstrationsmodelle (Hugo Münsterberg, 1893; Edmund C. Sanford, 1893; Edward Bradford Titchener, 1903; Christian A. Ruckmich, 1916). 1923 beschrieben Edwin Garrigues Boring und Titchener Modelle aus Karton und Holz zur Demonstration von insgesamt 360 Gesichtsausdrücken mit vielen Zeichnungen. Sieben Jahre später baute Joy Paul Guilford mit William E. Walton ein neues Modell, das Gesichtsausdrücke frontal zeigte.
1800-1916: Auseinandersetzung mit dem
symbolischen Erfassen, mit Bildern und Vorstellungen, Zeichen und
Fiktionen, Nachbildungen und Scheinbildern
Unbewusste Vorstellungen und
Vorstellungsdynamik
Vielfach inspiriert von Fichte (Jakob
Barion 1929; Jürgen Stolzenberg 1986) wimmelt es seit Anfang
des 19. Jahrhunderts nur so von theoretischen Erörterungen und
praktischen Untersuchungen einerseits zum Thema Vorstellung resp.
Imagination, anderseits zur Intuition (Josef König 1926) resp.
intellektuellen oder produktiven Anschauung.
"Unbewusste" Vorstellungen hatte schon
Cudworth (1678) postuliert. Einige Berühmtheit erlangten die
"petites perceptions" bei Leibniz (1704). Nach Fichte (1794)
erzeugt das Ich durch seine unbewusste Tätigkeit, die
produktive Einbildungskraft, die Vorstellungswelt.
Seither hat fast jeder Philosoph und
Psychologe " unbewusste" Dispositionen oder Tätigkeiten
angenommen. Doch erst der Arzt Carl Gustav Carus führte in
seinem Buch ""Psyche" (1846) die beiden Termini "unbewusst" und
"das Unbewusste" in die psychologische Fachsprache ein. Er meinte:
"Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewussten
Seelenlebens liegt in der Region des Unbewusstseins."
Der Schriftsteller Eduard von Hartmann
popularisierte diese Terminologie in seiner "Philosophie des
Unbewussten" (1869), und er verpflanzte die Intuition aus den
intellektuellen Höhen in die Tiefen des Unbewussten.
Auf der rationalen Ebene ist die
Vorstellungsmechanik, besser Vorstellungsdynamik, des
Pädagogen, Philosophen und Psychologen Johann Friedrich
Herbart (seit 1816) anzusiedeln. Sie ist ziemlich bekannt geworden
(Matthias Heesch 1999).
Ähnlich bekannt wurde die
Intentionalität: Nach Franz Brentano (1874) haben die
psychischen Akte ein "intentionales Objekt". Edmund Husserl (1900)
sprach hierauf von der "intentionalen Einheit" als dem gemeinten
identischen Inhalt einer Bedeutung.
Imagination in der Naturwissenschaft
Eine Rarität blieb eine
Übersetzung aus dem Holländischen: "Forschung und
Phantasie" von Jacobus Geel (1838).
Ebenfalls ohne Beachtung blieben die
Untersuchungen von Ernest Royer (1867), John Tyndall (1870),
Joseph-Florentin Bonnel (1890) und Charles-Ernest Adam (1890)
über die "imagination" in den exakten Wissenschaften.
1852-1883: Begründung der modernen
Psychologie
Gerade zur Zeit als der junge Maxwell
seine Erkenntnisse zu den Kraftlinien zu Papier brachte, wurde die
moderne, d h. experimentelle und messende Psychologie
begründet. Beteiligt waren vor allem studierte Mediziner, auch
wenn sie später Lehrstühle für Philosophie oder
Physik erhielten. Häufig beriefen sie sich auf Kant und
modifizierten seine Thesen.
Wichtig wurden die sinnesphysiologischen
Forschungen und die erkenntnistheoretischen Folgerungen daraus.
siehe: 1850-1900: Begründung der modernen Psychologie
Kaum Beachtung fanden die psychologischen
Untersuchungen der "imagination" durch Narcisse Michot (1876) in
Nancy und durch Henri Joly (1877). Erst der Essay von
Théodule Ribot über "L'imagination créatrice"
(1900) errang weitherum Ansehen.
Wilfrid Lay beschrieb in seiner
Dissertation an der Columbia Universität in New York Ende des
Jahrhunderts (1898), was die Erforschung der "mental imagery"
bislang gebracht hatte.
Charles Sanders Peirce, Hans Vaihinger und Nikolai
Alekseevich Umov
Bereits in seinen frühen
Aufsätzen von 1868 hat der Begründer des Pragmatismus,
Charles Sanders Peirce († 1914), die Ansätze seiner
Zeichentheorie entwickelt (Virgil C. Aldrich 1932; Arthur
Walter Burks 1949; Elisabeth Walther 1962, 1989; Douglas Greenlee
1964). Er hat mehrfach bekannt, dass er an Duns Scotus
anknüpfe.
Die Dreiheit Ikon, Index und Symbol hat
er 1893 entwickelt und 1902/03 verfeinert. Leider konnte Mechtild
Keiner in ihrer Dissertation dazu (1978) noch nicht auf alle als
Mikrofilm verfügbaren Manuskripte von Peirce
zurückgreifen.
Zu seinen Lebzeiten publiziert wurden nur
drei Hinweise im zweiten Band des "Dictionary of Philosophy and
Psychology" (1902). Erst Anfang der 30er Jahre wurden in den
"Collected Papers" die Manuskripte und Briefe publiziert,
beispielsweise in Band 2 die "Speculative Grammar" (2.282) und in
Band 5 die "Vorlesungen über Pragmatismus" aus dem Jahre 1903
(5.73). "Semiotische Schriften" nach weiteren Manuskripten
publizierten Christian Kloesel und Helmut Pape 1986-1993.
Eine ähnliche Verzögerung
erhielt die "Philosophie des Als Ob" des deutschen Philosophen Hans
Vaihinger. Er hat die Schrift 1873-78 verfasst, konnte sie aber
erst 1911 publizieren. Darin hat er Modelle als "schematische"
Fiktionen bezeichnet (Thomas Conrad 1983; Klaus Ceynowa
1993; Andrea Wels 1997).
Viktor A. Stoff (1969, 42, 60-62)
behauptet, dass der russischen Physiker Nikolai Alekseevich Umov
(1846-1914 - Dmitrij Danilovic Gulo 1971) in seinen Werken
"eine tiefgehende materialistische Analyse der Rolle der Modelle in
der wissenschaftlichen Erkenntnis" geboten hat.
Ernst Mach
1883 schrieb Ernst Mach († 1916)
in seinem Buch "Die Mechanik in ihrer Entwickelung" (1883, 463f -
engl. 1893):
"Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche Funktion, wie
gewisse mathematische Hülfsvorstellungen, sie ist ein
mathematisches Modell zur Darstellung der Thatsachen."
Wie geht das genau? Mach sah einen
stufenweisen Vorgang der Naturwissenschaft. "Sind einmal alle
wichtigen Thatsachen einer Naturwissenschaft durch Beobachtung
festgestellt, so beginnt für diese Wissenschaft eine neue
Periode, die deductive... Es gelingt dann, die Thatsachen in
Gedanken nachzubilden, ohne die Beobachtung fortwährend
zu Hülfe zu rufen" (369).
Ferner: "Die Abbildung der Thatsachen in
Gedanken, oder die Anpassung der Gedanken an die Thatsachen
ermöglicht dem Denken, nur teilweise beobachtbare Thatsachen
gedanklich zu ergänzen, soweit die Ergänzung durch den
beobachteten Teil bestimmt ist."
Also: "Alle Wissenschaft hat Erfahrungen
zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von
Thatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind
als die Erfahrung selbst, und dieselbe in mancher Beziehung
vertreten können" (452). Zu beachten ist aber stets: "Wenn wir
Thatsachen in Gedanken nachbilden, so bilden wir niemals die
Thatsachen überhaupt nach, sondern nur nach jener Seite,
welche für uns wichtig ist, wir haben hierbei ein Ziel,
welches unmittelbar oder mittelbar aus einem praktischen Interesse
hervorgewachsen ist. Unsere Nachbildungen sind immer Abstractionen.
Auch hierin spricht sich ein ökonomischer Zug aus" (454).
Kurz: Ein Modell liefert die übersichtliche Darstellung
funktionaler Abhängigkeiten und Zusammenhänge von
Tatsachen.
Heinrich Hertz
Elf Jahre später hat der
frühverstorbene Heinrich Hertz (Charles Susskind 1995;
Albrecht Fölsing 1997; Davis Baird et al. 1998) in den
unmittelbar nach seinem Tod erschienenen "Prinzipien der Mechanik"
(1894 - engl. 1956) darauf zurückgegriffen, wenn auch mit etwas andern
Begriffen.
Er meint: "Wir machen uns innere
Scheinbilder oder Symbole der äusseren
Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die
denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von
den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände."
Und: "Verschiedene Bilder derselben
Gegenstände sind möglich, und diese Bilder können
sich nach verschiedenen Richtungen unterscheiden" (1894, 1 u.
2).
Können wir demnach mehrere
zulässige und richtige Bilder derselben Sache haben, so
müssen wir nach Nützlichkeit und Zweckmässigkeit
auswählen. "Von zwei Bildern des selben Gegenstandes wird
dasjenige das zweckmässigere sein, welches mehr wesentliche
Beziehungen des Gegenstandes widerspiegelt als das andere; welches,
wie wir sagen wollen, das deutlichere sei. Bei gleicher
Deutlichkeit wird von zwei Bildern dasjenige zweckmässiger
sein, welches neben den wesentlichen Zügen die geringere Zahl
überflüssiger und leerer Beziehungen enthält,
welches also das einfachere ist."
Warum ist dieses Unterfangen
nützlich? Hertz meint: "Es ist die nächste und im
gewissen Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewussten
Naturerkenntnis, dass sie uns befähige, zukünftige
Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser
gegenwärtiges Handeln einrichten zu können" (1 - dazu
Jerrold L. Aronson et al. 1994, 85-87).
Im Kapitel "Dynamische Modelle" (197-199)
schlägt dann Hertz den Bogen zum Modellbegriff, den er
spezifischer als bisher verwendet. "Das Verhältnis eines
dynamischen Modells zu dem System, als dessen Modell es betrachtet
wird, ist dasselbe, wie das Verhältnis der Bilder, welche sich
unser Geist von den Dingen bildet, zu diesen Dingen. Betrachten wir
nämlich den Zustand des Modells als eine Abbildung des
Zustandes des Systems, so sind die Folgen der Abbildung, welche
nach den Gesetzen dieser Abbildung eintreten müssen, zugleich
die Abbildung der Folgen, welche sich an dem ursprünglichen
Gegenstand nach den Gesetzen dieses ursprünglichen
Gegenstandes entwickeln müssen.
Die Übereinstimmung zwischen Geist
und Natur lässt sich also vergleichen mit der
Übereinstimmung zwischen zwei Systemen, welche Modelle
voneinander sind, und wir können uns sogar Rechenschaft
ablegen von jener Übereinstimmung, wenn wir annehmen wollen,
dass der Geist die Fähigkeit habe, wirkliche dynamische
Modelle der Dinge zu bilden und mit ihnen zu arbeiten" (199).
Henri Poincaré
Einen nachhaltigen Einfluss auf die
Wissenschaftsauffassungen hatte der französische Mathematiker
und Philosoph Henri Poincaré († 1912) mit seiner
Trilogie über die Grundfragen der Wissenschaft (1902-08). Viele
seiner Bücher gingen auf Vorlesungen zurück, die er sei
1883 in Paris vor allem über Anwendungen der Mathematik in
Physik und Astronomie hielt. Vermutlich weil er ursprünglich
als Ingenieur ausgebildet war, berücksichtigte er auch die
praktischen Probleme und Bedürfnisse der Forscher (Tobias
Dantzig 1954; Jerzy Giedymin 1982; Corinna Mette 1985).
Es waren weniger die Philosophen als die
Naturwissenschafter, welche seine Ansichten aufgenommen haben.
Theorie und Hypothese müssen
auseinandergehalten werden
Wie kaum ein anderer hat Poincaré
Theorie und Hypothese scharf auseinandergehalten. Schon Vaihinger
hat herausgearbeitet, dass manche Hypothese eigentliche nur eine
"Fiktion" ist. Mach hat die (geistige) Ökonomie der
"Nachbildungen" beschreiben, Hertz diejenige der
"Scheinbilder".
Whewell (1840) hat dagegen die Theorie
mit "Fact" in Verbindung gebracht. Es sind reziproke Begriffe: A
"Fact is a familiar Theory" und umgekehrt: "A true Theory is a
Fact".
Theorien beruhen nach Poincaré auf
drei Arten von Hypothesen: natürliche (z. B. "dass die Wirkung
eine stetige Funktion ihrer Ursache ist"), indifferente (z. B.
Metaphern) sowie "die wirklichen Verallgemeinerungen".
Hypothesen sind meist "vorläufige
Annahmen"; manche Modelle gehören dazu.
Theorien dagegen erheben oft
Erklärungswert oder den Anspruch, Wahres, Gültiges oder
Nützliches über die Realität auszusagen - und
stellen sich doch immer wieder als falsch heraus.
Wenn zwischen zwei Theorien ein
Widerspruch liegt, dann liegt er " in den Bildern..., deren wir uns
an Stelle der wirkliche Objekte bedient haben", meint
Poincaré.
Wissenschaft beruht auf
Übereinkommen (Konventionen)
Poincaré gilt als Begründer
des Konventionalismus:
· Die
Mathematik ist eine auf stillschweigenden denkerischen
Übereinkünften beruhende Schöpfung des Geistes, das
heisst ein willkürlich gesetztes Zeichensystem zu Darstellung
realer Beziehungen.
·
Ebenso sind die Prinzipien der Physik freie Annahmen des Geistes:
nicht wahr oder falsch, sondern bequem, gemäss den
Erfahrungen, an denen sie entwickelt wurden.
Diese Übereinkommen sind aber nicht
willkürlich, sondern sie beruhen auf Annahmen (Hypothesen),
die von Experimenten herkommen. Denn: "Das Experiment ist die
einzige Quelle der Wahrheit." Ein gutes Experiment ist ein solches,
das uns erlaubt zu verallgemeinern.
Hypothesen müssen
verifiziert oder falsifiziert werden
Und nun kommt die Kreativität ins
Spiel.
Kreativität ist auch für die
Wissenschaft von höchster Bedeutung. Über dreissig Jahre
vor Karl Raimund Popper ("Logik der Forschung" 1935) hat
Poincaré (1902) festgehalten, dass der Fortschritt der
Wissenschaft nicht durch Verifikation (Bestätigung), sondern
durch Falsifikation erfolgt.
Die zugrundeliegende Überlegung ist
einfach: Wissenschaft beruht auf Verallgemeinerungen von
experimentell ermittelten Tatsachen. «Jede Verallgemeinerung
ist eine Hypothese», und sie «muss immer sobald als
möglich und so oft als möglich der Verifikation
unterworfen werden; es ist selbstverständlich, dass man sie
ohne Hintergedanken aufgeben muss, sobald sie diese Prüfung
nicht besteht».
Und genau dies ist nach Poincaré
«eine unverhoffte Gelegenheit zu einer Entdeckung».
Eine umgestossene Hypothese gibt Anlass zu neuen Experimenten.
Hätte man diese nur zufällig gemacht, hätte man
keine Schlüsse daraus gezogen.
"Ebenen" von Modellen in Mathematik
und Naturwissenschaften (Abb.
2)
Wenn wir die Bemühungen der
Mathematiker und Naturwissenschafter des 19. Jahrhunderts
zusammenfassen wollen, empfiehlt es sich, sechs "Ebenen" ihres
Zugangs zu den Sachen zu unterscheiden:
1. Als Ausgangspunkt oder
"Objekte" mögen dienen: einerseits mathematische Ideen oder
Idealgebilde, anderseits die "Realität", also physikalische
und chemische Objekte und Vorgänge.
2. Der Bereich der
Gleichungen und Formeln, Gesetze und Axiome, welche bezüglich
der Erscheinungen und Strukturen der ersten Ebene aufgestellt
werden.
3. Die Ebene der
"gedachten Bilder" oder hypothetischen Konstruktionen.
4. Diese "Bilder"
können als graphische Darstellungen zu Papier gebracht
werden.
5. Die Ebene der
dreidimensionalen, materiellen Veranschaulichung dieser
"Bilder".
6. Die Ebene der
Theorien.
Leider haben viele namhafte Physiker
für grosse Verwirrung gesorgt, weil sie sowohl Gebilde der
Ebene 2 (z. B. Axiome oder aber Analogien) als auch Gebilde der
Ebenen 3 und 6 als "Modell bezeichnet haben.
Allen voran hierin ging kein Geringerer
als Ludwig Boltzmann in seinen Schriften über Maxwells Theorie
(1891-93), einem Aufsatz im Modellkatalog (Walther Dyck 1892), in
den beiden von ihm auf Deutsch herausgegebenen frühen
Vorlesungen von Maxwell (1985; 1898) sowie in seinem Beitrag in der
"Encyclopaedia Britannica" (1902). Dazu kommen seine populären
(1905) und seine wissenschaftlichen (1909) Schriften (Engelbert
Broda 1955; Martin Vincent Curd 1978; Wolfgang Stiller 1989; John
Blackmore 1995).
Muss denn alles "Modell" sein?
Die Frage ist unausweichlich: Muss denn
alles "Modell" sein?
Gerade in der Wissenschaft sind die
Auseinandersetzungen immer noch offen, ob etwa Axiomensysteme,
mathematische und physikalische Formeln und Gesetze resp. Tatsachen
oder Daten einerseits, Theorien anderseits als Modelle bezeichnet
werden sollen.
In seinem Vortrag an der Zürcher
Modell-Konferenz im Oktober 2000 präzisierte Daniel M.
Hausman: "What Suppes, Sneed, Stegmüller and Giere call a
'theory', I shall call a 'model'" (2000, 46).
Man kann noch weiter gehen und fragen, ob
jeder Begriff oder jeder Gedanke, jedes Zeichen oder jedes Symbol
schon ein Modell sei, ja, ob jede Abstraktion, jede Abbildung, ob
auch schon jede Aussage, ja die Sprache überhaupt ein Modell
sei.
Die Frage nach der Realität
Was ist "Realität"?
Eine weitere Grundfrage betrifft die
Realität überhaupt (Ebene 1). Ist sie Original oder
Fiktion, etwas "an sich", blosse Illusion oder Projektion, Schein
oder Erscheinung, Nachbildung (z. B. "eikon") des idealen Seins
oder einer himmlischen Idee, ein Traum Gottes oder eine
pragmatische Konvention, ein Epiphänomen der
Gehirntätigkeit oder eine soziale Konstruktion, usw.?
Oder: Wie entsteht Realität? Ist sie
schon immer da ("gegeben"), entsteht sie in der Interaktion des
Beobachters mit "Daten" und "Fakten" oder liegt sie nur im Kopf
eines Lebewesens? Wächst sie in Beschreibungen und
Behauptungen heran oder harrt sie immer neuer Entdeckung und
Entfaltung?
Die wichtigsten
philosophischen Strömungen um 1900
Schon Ludwig Boltzmann hatte sich 1897 in
einem Vortrag "Über die Frage nach der objectiven Existenz der
Vorgänge in der unbelebten Natur" (in: Populäre Schriften
1905) ausgelassen.
Im Jahre 1912 führte die
Société française de physique eine Tagung zum
Thema "Les Idées modernes sur la constitution de la
matière" durch (Edmond Bauer et al. 1913).
Von den grossen philosophischen
Strömungen um die Jahrhundertwende sind zur Beantwortung
dieser Fragen wichtig:
·
Kritischer Realismus (Külpe, Volkelt), in der Nachfolge
von Fechner und Lotze
·
Neukantianismus (Windelband und Rickert; Cohen und Natorp),
in der Nachfolge von Friedrich Albert Lange (1866)
·
Humanismus (F. C. S. Schiller 1903) und
Instrumentalismus (Dewey 1903) als extreme Formen des von
Peirce (1877) und James (1897) begründeten Pragmatismus
·
Phänomenologie (Husserl 1900), welche den
Intentionalismus von Franz Brentano (1874) fortsetzt
·
Analytische Philosophie (Russell 1905, Whitehead) und
Neurealismus (G. E. Moore 1903, C. D. Broad 1914)
·
Idealismus in unzähligen Varianten als Aktivismus
(Eucken), Aktualismus (Croce und Gentile; Alexander;
Collingwood), Mathematismus (Brunschvicg),
Neospiritualismus (Boutroux), Ontologie (Bosanquet,
Bradley, McTaggart) oder Personalismus (Royce)
1870-1926: Naturphilosophie
und Philosophie der Wissenschaften
Die ganze Palette der Möglichkeiten
eröffnen folgende Schriften deutschsprachiger Philosophen:
·
Emil Du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens
(1872; 11. Aufl. 1916; Reprints 1961 und 1967)
·
Otto Liebmann: Zur Analysis der Wirklichkeit (1876; 4. Aufl.
1911)
·
Gustav Teichmüller: Die wirkliche und die scheinbare Welt
(1882)
·
Fritz Schultze: Philosophie der Naturwissenschaft. Eine
philosophische Einleitung in das Studium der Natur und ihrer
Wissenschaften (1881-1882)
·
Wilhelm Schuppe: Grundriss der Erkenntnistheorie und Logik (1884,
2. Aufl. 1910)
·
Eduard Zeller: Über die Gründe unseres Glaubens an die
Realität der Aussenwelt (1884)
·
Otto Liebmann: Die Klimax der Theorieen (1884; Reprint 1914)
·
Richard Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung (1888-90, 3. Aufl.
1921)
·
Adolf Lasson: Vorbemerkungen zur Erkenntnistheorie (1889)
·
Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen
Begriffsbildung (1896; 5. Aufl. 1929)
·
Ernst Haeckel: Die Welträtsel - gemeinverständliche
Studien über monistische Philosophie (1899, 11. Aufl. 1919,
Reprints bis 2000)
·
Wilhelm Ostwald: Vorlesungen über Naturphilosophie (1902; 1914
u. d. T.: Moderne Naturphilosophie)
·
Alexius Meinong: Über Annahmen (1902; 3. Aufl. 1928; Reprints
1970, 1977)
·
Eduard von Hartmann: Die Weltanschauung der modernen Physik (1902;
2. Aufl. 1909)
·
Hans Driesch: Naturbegriffe und Natururteile (1904)
· Max
Verworn: Prinzipienfragen in den Naturwissenschaften (1905, 2.
Aufl. 1917)
·
Josef Petzold: Das Weltproblem (1906; 4. Aufl. 1924)
·
Theodor Lipps: Naturwissenschaft und Weltanschauung (1906)
·
Erich Becher: Philosophische Voraussetzungen der exakten
Naturwissenschaften (1907)
·
Rudolf Eisler: Einführung in die Erkenntnistheorie (1907, 2.
Aufl. 1925)
·
Eberhard Dennert: Die Weltanschauung des modernen Naturforschers
(1907; 2. Aufl. 1911)
·
Benno Erdmann: Die Funktionen der Phantasie im wissenschaftlichen
Denken (1907; Neudruck 1913)
·
Leonard Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem (1908;
2. Aufl. 1930)
·
Oswald Külpe: Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft
(1910)
·
Paul Natorp: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften
(1910, 2. Aufl. 1921, Reprints 1969, 1981)
·
Bruno Bauch: Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften
(1911)
·
Hugo Dingler: Die Grundlagen der Naturphilosophie (1913; Reprint
1967)
·
Bernhard Bavink: Ergebnisse und Problem der Naturwissenschaften
(1914, 3. Aufl. 1924, 10. Aufl. 1954)
·
Theodor Ziehen: Grundlagen der Naturphilosophie (1922)
·
Wilhelm Sauer: Grundlagen der Wissenschaft und der Wissenschaften
(1926)
·
Rudolf Carnap: Physikalische Begriffsbildung (1926, Reprint
1966).
In anderen Sprachen wichtig sind:
·
Thomas Squire Barrett: A new view of causation (1871; 2. Aufl. u.
d. T.: The philosophy of science 1872)
·
William Stanley Jevons: The Principles of Science (1874; mehrer
Aufl. bis 1907)
·
Karl Pearson: The Grammar of Science (1892)
·
Francelin Martin: La perception extérieure et la science
positive (1894)
·
Eduard Le Roy: Science et philosophie (1899/1900)
·
Federigo Enriques: Problemi della scienza (1906).
Ontologie
Schon 1912 rätselte Max
Frischeisen-Köhler über "Wissenschaft und
Wirklichkeit".
Hans Driesch verfasste eine
"Wirklichkeitslehre" (1917, 3. Aufl. 1930), Hedwig Conrad-Martius
legte 1924 eine "Realontologie" vor, Günther Jacobi 1925 eine
"Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit" (2. Aufl. 1993), Heinrich
Maier 1926 eine "Philosophie der Wirklichkeit" und Nicolai Hartmann
1935 eine "Grundlegung der Ontologie" (4. Aufl. 1965) vor.
Eino Kaila stellte ein mehrstufiges
"System der Wirklichkeitsbegriffe" (1936) auf, ergänzte es mit
einer Untersuchung "Über den physikalischen
Realitätsbegriff" (1941) und schloss eine "Metatheorie der
Quantenmechanik" (1950) an.
Extreme Positionen vertraten Bertrand
Russell (1914), Rudolf Carnap (1928) und der junge Alfred Jules
Ayer (1936). Der frühverstorbene Benjamin Lee Whorf zog in
seinen linguistischen Betrachtungen 1936-42 (erschienen unter dem
Titel: Language, Thought and Reality. 1956) unter anderem die
Hopi-Indianer und die indische Philosophie zum Vergleich bei.
Auch die Physiker
philosophierten
Von Seiten der Physiker machten sich
über die Realität Gedanken:
·
Max Planck: Die Einheit des physikalischen Weltbildes
(1909), Das Weltbild der neuen Physik (1929; 16. Aufl. 1967),
Positivismus und reale Aussenwelt (1931) und: Wege zur
physikalischen Erkenntnis (1933; 4. Aufl. 1944; 5. Aufl. u. d. T.:
Vorträge und Erinnerungen 1949, zahlreiche Aufl. bis 1983)
·
Max von Laue: Das physikalische Weltbild (1921), Geschichte
der Physik (1946; 4. Aufl. 1966)
·
Sir Arthur Stanley Eddington: The nature of the physical
world (1928, mehrere Reprints bis 1958; dt.: Das Weltbild der
Physik, und ein Versuch seiner philosophischen Deutung. 1931, 2.
Aufl. 1939); The philosophy of physical science (1939, mehrerem
Aufl. bis 1978; dt.: Philosophie der Naturwissenschaft 1939, 1949,
1952)
·
Niels Bohr: Atomtheorie und Naturbeschreibung (1931; engl.:
Atomic theory and the description of nature 1934; mehrere Aufl. bis
Reprint 1987), fortgesetzt in: Atomphysik und menschliche
Erkenntnis (1958, Neuausgabe 1985; engl. Atomic Physics and Human
Knowledge 1958, 1961; Reprint 1987) und: Über Erkenntnisfragen
der Quantenphysik (7 Seiten 1959)
·
James Jeans: The new background of science (1933, 2. Aufl.
1934, Reprint 1959; dt.: Die neuen Grundlagen der Naturerkenntnis.
1933, 2. Aufl. 1934), Physics and Philosophy (1942, 1958, 1981;
dt.: Physik und Philosophie. 1944; erneut 1951).
·
Fritz Zwicky: On the Principle of the Flexibility of Scientific Truth (1934)
·
Albert Einstein: Mein Weltbild (1934; erweitert 1953, 26.
ed.1998; engl.: The world as I see it 1934; Reprints 1979, 1999;
nach der dt. Aufl. von 1953 engl.: Ideas and Opinions 1954, letzte
Aufl. 1995)
·
Werner Heisenberg: Wandlungen in den Grundlagen der
Naturwissenschaft (1935; 3. erw. Aufl. 1942; 11. Aufl. 1980), Das
Naturbild der heutigen Physik (1955, bis 1979) und: Physics and
Philosophy (1958, Reprint 1999; dt.: Physik und Philosophie 1959;
6. Aufl. 2000)
·
Pascual Jordan: Die Physik des 20. Jahrhunderts -
Einführung in den Gedankeninhalt der modernen Physik (1936; 9.
Aufl. 1956 u. d. T.: Atom und Weltall), Das Bild der modernen
Physik (1947, 1957)
·
Ernest Rutherford: The newer alchemy (1937), Science in
development (1937)
·
Louis de Broglie: Matière et lumière (1937;
dt.: Licht und Materie 1939, 7. Aufl. 1949; als TB 1958), Physique
et microphysique (1947; dt.: Physik und Mikrophysik 1950)
·
George Gamow: Mr. Tompkins in Wonderland (1939; dt.: Mr.
Tompkins im Wunderland 1954); Mr. Tompkins explores the atom
(1944); beide zusammen in: Mr. Tompkins in paperback (1965; dt.:
Mister Tompkins seltsame Reisen durch Kosmos und Mikrokosmos 1980;
zahlreiche Reprints)
·
Max Born: Experiment and theory in physics (1943; erneut
1956; dt.: Experiment und Theorie in der Physik 1969); Natural
Philosophy of cause and chance (1949; Reprint 1964), Physics in my
generation (1956, 2. Aufl. 1969; dt.: Physik im Wandel meiner Zeit
1957; 4. Aufl. 1966; Reprint 1983), Der Realitätsbegriff in
der Physik (1958) und: Von der Verantwortung des
Naturwissenschaftlers 1965
·
Carl Friedrich von Weizsäcker: Zum Weltbild der Physik
(1943; 13. Aufl. 1990)
·
Erwin Schrödinger: Der Geist der Naturwissenschaft
(Eranos-Vortrag 1946), Was ist wirklich? (1960; in: Meine
Weltansicht 1961, 1963)
·
Henry Margenau: The nature of physical reality (1950;
Reprint 1977)
·
Gerald Holton: Introduction to Concepts and Theories in
Physical Science (1952, 2. Aufl. 1973) und: Scientific Imagination
(1978; erneut 1998)
How real is
real?
Weitere Hinweise findet sich bei Justus
Schwarz (1947), Willard Van Orman Quine (1948), Max Hartmann
(1948), Arthur March (1948; 1955) und Béla Juhos (1950;
1963).
Grundlegend sind Rom Harré (1961),
J. J. C. Smart (1963), Wilfrid Sellars (1963), Peter Mittelstaedt
(1963), Hans Albert (1964), Wolfgang Büchel (1965), Carl
Gustav Hempel (1966), Allen Phillips Griffiths (1967), Mario August
Bunge (1970), Ulric Neisser (1976) und Paul K. Feyerabend (1978).
Schliesslich lohnt sich ein Hineinschauen bei Reinhardt Grossmann
(1992), Renate Wahsner und Horst-Heino von Borzeszkowski (1992),
Craig Dilworth (1996) sowie in die von Hans Jörg
Sandkühler (1993-2003) herausgegebenen
Sammelbände.
Eine ganz andere Sichtweise vermitteln
der Bestseller von Paul Watzlawick: "How real is real?" (1976), "An
Idiot's Fugitive Essays on Science" von Clive Truesdell (1984) oder
"Yoriks's World" von Peter Caws (1993). Einen humorvollen Zugang
bietet Bruno Latour mit "Die Hoffnung der Pandora" - besonders das
1. Kapitel: "Glaubst du an die Wirklichkeit?" (2000, 7-35).
In einem Tagungsband stellten Alexander
Riegler et al. (2000) die Frage: "Does representation need
reality?", und der amerikanische Philosophieprofessor und
Locke-Spezialist John William Yolton versuchte es mit einem "Essay
in ontology" (2000).
Ist die Beschreibung von Tatsachen objektiv?
Der "alte" Werturteilsstreit
Von etwa 1898 bis 1913 schwelte in der
deutschen Soziologie der erste sogenannte "Werturteilsstreit". Es
ging dabei um die Frage, welchen Einfluss persönliche
Meinungen auf die wissenschaftliche Arbeit haben. 1904 erregten die
Behauptungen des Soziologen Max Weber Aufsehen. Sie lauteten:
1. Die Auswahl der
Fragestellung ist wertend.
2. Die Beschreibung von
Tatsachen ist objektiv.
3. Die Verwertung
wissenschaftlicher Erkenntnisse ist wertend.
4. Wertungen können
Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnisse sein.
Weber postuliert Wertfreiheit nur
für den Begründungszusammenhang. Im Entdeckungs- und
Verwertungszusammenhang werden Wertungen dagegen als zulässig
und unvermeidlich angesehen.
Die Gegenposition vertrat folgende
Argumente:
1. In den
Sozialwissenschaften ist der Forscher Teil seines Objektbereichs
und kann schon deshalb nicht neutral sein.
2. Forschungsergebnisse
können ohne zwangsläufig wertende Begriffe nicht
kommuniziert werden.
Der "neue" Werturteilsstreit
Nach Vorgeplänkel in den 1950er
Jahren inspiriert durch den von Ernst Topitsch herausgegebenen
Sammelband "Logik der Sozialwissenschaften" (1965) flammte der
Werturteilsstreit im Rahmen des sog. Positivismusstreits zwischen
Vertretern der Frankfurter Schule (Adorno, Habermas) und Vertretern
des kritischen Rationalismus (Popper, Albert) wieder auf. Das war
vor allem eine gesellschaftspolitische Kontroverse über die
Bedeutung der Sozialwissenschaften.
Die Frankfurter Schule forderte, Theorien
müssten stets auch im Lichte der Wünschbarkeit
geprüft werden. Die Kritischen Rationalisten hielten eine
objektive Setzung der Wünschbarkeit für
unmöglich.
Immerhin führte die Debatte zu einer
Verdeutlichung des Objektivitätsbegriffs. Von Seiten des
Kritischen Rationalismus wurde betont, dass Wertungen auch
innerhalb des Begründungszusammenhangs unabdingbar seien.
Wichtig sei es darum, alle Arbeitsschritte hierbei so offen zu
legen, dass sie jederzeit von Dritten kritisiert werden
können. Wertfreiheit entsteht dann in einem Prozess der Kritik
und Gegenkritik. Objektivitätskriterium ist die
"intersubjektive Nachvollziehbarkeit".
Hans Albert und Ernst Topitsch gaben 1971
den 550seitgen Wälzer "Werturteilsstreit" heraus.
Die Theoriebeladenheit von
Beobachtungen
Seit Norwood Russel Hansons Schrift
"Patterns of Discovery" (1958) wird von Wissenschaftstheoretiker
häufiger die Frage der "Theoriebeladenheit aller
Beobachtungen" diskutiert.
Die ersten Ansätze dieser Auffassung
werden bei Pierre Duhem (1906) und Karl Raimund Popper (1935)
ausgemacht. In Thomas S. Kuhns "Structure of Scientific
Revolutions" (1962) finden sich ähnliche Behauptungen.
Der deutsche Philosoph Jürgen
Habermas stellte in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung 1965
fünf Thesen auf, darunter: "Die erkenntnisleitenden Interessen
bilden sich im Medium von Arbeit, Sprache und Herrschaft" (siehe
auch "Erkenntnis und Interesse" 1968).
Weiter in der Diskussion führten
Frederick Suppe und Ernan McMullin.
Die Gegenposition bezogen die Vertreter
des sog. "Scientific Realism", beispielsweise J. J. C. Smart
(1963), R. Boyd (1973) und Hilary Putnam (1975, 1981). 1994
publizierten Jerrold L. Aronson, Rom Harré und Eileen
Cornell Way die kleine Schrift "Realism rescued".
Die Psychologie macht alles noch
komplizierter
In der Psychologie wurde die Sache mit
der Realität inzwischen noch schwieriger. Insbesondere die
Fähigkeit des Menschen zur präzisen Beobachtung von
Ereignissen und Sachverhalten wurde unter die Lupe genommen.
1903 publizierte der vielseitige deutsche
Psychologe L. William Stern, der Begründer der
"differentiellen" Psychologie, ein Pamphlet unter dem Titel:
"Angewandte Psychologie - Beiträge zur Psychologie der
Aussage" (auch 1902). Im Jahr darauf beschrieben Max
Wertheimer und J. Klein die "Psychologischen Tatbestandsdiagnostik"
(auch 1905). Insbesondere die Glaubwürdigkeit von
Zeugenaussagen vor Gericht wurde in Frage gestellt. Besonders von
italienischen Psychiatern (Ferarri, Lombroso, Longo) wurden diese
Untersuchungen sofort aufgenommen. Otto Lipmann gab 1908 einen
kleinen "Grundriss der Psychologie für Juristen" heraus.
1913 fasste Karl Marbe die Ergebnisse
unter dem Titel "forensische Psychologie" zusammen. 1927 gab Otto
Lipmann mit einigen Kollegen den fast 600seitigen Band "Die
Lüge" heraus.
Im Bereich der psychologischen Forschung
führte Edward Chace Tolman 1932 die "intervenierende Variable"
ein.
Im weiteren sprechen die Psychologen
von "hypothetischen Konstrukten" (Kenneth MacCorquodale, Paul
Everett Meehl 1948) und "persönlichen Konstrukten" (George
Alexander Kelly 1955).
Atomvorstellungen im 20. Jahrhundert
Niels Bohr versucht, "die
Phänomene zu retten"
Im Jahre 1913 stellte Niels Bohr sein
legendäres Atommodell vor (Paul Kirchberger 1922; John L.
Heilbron, Thomas S. Kuhn 1969; Ulrich Hoyer 1974; Arthur I. Miller
1984). Er nannte es auch gleich "atom-model", nachdem Ernest
Rutherford (1911; vgl. Lawrence Badash 1987) noch zwei Jahre vorher
von "atomic system" gesprochen hatte.
Beide Autoren sprachen aber auch von der
"theory of the structure of atoms": Rutherford von
derjenigen von Sir J. J. Thomson, Bohr von derjenigen von Prof.
Rutherford.
Im selben Jahr sprach bereits im
Deutschen Kasimir Fajans (1913) aus Karlsruhe vom "Atommodell"
Rutherfords. Im nächsten Jahr übernahmen auch Rudolf
Seeliger (1914) aus Charlottenburg und der Viscount Cherwell of
Oxford, Frederick Alexander Lindemann (1914), diese
Ausdrucksweise. Sofort sprach man auch von „atomic model“ (z. B. Gilbert N. Lewis, 1917; Alan W. C. Menzies, 1922; R. B. Lindsey, 1927).
In den 1920erJahren sprach Bohr von
Atombau (1923 - engl. atomic structure und atomic constitution),
Atomtheorie (1925), Atomistik (1927) und Atomphysik. Die
Übersetzungen ins Englische resp. Deutsche sind
unterschiedlich.
1920 erschienen bei der Londoner Royal
Society die Baker-Vorlesungen von Ernest Rutherford "Nuclear
constitution of atoms" (dt.: Über die Kernstruktur der Atome
1921).
1964 erschien in Stuttgart eine Schrift:
Das Bohrsche Atommodell", 1971 legte der Physiker Gerald Holton
wieder einmal "Models of the Atom" vor.
Brigitte Falkenburg (1997, 30) schreibt:
"Das Atommodell, das Bohr innerhalb weniger Monate des Jahres 1913
konzipierte, lässt sich als Musterbeispiel einer
Einführung von ad hoc-Annahmen zur Rettung der Phänomene
betrachten. Die Streuexperimente, die ab 1906 in Rutherfords Labor
in Manchester durchgeführt worden waren, hatten 1909
unerwartete Rückwärtsstreuung von a-Strahlen an
dünner Goldfolie gezeigt, woraus Rutherford 1911 definitiv auf
die Existenz einer punktförmigen positiven Zentralladung
innerhalb des Atoms schloss. Nun galt es die Stabilität der
Atome als Materiebestandteile zu retten.
In einem Atom, das wie eine Art
Sonnensystem im Kleinen aufgebaut ist, also aus einem elektrisch
positiv geladenen Kern und darum kreisenden Elektronen besteht,
stürzen die Elektronen nach den Voraussagen der Maxwellschen
Elektrodynamik innerhalb kürzester Zeit durch Strahlung in den
Atomkern ab. Bohr 'rettete' die Elektronenbahnen im Atom, indem er
sie 'einfror': er führte ad hoc eine Quantisierungsbedingung
für die Elektronenenergie im Atominnern ein, die den
Elektronen diskrete Energiezustände zuweist und ihnen
verbietet, zu strahlen wie klassische beschleunigte Ladungen. Damit
waren die Gesetze der klassischen Elektrodynamik für das
Atominnere ausser Kraft gesetzt, ohne dass klar war, wie sich
dieses Atommodell mit den übrigen Gesetzen der Physik
verträgt." (Zur Rettung der Phänomene Jürg
Mittelstrass 1961).
Interessant dabei ist, dass die Analogie
des Sonnensystems bereits 1904 von J. J. Thomson verwendet wurde.
Niels Bohr (1913, 2) nahm selbstverständlich darauf Bezug.
Weniger bekannt dürfte sein, dass 1904 der Japaner Nagaoka ein
"saturnisches" Modell für das Atom aufgestellt hatte: Eine
zentrale anziehende Masse ist umgeben von Ringen kreisender
Elektronen.
Ebenfalls weniger bekannt dürft die
Bemerkung von Niels Bohr sowohl am Anfang wie am Ende seiner
25seitigen Abhandlung sein, es handle sich um eine Hypothese.
Umfassend kommentieren Bohrs Philosophie Henry J. Folse (1985),
Dugald Murdoch (1987), Jan Faye (1991), David Favrholdt (1992) und
Sandro Petruccioli (1993).
Carl Friedrich von Weizsäcker
unterscheidet zwischen Gesetzen und Modellen
25 Jahre später berichtete Carl
Friedrich von Weizsäcker über "Neuere Modellvorstellungen
über den Bau der Atomkerne". Das Interesse der Physiker hatte
sich mittlerweile - nicht zuletzt, weil 1932 das Neutron entdeckt
worden war - von der Elektronenhülle auf den Atomkern
verschoben.
Dabei unterschied man nun einerseits "die
Kraftgesetze, die im Kern herrschen" von den "Modellvorstellungen,
die wir uns vom Zustand der Kerne bilden". Wir haben also wie schon
im 19. Jahrhundert, eine Unterscheidung zwischen Gesetzen und
Modellen. Wie formuliert von Weizsäcker (1938, 210)?
"Unter einem Modell eines Kerns verstehen
wir eine mehr oder weniger bildliche Vorstellung von seinem Aufbau
und Zustand, die einfach genug ist, um das Ziehen bestimmter
Schlüsse auf seine Eigenschaften zu erlauben, und gleichzeitig
allgemeingültig genug, um die Einordnung dieser Schlüsse
in eine grössere Systematik der Kerneigenschaften zu
ermöglichen. Das Modell steht also gewissermassen in der Mitte
zwischen einer strengen quantenmechanischen Theorie der
Kerneigenschaften und ihrer rein empirischen Zusammenfassung. Von
der Erfahrung aus gesehen ist es der erste Schritt zur
theoretischen Verarbeitung beobachteter Regelmässigkeiten,
für die mathematische Theorie bildet es einen Hinweis auf den
zweckmässigsten Ansatz einer Näherungsrechnung."
Von Weizsäcker schildert nun die
drei Modelle der damaligen Zeit, das sogenannte
Tröpfchenmodell und seine beiden Verfeinerungen, das
Hartreesche Schalenmodell und das a-Teilchenmodell von
Wefelmeier.
Leider gibt er, wie schon Niels Bohr,
keinerlei bildliche Darstellung (vgl. aber Johann Weninger et al.
1976-78).
Neuere Verwendungen des Modellbegriffs
in der Physik
Sechs schöne Beiträge zu
philosophischen Problemen der Quantenmechanik hat Robert G. Colodny
1972 zusammengestellt.
Neuere Verwendungen des Modellbegriffs in
der Physik finden sich unter anderem bei H. J. Groenewald (1954),
Friedrich Kaulbach (1958), I. B. Novik (1965), Max Jammer (1966),
Ernan McMullin (1968), Klaus Bernstein (1969), Noel Mouloud et al.
(1971), Michael Redhead (1980), Nina Hager (1982), Nancy Cartwright
(1983, 1999), John D. Barrow (1990), Renate Washner et al. (1992),
Hans Jörg Sandkühler (1994), William E. Herfel et al.
(1995) und Brigitte Falkenburg (1999).
An der University of London hat im Jahre
2000 Demetridis Panayiotis Portides eine Dissertation vorgelegt,
welche "The case of models of the nuclear structure" genau
untersucht.
Kritisches zur Begriffsbildung
Kritisch zur Begriffsbildung in der
Physik äussern sich ganz unterschiedlich unter anderem Lothar
von Strauss und Torney (1949), Carl Gustav Hempel (1952), Heinz R.
Schierle (1958), Evert Willem Beth (1960), Friedrich Otto Sauer
(1977), Rolf-Albert Weber (1978), Bernard d'Espagnat (1979),
Wolfgang Balzer, Andreas Kamlah (1979), Gerig Lind (1980),
Günther Ludwig (1981), Günter Skorsky (1982, Holm Tetens
(1986) und August Meessen (1986).
1997: Gerät das "Standardmodell"
ins Wanken?
1964 führte der Physiker Murray
Gell-Mann in einem Aufsatz "Ein schematisches Modell der Baryonen
und Mesonen" die Idee und den Begriff "Quark" in die Theorie der
kleinsten Teilchen ein. In einem Brief 1978 an den Herausgeber des
"Oxford English Dictionary" schrieb er, dass er sich bei der
Namengebung, zumindest unbewusst, auf den Roman "Finnegans Wake"
von James Joyce gestützt habe, in dem er seit seinem
Erscheinen 1939 immer wieder geschmökert habe.
Die Sache wird heute "Standardmodell"
genannt. Es handelt sich dabei allerdings eher um eine Theorie.
Im Februar 1997 gab es Aufruhr. In einem
Zeitungsartikel war zu lesen: "Mit dem Standardmodell der
Teilchenphysik stimmt möglicherweise etwas nicht. Darauf
deutet ein nun drei Jahre laufendes Experiment mit dem
Teilchenbeschleuniger Hera am Deutschen Elektron-Synchrotron (Desy)
in Hamburg hin. Das Standardmodell erklärt, woraus die Welt
gebaut ist und was sie in ihrem Innersten zusammenhält:
Zwölf Teilchen und vier Kräfte sind bislang dazu
nötig.
In einer Pressemitteilung erklärten
die rund 400 beteiligten Physiker, die Wahrscheinlichkeit, die
Beobachtungen mit dem Standardmodell erklären zu können,
sei 'geringer als ein Prozent'. 'Unsere Theoretiker haben alles
versucht, um die Daten mit dem Standardmodell in Einklang zu
bringen', erklärte Ralph Eichler, Professor am Institut
für Teilchenphysik der ETH Zürich und Sprecher des
Hamburger Experiments, 'es ist ihnen nicht gelungen.' Aus der
Schweiz arbeiten etwa 20 Forschende von der ETH, der Uni
Zürich und vom Paul-Scherrer-Institut mit" (Thomas
Müller, Frank Grotelüschen 1997).
Eine der Spekulationen geht dahin, dass
Quarks ebenso wie Elektronen doch teilbar seien.
Möglicherweise drängen sich auch supersymmetrische
Theorien auf.
1. Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Bildhaftes Denken und Problemlösungen
Die erste Hälfte des 20.
Jahrhunderts ist von eine starken Gegensatz geprägt.
Auf der einen Seite traten die
Würzburger Denkpsychologen und die Behavioristen als
Bilderstürmer in Erscheinung, anderseits brach ein richtiger
Kreativitätsfimmel aus, in dessen Gefolge auch über
Imagination und Genie geforscht wurde.
Es ist nicht mehr schick, von bildhaftem Denken zu
sprechen
Oswald Külpe hatte in den 1880er
Jahren eine solide Ausbildung in experimenteller Psychologie bei
Wilhelm Wundt in Leipzig erhalten. Nach seiner Berufung auf den
Lehrstuhl für Philosophie in Würzburg begann er, die
systematische Selbstbeobachtung erstmals zur Erforschung der
"höheren" geistigen Prozesse anzuwenden.
Seit 1901 stellten er und seine Studenten
die bisherigen Thesen über das symbolische Erkennen und
bildhafte Denken in Frage (A. Mayer, Johannes Orth 1901; Karl Marbe
1901; Albert Thumb, Karl Marbe 1901;
Oswald Külpe 1904; 1912; Henry Jackson Watt 1905; Narziss Ach
1905; August Messer 1906, 1908; Karl Bühler 1907/8).
Untersuchungen nach dem Verfahren "Introspektion unter
experimentellen Bedingungen" zeigten nämlich, dass die meisten
Versuchspersonen bei kognitiven Aufgaben "nichtanschauliches
Denken" vollzogen, also Bewusstseinsinhalte ohne sensorische oder
wahrnehmungsbezogene Qualitäten produzierten (George Humphrey
1951; Steffi Hammer 1990; Horst Gundlach 1999).
Wilhelm Wundt protestierte aufs
heftigste, und es entspannte sich in den Jahren 1907-09 eine
Kontroverse, welche im Endeffekt zu einer Diskreditierung der
introspektiven Methode führte - obwohl Wundt im Unrecht
war.
Den Todesstoss (Akhter Ahsen 1990)
führte 1913 John Broadus Watson (David Abraham Lieberman 1979;
John Michael O'Donnell 1985; Nigel J. T. Thomas 1989), indem er das
Programm des Behaviorismus mit folgenden Worten eröffnete:
"Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht, ist ein vollkommen
objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr
theoretisches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten.
Introspektion spielt keine wesentliche Rolle."
Etwa in der Mitte seines Pamphlets kommt
er zu einer "konstruktiven Aussage". Er meint, es sei möglich,
eine Psychologie zu schreiben, ohne "Begriffe wie Bewusstsein,
Bewusstseinszustände, Seele, Bewusstseinsinhalt, introspektiv
verifizierbar, Vorstellung und ähnliches zu gebrauchen".
Von "mental imagery" zu reden, war von da
an in gewissen Kreisen bis etwa 1960 verpönt.
Auch die Analytische Philosophie und
später der Logisch Empirismus, welche bald den ganzen
angelsächsischen Raum beherrschten und die Sprache als das
tragende Medium des Denkens betrachteten, bestritten die
traditionelle Auffassung, dass sich die sprachliche Bedeutung von
"Bildern im Gehirn" herleite.
Nebenbei: Die Frage des bildlosen Denkens
ist bis heute nicht gelöst (Nigel J. T. Thomas 1989; John Heil
1998).
Dennoch psychologische Forschungen im Bereich
imagery und creativity
Das Gegengewicht zur Würzburger
Schule und zu Watson bildeten die Bücher der beiden Franzosen
Théodule Ribot ("L'imagination créatrice" 1900) und
Henri Bergson ("L'évolution créatrice" 1907). Sie
lösten einen wahren Boom von Untersuchungen sowohl über
imagery wie über creativity aus.
Mental und visual imagery
In der Zeit von 1909-1939 haben über
ein Dutzend psychologische Forscher - hauptsächlich Frauen -
an amerikanischen Universitäten wie Cornell (Ithaca, NY) oder
Columbia (New York) Dissertationen über mental und visual
imagery vorgelegt. Manche davon wurden um 1970 nachgedruckt.
In Deutschland erschienen 1900-1920
mehrere Arbeiten zum Thema Vorstellungen und Reproduktion.
Imagination in der Esoterik und bei
Mentaltraining
In "Harper's Encyclopedia of Mystical and
Paranormal Experience" (1991) wird darauf hingewiesen, dass in der
Parapsychologie seit etwa 1870 der Zusammenhang von Psi und Imagery
erforscht wurde. Der irische Dichter William Butler Yeats war seit
1887 Mitglied des hermetischen Ordens "Golden Dawn" und
beschäftigte sich hier mit Magie, Symbolik und Imagery (Gordon
Mills Harper 1974).
Im "Lexikon des Geheimwissens" von Horst
E. Miers (1970) heisst es: "Das Wort Imagination wurde wohl zuerst
von Coué verwendet und dann von den Theosophen
übernommen." Der Apotheker Emil Coué entwickelte um
1910 das "Autogene Training". Harper' Encyclopedia verfolgt die
Techniken des "creative visualizing" (bekannt geworden durch Shakti
Gawain 1978) nur auf Norman Vincent Peales Buch "The Power of
Positive Thinking" (1952) zurück.
Jedenfalls verbessern Künstler und
Sportler mit Imagery ihre Leistung. Seit etwa 1970 werden diese
Techniken auch in der medizinischen und psychologischen Therapie
eingesetzt, besonders bei Krebs.
1955 erschien in einer Schriftenreihe
"Bücher der praktischen Magie" von Henri E. Douval
"Imagination als geistige Wegbahnung", das mehrere Auflagen
erlebte.
Im Fernen Osten wird Imagery nicht nur
bei den "Martial Arts", sondern auch Meditation und Yoga
praktiziert - hier um kosmisches Bewusstsein oder höchste
Erleuchtung zu erleben.
1940-1960: psychologische Arbeiten zu
Imagination
Auf den ersten Blick sieht es aus, als
sei 1940-1960 keine ernsthafte Forschung auf dem Gebiet
imagery/imagination betrieben worden. Doch lassen sich leicht
über ein Dutzend psychologischer Arbeiten dazu finden.
Ohne Beachtung blieb etwa von Austin
Larimore Porterfield "Creative factors in scientific research"
(1941) oder die Dissertation von Abraham Antoine Moles "La
création scientifique" (1952).
Ungleich mehr Publikationen widmen sich
in diesen zwei Jahrzehnten aber der Imagination in der Dichtung
(Sophokles, Properz, Shakespeare, Wordsworth, Poe, Keats, Shelley,
Coleridge, Tennyson, Browning, Browne, Ruskin, Claudel, Malraux),
in der Religion, in der Mathematik und bei Philosophen (Platon,
Bacon, Descartes, Hobbes, Locke, Kant, Fichte).
"Genie" ist ein hauptsächlich deutsches
Thema
Mit dem Genie, dies aber auch historisch,
befassten sich im Zeitraum von 1884-1934 mindestens 50 Arbeiten in
Deutschland und in der Schweiz, aber fast keine in den andern
Ländern.
Alles wird "creative" oder
"schöpferisch"
Ebenfalls von 1909-1939 erschienen weit
über 100 Untersuchungen und Bücher zur Kreativität,
darunter mindestens sechs mit dem Titel "creative imagination".
Die Engländer und Amerikaner
schmückten bald jedes Objekt mit dem Begriff "creative"
(Logan Pearsall Smith 1924), z. B. Spirit, Thought, Process, Power,
Factor, Personality, Will, Involution, Intelligence, Mind,
Psychics, Criticism, Impulse, Chemistry, Experience, Effort,
Expression, Thinkers, Youth, Work, Learning, Management, Adult.
Besonders beliebt war Kreativität
auch im Bereich des Schreibens und der Kunst. Es gab zahlreiche
Schulen und Zeitschriften für "creative writing", "creative
reading" und "creative art".
Die Deutschen sprachen zur selben Zeit -
als Antwort auf Vorstellung und Reproduktion - einerseits von
Phantasie und produktivem Denken, anderseits bezeichneten sie alle
möglichen Sachen als "schöpferisch", z. B.
Phantasie, Persönlichkeit, Indifferenz, Pädagogik,
Erziehung, Pause, Funktion, Theater, Erkenntnis, Gewissen,
Rechtswissenschaft, Kredit, Sinn, Macht, Philosophie,
Denktätigkeit, Weltbetrachtung (Thomas Stocker 1988).
Spärliche Untersuchungen zu Metapher und
Analogie
Spärlich blieben die Untersuchungen
der Metapher ausserhalb von Theologie, Rhetorik und Literatur. Die
einzige psychologische Forschungsarbeit legte Heinz Werner, der
später als Entwicklungspsychologe bekannt wurde, über
"die Ursprünge der Metapher" 1919 an der Universität
Leipzig vor.
30 Jahre später erschien von Martin
Foss "Symbol and metaphor in human experience" (1949).
Einsam auf weiter Flur blieben auch die
Studien über die Analogie von Harald Höffding (1905,
1924), Scott Milross Buchanan (1932), S. T. Cargill (1947) und
Maurice Dorolle (1949).
Orientierungspläne im Gehirn
Eine wichtige experimentelle Untersuchung
über das Denken legte 1924 die amerikanische Psychologin Edna
Heidbreder vor. Mehr als zwanzig Jahr später (1946; 1947)
veröffentlichte sie interessante Forschungsberichte über
das "Konzeptlernen".
Der amerikanische Psychologe Edward Chace
Tolman studierte das Verhalten von Ratten im Labyrinth und
entwickelte auf Grund seiner Beobachtungen eine systematische
Lerntheorie. Er vertrat die Auffassung, diese Tiere schüfen
sich ein Bild des Labyrinths, in dem sie sich bewegten, eine Art
innere Landkarte ("cognitive map", vgl. 1948), eine interne
Repräsentation der geometrischen Beziehungen wichtiger Punkte
in der Umgebung des Tieres.
Erste Berichte über "higher mental
processes in animals" und "'insight' in rats" veröffentlichte
er bereits 1927 resp. 1930. Sein Wälzer "Purposive Behavior in
Animals and Men" (1932) erreichte mehrere Auflagen.
Der englische Experimentalpsychologe
Frederick Charles Bartlett berichtete in seinem Buch über
"Erinnern" (1932) über den Einfluss sozialer Faktoren auf das
Gedächtnis. Die meisten Untersuchungen hatte er bereits im
Ersten Weltkrieg (1916; 1921) gemacht.
Statt sinnlose Silben verwendete er
"sinnvolles" Material. Dabei zeigte sich, dass die Versuchspersonen
dieses nicht nur reproduzierten, sondern im Lichte vergangener
Erfahrungen neu ordneten. Das bezeichnete Bartlett als
"schema" oder "conceptual model".
Wie lösen wir
Probleme?
Anfänge der Forschung
Mit den Untersuchungen von Denken,
Vorstellen und Kreativität waren oft auch Studien zum
Problemlösen verbunden.
Der Problembegriff wurde erstmals in der
philosophischen Marburger Schule (Cohen, Natorp) wichtig.
Die ersten Impulse kamen dann von der
psychologischen Würzburger Schule. Hernach ging es ganz
international weiter mit den Engländern Charles Spearman
(1904) und William McDougall (1910), den Deutschen Karl Bühler
(1907/8) und Otto Selz (1913), dem Franzosen Henri Poincaré
(1908), dem Amerikaner John Dewey (1909) und dem Wiener Sigmund
Freud (1911).
Ablauf der Problemlösung
Poincaré beschrieb 1908 den Ablauf
einer neuen Entdeckung wie folgt:
1. bewusste Arbeit (z. B.
etwas zu beweisen suchen)
2. unbewusste Arbeit
("Die Gedanken überstürzen sich.")
3. bewusste Arbeit
4. plötzliche
Inspiration, Erleuchtung
5. weitere bewusste
Arbeit (Ausarbeitung der Resultate).
Die unbewusste Arbeit wird dabei vom
"sublimen Ich" getan. "Es arbeitet nicht rein automatisch, es hat
die Fähigkeit zu unterscheiden, es hat Feingefühl; es
kann auswählen; es kann ahnen."
John Dewey (1909) unterschied:
1. Begegnen
2. Präzisierung
3. Lösung
4. Konsequenzenanalyse
und
5. Weitere
Beobachtungen.
Der deutsche Psychologe Richard
Müller-Freienfels unterschied 1916 im Denken die Schritte:
Problemsetzung, Problembearbeitung, Problemlösung.
Vom britischen politischen Philosophen
Graham Wallas (1926) soll die Reihenfolge
Präparation-Inkubation-Illumination-Verifikation stammen.
Kreative Problemlösungsmethoden
Die beiden ersten
Problemlösungsmethoden wurden in den 1930er Jahren entwickelt:
Morphologie von Fritz Zwicky (erstmals vorgestellt 1946; ferner
1959, 1966) und Brainstorming von Alex F. Osborn (erstmals
vorgestellt 1948). Von William F. Gordon (1961) wurde seit 1944
"Synectics" entwickelt. Er bezeichnete sein Verfahren auch als "The
metaphorical way of learning & knowing" (1971) - ähnlich
Roberta Cummings Baade in ihrer Dissertation 1979.
Rationale Problemlösungsmethoden
Die 1940er Jahre waren - nicht zuletzt
wegen der militärischen Anstrengungen im Zweiten Weltkrieg -
für die Entwicklung weiterer Problemlösungsmethoden und
Denkansätze äusserst fruchtbar.
· In
Deutschland organisierte Hermann Schmidt (1941) bereits 1940 ein
Symposium von Technikern und Biologen an der TU Berlin zum Thema
"Regelung als Grundproblem der Technik wie der Physiologie".
· Der
amerikanische Ökonom Herbert Alexander Simon befasste sich mit
dem Entscheidungsverhalten in Organisationen (1943-47).
· Der
ungarische Mathematiker John (János) von Neumann und der
deutsche Ökonom Oskar Morgenstern steuerten die Spieltheorie
(1944) bei.
· Der
ungarische Mathematiker George Pólya instruierte das
Lösen mathematischer Probleme (1945).
· Der
Wiener Biologe Ludwig von Bertalanffy entwickelte die "Allgemeine
Systemlehre" (1945), später "General Systems Theory" (1950)
genannt.
· Der
deutsche Kommunist und Jurist Ossip K. Flechtheim entwickelte die
Futurologie (1945).
·
1945 wurde die Entscheidungstheorie begründet (William Spencer
Vickrey; Louis Leon Thurstone; Abraham Wald).
· Le
Roy Archibald Mac Coll (1945) sowie Gordon S. Brown und Donald P.
Campbell (1948) beschrieben die Theorie der "Servomechanismen".
· Der
Amerikaner Norbert Wiener, Sohn eines Russen, beschrieb die
"Kybernetik" (1948).
· Der
amerikanische Mathematiker und Elektroingenieur Claude Elwood
Shannon legte zusammen mit dem mathematische Physiker Warren Weaver
eine mathematische Fassung der "Informationstheorie" (1949)
vor.
· Der
amerikanische Physiker Philip McCord Morse (Verwaltungsrat bei der
RAND Corporation) fasste seine Erfahrungen mit "Operations
Research" (1951) zusammen.
· Der
Einkaufschef Lawrence D. Miles (1961) entwickelte bei der General
Electric Company seit Herbst 1947 die Wertanalyse.
· Die
amerikanischen Betriebwirtschafter C. West Churchman und Russell
Lincoln Ackoff legten 1950 einen Wälzer zur "Systemanalyse"
vor. Im Jahr darauf beschreib Norman Norton Barish "Systems
Analysis for Effective Administration". Als PPBS (Planning,
Programming, Budgeting System) hielt dieses Verfahren in den 60er
Jahren in den amerikanischen Ministerien Einzug (Joseph H. Kaiser
1972).
Qualitätsdenken und Projektmanagement
Ebenfalls in den 1940er Jahren arbeitete
der amerikanische Statistiker William Edwards Deming (1982) seine
Vision des Qualitätsdenkens aus. 1950 wurde er für einen
Vortrag nach Japan eingeladen, drei Jahre später auf seine
Veranlassung auch Joseph Juran (1951; 1964; 1970 arbeitete auch mit
Barish zusammen). Beide unterrichteten seither in Japan derart
erfolgreich, dass die Amerikaner in den 1970er Jahren nach Japan
pilgerten um die dortigen Qualitätssysteme zu studieren.
Armand Vallin Feigenbaum (1951) baute zur
gleichen Zeit die Qualitätskontrolle zur "Total Quality
Control" aus.
Die Netzplantechniken CPM (Critical Path
Method) und PERT (Program Evaluation and Review Technique) wurden
erst um 1957 bei der Renovation einer Raffinerie von Du Pont resp.
beim Projekt "Polaris" der US Navy erfolgreich zum Sparen von Zeit
und Kosten eingesetzt (David M. Stires, Maurice M. Murphy
1962).
Bald darauf sprach man von
Projektmanagement (John Stanley Baumgartner 1962; Joseph J. Moder,
Cecil R. Phillips 1964; David Ira Cleland, William R. King 1968)
und Netzplantechnik (Jürg Brandenberger, Robert Konrad
1965).
Strukturalismus
1926 gründeten einige
Sprachwissenschafter, darunter Roman Jakobson
und Nikolay Trubetzkoy, den Prager Linguisten Zirkel, die Keimzelle
des Strukturalismus. Der erste Band
"Travaux du Cercle Linguistique de Prague" erschien
1929.
Eine Ausweitung erfuhr
das strukturalistische Denken in den 1930er und 40er Jahren,
besonders in der
·
Linguistik (Louis Hjelmslev 1947, Adolf Stender-Petersen 1949;
Zellig Sabbetai Harris 1951)
·
Soziologie (Talcott Parsons 1937; 1951; Robert King Merton 1947,
Marion Joseph Levy 1952)
·
Ethnologie (Alfred Reginald Radcliffe-Brown 1940; Alfred Louis
Kroeber 1943; Claude Lévi-Strauss 1949, George Peter Murdock
1949) und
·
Psychologie (Maurice Merleau-Ponty 1942; Jean Piaget 1942;
1950)
1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Fast Funkstille für Modelle
Fast Funkstille für Modell in der
Physik der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts
Die erwähnten Strömungen und
Ansätze bilden den Hintergrund für die erstaunliche
Tatsache, dass nach 1900 der Modellbegriff - abgesehen vom
"Atommodell", der Lernpsychologie (um 1930) und Ökonometrie - fast ein halbes
Jahrhundert nur noch ein Mauerblümchendasein fristete.
Die
meisten Autoren in der Physik wissen nicht viel damit anzufangen und verwenden
ihn gar nicht (z. B. Norman Robert Campbell 1920) oder sie
erwähnen nur kurz die materiellen Modelle von Maxwell, Thomson
und Boltzmann (z. B. Paul Volkmann 1910; Abram Cornelius Benjamin
1937).
Philipp Frank (1927), James Jeans (1933)
und Pascual Jordan (1936) machten sich Gedanken über die
Anschaulichkeit in der Physik (auch Alwin Diemer 1964; Viktor A.
Stoff 1969, 287-298).
Für Hermann Weyl (1927) gehört
der Modellbegriff allein in den Bereich der Logik.
Immerhin meinte im gleichen Jahr der
Physiker Percy W. Bridgman (1927, 53): "I believe that the model is
a useful and indeed unescapable tool of thought, in that it enables
us to think about the unfamiliar in terms of the familiar."
Öfters wurde versucht, stattdessen
die Begriffe "Symbol" (z. B. Abram Cornelius Benjamin) oder "Ikon",
"Isomorphie" und "Analogie" (z. B. Norman Robert Campbell)
einzuführen und zu präzisieren.
Lothar von Strauss und Torney (1936),
Rudolf Seeliger (1948), Werner Theis (1951) und Joseph Turner
(1955-56) untersuchten in kürzeren Beiträgen den
Analogiebegriff in der Physik.
Mary B. Hesse hat 1963 literarisch
versucht, einen Gegensatz zwischen den Anhängern von Pierre
Duhem (1906) und Campbell (1920) zu konstruieren, doch dies
überzeugt nicht, weil gar keine derartige Auseinandersetzung
stattfand (siehe auch Kurt Hübner 1971).
In Titeln von Aufsätzen in der Physik kommt der
Modellbegriff nur bei Frederick H. Gettman (1905), Frederick Alexander Lindemann (1914), Franz
Tank (1919), Edwin C. Kemble (1920), Ralph de Laer Kronig (1923), Paul S. Epstein (1924) und Alfred James Lotka (1924), R. B. Lindsey (1927), P. M. Davidson (1933) und H. S. W. Massey, C. B. O. Mohr (1933), M. H. Johnson (1934), H. A. Stuart (1934), W. E. Danforth (1936), A. C. Candler (1937), Wilfried Wefelmeier (1938), Carl Friedrich von Weizsäcker (1938), F. Renner (1938) und
Jürg Johannesson (1942) vor.
Einen für die Physik recht
ungewöhnlichen Gebrauch des Wortes Modell machte Albert
Einstein. 1920 eröffnete er eine Vortrag über "Äther
und Relativitätstheorie" mit dem Satz: "Der Raum-Zeittheorie
und Kinematik der speziellen Relativitätstheorie hat die
Maxwell-Lorentzsche Theorie des elektromagnetischen Feldes als
Modell gedient" (1978, 647).
1930 verkündete er (1966, 118) in
einer Ansprache: "Ich glaube noch an die Möglichkeit eines
Modells der Wirklichkeit, d. h. einer Theorie, die die Dinge selbst
und nicht nur die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens
darstellt."
Seit 1915: Erweiterung des
Modellbegriffs in der modernen Logik
Eine Ausweitung erfuhr der Modellbegriff
durch den Wiener Philosophen
Ludwig Wittgenstein (1921 - vgl.
Jörg Burkhardt 1965; Wolfgang Stegmüller 1966; Friedrich
Waismann 1976, 446-470; Hans-Joachim Glock 1996 - zur Philosophie
aus Wien: Kurt Rudolf Fischer 1991) und den deutschen Mathematiker
Hermann Weyl (1927).
In den 1930er Jahren nahmen die Logiker
(Rudolf Carnap 1934ff; Morris Raphael Cohen und Ernest Nagel 1934,
Alfred Tarski 1935 und 1935/36) den Modellbegriff schliesslich als
"Erfüllung" von axiomatischen Systemen und formalisierten
Theorien auf.
Eine klassische Definition von Alfred
Tarski (1953) lautet: "A possible realization in which all valid
sentences of a theory T are satisfied is called a model of T."
Im "Historischen Wörterbuch der
Philosophie" (1984, Sp. 50) lesen wir ganz genau:
"'Modell' heisst
in der Logik ein System aus Bereichen und Begriffen, insofern es
die Axiome einer passend formulierten Theorie erfüllt. Die
Sprache dieser Theorie muss dafür die mit Bereichen und
Begriffen zu interpretierenden Grundsymbole enthalten, die durch
die Interpretation zu sogenannten 'Grundbegriffen' werden.
'Interpretation' heisst dann auch die Abbildung, welche den
Symbolen, ohne Bezugnahme auf Axiome, ihre jeweilige Bedeutung
zuordnet. Interpretationen werden, nach einer Anordnung der
Symbole, oft als Folgen gegeben."
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte
sich eine ausgedehnte Modelltheorie in der Logik, Semantik und
Mathematik. Der erste Aufsatztitel in diesem Bereich, in dem der
Ausdruck "theory of models"" vorkommt, stammt nicht, wie vielfach
behauptet wird, von Alfred Tarski (1954/55) oder Chen Chung Chang
(1954), sondern von Henry Langhaar (1951). Eine erste
Einführung in diese Modelltheorie gab 1963 Abraham
Robinson.
In einem Anhang zum Symposiumsbericht von
John W. Addison et al. (1965, 442-492) sind in einer "Bibliography
of the theory of models" bereits über 940 Literaturangaben
zusammengetragen.
An einem Symposium zu Ehren Alfred
Tarskis im Sommer 1971 in Berkeley referierten Robert L. Vaught
(1974) und Chen Chung Chang (1974) über die Geschichte dieser
Art von Modelltheorie von 1915-1971 mit viel Literaturangaben. Chen
Chung Chang und H. J. Keisler gaben 1973 auch eine vielbeachtete
"Model Theory" heraus.
Seit 1920: elektrische und
elektronische Roboter
Inspiriert von Karel Čapeks Theaterstück "R. U. R." ("Rossum's
Universal Robot",1920) wurden bald zahlreiche sogenannte "Roboter"
gebaut, beispielsweise vom amerikanischen Ingenieur Whitman der
"Radiomensch Occultus" (1924), ein Soldat auf Raupenketten, mit
rotierenden Scheiben an den Armen und einem Giftgasbehälter.
Ein Ingenieur von Westinghouse, R. J. Wensley, baute 1927 den
Haushaltsroboter "Televox".
Die jährliche Ausstellung der "Model
Engineering Society" 1928 wurde von "Eric" (gebaut von Captain W.
H. Richards), einem "Roboter in Ritterrüstung" mit einer
Ansprache eröffnet. Seither hatte jeder grössere
Jahrmarkt und jede Ausstellung, die etwas auf sich hielt, ihren,
meist überlebensgrossen Roboter (Gary
Jennings 1962; René Simmen 1967, Helmut Swoboda 1967, 179ff, 204f; Jasia Reichardt
1978; Brian Morris 1985; Gero von Randow 1997, Bodo Michael Baumunk 2007). Eine ganze Serie
"Sabor I" bis "Sabor V" (1960) baute der Appenzeller August
Huber (Helmut Swoboda, 1967, 184), nach anderer Quelle Peter Steuer (Siegfried Richter 1989, 8). Richtig ist: „Sabor V“ war ein ferngesteuerter Werberoboter. August Huber hatte ihn entwickelt, Peter Steuer ging mit ihm auf Welttournee, Eric Lanz bediente die Fernsteuerung..
Edwin Garrigues Boring (1946) erwähnt
eine ganze Reihe von Versuchen namhafter psychologischer Forscher
zwischen 1929 und 1938, lernende Roboter zu entwerfen. Zur Illustration des bedingten Reflexes konstruierte H. D. Baernstein für Clark Leonard Hull 1929 ein elektromechanisches Modell, und im selben Jahr stellte J. M. Stephens eine „learning machine“ zur Demonstration des Effektgesetzes vor. Im Jahr darauf beschrieb Albert Walton nebst anderen Demonstrationsgeräten auch eine „conditioned reflex machine“. Eine Verfeinerung zeigten 1933 George K. Bennett und Lewis B. Ward.
1930 versuchte der Psychologe und Behaviorist Karl S. Lashley eine Theorie der Gehirnfunktionen in Analogie zum Telephonsystem aufzustellen: „The model for the theory is a telephone system. Just as two instruments can be connected only by certain wires, so the sense organs and muscles concerned in any act are connected by nerve fibers specialized for that act.“
Den ersten wissenschaftlichen Roboter
baute 1938 der Amerikaner Thomas Ross. Es war eine kleine Maschine,
die wie eine Maus, durch Versuch und Irrtum lernend, den Weg aus
einem Irrgarten herausfand.
Seither ist das Basteln mit
"lebensähnlichen" Maschinen bei den Forschern beliebt.
Legendär wurden die elektronischen Schildkröten "Elmer"
und Elsie" des amerikanisch-englischen Gehirnforscher William Grey
Walter (1948), der "Homöostat" des Engländers William
Ross Ashby (1948) und die "machina labyrinthea" des Amerikaners R.
A. Wallace (1952). Auch die sonst eher als Theoretiker der
Kybernetik und Nachrichtentechnik bekannten Norbert Wiener (mit
seinem Assistenten Jerome Wiesner), Claude Shannon, Heinz Zemanek
und Albert Ducrocq konstruierten zu dieser Zeit einfache
kybernetische Tierchen.
Das erste komplette Robotersystem mit
Sensoren und optischem Wegfinder wurde 1968 am Stanford Research
Institute entwickelt und hiess "Shakey". Er wurde 1971 für
andere Aufgaben erneut gebaut.
Der erste Computer für eine
Prozessteuerung in der Industrie war 1957 funktionsfähig.
Elektronisch gesteuerte Industrieroboter sind seit 1960 im
Einsatz.
Seit Anfang der 1970 Jahre sprach man von
"Computer-aided Manufacturing" (Douglas A. Cassel 1972) und
"Computer Integrated Manufacturing" (Joseph Harrington 1973).
Seit 1930: Mathematische Behandlung ökonomischer Fragen
Wichtige mathematische Behandlungen ökonomischer Fragen boten in den 1930er Jahren neben Ragnar Frisch und Jan Tinbergen unter anderen John von Neumann (1938; ursprünglich 1932), Michal Kalecki (1935), Victor Edelberg (1936; 1936), James E. Meade (1936), John Richard Hicks (1937), Roy F. Harrod (1939) und Paul A. Samuelson (1939). Schon 1938 sprach man – neben „Keynes’ model“ - von „Kalecki’s model“, und zwei Jahre später bot Nicholas Kaldor eine Erweiterung. Daher sprach 1946 Vittorio Marrama vom „Kalecki-Kaldor model“.
In den Jahren 1948/49 zerpflückte William Jack Baumol die Modelle von Harrod und Samuelson. John Richard Hicks (1949) zerpflückte ebenfalls Harrods „Dynamische Theorie“; Sidney S. Alexander folgte 1949/50. Merkwürdigerweise sprach Baumol in der Folge nicht vom Harrod-Samuelson-Modell, sondern vom Harrod-Domar-Modell (1952).
Bereits seit 1940 spricht man vom „Hicksian model“, seit 1951 vom „Hicksian IS-LM diagram“ seit 1963 vom „Hicks IS-LM“ und seit 1968 vom „Hicksian IS-LM model“. Es wurde 1962 von Robert Mundell und Marcus Fleming erweitert.
Die Bezeichnung „ökonometrische Modelle“ finden wir bereits bei Victor Edelberg (1936). 1941 doktorierte Sami Semsiddin Tekiner an der Cornell Universität über „dynamische ökonomische Modelle“.
1944 sprach Leonid Hurwicz von „Haavelmo’s model“, „Koopman’s model“ und „Samuelson’s system“. Seit 1941 spricht man vom „Leontief system“, seit 1943 von „Leontief’s model“, seit 1950 von „Leontief’s input-output model“.
2. Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Explosion der Modell-Literatur
Daniela Bailer-Jones und Stephan Hartmann
(1999) haben versucht, die "Problemgeschichte" der Modellverwendung
seit 1900 in Phasen einzuteilen. Sie sei hier etwas ausgeweitet und
weiter differenziert.
Nachdem der Logische Empirismus dem
Modellbegriff eine ganz spezifische Bedeutung gegeben hat, setzte
1945 eine Welle von Modellbetrachtungen unterschiedlichster Art
ein.
Die rasante Ausbreitung des Modellbegriffs
Die rasante Ausbreitung des
Modellbegriffs lässt sich beispielsweise am jährlichen
Wachstum der Buchtitel zu Modell, Modellierung, Modellversuchen
usw. ablesen.
Bis etwa 1965 hielten sich die
Publikationen in einem überschaubaren Rahmen, dann setzte ein
beinahe explosives Wachstum ein. Das zeigt sich auch in absoluten
Zahlen.
So lauten die Bestände der Deutschen
Bibliothek in Frankfurt - hauptsächlich deutschsprachige Titel
- pro Jahrgang ungefähr folgendermassen:
1950: 30
1960: 50
1970: 350
1980: 700
1990: 1100
2000: 1950
2004: 2300.
In den 10 Jahren von 1990-1999 erschienen
über 17 000 Modelltitel, in den 5 Jahren von 2000-2004 rund 12 000.
Der gemeinsame Online-Katalog der
grössten britischen Bibliotheken (COPAC) verzeichnet für
1990-1999 über 16 000 englische Titel (allerdings mit sehr
vielen Doubletten).
1947-1955: Die ersten wissenschaftlichen
Bücher mit "Modell" im Titel
Zu den ersten wissenschaftlichen
Modelltiteln in Buchform gehören die Dissertationen von
Clifford Dixon Firestone (1947), Marjorie Hall Harrison (1947) und
Detlef Schmidt (1949).
Die nächsten Modell-Buchtitel
erzielten erstaunlicherweise meist hohe Auflagen. Dazu gehören
unter anderen:
·
"Statistical Inference in Dynamic Economic Models", hrsg. von
Tjalling C. Koopmans (1950)
· "Le
modulor" von Le Corbusier (1950)
·
"Mathematical Models" von Henry Martyn Cundy und A. P. Rollett
(1951)
·
"Dimensional Analysis and Theory of Models" von Henry Louis
Langhaar (1951)
·
"Theoretical Models and Personality Theory", hrsg. von David Krech
und George Stuart Klein (1952)
·
"Das 'physikalische Modell' und die 'metaphysische Wirklichkeit'"
von Erwin Nickel (1952)
·
"Modelling Geography" von Eric John Barker (1954)
·
"Stochastic Models for Learning" von Robert R. Bush und Frederick
Mosteller (1955)
· "An
Econometric Model of the United States 1929-1952" von Lawrence R.
Klein und A. S. Goldberger (1955)
1951-1956: Einflussreiche Werke der
Wissenschaftstheorie und der neuen Ansätze
Für die Auseinandersetzung mit
Modellen aber viel einflussreicher wurden vorerst von
·
Herbert Feigl und May Brodbeck der 800seitige Sammelband: "Readings
in the philosophy of science" (1953)
·
Richard Bevan Braithwaite "Scientific Explanation" (1953)
·
Stephen Toulmin "The Philosophy of Science" (1953)
·
Nelson Goodman "Fact, Fiction and Forecast" (1954)
·
Mary Brenda Hesse "Science and the human imagination" (1954)
·
Marjorie Hope Nicolson "Science and imagination" (1956)
·
Ernest Hirschlaff Hutten "The language of modern physics"
(1956)
·
Alfred Jules Ayer "The Problem of Knowledge" (1956).
Besonders für die
Sozialwissenschaften wichtig wurden von
·
Kenneth Joseph Arrow "Social choice and individual values"
(1951)
·
Daniel Lerner und Harold Dwight Lasswell der 344seitige Sammelband
"The Policy Sciences" (1951)
·
Talcott Parsons und Edward A. Shils der 500seitige Sammelband
"Toward a General Theory of Action" (1951)
·
Lawrence Robert Klein "A textbook of econometrics" (1953)
·
Arnold Tustin "The mechanism of economic systems" (1953)
·
Frank Harary und Robert Zane Norman "Graph theory as a mathematical
model in social science" (1953)
·
Paul Felix Lazarsfeld der 444seitige Sammelband "Mathematical
Thinking in the Social Sciences" (1954)
·
Leonard Dupee White der 500seitige Sammelband "The State of the
Social Sciences" (1956)
·
Talcott Parsons und Neil J. Smelser "Economy and society"
(1956)
·
Jerome Seymour Bruner et al. "A study of thinking" (1956)
Im Bereich der
Entscheidungstheorie wurden wichtig von:
·
John Charles Chenoweth McKinsey "Introduction to the theory of
games" (1952)
·
Paul Everett Meehl "Clinical versus statistical prediction"
(1954)
·
Robert MacDowell Thrall et al. der 300seitige Sammelband "Decision
Processes" (1954)
·
Leonard Jimmie Savage "The Foundations of Statistics" (1954)
·
David Blackwell und Meyer A. Girshick: "Theory of games and
statistical decisions" (1954)
·
John Davis Williams "The compleat strategyst" (1954)
·
John Cohen und Mark Hansel "Risk and Gambling" (1956).
Im Bereich der Kybernetik und
Informationstheorie wurden unter anderem wichtig von:
·
William Ross Ashby "Design for a brain" (1952)
·
Louis Couffignal "Les machines à penser" (1952)
·
Pierre de Latil "La pensée artificielle" (1952)
·
Albert Ducrocq " Appareils et cerveaux électroniques"
(1952)
·
John Diebold "Automation" (1952)
·
Stanford Goldman "Information Theory" (1953)
·
David Arthur Bell "Information theory and its engineering
applications" (1953)
·
William Grey Walter "The living brain" (1953)
·
Georges Théodule Guilbaud "La Cybernétique"
(1954)
·
Hsue Shen Tsien "Engineering cybernetics" (1954)
·
Richard Wagner "Probleme und Beispiele biologischer Regelung"
(1954)
·
Winfried Oppelt: "Kleines Handbuch technischer Regelvorgänge"
(1954)
·
Colin Cherry "Kybernetik" (1954)
·
Albert Ducrocq "Découverte de la cybernétique"
(1955)
·
Vitold Belevitch "Langage des machines et langage humain"
(1956)
·
Léon Brillouin "Science and information theory" (1956)
·
Horst Mittelstaedt der Tagungsband "Regelungsvorgänge in der
Biologie" (1956)
·
Colin Cherry der 400seitige Sammelband "Information Theory"
(1956)
·
William Ross Ashby "An Introduction to Cybernetics" (1956)
·
Ludwig von Bertalanffy und Anatol Rapaport die "Yearbooks of the
Society of General Systems Research: General Systems" (1956ff).
1957-63: Die ersten Symposien und
grundlegenden Werke
Von 1957-63 werden Modelldenken und
Modellbegriff an zahlreichen internationalen Symposien in den USA
und in Europa diskutiert:
1957: Cornell University, Ithaca,
N. Y. (Alfred Tarski et al. 1957)
Amsterdam (Arend Heyting 1959)
Symposium on Sociological Theory (Llewellyn Gross 1959)
1959: Stanford (Kenneth J. Arrow et
al. 1960)
Bristol (J. W. L. Beament 1960)
Warschau ("Infinitistic methods"
1961)
1960: Utrecht (Leo Apostel et al. 1960; Hans Freudenthal
1961)
London (Colin Cherry 1961)
Berlin (Friedrich Jung et al. 1961)
Stanford (Ernest Nagel et al. 1962)
1961. Los Angeles (Austin Curwood
Hoggatt et al. 1963)
1962: OJAY, Stanford (Richard F.
Reiss 1964)
1963: Berkeley (John W. Addison et
al. 1965)
Die meisten Sammelbände wurden
weitherum zitiert.
Viel beachtete und grundlegende Werke
erscheinen von
·
Earl Francis Beach ("Economic Models" 1957)
·
Herbert Alexander Simon ("Models of Man" 1957)
·
Robert Duncan Luce und Howard Raiffa ("Games and Decisions"
1957)
·
Colin Cherry ("On human communication" 1957)
·
Norwood Russell Hanson ("Patterns of discovery" 1958)
·
Frank Honywill George ("Automation, cybernetics and society"
1959)
· Rom
Harré ("An introduction to the logic of the sciences"
1960)
·
Ernest Nagel ("The Structure of Science" 1961)
· Max
Black ("Models and Metaphors" 1962)
·
Thomas S. Kuhn ("The Structure of Scientific Revolutions" 1962)
·
Mary Brenda Hesse ("Models and Analogies in Science" 1963).
1964-1979: Explosion der
Modell-Literatur
Nun setzt eine enorme Zunahme der
Publikationen ein.
Laut Daniela Bailer-Jones und Stephan
Hartmann versuchen die einen, formalistische und modelltheoretische
Ansätze stärker mit der Vielfalt wissenschaftlicher
Praxis in Einklang zu bringen, die andern bieten
Alternativvorschläge zur Sichtweise der Logischen
Empiristen.
Nicht verschwiegen werden darf, dass
Begriffe wie Analogie, Metapher und Repräsentation viel
Verwirrung stifteten - aber auch Symbol, Theorie und Realismus.
Wichtige Monographien aus dieser Zeit
stammen von Viktor A. Stoff (1966), Peter Achinstein (1968), Rom
Harré (1970), May Brodbeck (1972), Mario August Bunge
(1973), Herbert Stachowiak (1973), William Hilton Leatherdale
(1974), Gerald Holton (1979) und Ronald Nelson Giere (1979).
Dazu kommen die Dissertationen von
Klaus-Dieter Wüstneck (1966) und Frederick Roy Suppe
(1967).
1980-89: Konstruktion und Konsequenzen
von Modellen
Seit 1980 werden Modelle noch
stärker als wesentliche Elemente der wissenschaftlichen Praxis
herausgehoben. "In vielen detaillierten Untersuchungen und
Fallstudien aus verschiedenen Einzelwissenschaften wird versucht zu
verstehen, wie Modelle funktionieren und wie sie in der
wissenschaftlichen Praxis konstruiert werden. Dabei wird z. T. auf
Wissensbereiche ausserhalb der Philosophie, insbesondere die
kognitive Psychologie zurückgegriffen.
Weiterhin wird herausgearbeitet, welche
Konsequenzen die Benutzung von Modellen für andere
philosophische Fragen, wie die Debatten über Realismus und
Reduktionismus, hat" (Daniela Bailer-Jones, Stephan Hartmann 1999,
856).
Wichtige Schriften sind:
· Bas
C. van Fraassen: The Scientific Image. 1980.
·
Hilary Putnam: Reason, Truth and History. 1981.
·
Nancy Cartwright: How the Laws of Physics Lie. 1983.
· Ian
Hacking: Representing and Intervening. 1983.
·
Ronald Nelson Giere: Explaining Science. 1988.
·
Frederick Roy Suppe: The Semantic Conception of Theories and
Scientific Realism. 1989.
Erstmals - nach Max Jammer (1965) - wurde
auch die historische Dimension der Modellverwendung und des
Modellbegriffs erschlossen (Roland Müller 1983; Rolf Bernzen
1986).
1990-2000: Wieder wichtige
Ringvorlesungen und Symposien
Nach langer Pause wird "Modell" wieder
Thema von grossen Veranstaltungen.
Wichtige Ringvorlesungen zum Thema
Wirklichkeit, Repräsentation und Modell fanden an der
Universität Bremen statt (Hans Jörg Sandkühler
1993-2003).
Im August 1994 widmete die IUHPS
(International Union for the History and Philosophy of Science) dem
Thema Modell in Warschau (William E. Herfel 1995) einen
Kongress.
Interessante Beiträge lieferten des
weiteren:
· eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe an der Freien Universität Berlin 1992 über „zeitgenössische Modelle des Denkens“ (Sybille Krämer 1994)
· ein Workshop des Santa Fe Institute Studies in the Sciences of Complexity (George A. Cowan, David Pines, David Meltzer 1994)
· ein
Kolloquium an der Technischen Universität Berlin im Juni 1996
(Brigitte Falkenburg, Wolfgang Muschik 1998)
·
Tagungen der Philosophy of Science Association (PSA) im Herbst 1996 in Cleveland (Lindley Darden 1997) und im Herbst 1988 in Kansas City (Don A. Howard 2000)
·
eine internationale Konferenz in Cortona im September 1997 (Rosaria
Conte et al. 1997)
·
zahlreiche Treffen von Wissenschaftstheoretikern aus Kanada und
USA, Grossbritannien, den Niederlanden und Deutschland von
1990-1996, die in einem Sammelband von Mary S.
Morgan und Margaret Morrison (1999) resultierten
·
mehrere internationale Tagungen an der Universität Pavia seit 1998 zum Thema "model-based reasoning", 2006 in China (Lorenzo Magnani et al. 1999, 2002, 2002,
2004, 2006, 2006, 2007).
Vom 19.-22. Oktober 2000 fand an der
Universität Zürich eine DHS-DLMPS Joint Conference der
IUHPS statt (Erwin Neuenschwander 2000).
An der Tagung der Philosophy of Science
Association (PSA) vom 2.-4. November 2000 in Vancouver galt eine
Session unter dem Vorsitz von Margaret Morrison (University of
Toronto) dem Thema "Scientific Modeling", eine andere unter dem
Vorsitz von Paul Teller (University of California, Davis) dem Thema
"Models and Analogy" (Jeffrey A. Barrett, J. McKenzie Alexander 2002).
Auch an den nächsten Tagungen der PSA 2002 in Milwaukee (Sandra D. Mitchell 2003, 2004), 2004 in Austin (Miriam Solomon 2005, 2006), in 2006 in Vancouver (Cristina Bicchieri, Jason McKenzie Alexander, 2007) and in 2008 in Pittsburgh galten zahlreiche Vorträge dem Thema Modell.
Ferner fand im September 2003 an der Universität Bielefeld ein Kolloquium “’Models’ in the Philosophy of Science” am Fünften Internationalen Kongress der Gesellschaft für Analytische Philosophie statt (Christian Nimtz, Daniela Bailer-Jones 2006).
1940-2000: Wichtige Rolle der
Zeitschriften
Eine grosse Tradition haben Modellartikel in vierzehn Zeitschriften.
Im „Economic Journal“ erschienen Artikel von Nicholas Kaldor (1940), A. C. Pigou und Nicholas Kaldor (1942), Richard Stone und E. F. Jackson (1946), William Jack Baumol (1948, 1949, 1952), Sidney S. Alexander (1950), Burgess Cameron (1952) und Joan Robinson (1952), D. G. Champernowne (1953), Malcolm R. Fisher (1954), E. F. Norton (1956), Nicholas Kaldor (1957), Robert Eisner (1958), R. D. G. Allen (1960), usw.
In “Econometrica” erschienen Aufsätze von Leonid Hurwicz (1944, 1952), Kenneth May (1946), Lawrence R. Klein (1947), André Nataf (1948), George B. Dantzig (1949), Tjalling C. Koopmans (1949), Theodore W. Anderson, Jr. (1950), N. F. Morehouse,
R. W. Strolz, S. J. Horwitz (1950), Julian L. Holley (1952, 1953), Robert M. Solow (1952), usw.
In den „American Economic Review“ erschienen Aufsätze von Albert Gailord Hart (1945), W. S. Woytinsky (1946), Orme W. Phelps (1948), Morris A. Copeland (1951), G. H. Fisher (1952), Arnold C. Harberger (1952) und David M. Wright (1952), Gregor Sebba (1953), D. M. Bensuatt-Butt (1954) und Paul J. Strayer (1954), Stefan Valvanis-Vail (1955), Paul A. Samuelson (1957), John C. Dawson (1958), Geoffrey H. Moore (1959), Joseph V. Yance (1960), usw.
In den „Review of Economic Studies“ erschienen Artikel von John Von Neumann (1945) und D. G. Champernowne (1945), Vittorio Marrama (1946), Börje Kragh (1949), Harry G. Johnson (1950), Richard Stone (1951), Burgess Cameron (1952), Robert Solow (1953) und K. K. F. Zawadski (1953), R. Bentzel, K. Hansen (1954) und Peter Newman (1954), S. A. Ozga (1955), J. R. Hicks (1959), usw.
In "Philosophy of Science"
erschienen Aufsätze von Arturo Rosenblueth und Norbert Wiener
(1945), Eugen Altschul und Erwin Biser (1948), Karl Wolfgang
Deutsch (1951) und Herman Meyer (1951), Mary Brenda Hesse (1952, 1964), James Bates (1954), David Harrah (1956, 1963), Rafael Rodriguez Delgado (1957), Peter Achinstein (1964),
Joseph Agassi (1964, 1972), Robert Ackermann, Alfred Stenner (1966), Philip K. Bock (1967), A. V. Bushkovitch (1970, 1974), I. A. Omer (1970), Bas van Fraassen
(1970), Robert J. Wolfson (1970), James A. Blachowicz (1971), Jack C. Carloye (1971), T. R. Girill (1971, 1972), Charles G. Morgan (1972), Nancy Cartwright (1974), D. A. Thorpe (1974), L. S. Schulman, R. G. Newton, R. Shtokhamer (1975),
F. Dretske (1977), Timothy McCarthy (1977), Kenneth M. Sayre (1977), G. H. Merrill (1980), M. Elaine Botha (1986), Y. Y. Haimes, A. Weiner (1986), Ryan D. Tweney (1986), R. J. Nelson (1987), James Woodward (1987), Newton C. A. da Costa und Steven French (1990), Ronald Nelson Giere (1994), Clark A. Chinn, William F. Brewer (1996), Gregory Cooper (1996), usw.
In der „Synthese“ erschienen Aufsätze von Evert Willem Beth (1948 und 1960), Karl Wolfgang Deutsch (1948), H. J. Groenewald (1954), Leo Apostel et al. (1960; the Utrecht Colloquium), J. Hannah (1966), J. Cushing (1982) und Henk W. De Regt (1999).
Im „Journal of Symbolic Logic“ erschienen die einflussreichen Aufsätze von John G. Kemeny (1948, 1956), A. W. Burks (1949) und Leon Henkin (1949, 1956), J. Barkley Rosser, Hao Wang (1950), J. C. Shepherdson (1951-53), Vaclav Edvard Benes (1954) und William Craig (1957).
In „Psychological Review“ erschienen die Berichte von Edward Chace Tolman (1948;
1949), William Kaye Estes (1950; 1960; 1976), Robert R. Bush und Frederick Mosteller (1951; zweimal), William Kaye Estes, Cletus Joseph Burke (1953), Clyde H. Coombs, Howard Raiffa und Robert MacDowell (1954), Donald Eric Broadbent (1957), E. J. Green (1958), R. J. Audley (1960), Roy Lachman (1960), J. R. Anderson (1978), John Malcolm Pearce, G. Hall (1980).
In den „Public Opinion Quarterly“ erschienen Aufsätze von Meyer A. Girshick, Daniel Lerner (1950), Stanley L. Payne (1951), Karl W. Deutsch (1952)
und Robert P. Abelson (1954).
Im „Journal of Personality“ erschienen die Beiträge von Ludwig von Bertalanffy (1951) und Neal E. Miller (1951), Joseph Zubin (1952) sowie J. H. Bryan und M. A. Test (1967).
In „Psychometrika“ erschienen Beiträge von Bert Green,
Jr. (1951), George A. Miller und W. J. McGill (1952), William Kaye Estes (1957), Cletus Joseph Burke und William
Kaye Estes (1957) sowie R. C. Atkinson (1958).
Im "British Journal of the Philosophy
of Science" erschienen Mary Brenda Hesse (1952, 1953-54), John Oulton Wisdom (1952), Richard Langton Gregory (1953),
Ernest Hirschlaff Hutten (1953-54), Robert Aubrey Hinde (1956) und
Joseph Turner (1955-56), William Kaye Estes, Patrick Suppes (1959), Peter Achinstein (1965), Marshall Spector
(1965), R. Ackerman (1965/66), Jeffrey Wallace Swanson (1966/67), G. L. Farre (1967),
Henry C. Byerly (1969), Michael Redhead (1980),
Richard Josza
(1986), Adam Grobler (1990), R. K. Tavakoi (1991), Rebecca Kukla (1992), Adam
Morton (1993), James Horgan (1994).
Der "American Psychologist" begann
mit William Kaye Estes (1957) und Alphonse Robert Everysta Chapanis
(1961); es folgten Robert Rutherford Holt (1964), J. P. Guilford (1966), Albert Bandura (1974), William A. Mason (1976), Roger Newland Shepard (1978), David Abraham Lieberman (1979) sowie
Keith James Holyoak, Paul Thagard (1997), Dedre Gentner, Abe Markman (1997).
"Philosophia naturalis" begann mit
Gerhard Frey (1957), Herbert Stachowiak (1957) und Friedrich
Kaulbach (1958), und führte dann über Walter Heistermann
(1965), Kurt Hübner (1971) und Patrick Suppes (1988) bis zu
Heft 1, 1998, das 14 Beiträge eine Kolloquiums im Juni 1996 in
Berlin zu Fragen der Physik enthält (Brigitte Falkenburg,
Wolfgang Muschik 1998) sowie Margaret Morrison (1998).
Modelle werden entwickelt und
diskutiert
Seit 1944: verfeinerte Modelle in der Ökonomie, neue Modelle in anderen Wissenschaften
Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden die Modelle in der Ökonometrie
verfeinert durch Leonid Hurwicz, Tjalling C. Koopmans; Lawrence Robert Klein;
Robert W. Solow.
Neue Gebiete waren
-
Entscheidungs- und Risikotheorie (Herbert Alexander Simon, Abraham Wald, Leonard J. Savage; Ward Edwards; Kenneth Joseph Arrow, Robert McDowell Thrall, Clyde H. Coombs),
-
Spietheorie (John von Neumann und Oskar Morgenstern, Melvin Dresher, Martin Shubik) und
-
Börsentheorie (Harry M. Markowitz, James Tobin).
Eine mathematische Behandlung der Lerntheorie versuchten William Kaye Estes,
Robert R. Bush und Frederick Mosteller..
Seit seiner Dissertation 1950 publizierte
Patrick Suppes Dutzende von Beiträgen zu Fragen der Modelle
und Wissenschaft. Sammelbände davon erschienen 1979 und
1993.
Die weiteren Pioniere der ersten Stunde
bilden eine internationale Vielfalt. Dazu gehören Ernest
Hirschlaff Hutten, Mary Brenda Hesse und Karl Wolfgang Deutsch sowie Evert Willem Beth, John G. Kemeny,
Georg Kreisel, Abraham Robinson und Chen Chung Chang.
Die mathematisch-logische "Modelltheorie" wurde von Alfred
Tarski (1954-55) ausgebaut.
Seit 1950: Computersimulation und
Modellierung
In den frühen 1950er Jahren fing man
mit Simulationen auf dem Computer an (dazu B. G. Farley, W. A.
Clarke 1954: R. P. Rich 1955; M. H. Blitz 1957). Man versuchte
für die unterschiedlichsten Vorgänge mathematische,
statistische oder stochastische Modelle einzuführen und sprach
von "system simulation" (z. B. W. E. Alberts 1956), und die AIIE
hielt 1958 in Baltimore ein erstes Symposium dazu ab. Walter J.
Karplus stellte 1958 Angaben über "Analog Simulation"
zusammen, Keith Douglas Tocher 1963 über "The Art of
Simulation".
Einen Reader zu Simulationen in den
Sozialwissenschaften stellte Harold Steere Guetzkow 1962 zusammen. Zusammenfassungen boten 1958 Francis F. Martin und John McLeod.
Immer wieder wichtig Impulse kamen in den
50er und 60er Jahren von der 1948 gegründeten RAND-Corporation
in Santa Monica, einem Think Tank, der auch bedeutende
Beiträge zur "Systemanalyse" lieferte.
Ende der 70er Jahre zählte Per Holst
in einer Bibliographie der Literatur zu "Computer Simulation"
(1979) bereits über 6000 Titel.
Parallel dazu liefen Bemühungen,
für wirtschaftliche, biologische und psychische Vorgänge
"mechanische Modelle" zu finden (N. F. Morehouse et al. 1950; O. J. M.
Smith, H. F. Erdley 1952; Arnold Tustin 1953; Donald E. Broadbent
1957). Schon 1957 äusserte sich Rolf Günther in seiner
Dissertation "Das Problem der Analogie zwischen wirtschaftlichen
und elektrotechnischen Vorgängen" kritisch dazu.
Der Begriff "Modellierung" taucht
etwas später auf, einerseits im Russischen (und den
ostdeutschen Übersetzungen), anderseits im Englischen (Eric
John Barker 1954; N. L. Irvine, L. Davis 1955; Herbert A. Simon
1961; Kenneth M. Sayre 1963; Richard F. Reiss 1964).
"Models of Data" führte Patrick
Suppes 1960 am Internationalen Kongress in Stanford ein. In den
80er Jahren kam es zu einem inflationären Gebrauch des Wortes
"Datenmodell" (Karl Kurbel, Horst Strunz 1990).
Seit 1960: Eine Revolution -
Computer-aided Design (CAD)
Seit etwa 1960 werden viele
liebgewordenen Techniken des Entwurfs und Konstruierens von
Modellen für Gebäude, Schiffe oder Automobile,
elektrische Schaltkreise oder Spritzgussformen ersetzt durch
Computer-aided Design (CAD).
Dieses rechnergestützte Entwerfen
und Konstruieren wurde zuerst im militärischen Beriech der
US-Raumfahrt vorangetrieben und später auch dem
öffentlichen Bereich zugänglich gemacht.
1964 entwickelte IBM den ersten
CAD-Computer, das "System 2250". Eine erste allgemeine
Einführung erschien 1968 von Charles Russell Mischke
Ein Lexikon definiert:
"CAD-Programme dienen zum Beispiel
Architekten oder technischen Zeichnern beim Erstellen von
Grundrissen, Schaltplänen und Karten. Sie werden zum
Entwerfen, Bearbeiten, Drucken und Speichern von
maßstabsgerechten Entwurfszeichnungen eingesetzt. Sie finden
auch beim Entwurf virtueller Realitäten Verwendung.
Wenngleich das Entwerfen am Computer
zunächst aufwendiger erscheint als auf dem Reissbrett, hat CAD
jedoch mehrere Vorzüge gegenüber dem Zeichnen am
herkömmlichen Zeichenbrett:
·
Wiederholt benötigte Elemente einer Zeichnung (Module)
können gespeichert und jederzeit in den Entwurf eingefügt
oder modifiziert werden. Für manche CAD-Anwendungsbereiche
können bereits "Bibliotheken" mit vorgefertigten Zeichnungen
von Standard-Modulen erworben werden.
·
Nachträgliche Änderungen an einer CAD-Zeichnung sind sehr
viel einfacher als bei einer herkömmlichen.
·
CAD-Zeichnungen sind skalierbar, das heißt, es können
unkompliziert Maßstabsveränderungen vorgenommen oder
Ausschnittsvergrößerungen angefertigt werden.
·
Änderungen können rückgängig gemacht, alte
Versionen derselben Zeichnung können wiederhergestellt
werden.
·
einzelne Bild-Elemente (Module) können sehr einfach
dupliziert, gespiegelt oder rotiert werden.
·
Manche CAD-Programme können dreidimensionale Modelle aus
zweidimensionalen Zeichnungen errechnen. Außerdem können
sie den Materialbedarf und die Materialkosten errechnen.
·
CAD-Programme, die zum "Computer Aided Manufacturing" (CAM)
geeignet sind, können die Daten einer Zeichnung direkt an eine
entsprechende Werkzeugmaschine übermitteln."
Seit 1960: Erneut Forschungen
über Imagery, Analogien und Metaphern
1960-1979: Zaghafte Beachtung von
Imagery
Siehe:
Literatur Imagination/ imagery
Um 1960 ergab sich wie am Anfang des
Jahrhunderts eine paradoxe Situation: Einerseits breitete sich der
sogenannte "kognitive" Ansatz in Psychologie, Anthropologie
(Ethnologie) und Ethologie rasch aus, anderseits stürzte sich
die Forschung geradezu auf "imagery" und holte auch Analogie und
Metapher aus der Versenkung.
Zuerst breiteten sich Diskussionen aus
über
· "imagery" (Silvan Solomon Tomkins 1962; Alice Constance Owens 1963;
Robert Rutherford Holt 1964; Stanley M. Jencks, Donald M. Peck
1968; Alan Richardson 1969; R. C. Anderson, J. L. Hidde 1971; Allan Paivio 1971; Sydney Joelson Segal
1971; Joel R. Levin et al. 1972; Peter W. Sheenan 1972; Martha Crampton 1977; Geir
Kaufmann 1979, 1980; R. L. Solso 1979)
· "mental maps" (Peter Robin Gould 1966; 1974) oder
· "mental images" (James Wreford Watson 1967; Alastair Hannay 1971;
Roger Newland
Shepard (1971 with Jacqueline Metzler, 1978, 1982),
Heftige Kritiken an den Theorien der imagery übten etwa Zenon Walter Pylyshyn (1973), Jerry A. Fodor (1975, 1981, 2000), John Robert Anderson (1978) und Peter Slezak (1990). Einen ersten Überblick über die unterschiedlichen Auffassungen der
pictorialists und der propositionalists boten Stephen Michael Kosslyn und James R. Pomerantz (1977). Eine gute Übersicht über die Debatte von 1973 bis 2002 gibt Verena Gottschling (2003).
Eine nachhaltige Wirkung hatte die
"Psycho-imagination therapy" von Joseph E. Shorr (1972, 1974, 1980, 1989). Er faste
seine Erfahrungen mit dieser Form von Psychotherapie 1998
zusammen.
1980-2000: Erstaunliche Fülle von
Forschungen über "imagery"
Nun gab es kein Halten mehr.
Schriften zu "imagery" erschienen von Stephen Michael Kosslyn (1980), John T.
E. Richardson (1980), Roger Newland
Shepard und Lynn A. Cooper (1982), Peter Edwin Morris, Peter J. Hampson (1983), Akhter Ahsen (1984), Martha J. Farrah (1984),
Artur I. Miller (1984; 1996), Allan Paivio (1986, 1991), David Henry Tudor Scott (1986), Mark Rollins
(1989) und Ronald A. Finke (1989).
Dazu wurden zahlreiche Sammelbände
herausgegeben, z. B. von Ned Block (1981), John C. Yuille (1983), Malcolm L. Fleming und Deane W.
Hutton (1983), Anees Ahmad Sheikh (1983; 1986), Mark A. McDaniel und Michael Pressley
(1987), Michel Denis et al. (1988).
Von 1990 bis 2000 wurden über 200
von Studien über "imagery" veröffentlicht.
Alan Richardson legte 1993 eine
Bibliographie über "mental imagery" von 1872-1976 vor.
Offenbar ging ihm dann der Schnauf aus.
Im Jahr darauf behauptete Stephen Michael
Kosslyn mit der Vorlage eines 500seitigen Werks ("Image and
Brain"), die Debatte über Imagery - so ein Titel von Michael
Tye (1991) - endgültig gelöst zu haben.
Interessante Studien legten Robert H.
Logie und Michel Denis ("Mental images in human cognition" 1991),
Beverly Roskos-Ewoldsen et al. (" Imagery, creativity, and
discovery", 1993), Ralph D. Ellis ("Questioning consciousness. The
interplay of imagery, cognition, and emotion in the human brain", 1995) und Marlene Behrmann et al. ("The neuropsychology of mental
imagery", 1995) vor.
Eine Standortbestimmung im Jahre 2000 bot
Michel Denis (2000), und der Altmeister der Sprach- und
Denkphilosophie Jerry Alan Fodor warnte: "The mind doesn't work
that way!"
1960-2000: Spärlichere
Forschungen über Analogien
Siehe:
Literatur Analogie/ analogy
Das Büchlein von
Mary Brenda Hesse
"Models and Analogies in Science" (1963) brachte für die
Beachtung der Analogien die Initialzündung. Zuerst meldeten
sich Peter Achinstein (1964) und Joseph Agassi (1964). In der Zeitschrift „Philospohy of Science“ entspann sich 1971/72 eine Auseinandersetzung zwischen Jack C. Carloyle, T. R. Girill und Peter
Achinstein.
1974 erschienen die Dreifachtitel von William Hilton Leatherdale „Analogy, model, metaphor“ sowie von Danielle und George Arthur Mihram „The role of models, metaphors and analogy“.
Es folgten eher kuriose Auffassungen von Hermann de Witt (1974-83) und Kurt Seidl (1981).
Zurück in wissenschaftlichere Gefilde führten unter vielen anderen John Haugeland (1981), Dedre Gentner (1980, 1981, 1982, 1997, 2001), Rom Harré (1988) und Keith James Holyoak (1989, 1994, 1995, 1997, 2001).
1960-2000: Nach verhaltenem Anfang
Hunderte von Studien über Metaphern
Siehe:
Literatur Metapher/ metaphor
Nach einigen Artikeln (Max Black, 1954, R. R. Boyle, 1954, S. E. Asch, 1958; Paul Henle, 1958; Rom Harré, 1960) fand schon 1960 an der Universität Bristol ein Symposium über „Metaphor and Symbol“ (Lionel Charles Knights, Basil Cottle 1960) statt.
Eine fruchtbare Wirkung auf die
Auseinandersetzung mit Metaphern hatten der persönliche Sammelband von Max Black („Models and Metaphors“ 1962; Ergänzungen dazu 1977) sowie die Schriften von Colin Murray Turbayne ("The myth of
metaphor" 1962), Philip Ellis Wheelwright ("Metaphor & reality"
1962), Douglas Berggren ("The Use and Abuse of Metaphor" 1963),
Barbara Mary Hope Strang ("Metaphors and models" 1964) und Weller
Embler ("Metaphor and meaning" 1966).
Doch so richtig los ging es erst mit dem
Sammelband von Andrew Ortony ("Metaphor and thought" 1979) und dem
Bestseller von George Lakoff und Mark Johnson "Metaphors we live
by" (1980). Eine Fülle von Studien aller Art entstand,
insgesamt mehrere hundert.
Mark Johnson gab 1981 einen 360seitigen
Sammelband zu "Philosophical Perspectives on Metaphor" heraus,
David S. Miall 1982 einen kleineren ("Metaphor. Problems and
perspectives") und Anselm Haverkamp 1983 einen 500seitigen zur
"Theorie der Metapher". Daniel Rotbart (1984, 1997) befasste sich
über längere Zeit mit der Funktion von Metaphern in der
Wissenschaft.
Wichtig wurde die Untersuchungen von Earl
Ronald Mac Cormac (1985), Georg Schöffel (1986) und Eileen
Cornell Way (1991).
Sonst erschienen fast nur
Sammelbände, z. B. von Jaakko K. Hintikka (1994), George A.
Cowan et al. (1994), Hans Julius Schneider (1996), Wolfgang Bergem
et al. (1996), Bernhard Debatin et al. (1997), Lynne Cameron et al. (1999) und Ruben Zimmermann (2000) und Marin J. Gannon (2001).
1960-2004: Ungenauer Gebrauch von
„Repräsentation“
Siehe:
Literatur Repräsentation/ representation
Viel Verwirrung brachte die Verwendung
des Worts „Repräsentation“, engl. „representation“ seit 1960, etwa durch
William Heriot Watson (1960), Bernard Kaplan (1961) und Hanna
Fenichel Pitkin (1967), dann von Peter Caws (1974),
William A. Mason (1976), S. E.
Palmer (1978) und Jerry Alan Fodor (1979, 1981).
Zwei der ganz wenigen Autoren, die sich gegen die unbedachte Verwendung des Wortes „Repräsentation“ statt Abbild oder Modell wehrten, waren Wilfried Neugebauer (1977) und Wolfgang Brezinka (1984, 837-838).
In den 1980er Jahren wurde der Begriff „mental
representation“ Mode, wie die Schriften folgender Autoren zeigen:
Joan W. Bresnan (1982), Jacques Mehler et al. (1982),
Alan Paivio (1986), Ruth M. Kempson (1988), Hilary Putnam (1988) und Patrick
Suppes (1988) sowie Robert A. Cummins (1989; siehe auch 1996), Stuart Silvers
(1989) sowie John Dinsmore (1991) und Eduard Marbach (1993).
Über “mental models” publizierten
Dedre Gentner und Albert J. Stevens (1983), Philip Johnson-Laird (1983),
Alan Garnham (1987) und K. J. Gilhooly (1987),
Colin McGinn (1989), D. Ackermann, M. J. Tauber (1990),
Michael E. Gorman (1992) und Nancy
J. Nersessian (1993) sowie Clark A. Chinn, William F. Brewer (1996).
1996 gaben Jane Oakhill und Alan Garnham einen Sammelband zu
Ehren von Philip N. Johnson-Laird heraus: “Mental models in cognitive science”.
Von „knowledge
representation” sprachen Jay L. Garfield (1987),
Eileen Cornell Way (1991), Ellen Hisdal (1998) und John F. Sowa (2000). 1993
gaben Kenneth M. Ford; Jeffrey M Bradshaw einen Sammelband heraus unter
dem Titel: „Knowledge Acquisition as Modeling”.
Wichtige Schriften zum Thema Repräsentation erschienen von
Ian Hacking (1983), Donald Davidson (1984), Hilary Putnam (1988) und
Patrick Suppes (1988, 1994), W. G. Lycan (1989), dann von
Kenneth J. Gilhooly (1990), T. Goschke, D. Koppelberg
(1991), Rebecca Kukla (1992), W. J. Thomas Mitchell
(1994) und R. I. G. Hughes (1997).
Sammelbände publizierten Daniel Guresako Bobrow,
Allan Collins (1975), Jacques Mehler et al. (1982),
Stuart Silvers (1989), Michael Lynch, Steve Woolgar
(1990), Stephen P. Stich, Ted A. Warfield (1994)
und Yosef Grodzinsky, Lewis P. Shapiro, David Swinney (2000).
An der Tagung der Philosophy of
Science Association (PSA) 2002 in Milwaukee sprachen an einer Session
„Pragmatics of Scientific Representation“ Ronald N. Giere, Mary S. Morgan,
Mauricio Suárez, Andrea I. Woody und Bas C. van Fraassen (Sandra D. Mitchell
2004).
Bereits 1994 befand Michael Lynch:
„Representation is Overrated“ und 1999 stellten Alexander Riegler et al. die von
ihnen herausgegebenen Vorträge eines Kongresses zur „Cognitive Science“ 1997 in
Wien unter den Titel: „Does representation need reality?“ Im Jahre 2003
versuchte Steven French „A Model-Theoretic Account of Representation“.
Von
historischen Kenntnissen kaum beeinflusst sind die vielen unterschiedlichen
Verwendungsarten von Repräsentation, die sich etwa finden bei Stephen Michael
Kosslyn, James R. Pomerantz (1977), John Robert Anderson (1978), Max Wartofsky
(1979), Cesare Cornoldi et al. (1996), Michael A. Forrester (2000) und
Elisabeth Cathérine Brouwer (2003).
VKein Wunder, dass spätestens in den 1990er Jahren eine „Krise der Repräsentation“ deutlich wurde (Silja Freudenberger, Hans Jörg Sandkühler, 2003; Winfried Nöth, Christina Ljungberg 2003).
Fazit für die
Modellbetrachtung
Vom "Model Muddle" zur "Allgemeinen
Modelltheorie"
Das Lamento über die verwirrende
Fülle der Bedeutungen und Verwendungen von "Modell" - die
jedem Kunstgeschichtsstudenten vertraut sind - beginnt schon bei
Rudolf Seeliger (1948, 127): "Leider gehört der
Modellbegriff zu dem Worten, durch die man recht Verschiedenes
bezeichnet. Allein in der Physik gibt es zwei oder drei Dinge, die
man so nennt."
Trotz des programmatischen Titels
"Models" ist der Sammelband mit 18 Aufsätzen des Philosophen
Max W. Wartofsky aus den Jahren 1953-1978 enttäuschend. Die
mechanischen Modelle von Maxwell und Lord Kelvin, mit der Kritik
von Duhem, werden auf einer einzigen Seite erwähnt.
Wie vielen anderen ist ihm mit dem
Modellbegriff überhaupt nicht wohl und er sprach daher 1966
von einem "model muddle" (1979, 1). Seine Lösung lautet: "I
propose to collapse the distinction between models, theories,
analogies, and to take all of these, and more besides, as species
of the genus representation; and to take representation in the most
direct sense of image or copy."
Das kommt - mit der Verwischung aller
Differenzierungen - einer Bankrotterklärung gleich.
Eine ähnliche Hilflosigkeit
gegenüber Modellen bemerkt auch noch Karl H. Müller
(1996, 33), der einen spottenden Kollegen zitiert: "The modeling
paradox can be summarized as an alchemical GIGO-Principle (Garbage
in - Gold out)".
Dabei haben unter anderem die Deutschen
Max Jammer (1965) und Friedrich Kaulbach (1965) in ihren
Aufsätzen in der Zeitschrift "Studium Generale" sowie der
russische Philosoph Viktor A. Stoff (1969) in seinem schönen
Buch den Modellbegriff in ziemlicher Breite aufgenommen.
Ebenfalls 1965 knüpfte der
Mathematiker Herbert Stachowiak in seinen "Gedanken zu einer
allgemeinen Theorie der Modelle" an pragmatisch-zeichentheoretische
Vorläufer an und eröffnen die Möglichkeit einer
logisch wie empirisch adäquaten Präzisierung des
Modellbegriffs. Acht Jahre später begründete er mit
seinem umfangreichen Werk "Allgemeine Modelltheorie" (1973 - vgl.
auch 1988) eine neopragmatische ("modellistische")
Erkenntnistheorie" und bot auf über 170 Seiten (128-303) eine
umfassende musterhafte Strukturierung und Klassifizierung des
Modellbegriffs.
Das Werk hat nicht die Beachtung erhalten, die es verdient.
Stachowiak folgten u. a. Christian Salzmann (1972) und Roland Müller (1976, 1977), Kurt Wuchterl (1979), Bernd Schmidt (1982), Veit Pittioni (1983), Stephan Dutke (1994), Wolfgang Jonas (1994, 101-105), Wolfgang Peters (1998), Marco Thomas (2001) und Oliver Thomas (2005).
Horst Franz Flaschka (1976, 4-29) und Hermann Fertig (1977, 28-30, 34) stützen sich erstaunlicherweise auf einen Artikel Stachowiaks von 1965, nicht auf den voluminösen Band von 1973.
Jörg Wernecke hat in seiner
umfangreichen Dissertation (1994, 87-92, 241-440) eine Fortsetzung
dieses Systematischen Neopragmatismus versucht.
Im internationalen Vergleich erstaunt,
wie wenig deutschsprachige Literatur - von Hermann Rudolf Lotze
(1852), Ernst Mach (1883, 1902, 1905) und Ludwig Boltzmann (1892,
1902) über Paul Volkmann (1910) und Anton Fischer (1947) bis
Klaus-Dieter Wüstneck (1963, 1969), Max Jammer (1965)
Hannelore Fischer (1968, 1974), Herbert Hörz (1975) und
Herbert Stachowiak - beachtet wurde.
Wie weiter?
In einem kurzen Beitrag über Modelle
in der Physik behauptet Brigitte Falkenburg (1997, 28) - unter den
Titelbalken "Models in the Biological Sciences", was wohl ein
technisches Versehen ist -, der Modellbegriff werde von der
empiristisch orientierten Wissenschaftstheorie "nicht als etwas
Eigenständiges aufgefasst, sondern als ein Derivat des
formalen Theoriebegriffs: Modelle sind demnach abstrakte
mengentheoretische Darstellungen von Sätzen einer
axiomatischen Theorie, die wiederum konkrete empirische
Repräsentationen haben können."
Brigitte Falkenburg verwendet einen
andern Modellbegriff. Sie weist auf zwei Bücher (von Nancy
Cartwright, Ian Hacking) hin, welche 1983 begonnen haben, "die
Aufmerksamkeit auf Weisen der Modellbildung zu richten, wie man sie
in der Physik auf Schritt und Tritt findet - auf Modelle mit
inkohärenten theoretischen Grundlagen, die schon wegen ihrer
Inkohärenz keine Modelle von Theorien im formalen,
modelltheoretischen Sinn sein können" (29).
Was sind sie dann? Das verrät die
Autorin nicht. Es scheint sich aber um Phasen auf dem Weg zu
fertigen Theorien zu handeln. Denn der Alltag physikalischer
Grundlagenforschung besteht nach der Theoretikerin Falkenburg "in
der Suche nach fundamentalen Theorien auf der Basis inkohärenter Prinzipien und Modelle" (38).
Darüber berichten Mary S. Morgan und
Margaret Morrison unter der einprägsamen Formel "Models as
Mediators" (1999). Doch schon in der Einleitung (1999, 8) bekennen
die Autorinnen nach 10 Jahren intensiven Diskussionen:
"We have very little sense of what a
model is in itself and how it is able to function in an autonomous
way."
Im Jahre 2004 skizzierte Giuseppe Lanzavecchia in einem kurzen Artikel die nützlichen „powers of models“. Allerdings hält er Modelle – wie die reale Praxis der Wissenschaft zeigt – Modelle für
unnütz. Er behauptet sogar, dass die Quantenmechanik eine Theorie sei, welche der Modelle nicht bedürfe (2004, 230).
Modelle dienen der Wissenschaft und der
Technik
Woran können wir uns denn heute
halten?
Brigitte Falkenburg und Susanne Hauser
eröffnen ihr Editorial zum Sammelband über "Modelldenken
in den Wissenschaften" (1997) mit den Sätzen:
"Bei aller inhaltlichen und
methodologischen Uneinheitlichkeit weisen die heutigen Natur- und
Kulturwissenschaften eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit auf: Die
Modellbildung spielt in ihnen eine prominente Rolle. Modelle sind
konstitutiv für wissenschaftliche Erkenntnis; sie sind neben
hermeneutischen Methoden wohl die wichtigsten Werkzeuge zur
Erschliessung der Gegenstandsbereiche der
Einzelwissenschaften."
Ganz ähnlich behaupten Margaret
Morrison und Mary S. Morgan (1999, 10): "Models are one of the
critical instruments of modern science. We know that models
function in a variety of different ways within the sciences to help
us learn not only about theories but also about the world."
Carl W. Halls 500seitige alphabetische
Zusammenstellung von "Laws and Models" enthält vielleicht 2000
physikalische Gesetze, aber nur zwei richtige "Modelle",
seltsamerweise von Dirac und Turing. Dennoch schreibt George A.
Hazelrigg (in Carl W. Hall: Laws and models. 2000, viii) in der Einleitung Wichtiges zum Thema
Modell:
"A model is an abstraction of reality. It
is only through models, and especially inferences of cause and
effect, that we gain an understanding of nature. In engineering we
use models to combine disparate elements of knowledge and data to
make accurate predictions of future events."