Home Paul Ehrenfest über Ludwig Boltzmanns "mechanische Deutungen"

 

Paul Ehrenfest:

Nekrolog für

Ludwig Boltzmann, † am 6. September 1906 zu Duino bei Triest.

Mathematisch-naturwissenschaftliche Blätter, No. 12, 1906.

 

Ein zweites grosses Problem begleitet Boltzmann ebenfalls vom Beginn seiner Tätigkeit an. Und wieder handelt es sich darum, eine mechanische Deutung für die Gesetze einer ausgedehnten physikalischen Disziplin zu gewinnen, für die Erscheinungen des elektromagnetischen Feldes. Hier lag der Schwerpunkt gerade in der Konstruktion von zulänglichen Hypothesen etwa über die verborgene Struktur des Aethers.

Wohl ist es weder Boltzmann noch den anderen (englischen) Physikern, die dieses Problem in Angriff nahmen, gelungen, eine solche mechanische Deutung in befriedigender Weise auszuarbeiten. Dessen ungeachtet bilden Boltzmanns Versuche darüber einen integrierenden Bestandteil seiner Lebensarbeit; sie stehen in subjektiver Beziehung (1) wohl kaum hinter seinen weitaus zahlreicheren und von so reichem Erfolg gekrönten Versuchen über die mechanische Interpretation der thermischen Erscheinungen zurück.

 

Auch hier knüpft seine Arbeit an Maxwell an. Maxwell hatte von Faraday die Forderung übernommen, dass die elektromagnetischen Erscheinungen als Störungen geschildert und begriffen werden müssten, deren Sitz nicht nur in den Körpern, sondern auch in dem Raum zwischen den Körpern zu suchen ist. Maxwell war von sehr detaillierten Vorstellungen über die Struktur des Aethers ausgehangen. Er nahm flüssigkeitserfüllte Zellen an, die aneinander durch zwischen gelagerte Friktionsröllchen Rotationsbewegungen übertragen. Die Rotation der Zellen entsprach der magnetischen Erregung des Feldes, die Verrückung der Friktionsröllchen der elektrischen (2).

Diese Vorstellung verhalf Maxwell seine Gleichungen zu konstruieren, die festlegen, nach welchen Gesetzen sich die elektrischen und magnetischen Erregungen im Aether und in den Körpern ausbreiten. Mit der Aufstellung dieser Gleichungen war ein neues Arbeitsfeld erschlossen, dem Maxwell seine ganze Kraft zuwendet; es mussten aus diesen Gleichungen abgeleitet werden: die Gesetze der klassischen Elektrodynamik, die Gesetze Faradays, die Gesetze der Lichtausbreitung; ferner waren die Grundgleichungen auf bewegte Körper zu verallgemeinern usw.

 

An diesem deduktiven Teil der Maxwellschen Arbeiten nimmt Boltzmann mit seinen bekannten experimentellen Untersuchungen (3) teil. Aber sein Hauptinteresse bleibt jenen Teilen der Maxwellschen Arbeiten zugewendet, wo sie einer mechanischen Deutung der elektrischen Vorgänge am nächsten kommen. - Nachdem Maxwell seine Gleichungen einmal gewonnen hatte, griff er nicht mehr auf die angedeuteten speziellen Bilder von der Struktur des Aethers zurück. In der Darstellung, die Maxwell der Theorie in seinem Hauptwerk gibt, werden nur mehr ganz allgemeine Analogieen angeführt und heuristisch verwertet, die bestehen zwischen den elektromagnetischen Effekten vom Typus der Selbstinduktion (bei veränderlichen Strömen) und zwischen den Trägheitsreaktionen, die bei einer sehr allgemeinen Klasse von mechanischen Systemen (im Falle von Geschwindigkeitsänderungen) auftreten.

Diese Analogieen zwischen dem Verhalten „zyklischer Systeme" und den Wechselwirkungen von Strömen (im zweiten Teil des zweiten Bandes von „Elektrizität und Magnetismus") stehen in der Maxwellschen Darstellung keineswegs im Vordergrund.

 

Die Boltzmannsche Darstellung der Maxwellschen Theorie geht gerade von diesen mechanischen Analogieen aus. (Im Gegensatz zu allen anderen Darstellungen dieser Theorie.) In Boltzmanns Vorlesungen hatte man zunächst geraume Zeit nur die wunderbaren Reaktionen kennen zu lernen, die verhältnismässig sehr primitive, rein mechanische Systeme (die Bicykel) ausüben können. Reaktionen von einem Typus, den man nie von einem mechanischen System erwarten würde, solange man bei „mechanisches System" unwillkürlich an das Planetensystem denkt. An dem Studium dieser Systeme sollte die Phantasie geschult werden, mehr und mehr vorzudringen zur Konstruktion eines bis in den letzten Zug widerspruchslosen Mechanismus, der die komplizierten Eigenschaften des Lichtäthers erklärt.

 

 

H. Ebert: Mechanisches Modell zur Erläuterung der Inductionsgesetze

= Bicykelmodell

Annalen der Physik und Chemie, N. F., Bd. XLIX, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1893, 642-650

 

Das spezielle Bild mit den Zellen und Friktionsröllchen beanspruchte natürlich niemaIs, dieser Forderung zu genügen. Aber es war nicht ausgeschlossen, dass eine andere Konstruktion zum Ziel führt. Einige Anhaltspunkte, allerdings nur sehr allgemeine, sollten die früher erwähnten Analogieen der zyklischen Systeme liefern. Deshalb bildet ihre eingehende Diskussion den Kern der Boltzmannschen Vorlesungen über Elektromagnetismus und gibt ihnen ihren eigenartigen Aufbau.

 

Es ist bis jetzt nicht gelungen, eine solche Konstruktion durchzuführen. Die Elektronentheorie hat neuerdings geradezu den Versuch nahegelegt, jene Analogieen in umgekehrtem Sinne auszubeuten: zu einer elektromagnetischen Deutung der mechanischen Erscheinungen (besonders der Massenträgheit). - Boltzmann zögerte nicht, diesen Versuch freudig zu beigrüssen (4).

 

Die mechanischen Vorstellungen sind das Material, aus dem Boltzmann mit Vorliebe seine Schöpfungen gestaltet. Er betont wiederholt, wie wesentlich für die Befriedigung über eine Entdeckung die sinnliche Wirkung des Materiales ist, an dem sich die Entdeckung vollzieht.

„Wenn ich, wie einst Solon, um den Glücklichsten der Sterblichen gefragt würde, ich würde ohne Zagen Kolumbus nennen. Nicht als ob nicht andere Entdeckungen der seinen gleichkämen, schon die des Deutschen Gutenberg. Aber das Glück ist mitbedingt durch die sinnliche Wirkung und diese muss bei Kolumbus am höchsten gewesen sein!" (pop. Vorl, pag. 409).

 

Das Durcheinandergreifen von Bewegungen, Kräften- und Bewegungsreaktionen in der Phantasie bis zur Greifbarkeit sich abspielen zu lassen, bereitet Boltzmann offenbar einen intensiven ästhetischen Genuss. Das ist an zahlreichen Stellen seiner Vorlesungen über Mechanik, Gastheorie und besonders über Elektromagnetismus zu erkennen.

In den Vorlesungen und Seminaren begnügte sich Boltzmann nie mit einer bloss summarischen oder nur analytischen Charakterisierung eines mechanischen Modelles. Sein Bau und seine Bewegung wird immer bis in den letzten Zug verfolgt. Wenn da z. B. mehrere Fäden gewisse kinematische Relationen versinnlichen sollten, so wurde die gedankliche Anordnung auch gleich so getroffen, dass die Fäden sich nicht verwickeln mussten. - Auch in jenen grossen Arbeiten, deren Resultate immer ein riesiges Gebiet umspannen, findet das einfache Beispiel eine erschöpfende und liebevolle Behandlung. Dieser Zug macht Boltzmanns Ausführungen ungemein lebendig: Die Art der Durchführung des Beispiels, das bei äusserster Einfachheit immer schon alle charakteristischen Züge des grossen Problems aufweist, verschafft einen Einblick in alle die mühselige Arbeit, die diese immense Phantasie zu leisten hatte, ehe sie zu den umfassenden Resultaten durchdrang.

 

Auf die grosse Zahl mehr isolierter Arbeiten können wir nicht mehr eingehen, obwohl sich unter ihnen so bahnbrechende befinden, wie die Ableitung des Stefan-Boltzmannschen Strahlungsgesetzes (1884).

Ein grosser Teil dieser Arbeiten scheint entstanden zu sein bei Versuchen, sehr allgemein entwickelte Ideen an möglichst einfachen mechanischen Modellen sich zu veranschaulichen: An einem primitiven Modell zeigt Boltzmann 1884, dass die von Helmholtz entwickelte Analogie zwischen Monozykelbewegung und Thermodynamik unzulänglich ist, und zwanzig Jahre später erkennt er unabhängig von Vorgängern genau an demselben Modell, dass im Falle nicht holonomer Koordinaten die Lagrange-Gleichungen Zusatzglieder erhalten.

In ähnlicher Weise stösst er sehr früh auf eine Lücke in der mathematischen Theorie der Bewegung starrer Körper in Flüssigkeiten.

 

Es liessen sich noch zahlreiche Beispiele anführen (z. B. „Anfrage, ein Beispiel zur Hertzschen Mechanik betreffend"), die immer wieder zeigen, wie sehr Boltzmanns Schöpfungen durch den ästhetischen Genuss beeinflusst werden, den ihm das anschauliche Verfolgen des Ineinandergreifens von Bewegungen und Kräften bereitet.

 

Werden Boltzmanns Resultate dereinstens aus ihrer mechanischen Lesart in eine ganz andere Lesart übergehen? Wird z. B. das Vordringen der Strahlungsthermodynamik bewirken, dass in einer zukünftigen Darstellung des Wärmeaustausches und Wärmegleichgewichtes die wechselseitige Zustrahlung dem Einfluss der Molekülzusammenstösse den Vorrang abläuft? Diese oder eine noch weitergehende Verschiebung in der Darstellung des Wärmegleichgewichtes würde notwendig auch die Deutung des Entropiesatzes als statistisch-mechanisches Prinzip in eine neue Deutung überführen, mit wesentlich anderen Bildern, als denen, die Boltzmanns Arbeiten zugrunde liegen.

 

Dieser Uebergang aber zu Formen, deren „sinnliche Wirkung" nichts mehr mit der sinnlichen Wirkung der ursprünglichen Form gemein hat, scheint das Schicksal oft gerade der bedeutendsten wissenschaftlichen Errungenschaften zu sein; auch solcher, deren ursprüngliche Form und „Instrumentierung" so tief in dem künstlerischen Geschmack ihres Schöpfers begründet ist, wie das gerade bei Boltzmanns Arbeiten der Fall ist.

 

 

Göttingen, Oktober 1906. Paul Ehrenfest.

 

 

Anmerkungen

 

1) Siehe „Entwickelung der Methoden der theoretischen Physik" - pop. Vorl. pag. 198 u. f. - besonders aber pop. Vorl. pag. 8 Mitte.

2) Vergl. die Darstellung in pop. Vorl. pag. 11. - Ferner bei O. Lodge: Neuere Anschauungen über Elektrizität.

3) Ueber die Dielektrizitätskonstante von Gasen, des Schwefels. - Es galt vor allem den vοn Maxwell behaupteten Zusammenhang zwischen Brechungsindex und Dielektrizitätskonstante zu prüfen.

4) Siehe „Vorlesungen über Mechanik" Band II pag. 139.

 



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