Home Von Ratschlägen und Regeln

 

 

Manuskript für einen Volkshochschulkurs „Entscheiden und Verantworten im Alltag“, Sommer 1987

22.6.1987

 

 

Der Mensch ist ein paradoxes Lebewesen

 

Sie werden sich vielleicht gefragt haben, weshalb ich so wenig Rezepte für Entscheidungen bringe und nicht an einzelnen Beispielen durchspiele, wie man nun genau vorzugehen hätte. Das ist eine berechtigte Frage. Sie stehen nicht allein mit dem Wunsch nach Rezepten. Als Unternehmensberater begegne ich ständig demselben Wunsch. Und wenn ich Artikel für Management-Zeitschriften verfasse, sagt mir der Chefredaktor stets: "Die Leser erwarten, dass man ihnen sagt, was sie machen müssen."

 

Das ist paradox. Auf der einen Seite jammern Unternehmer und Bürger doch ständig über den zunehmenden Haufen von Gesetzen und Verordnungen, Vorschriften und Reglementierungen, welche ihren Spielraum immer noch mehr einengen. Und auf der andern Seite wünschen sie Regeln, Arbeits- und Entscheidungshilfen, welche doch ebensolche Einengungen bedeuten.

 

Diese Paradoxie finden wir auch im politischen Bereich. Wir fordern mehr Freiheiten im Strassenverkehr, beispielsweise, dass wir auf dem Trottoir fahren dürfen. Anderseits werden das Abstellen des Motors vor dem Rotlicht, Sonntagsfahrverbote, Benzinrationierung, usw. gefordert. Auch das sind Einengungen.

 

Dasselbe gilt für Unternehmen: Einerseits sollte mehr Risikokapital für innovative Kleinunternehmer zur Verfügung gestellt werden, die Arbeitnehmer sollen auch am Sonntag arbeiten dürfen, usw. Auf der andern Seite sollen Umweltsünder strengeren Vorschriften unterworfen werden, Bauunternehmer müssen Umweltverträglichkeitsnachweise erbringen und Kernkraftwerke sollen verboten werden.

 

Es ist kein Wunder, dass manche aufmerksamen Zeitgenossen sagen: 'Wir sind im Grunde schizophren. Wir möchten dies und das tun, aber die andern sollen das nicht."

 

Abgesehen davon, dass wir mit Begriffen aus der Psychiatrie vorsichtig sein sollten, kann man dagegen zwei Einwände ins Feld führen:

 

1. Es sind vielleicht nicht dieselben Leute, die über Reglementierungen jammern und gleichzeitig, für andere, nach mehr Reglementierungen schreien.
Das mag sein, doch wenn jeder einzelne ernsthaft in sich geht entdeckt er vermutlich doch, dass auch er paradox denkt und fordert.
Auch wenn dem nicht so wäre, ergibt sich doch aus der Fülle der einzelnen Stimmen so etwas wie ein allgemeiner Trend.
Und dieser ist oft paradox.

 

2. Der zweite Einwand betrifft die Frage, wie sinnvoll die Gesetze und Reglementierungen sind. Wir finden dies oder jenes - z. B. strenge Umweltschutzvorschriften - sinnvoll, anderes aber - z. B. Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Schnellstrassen, Fahrverbote - nicht sinnvoll.
Wonach bemessen wir, ob etwas innvoll sei? Ist es etwa nur unser Eigennutz oder hängt es davon ab, welcher Partei, Organisation wir angehören, ja welche Zeitung wir lesen?

 

Immer diese philosophischen Fragen! Müssen wir uns denn einfach damit abfinden, dass der Mensch ein paradoxes Lebewesen ist? Ja.

 

Regeln suchen und Regelsucht

 

Das sehen wir auch an Rezepten für den Alltag, beispielsweise Entscheidungsregeln. Wenn Sie mehr Regeln haben möchten, kann ich zurückfragen:

 

1. Haben Sie noch nicht bemerkt, wie es nur so wimmelt von Regeln und guten Vorschlägen, wie man Entscheidungen treffen sollte.

Das fängt schon in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis an.

Hat nicht schon mancher oder manche Ihnen geraten: "Das macht man doch so oder so", "Da würde ich ..." oder "Das ist doch ganz einfach: Methode 'Holzhammer' oder Diplomatie oder 'steter Tropfen höhlt den Stein’“?

 

Auch in Zeitschriften, ob populär oder fürs Management, treffen Sie doch allenthalben gute Ratschläge an. Dann gibt es Broschüren, Bücher, Vorträge, Kurse, und zwar in solcher Fülle, dass man meinen könnte, die Welt fliesse nur so über von Leuten, die es gut mit uns meinen und uns zu unserem Glück verhelfen wollen.

 

2. Offenbar befriedigt das nicht. Wir möchten immer noch mehr Ratschläge. Warum? Ich habe einen doppelten Verdacht:

a) Wir nehmen gar nicht alle Ratschläge oder Regeln ernst, sondern wir wählen aus, welche uns passen. Wir sammeln einmal drauflos und probieren dann aus, was uns gerade, nach irgendeinem undefinierten Kriterium zusagt.

b) Wir sind meist gar nicht so sehr bei der Sache. Wenn die Methode nicht gleich funktioniert, dann geben wir bald auf und sagen: "Das ist ja viel zu kompliziert", oder: "Das geht ja gar nicht", oder: "Mein Problem ist ja ganz anders".

 

Überlegen Sie also einmal ganz ernsthaft: "Bin ich eigentlich regelsüchtig?" und wenn ja: "Warum?"

 

Lebenspraktisches Wissen ging verloren

 

Einen wichtigen Grund für die Regelsucht habe ich bereits einmal genannt. Es ist der Verlust der Tradition. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde von Generation zu Generation auch lebenspraktisches Wissen weitergegeben. Schon als Kind lernte man, welche Blumen nicht zusammen in den selben Topf gepflanzt werden dürfen, weil sie einander nicht vertragen, man lernte, wann man welche Knollen setzen musste, damit es im Garten das ganze Jahr blühte.

Man lernte Kochen und Kochrezepte interpretieren. Hiess es beispielsweise: "Man nehme 1/2 Liter Bratensauce", dann nahm man nur die Hälfte, wollte man nicht eine Suppe anrichten.

Auch für das Berufsleben gab der Vater manche besonderen Kenntnisse dem Sohn weiter: Wo kriegt man die besten oder billigsten Waren, welche Messen und welche Stände muss man besuchen, wie organisiert man das Lager und den Versand, wie kommt man den Kundenwünschen auf die Spur, wodurch erhält man sich eine Stammkundschaft.

 

Auch für zwischenmenschliche Problemlösungen bot das Zusammenleben mehrerer Generationen im selben Haushalt Vorteile. Eine Grossmutter oder ein Grossvater konnte für manche jungen Ehepaare die Probleme oder Konflikte ins rechte Licht rücken, gewichten und aus eigener Lebenserfahrung schildern, was geht und was nicht. Vielleicht brachten die Grosseltern sogar noch etwas in die Diskussion, was uns heute bei vielen Beziehungsproblemen fehlt, nämlich Humor. Humor als Lockerung versteifter Haltungen und Fronten, Humor als Medium der Versöhnlichkeit.

 

Das Abreissen des Traditionsfadens ist einer der grössten Verluste, den wir hinnehmen mussten. Das Bedauern darüber sollte uns zur Selbstprüfung und zum Handeln anregen. Jeder hat einen kleinen Kreis, in dem er wirken kann: Seine Beobachtungen weitergeben im Gespräch.

Ich sage Beobachtungen, nicht Meinungen. Es scheint mir nämlich, wir hätten auch das Beobachten, das Hinschauen, Zur-Kenntnis-Nehmen und damit auch das Staunen oder Sich-Wundern verlernt Das Staunen ist seit den Alten Griechen die Wurzel der Philosophie. Und ein bisschen philosophischer werden, das täte uns, auch im Alltag, gut.

 

Halten sich die Ratgeber an ihre Ratschläge?

 

Offen bleibt aber doch noch eine Frage: Halten sich diejenigen, die uns Ratschläge geben, denn auch selber an ihre Regeln? Im Falle von Grosseltern oder Eltern, die ihre Erfahrungen weitergeben, ist diese Frage nicht von Belang. Sie können ja, wenn sie ehrlich sind, auch über Fehler berichten, die sie gemacht haben. Aus diesen Fehlern könnten die Jüngeren lernen, sofern sie gelernt haben, dazu bereit zu sein.

 

Anders ist es bei den professionellen Beratern. Wenn sich das Beraten als Gelderwerb selbständig gemacht hat, dann ist die Gefahr gross, dass weniger Tradition vermittelt als Mode propagiert wird. Ich habe schon einmal erwähnt: Unternehmensberater haben oft selber ein schlecht geführtes oder organisiertes Unternehmen, Psycho-Berater haben oft grössere eigene Probleme als die Klienten, Sextherapeuten führen ein unbefriedigendes Liebesleben.

 

Mit all diesen Behauptungen habe ich mich noch nicht aus der Affäre gezogen. Auch wenn der Mensch paradox ist und Regeln nur nach Lust und Laune benützt, ist das ja kein Grund, ihm nicht dennoch Regeln anzubieten. Vielleicht müssten die Regeln einfacher oder allgemeiner, griffiger oder logischer sein.

 

Auch das Argument, dass je nach Entscheidungsregel eine andere Handlungsalternative optimal sei, spricht nicht gegen das Beschreiben dieser Regeln. Wenn je nach Ziel eine andere Regel benützt werden muss, dann müsste es ja möglich sein, Regeln für das richtige Verwenden von Regeln geben. Das ist möglich. Solche Regeln heissen Meta-Regeln. Sie sind eher auf der philosophischen Ebene anzutreffen.

 

Vielleicht habe ich Ihnen also bisher statt Regeln Meta-Regeln gegeben, und Sie haben es bloss nicht gemerkt. Wir wollen mal sehen.

 

Philosophieren heisst Staunen und Fragen

 

Dazu hole ich wieder einmal etwas weiter aus:

Philosophieren wächst aus dem Staunen und besteht zu einem grossen Teil in Fragen. Solche Fragen sind für unser Thema etwa:

 

1. Wie verhält sich eigentlich Entscheidung zu Problemlösung und Konfliktlösung, zur Kybernetik und Systemtheorie, Denkmethoden und psychotherapeutischen Methoden und wie zu Kreativität und zu Planung, wie zu Krise und Aufgabe?

 

2. Warum soll ich überhaupt Probleme lösen, wenn doch jede Lösung mehrere neue Probleme erzeugt?

 

3. Verläuft nicht alles in der Zeit? Muss ich nicht dauernd mit einem Wandel bei mir und bei den andern rechnen? Muss ich überhaupt viel weiter zurückschauen, aber auch weiter nach vorwärts blicken? Leben aber muss ich immer jetzt, im Heute.

 

4. Wie kann ich unterscheiden, was wesentlich und was unwesentlich ist? Was wären die Folgen dieser Unterscheidung? Kann oder muss ich grosse von kleinen Entscheidungen unterscheiden? Warum nicht oder warum?

 

5. Wonach beurteile ich, was mir passt und was nicht? Bin ich mir überhaupt bewusst, wonach ich dies beurteile, und wenn ja, ist es das richtige Kriterium?

 

6. Gibt es etwas, worauf ich aufbauen kann? Eigene Erfahrungen oder Erfahrungen anderer, und wenn ja auf welchen, und sind diese massgeblich?

 

7. Woher weiss ich, wem ich vertrauen kann, worauf ich mich verlassen kann? Wo fängt die Naivität an?

 

8. Gibt es eigentlich einfache Lösungen? Wie steht es mit Kompromissen?

 

9. Wo soll ich Widerstand leisten, wo mich fügen? Wo soll ich kritisch sein, wo grosszügig?

 

Solche und viele andere Fragen können wir uns stellen. Gibt es einen Schlüssel, wie wir sie beantworten können? Ja. Es ist ein doppelter Schlüssel: Wir müssen in die Höhe steigen, also in die philosophische Sphäre, und wir müssen versuchen, etwas Ordnung in unsere Gedanken zu bringen.

 

Das ist ausserordentlich schwer. Wir haben ja, wenn wir ehrlich sind, einen riesigen Salat in unserem Kopf. Es ist wie in der Wohnung, im Studierzimmer, auf dem Schreibtisch oder in der Ablage: Wir müssen unentwegt Ordnung machen, sonst türmen sich die Haufen. Vieles Gute bleibt liegen, weil wir es liegen lassen, vergraben, oder immer wieder Neues darüber schichten.

 

In den vergangenen zwei Wochen habe ich versucht, für Sie, zu Ihrem Nutzen etwas Ordnung in das zu bringen, was ich wichtig finde. Es war eine Riesenarbeit. Doch das Ergebnis lohnt den Aufwand.

Das Ergebnis sehen Sie hier. Wenn Sie erschrecken, ist es gut. Denn wichtige Lebensfragen sind kompliziert. Wir werden aber diese Kästchen Schritt für Schritt durchgehen, dann wird das Ganze verständlich und dadurch wieder etwas einfacher.

 

Mein Ansatz ist scheinbar altmodisch. Er könnte aber auch hochaktuell sein.

 

Ich unterscheide an Orientierungshilfen für unser Leben, egal ob privat oder beruflich, individuell oder kollektiv, vier Ebenen.

  • Die oberen beiden bilden Lebensweisheit und Lebenskunst,
  • die unteren beiden Meta-Regeln und gewöhnliche Regeln.

Die einzelnen Ebenen und Bereiche sind miteinander verknüpft, hängen miteinander zusammen. Wichtig ist aber vorerst einmal, zu schauen, was es darin alles gibt.

 

Lebensweisheit und Lebenskunst

 

Siehe auch:    Gesammelte Lebensweisheiten

                        Die 66 goldenen Entscheidungsregeln (Meta-Regeln)

Steuern Meinungen unser Verhalten?

                        Literatur: Polarität

                        Geschichte des Systemdenkens und des Systembegriffs

                        Systemwissenschaft

                        Bilder

 

 

Was ist Lebensweisheit? Sie besteht aus einigen wichtigen philosophischen Einsichten und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Und was ist Lebenskunst? Der von mir hochverehrte Zürcher Philosoph Erich Brock hat einst formuliert: "Lebenskunst: das sind viele kleine Künste".

Angeregt durch seine Vorlesungen in den 60er Jahren habe ich manches über die Polaritäten und Widersprüche des Lebens vor 20 Jahren in einem längeren Aufsatz über "die philosophische Haltung" zusammengestellt. Vor 10 Jahren habe ich einen Aufsatz über die "Ethik von Gesamtsystemen" verfasst. Etwas später habe ich mich ausgiebig mit dem Modelldenken herumgeschlagen und darüber auch geschrieben.

 

Das bedeutet: Was ich vortrage, ist nicht ganz aus der Luft gegriffen.

 

Wo findet man Lebensweisheit und Lebenskunst?

 

Wir können davon ausgehen, dass die Menschen, die vor uns gelebt haben, auch schon manches erlebt haben und erleiden mussten, und dass manche davon, die sich darüber Gedanken machten oder berichteten, uns einiges auf unseren eigenen Lebensweg mitgeben können.

 

Diese kollektiven Lebenserfahrungen finden wir etwa in der Bibel, in antiken und östlichen Weisheitslehren, in Mythen und Märchen, in Sprichwörtern und Redensarten. Aber auch Philosophen und Theologen, Dichter und Dramatiker haben viel Allgemeinmenschliches und viel Wissen eingefangen. Und schliesslich haben auch die Wissenschaften manches zum Verständnis der Welt beigetragen.

Dichter und Denker sind meist leicht zu lesen, physikalische oder psychologische Fachbücher dagegen nicht. Populäre Darstellungen sind freilich gefährlich; sie bieten oft nur winzige Ausschnitte und vereinfachen hierbei erst noch viel zu sehr.

 

Die 5 wichtigsten Gruppen von Einsichten fasse ich in 5 Formeln zusammen:

Polarität und Rhythmus

System und Interdependenz

Bilder und Deutungen

Pluralismus und Aspektivität

Der Mensch als "individuum ineffabile".

 

Gehen wir der Reihe nach:

 

Polarität und Rhythmus

 

Polarität und Rhythmus des Lebens lassen sich in verschiedenen Bildern veranschaulichen: im Januskopf, in der gespaltenen Zunge, im Pendel, im Abgrund, in der Waage und im Taigitu.

 

1. Was bedeutet der Januskopf?

Jede Medaille hat eine Kehrseite! Man kann jedes Ding von zwei Seiten betrachten, z. B.

  • Das Wasser erstickt die lodernde Flamme, aber es löscht auch den göttlichen Funken.
  • Oder weniger poetisch:
    Angst kann lähmen, aber auch zu Leistungen antreiben, oder:
  • Dasselbe Verhalten kann als bornierte Sturheit oder hartnäckiges Am-Ball-Bleiben aufgefasst werden, oder:
  • Des Einen Freud, des Andern Leid.

 

2. Die gespaltene Zunge meint unsere Heuchelei:

Wir predigen Wasser und trinken Wein. Wie oft finden wir die grössten Moralisten, die strengsten Familienväter im Niederdorf. Wie oft stimmt das, was Politiker sagen, nicht mit dem, was sie tun, überein. Wie oft fordern wir von andern, was wir selber nicht zu leisten bereit sind.

 

3. Das Pendel weist auf das unaufhörliche Wechselspiel von Anspannung und Entspannung, Mangel und Sättigung hin.

Im Laufe der Weltgeschichte kommen und gehen die Strömungen und Dogmen, im Laufe des individuellen Lebens, ja im Verlauf eines Tages wechseln unsere Bedürfnisse und Ziele, Launen und Ansichten. Andere Erfahrungen sind: "Nach ein Räge schint d'Sunne".

 

4. Abgründe oder Klüfte gibt es viele, etwa zwischen Können und Wollen, zwischen Sein und Sollen, zwischen Tier und Mensch, Egoismus und Gemeinwohl.

Auch Widersprüche oder Gegensätze kann man hier anführen.

Es ist doch interessant, dass sich zu fast jedem Bibelwort oder Sprichwort eine gegenteilige Aussage finden lässt, z. B.

  • "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt" (Luk. 18,25).
    Demgegenüber: Gottes Ratschluss ist unerforschlich. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mat. 5,45).
  • Oder: "Einmal ist keinmal."
    Dagegen: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht."
  • Oder: "Jeder ist seines Glückes eigener Schmied."
    Dem steht die Beobachtung entgegen: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt."

 

5. Was können wir da tun?

Versuchen, die Dinge wenigstens ins Gleichgewicht zu bringen. Vernunft und Gefühl, Anpassung und Widerstand, Strenge und Grosszügigkeit.

 

Verwandt damit ist das rechte Mass. Die Tugend wurde von Aristoteles definiert als die "rechte Mitte" zwischen zwei Extremen. So liegt etwa Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit.

Allerdings ist die Frage, ob das "goldene Mittelmass" genügend Energie gibt für mutige Taten. Braucht es nicht manchmal für schöpferische Leistungen Tollkühnheit? Geschah nicht manche Heldentat aus Feigheit? Friedrich Schiller meinte, in der Mitte herrsche "energische Ruhe". Erich Brock dagegen meinte: "Das Mittelmass ist wesenlos." In der Offenbarung Johannis (3,16) heisst es "lau".

 

6. Manches von solchen Zweiheiten und Widersprüchen ist im Taigitu zusammengefasst.

a) Zur Ganzheit braucht es immer zwei unvereinbare Sachen.

b) Mitten in der einen Seite steckt schon ein Kern der andern Seite.

 

Wir haben einmal von Mann und Frau gesprochen sowie von den Seiten in uns, die wir akzeptieren, und vom Schatten, der uns begleitet, und den wir auch akzeptieren müssten. Das Selbst ist dann das Ideal der Ganzheit.

Es gibt anderes:

  • Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.
  • Jedes Ende ist ein Neubeginn.
  • "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" (Hölderlin).

 

7. Nun gibt es noch eine weitere Polarität, nämlich zwischen dem Polaren einerseits und demjenigen, was nicht polar ist. Was nicht polar ist, kann eine Einheit oder etwas Vielfältiges sein.

Ersteres kommt in der Grundpolarität von Harmonie und Spannung oder Liebe und Streit zum Ausdruck. Das andere in dieser Zusammenstellung. Wir können das Ganze nicht auf einen Nenner bringen.

 

Heisst das auch, dass wir in solchen Polaritäten und Widersprüchen leben müssen. Ja. Ich behaupte: Sie sind überhaupt der Motor, der uns am Leben erhält. Sie sind, wie das dauernde Ein- und Ausatmen, das Lebenselixier.

 

System und Interdependenz

 

Die andern vier Gruppen will ich etwas kürzer besprechen. "System und Interdependenz". Was heisst das? Ich habe am Anfang unseres Kurses oft von Netzen gesprochen. Alles hängt mit allem zusammen. Nichts steht allein; was an einem Ort geschieht, hat weit weg Folgen.

 

Alles steht also in grösseren Zusammenhängen, auch das Taigitu oder eine Ich-Du-Beziehung.

 

Wenn man das etwas ordnen will kommt man zur Systembetrachtung. Ich halte sie für die wichtigste Errungenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist allerdings älter, mehr als 200 Jahre. Ein Beinahe-Schweizer, Johann Heinrich Lambert aus Mühlhausen, das damals zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft war, hat sie entwickelt. Man kann sogar bis auf Aristoteles zurückgehen, der formulierte: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Und: Jedes Ganze ist, mit anderen zusammen, eingebettet in ein höheres Ganzes, dieses wiederum in ein noch höheres Ganzes, usw.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man das genauer ausgearbeitet. Ein wichtiges Ergebnis waren die Weltmodelle. Sie zeigen grosse Kreisläufe und Wirkungsketten. Dabei hat sich etwas Wichtiges herausgestellt. Diese Ketten sind so kompliziert, dass der Mensch sie in ihren Abläufen gar nicht fassen kann. Viele einzelne Wirkungsketten zusammen ergeben etwas, was unerwartet ist.

Beispiele boten die Untersuchungen zu den "Grenzen des Wachstums". Das war 1972 und ist heute fast vergessen. Leider, denn der Ansatz ist gut.

 

Bilder und Deutungen

 

Ich komme zur dritten Gruppe wichtiger philosophischer Einsichten: Wir leben in Bildern und deuten sie.

Das beste Bild dafür ist die Theaterbühne. Wir können sagen: Das Leben ist eine Bühne. Wahrnehmen, Denken und Handeln heisst: Vorgänge und Rituale, Rollen und Maskeraden interpretieren, also deuten und darstellen.

Was im Laufe der Zeit am meisten ändert, das sind die Requisiten. Statt der Kutsche haben wir die Benzinkutsche, statt dem Abakus den Computer, statt dem Herdfeuer die Atomenergie, statt Steinschleudern Gewehre. Aber die aufgeführten Spiele sind über Jahrtausende dieselben geblieben.

 

Das Bild der Bühne:

Wir suchen Rezepte, die uns sagen, wie wir am besten unsere Rollen spielen können. Aber:

(1) Die Stücke werden schlecht gespielt (das sind Störungen des Systems);

(2) Die Stücke laufen nebeneinander oder gegeneinander ab;

(3) Es sind miese Stücke, die da gespielt werden.

 

Wenn wir den Blick öffnen, stehen wir also vor einem vierfachen Problem:

a) Wollen und können wir im Wettbewerb bestehen? Wie müssen wir uns heute, in der jetzigen Lage (Egoismus, Brutalität, Achtlosigkeit) verhalten?

b) Wollen wir das schlechte Spielen verbessern, also Schlamperei (Systemstörungen) beheben? Brauchen wir etwa mehr Proben (= Schulung), bessere Requisiten (Technik)?

c) Können wir die Stücke zusammenbringen, Reibereien vermindern, z. B. durch Aufstellen eines koordinierten Spielplans.

d) Wollen oder sollen wir etwas tun, um die gespielten Stücke generell zu ändern? Wollen wir eine bessere Welt schaffen? Mitschaffen mit wem?

 

 

Der freigelassene römische Sklave Epiktet formulierte um 100 n. Chr.:

Nicht die Dinge ängstigen die Menschen, sondern die Vorstellungen, die sie sich von den Dingen machen.

 

Wir können auch sagen: Es sind vorwiegend Vorstellungen von möglichen Realitäten, die unser Fühlen und Denken bestimmen, nicht die Realitäten selber (Gehörtes, Vorurteile, Stereotype, Ideale, Idole)

 

Es ist uns heute kaum bewusst, wie sehr wir in Bildern denken und leben. Meinungen und Vorstellungen, Vorurteile und Erwartungen sind meistens Bilder.

Heute Abend habe ich schon eine ganze Reihe Bilder gebracht: der Traditionsfaden, der gerissen ist, die gespaltene Zunge, die Waage, das Netz und gerade vorher die Bühne. Alles Bilder. Und noch ein Bild: Wir sehen die Welt und die Mitmenschen durch eine Brille. Deren Gläser können rosa oder grau getönt sein, sie können, was zu sehen wäre vergrössern, verkleinern, verzerren, verkehren. Es ist schwierig, diese Brille zu putzen. Es gibt verschiedene Versuche dazu: die Selbsterforschung, die Wissenschaft, die Kunst, die Philosophie.

 

Pluralismus und Aspektivität

 

Weil diese Versuche nie ganz gelingen, gelangen wir zur vierten Gruppe von wichtigen Einsichten: Es herrscht ein Pluralismus von Dingen und Erkenntnissen, Einsichten und Ansichten. Es gibt einfach so viel, dass wir die Fülle gar nicht fassen können. Alle unsere Versuche, die Welt in Bilder zu fassen, in Ordnungen zu bringen sind nur Ansätze, nie abgeschlossen, immer unvollständig. Neben dem, was wir erreicht oder erkannt haben, gibt es immer noch eine riesige Menge von anderem.

 

Das liegt nicht nur an unseren menschlichen - und daher endlichen -Vermögen und unserer beschränkten Fassungskraft, sondern auch an den Dingen selber. Wir können sie aus verschiedenen Blickrichtungen betrachten: Von hinten oder von vorne, von oben oder von unten, von nah oder fern, von aussen oder von innen. Das bedeutet: Wir haben nur Aspekte, eben: Ansichten.

 

Dies mag ein Grund dafür sein, dass wir so häufig so unbestimmt formulieren. Ich habe das bisher nach Möglichkeit vermieden.

Aber achten Sie einmal darauf, wie häufig wir lesen - oder selber sagen -:

  • Meistens, im allgemeinen ist es so und so,
  • praktisch, d. h. fast oder nahezu,
  • es scheint, es sieht so aus,
  • eigentlich sollte man, möchte ich,
  • nicht alle, nicht jedes.

 

Vielfach steckt dahinter nicht ein besonderes Differenzierungsvermögen, sondern eine Angst, die Dinge beim Namen zu nennen oder eine Unsicherheit darüber, wie es wirklich ist. Schauen wir doch gerade diesen Satz selber an. Ich habe gesagt: "Vielfach steckt dahinter nicht ein besonderes Differenzierungsvermögen". Hätte ich entschieden sagen sollen: "Immer steckt Angst oder Unsicherheit dahinter"? Mit welcher Berechtigung aber kann ich sagen: Immer? Weiss ich das denn? Wenn ja, woher?

 

Ich behaupte: All unser Wissen ist vorläufig. Woran liegt das?

Am Wesen des Menschen selber. Und damit komme ich zum fünften Gebiet wichtiger Einsichten: Was wissen wir eigentlich vom Menschen?

 

Der Mensch als „individuum ineffabile“

 

siehe auch: Der Mensch als „individuum ineffabile“

 

Die grundlegendste Aussage hiefür ist:

"individuum ineffabile est", d. h. das Individuum ist unausschöpfbar. Dieser Satz ist von Goethe. Goethe hat auch die Polarität als bedeutsam herausgestellt. Und auch auf den Menschen können wir die Polarität und die andern weisen Erkenntnisse anwenden.

 

Der Mensch ist sowohl Schöpfer wie Geschöpf der Kultur, ein personales und ein soziales Wesen, ein armer Erdenwurm und ein biologisches Wunder, ein Nichts und ein Kosmos im kleinen. Er ist ein biologisches System, ein Ebenbild Gottes und symbolbildendes Wesen, ein „nicht festgestelltes Tier“, instinktunsicher und weltoffen.

 

Genug. Ich breche hier ab. Ich weiss nicht, wer von Ihnen sich im Verlauf dieser Stunde gefragt hat: "Was ums Himmels willen hat das alles mit 'Entscheiden und Verantworten' zu tun?" Vielleicht hat aber niemand von Ihnen so gedacht. Das wäre gut, denn was ich Ihnen in groben Zügen skizziert habe, hat einen Sinn.

 

Ein verbindlicher Hintergrund

 

Nur auf diesem Hintergrund können wir nämlich Entscheidungsregeln aufstellen, die wirklich Hand und Fuss haben. Alle andern in den Raum gestellten Entscheidungsregeln ermangeln nämlich der Verbindlichkeit. Das gibt dann die Regeln, die wir je nach Lust und Laune einmal anwenden, einmal nicht.

Das ist ja gerade das Kreuz mit den vielen guten Vorschlägen von Verwandten und Bekannten oder in Zeitschriften und Büchern: Wir können sie beherzigen oder nicht. Es fehlt ihnen die Überzeugungskraft, entweder weil sie nicht aus dem Hintergrund der Lebensweisheit hervorgewachsen sind oder weil uns dieser selber fehlt.

 

Ohne Lebensweisheit sind die Ratschläge oberflächlich. Ohne Lebensweisheit ist unser Leben armselig. Und das wäre ja das Schlimmste: Unser eigenes Leben, für uns das kostbarste Gut, einfach so in den Tag hineinzuleben.

 

Damit das Ihnen wenigstens nicht geschieht, möchte ich Ihnen für das nächste Mal eine Hausaufgabe aufgeben. Versuchen Sie sich, was ich heute gesagt habe, im Verlauf der Woche, in einer kurzen Pause, beim Warten, in einer ruhigen Stunde oder im Gespräch mit einem Partner wieder in Erinnerung zu rufen. Und dann: Schreiben Sie auf, was für Entscheidungsregeln Sie daraus ableiten würden. Versuchen Sie es einfach. Es geht. Sollte es aber nicht gelingen, dann schreiben Sie wenigstens auf, was für Sie bisher die wichtigsten Entscheidungsregeln waren.

 

Ich habe selbstverständlich auch solche Regeln aufgestellt, und wir können sie das nächste Mal mit Ihren Regeln vergleichen.

Wenn Sie Ihre Regeln nicht selber in der Diskussion vorbringen möchten, dann legen Sie mir das Blatt Papier einfach vorher auf den Tisch.

 


Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch