1850-1900: Begründung der modernen Psychologie
Gerade zur Zeit als der junge Maxwell seine Erkenntnisse zu den Kraftlinien zu Papier brachte, wurde die moderne, d h. experimentelle und messende Psychologie begründet. Beteiligt waren vor allem studierte Mediziner, auch wenn sie später Lehrstühle für Philosophie oder Physik erhielten. Häufig beriefen sie sich auf Kant und modifizierten seine Thesen.
Die Geburtsstunde der Experimentalpsychologie wird manchmal auf den Morgen des 22. Oktobers 1850 gelegt, als Gustav Theodor Fechner etwas länger im Bett liegen blieb und sich Gedanken über die materialistischen Strömungen seiner Zeit machte. Dabei fand er das Gesetz, das er später zu Ehren seines Lehrers, Ernst Heinrich Weber, Webersches Gesetz nannte. Die Empfindungsstärke wächst mit dem Logarithmus der Reizstärke.
Sinnesphysiologische Forschungen und erkenntnistheoretische Folgerungen
Rudolf Hermann Lotze (1852) meinte: Das Ding an sich ist unerkennbar, wir erkennen nur die Verhältnisse der Dinge und zwar in symbolischer Weise. Das Denken ist eine selbständige, aktive Geistestätigkeit, eine "fortwährende Kritik, welche der Geist an dem Material des Vorstellungsverlaufes ausübt", indem er die Vorstellungen trennt, deren Verknüpfung sich nicht auf ein in der Natur ihrer Inhalte liegendes Recht der Verbindung gründet.
Gustav Theodor Fechner (1860; 1882) ist der Begründer der Psychophysik als systematischer Wissenschaft. Je nach dem Standpunkt erscheint das Wirkliche als Geist oder als Körper, wobei die leibliche Erscheinung als Äusserung der geistigen Selbsterscheinung dienen kann.
Hermann von Helmholtz (1865; 1867) begründete die Sinnespsychologie und meinte wie Lotze, das Erkennen bestehe in denkender Verarbeitung des Sinnenmaterials und führe zu einer symbolischen Erfassung der Verhältnisse der Dinge. "Unsere Vorstellungen von den Dingen können gar nichts anderes sein als Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge, welche wir zur Regulierung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen. Wenn wir jene Symbole richtig zu lesen gelernt haben, so sind wir imstande, mit ihrer Hilfe unsere Handlungen so einzurichten, dass dieselben den gewünschten Erfolg haben, d. h. dass die erwarteten neuen Sinnesempfindungen eintreten."
Bereits Granville Stanley Hall bezeichnete Helmholtz, Lotze, Fechner und Wundt als "Begründer der modernen Psychologie" (1921). Eine kurze Schilderung ihrer Absichten geben Siegfried Jaeger und Irmingard Staeuble 1977
Um 1865: Theoretische Programme für "objektive" Psychologie
Programme der objektiven Psychologie entwarfen Iwan Michailowitch Sechenow (1863) in der russischen, James Rush (1865) in der amerikanischen und Friedrich Albert Lange (1865; 1866) in der deutschen Psychologie. Sechenow war an der Militärakademie in Petersburg Lehrer der russischen Physiologen und Reflexologen Iwan Pawlow (Nobelpreis 1904) und Wladimir Bechterew.
Rush wird von Abraham Aaron Roback (1961) als "erster Objektivist", als Vorläufer des Behaviorismus, vorgestellt. Er vertrete freimütig einen materialistischen Standpunkt. "Indem er das Gehirn mit einem reflektierenden Spiegel vergleicht, beantwortet er die Frage, ob die Materie denken kann, durch die Veränderung des Ausdrucks 'denken' in 'reflektieren' und durch die Behauptung, dass 'ein Bild oder Eindruck, den etwas auf die Hirnsubstanz macht, durch die Reziprozität der Handlung materiell sein muss'... Für ihn sind Bilder nicht nur die unmittelbare Ursache für das Denken, sondern sie sind der Gedanke selbst."
Ludwig J. Pongratz hat 1967 (74-80, 90f, 318) eine Ehrenrettung von Lange versucht.
Originelle britische Psychologie
Gemäss Alexander Bain (1855, 1859) beruht alles Geistesleben auf (einfacher, oder zusammengesetzter oder konstruktiver) Assoziation. Es gibt Assoziation durch Kontiguität (Berührung in Raum und Zeit) oder durch Similarität. Auf einer Assoziation zwischen Sinnes- und Muskelempfindungen beruht die Raumvorstellung. Bain versucht auch, Lernen als Ergebnis von Versuch und Irrtum ("trial and error") zu begreifen.
Für die vergleichende Entwicklungspsychologie grundlegend wurden die Schriften der Engländer Herbert Spencer und Charles Darwin ("Origin of Species" 1859). Darwin verfasste weitere wichtige Schriften zur Psychologie. Der Eisenbahningenieur und Schriftsteller Spencer arbeitete sein Lehrbuch "The Principles of Psychology" (1855) mehrfach um und schrieb auch einflussreiche "Prinzipien" der Biologie, Soziologie und Ethik. Auch Spencer hält unsere Erkenntnis für symbolisch, da die Dinge, mit denen sie sich befasst, Erscheinungen, Manifestationen des Unerkennbaren sind. Von diesem haben wir nur ein unbestimmtes Bewusstsein seines Seins, ohne dass wir seine Eigenschaften kennen. "Das Äusserste, was für uns möglich ist, ist eine Interpretation des Weltprozesses, wie er sich unserem beschränkten Bewusstsein darstellt ... Die Interpretation aller Phänomene in Ausdrücken von Materie, Bewegung und Kraft ist nur eine Zurückführung auf die einfachsten Symbole."
Für die Entwicklung der Charakterforschung und der Biometrik von grösster Bedeutung ist der als Eugeniker verschriene Sir Francis Galton (Ruth Schwartz Cowan 1969; Derek William Forrest 1974), der mehrere Anläufe unternommen hatte, Medizin zu studieren. 1883 gab er etwa 40 Artikel, die er seit 1869 verfasst hatte, als Buch heraus ("Inquiries into Human Faculty"). Nach der Untersuchung „Genie und Vererbung“ (1869) verwendete er Fragebogen zur Feststellung des Einflusses von Anlage und Umwelt ("Nature and Nurture", 1874) zuerst an Wissenschaftern, hernach an Zwillingen (1875). Er wandte die Statistik auf die Charakterforschung an und benützte schon den Begriff "Korrelation". 1884 eröffnete er an der internationalen Gesundheitsausstellung in London ein "Anthropometrisches Laboratorium", in dem nicht nur mit Apparaten, sondern auch mit Fragebogen (u. a. über Vorstellungsbilder) gearbeitet wurde. Wichtig sind auch seine Beiträge zur Vorstellung ("imagery"). Die allgemeinen Vorstellungen nennt er "generic images" oder "blended memories", indem er sie aus der Vermischung der Differenzen von Vorstellungen eines und desselben Gegenstandes ableitet.
Französische Psychopathologie
Obwohl die französischen Pioniere über eine solide Ausbildung verfügten, betätigten sie sich eher als Theoretiker, denn als Praktiker und waren eher am kranken als am gesunden Menschen interessiert. Wichtige Schriften erschienen von Jean-Martin Charcot (Neurologe), Théodule Ribot (Philosoph) und Charles Richet (Physiologe) sowie von Alfred Fouillée (Philosoph) seit 1870. Bahnbrechend sind Ribot Schriften über Gemütskrankheiten und - in unserem Zusammenhang - über die Entstehung von Allgemeinbegriffen (1897) und über schöpferische Einbildungskraft (1900). Henri Etienne Beaunis (Arzt) und Alfred Binet (Jurist) gründeten 1889 das erste französische psychologische Laboratorium an der Universität Paris. Binets Interesse an der menschlichen Intelligenz führte 1905 zu ersten Intelligenztest. Pierre Janet arbeitete in den 1890er Jahren in Charcots Labor mit Hysterie-Patienten. Auch George Dumas interessierte sich wie sein Lehrer Ribot eher für pathologische Fälle.
Seit 1875: Labors für experimentelle Psychologie
Wilhelm Wundt (1862; 1874) wurde 1857 Assistent von Helmholtz in Heidelberg. 1879 gründete er in Leipzig das erste Laboratorium für experimentelle Psychologie. Wichtig für ihn ist das "Prinzip schöpferischer Synthese", das alle geistigen Bildungen beherrscht: Durch die Wechselwirkung der psychischen Elemente entstehen Gebilde mit ganz neuen Eigenschaften und Werten. Die Denkfunktionen sind die Hilfsmittel, mit denen wir die realen Beziehungen der Erkenntnisobjekte symbolisch nachbilden.
Genau so wichtig wurde das zur gleichen Zeit (1881) von Georg Elias Müller - dem Nachfolger Lotzes - in Göttingen gegründete psychologische Labor, in welchem besonders über die Psychophysik des Sehens und des Gedächtnisses geforscht wurde. Müller veranlasste Fechner zur Revision seiner Psychophysik und führte den Begriff "psychophysische Axiome" ein. Das Berliner Laboratorium für experimentelle Psychologie wurde ein Jahr nach seiner Habilitation ("Über das Gedächtnis") 1886 von Hermann Ebbinghaus gegründet.
Bemerkenswert ist, dass von 1850-1900 Heerscharen von amerikanischen Studenten und Forschern über den Atlantik nach Europa fuhren, um sich hier mit den neuesten Methoden und Erkenntnissen vertraut zu machen. Die amerikanischen "New Psychology" (so die Formel von John Dewey 1884) ist also massgeblich von der europäischen inspiriert und initiiert.
William James hat 1867-68 in Deutschland studiert und wurde hier mit der Sinnesphysiologie vertraut In den USA richtete er bereits 1875 in Harvard ein psychologisches Labor ein, obwohl er selber kaum Experimente durchführte. Er schrieb fast zehn Jahre an seinem zweibändigen Hauptwerk, den "Principles of Psychology" (1890). James erster Doktorand, Granville Stanley Hall, gründete psychologische Labors an der Johns Hopkins University (1883) und an der Clark University (1889). Hier beobachtete Willard Stanton Small zehn Jahre später Ratten in Labyrinthen. Der erste amerikanische Doktorand bei Wundt, James McKeen Cattell - der auch bei Galton studiert hat -, richtete unmittelbar nach seiner Rückkehr in die USA 1887 ein Labor an der Universität von Pennsylvania und 1891 eines an der Columbia University in New York ein, wo er die Testpsychologie begründete. Hier machte auch Edward Lee Thorndike seine Dissertation auf Grund von Versuchen mit Katzen (1898). Ein weiterer Doktorand bei Wundt, Edward Bradford Titchener, gründete bald darauf ein Labor an der Cornell University. Lightner Witmer, ebenfalls Wundt-Doktorand, wurde Nachfolger Cattells an der Universität von Pennsylvania und gründete dort 1896 die erste Psychologische Klinik. (Zur gleichen Zeit versuchte der Wundt-Schüler Emil Kraepelin in Deutschland eine klinische Psychologie zu entwickeln.) James Mark Baldwin richtete Labors in Toronto (1889) und Princeton (1893) ein, George Trumbull Ladd das "Yale Psychological Laboratory" (1892).
Literatur
Rudolf Hermann Lotze: Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele. Leipzig: Weidmann 1852; Reprint Berlin: Dannenberg 1896: Reprint Amsterdam: Bonset 1966. Gustav Theodor Fechner: Elemente der
Psychophysik. 2. Bde. Leipzig: Breitkopf & Hartel 1860, 2. ed.
1889, 3. ed. 1907; Reprint Amsterdam: Bonset 1964; Gustav Theodor Fechner: Revision der Hauptpuncte der Psychophysik. Leipzig: Breitkopf & Hartel 1882. Reprint Amsterdam: Bonset 1965. Hermann Helmholtz: Populäre
wissenschaftliche Vorträge. Braunschweig: Vieweg 1865, ab der
3. ed. 1884 u. d. T. Vorträge und Reden. 5. ed. 1905; Hermann von Helmholtz: Handbuch der
physiologischen Optik. Leipzig: Voss 1867; 2., umgearbeitete ed.
Hamburg: Voss 1896, 3. ed. 1909-11; Siegfried Jaeger, Irmingard Staeuble: Die gesellschaftliche Genese der Psychologie. Diss. FU Berlin 1977; Frankfurt: Campus 1978 (Unterkapitel: Die Leistungsfähigkeit der Arbeitskraft als Untersuchungsaufgabe der Physiologie und Psychophysik: der Weg zur experimentellen Psychologie, 293-315) Ivan Mikhailovich Sechenov: Refleksy
golovnogo mozga. 1863; James Rush: Brief Outline of an Analysis of the Human Mind. 2 Bde. Philadelphia: J. B. Lippincott & Co. 1865; Reprint als Bde 2 und 3 der "Collected Works", Weston: Mass. M & S Press 1974. Friedrich Albert Lange: Die Grundlegung der mathematischen Psychologie. Ein Versuch zur Nachweisung des fundamentalen Fehlers bei Herbart und Drobisch. Duisburg: Falk & Volmer 1865. Friedrich Albert Lange: Geschichte des
Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart.
Iserloh: Baedeker 1966; 10. ed. 1921; 11. ed. Leipzig: Kröner
1926; Frankfurt: Suhrkamp 1974; Abraham Aaron Roback: History of
Psychology and Psychiatry. New York : Greenwood Press 1961; Reprint
1969; Ludwig J. Pongratz: Problemgeschichte der Psychologie. Bern: Francke 1967, 2. ed. als UTB für Wissenschaft 1984. Alexander Bain: The Senses and the
Intellect. London: Longmans 1855, 4. ed. 1894; Reprint. Washington,
DC: Univ. Publ. of America 1977; Alexander Bain: The Emotions and the
Will. London: John W. Parker 1959, 4. ed. London: Longmans, Green
1899; Reprint Washington: University Publications of America
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Routledge/Thoemmes 1996; 2. ed. in 2 Bden London: Williams and
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1919; Théodule Ribot: Essai sur
l'imagination créatrice. Paris: Alcan 1900, 6. ed. 1921; Wilhelm Wundt: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. Leipzig: Winter 1862; Neudruck New York 1977. Wilhelm Wundt: Grundzüge der
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Dr. phil. Roland Müller,
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