HomeZur Geschichte des Modelldenkens und des Modellbegriffs

 

Aus Herbert Stachowiak (Ed.): Modelle - Konstruktion der Wirklichkeit. München: Wilhelm Fink Verlag 1983, 17-86.

Ca. 45 Textseiten

geschrieben März-Dezember 1978

revidiert bis August 1979; Kurzfassung März 1979

 

Bitte öffnen Sie in separatem Fenster zu diesem Artikel: Anmerkungen

                                                                                                 Literatur

 

Als Ergänzung dazu: Modellgeschichte ist Kulturgeschichte

Stark erweiterte englische Version (2009): Model history is culture history

 

Eine Kurzfassung erschien: Zur Geschichte des Modellbegriffs und des Modelldenkens im Bezugsfeld der Pädagogik. In Herbert Stachowiak (Ed.): Modelle und Modelldenken im Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (April) 1980, 202-224.

 

 

Inhalt

 

0.         Einleitung      

 

1.         Aus den Anfängen des Modelldenkens und Modellherstellens

1.1      Verfahren und Bräuche zwischen Nutzen und Kunst, Kult und Magie  

1.2      Mythos, Handwerk und Mechanismus

1.3      Vorbild und Urbild

1.4      Buchillustration und Bilderbuch

 

2.         Zur Geschichte des Modellbegriffs und der dazugehörigen Sachen 

2.1      Mass, Form, Muster, insbesondere Hohlform und figürliche Vorlage

2.2      Idealer und plastischer Entwurf: Vorbild, Beispiel und Nachbildung

2.3      Anschauungsunterricht als Ideal

2.4      Handwerkliche und technische Ausbildung im Banne von Wissenschaft und Wirtschaft

2.5      Hochblüte des alten und Keime des neuen Modelldenkens

2.6      Modellwelten: Presse, Sammlung, Spiel

2.7      Innere Anschauung und Versinnlichung

2.8      Dynamische Veranschaulichung, mechanische Konstruktion (ideal und real)

2.9      Anschauliche Modelle in Mathematik und Chemie

2.10    Äquivalente Abbildung von Zuständen beliebiger Systeme

2.11    Isomorphie, Ähnlichkeit, Analogie und Äquivalenz

 

3.         Von dem Bewusstsein davon, dass wir in Modellen denken

3.1      Von der Abbildtheorie zur kybernetischen Betrachtung

3.2      Abstrahierendes und ökonomisches Strukturdenken

3.3      Von Symbol und Zeichen zur Neopragmatischen Erkenntnistheorie

 

 

 

Zur Geschichte des Modelldenkens und des Modellbegriffs

 

Strenggenommen ist es unstatthaft, Modellbegriff und Modelldenken herausgelöst aus ihren Umfeldern darzustellen. Zumindest System-, Analogie- und Funktionsdenken einerseits, Bild-, Symbol- und Abbildtheorie anderseits sowie Ideen-, Zeichen- und Bedeutungslehre müssten gleichgewichtig und in ihrer überaus engen Verzahnung mit der Problematik "Modell" behandelt werden.

Die Auseinandersetzung müsste sich dabei um Fragen der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ontologie bewegen und würde sich vom Nominalismus über den Empirismus und Materialismus bis zur Existenzphilosophie erstrecken. Sie würde hinführen zur Informationstheorie und Kybernetik, zur Linguistik und Semiotik, aber auch zur Philosophy of Science, zur Logistik und Metamathematik.

 

Im vorgegebenen Rahmen ist ein solches Unterfangen nicht durchführbar. Ich bin gehalten, mich in einiger Strenge auf "Modell" zu beschränken. Dabei ist vor allem die historische Dimension zu eröffnen.

Denn erst für die Zeit seit etwa der Mitte des letzten Jahrhunderts finden wir eine reichhaltige explizite Modell-Literatur vor: etwa in Gestalt der zahlreichen Aufsätze im "Studium Generale" von 1948 und 1965, der Schriften von Herbert Stachowiak aus den Jahren 1957, 1965 und 1973 und der ausgreifenden Übersicht des Leningrader Philosophen V. A. Stoff von 1969.

 

 

1.         Aus den Anfängen des Modelldenkens und Modellherstellens

 

 

1.1 Verfahren und Bräuche zwischen Nutzen und Kunst, Kult und Magie

 

 

Wenn man den Modellbegriff in einer sehr weiten Bedeutung nimmt, ist das Modelldenken so alt wie die Menschheit. Man hat dabei sowohl an die Bearbeitung von Steinen, Knochen und Holz zu Geräten, Werkzeugen und Waffen (Organverstärkung und -ersatz [1]) sowie Schmuck zu denken als auch an künstlerische Äusserungen wie Gravierungen, Malereien und Plastiken, aber auch an Bestattungsbräuche (Grabbeigaben, Schädeltrepanationen, Bestreuen mit Rötelfarbstoff, Bestattung von Bärenschädeln), an Jagdzauber, Beschwörungen und Fruchtbarkeitsriten.

Verknüpft einerseits mit Opfer und Tanz - und wohl auch Gesang und Musik -, anderseits mit der Verwendung von Idolen (auch Fetische und Amulette) und Schmuck (auch Körperbemalung), bildhaften Darstellungen, Totemen und Kommandostäben, gehen Magie, Geisterglaube und Kunst, Religion und Kult, Tabu, Suggestion, Vorstellung und Symbolisierung vielgestaltige Symbiosen ein. Es ist daher gut möglich, Magie im umfassenden Sinne als eine erste Form von Modelldenken aufzufassen [2].

 

Inwiefern das Handwerk der Altsteinzeit Modellcharakter aufweist, beschreibt John Desmond Bernal (1970, S. 69): "Aus dem Vorhandensein standardisierter Geräte kann noch eine weitere Schlussfolgerung gezogen werden, nämlich die, dass im Kopfe des Herstellers bereits eine Vorstellung von dem betreffenden Gegenstand bestanden haben muss, bevor er mit der eigentlichen Herstellung begann. Ja, mehr noch: Teilweise bearbeitete Feuersteine deuten darauf hin, dass vor Beginn der eigentlichen Bearbeitung Rohlinge hergestellt wurden. Später sollten sich dann diese Erfahrungen in bewusstem Vorausschauen zum Entwurf und zum Plan und daraus zu jenem Charakteristikum der Wissenschaft - zur experimentellen Methode - entwickeln, und zwar dadurch, dass man verschiedene Verfahren zur Herstellung eines Gegenstandes an Modellen oder Zeichnungen ausprobierte, statt dass man sich auf Versuche im Originalmassstab verliess."

 

Die hohe Qualität der eiszeitlichen Kunst - vorab der Höhlenmalereien seit ca. 20 000 vor unserer Zeit - setzt Erfahrung, Übung und Schulung voraus. Da man sehr viele Bildvorlagen und sogenannte "Skizzenblätter" gefunden hat, nimmt man an, dass es einen Künstlerstand und richtiggehende Kunstschulen gab. Diese Vorlagen wurden wahrscheinlich auch unter den Stammeszauberern weitergegeben. Es handelt sich dabei um gravierte Kiesel, Plättchen oder Knochen, auf denen zum Teil sogar Korrekturen der Linien zu sehen sind.

Andere vielfach übereinander gelagerte und einander überschneidende Zeichnungen lassen darauf schliessen, dass über ältere Gravierungen Farbe gestrichen wurde und dann wieder neue Entwürfe eingeritzt wurden: Auf den mit Farbe eingeriebenen kleinen Platten wurden dann jeweils nur die Linien des einen Tieres nachgezogen, das gerade interessierte.

 

 

1.2 Mythos, Handwerk und Mechanismus

 

Seit Beginn der Hochkulturen kennen wir die Mythen: als eine zweite Art des Modelldenkens. Ernst Topitsch (1958) spricht von "Denkformen" oder "Modellvorstellungen" und unterscheidet biomorphe samt therio- und anthropomorphen von intentionalen, nämlich technomorphen und soziomorphen Modellen als Deutungen für die Welt (z. B. 1972, S. 10f., 16 ff. et passim; vgl. auch F. Wagner 1970, S. 24ff.)

Später fügte er als weitere bedeutsame Art die ekstatisch-kathartischen Modelle hinzu und widmete ihnen eine ausführliche Betrachtung (E. Topitsch 1965). Sie kreisen um Magierekstatik und Reinigungsmysterien (von Welt und später Seele), vor allem unter dem Motiv von Abfall und Wiederaufstieg.

 

Betreffen diese Modelle hauptsächlich Entstehung und Aufbau des Kosmos als Ganzen, so gibt es auch Modelle für Ausschnitte davon, wie M. Jammer berichtet (1965, S. 167): "Im allgemeinen waren die ersten Modelle Konkretisierungen von Ideen oder Handlungen, die für die primitiven Religionen bedeutungsvoll waren oder die ihren Sinn aus traditionellen Mythen erhielten. Eines der bekanntesten Beispiele aus dem alten Ägypten ist das sogenannte Totenschiff, das mit den Toten begraben wurde, um ihren Seelen das Überqueren des Nils zu erleichtern. Es war nicht nur eine Miniaturimitation ..., sondern es war eine Konkretisierung eines Komplexes abstrakter Ideen mit einem ihm eigenen Mechanismus: es war eines der ersten mechanischen (oder besser, hydrodynamischen) Modelle eines nichtmechanischen Prozesses."

 

Eine ähnliche visuelle Darstellung ist der Sonnenwagen von Trundholm (ca. 1200 v. Chr.), ein Gefährt, auf dem eine goldbeschlagene und von einem Pferd gezogene Scheibe steht. In Ägypten überquert der Sonnengott Re auf einer Tages- und einer Nachtbarke das Himmelsmeer. Diese Vorstellung hat bis Anaximenes nachgewirkt (vgl. F. Krafft 1971, S. 133 f.).

 

Eine weitere bekannte Modellvorstellung ist die Formung des Menschen auf einer Töpferscheibe, z. B. durch den ägyptischen Widdergott Chnum, ein Motiv, das sich auch in der Bibel findet (vgl. z. B. Hiob 10, 8 f.). Profane Modelle von Häusern (u. a. als Urnen oder Grabtruhen), Schiffen und Wagen aus Ton oder Holz haben sich vom 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. bis heute erhalten.

 

Erste "durchkomponierte" Modelltheorien finden sich in Platons "Politeia" und im "Timaios". Den Aspekt der Proportion und der Gliederung des Alls in zum Teil konzentrische Sphären gab es indes schon seit den altgriechischen Philosophen (Anaximander, Anaximenes und Pythagoras). Bekanntlich ging noch Johannes Kepler in seinen Untersuchungen über das wahre Planetensystem von der Suche nach harmonischen Verhältnissen aus.[3].

 

Interessant ist, dass diese Himmelsmodelle schon bei den Alten bald in mechanische Vorstellungen übergingen (Aristoteles) und später zum Bau von Planetarien führten. Schon die Akademie in Athen scheint den systematischen Gebrauch solcher technischer Modelle für das Studium der Astronomie eingeführt zu haben (vgl. M. Jammer 1965, S.167). Archimedes soll ein Buch über die Herstellung von Himmelsgloben (peri sphairopoias) geschrieben haben, und sein Planetarium, das durch Marcellus von Syrakus nach Rom gebracht wurde, diente didaktischere Zwecken, wie das Cicero in seiner "re publica" (I, S. 21 f.) anschaulich beschreibt [4].

 

Daneben gab es zu dieser Zeit eine ganze Reihe von technischen Modellen, pneumatisch oder mit Wasser betriebene Apparate, wie die "Automatentheater" von Philon und Heron, Wasseruhren, Orgeln und Kriegsgeräte. Insbesondere letztere - aber auch etwa Pumpen und Hebevorrichtungen jener Zeit -zeigen einen wichtigen Aspekt technischer bzw. handwerklicher Modelle auf, nämlich Organentlastung, Funktionsersatz oder -verstärkung [5].

 

 

1.3 Vorbild und Urbild

 

Neben dieser Abbild- resp. Ersatz-Komponente (vgl. A. Gehlen 1957) findet sich auch die Vorbild-Komponente im Modelldenken recht früh. So etwa im Alten Testament, wo es nach der Zwingli-Bibel (1955; 1.Chr. 28, 11 f.) heisst:

 

"Und David gab seinem Sohne Salomo ein Modell der Halle und des Tempels ..., ferner ein Modell von alledem, was er sonst im Sinne hatte ..." (bei Luther: "das Muster von allem, was durch den Geist in ihm war").

Eine ähnliche Stelle in 2. Mos. 25, 9 zeigt noch deutlicher den handwerklichen Aspekt des alttestamentarischen Modellbegriffs, wenn der Herr zu Mose spricht: "Genau nach dem Urbild der Wohnung (für das Heiligtum, R. M.) und nach dem Urbild aller ihrer Geräte, das ich dir zeigen werde, so sollt ihr es machen" (Luther verwendet hier den Ausdruck "Muster") [6].

 

Im Zusammenhang einer sorgfältigen historischen Darstellung der Entwicklung des Systembegriffs weist Alois von der Stein (1968, S. 6) darauf hin, dass zur Kennzeichnung einer "systematischen Zusammenstellung" neben Syntaxis und Syntagma der Begriff "hypotyposis" auftaucht, der uns für die Zusammenstellung der christlichen Lehre in heilsgeschichtlicher Absicht u. a. zweimal im Neuen Testament begegnet: "Halte fest am Vorbild der gesunden Worte, die du von mir (Paulus, R. M.) gehört hast" (2. Tim. 1, 13; "formam habe sanorum verborum").

An Paulus hat auch Christus seine ganze Langmut erweisen können, "um ein Vorbild aufzustellen für die, welche künftig an ihn glauben würden zum ewigen Leben" (1. Tim. 1, 16; ad de- oder informationem etc.). Aber auch andere Menschen können Vorbilder ("typon") allen Gläubigen, d.h. der Herde sein (Phil. 3, 17; 1. Thess. 1, 7; 2. Thess. 3, 9; 1. Pet. 5, 3, jeweils lat. "forma"; 1. Tim. 4, 12; Tit. 2, 7 jeweils "exemplum").

Schliesslich wird auch das Evangelium als Arbeitsgebiet (Zwingli) bzw. Wirkungskreis (Luther) als "kanon" [7] (2. Kor. 10, 13 ff; Gal. 6, 16; lat. "regula") gefasst, dessen Mass ("metron", "mensura" 2. Kor. 10, 13 ff; vgl. Röm. 12, 3; Eph. 4, 7) Gott jedem zugeteilt hat, wie er will (1. Kor. 12, 11).

 

Dass schon die olympischen Götter in ihren klaren typischen Gestalten dem Menschen Modelle gaben, um sich selbst daran zu erkennen, erwähnt Bruno Snell (1975, S. 189).

Noch Platon war Gott das rechte Mass aller Dinge (Legg. 716 C; vgl. Rep. 497 C). Deshalb hat auch, "wer in Wahrheit seinen Verstand auf das wahrhaft Wesenhafte der Dinge richtet, gar keine Zeit, hinab auf das Treiben der Weltkinder zu blicken ...: sondern nur Zeit dafür, seinen Blick und seine Betrachtung auf eine Welt zu richten, worin eine ewige Ordnung und Unwandelbarkeit herrscht, worin die Wesen weder Unrecht tun noch von einander leiden, und worin alles nach einer himmlischen Ordnung und Vernunftmässigkeit geht, sowie dann diese Welt nachzuahmen und soviel als möglich davon in seinem Leben ein Abbild darzustellen" (Rep. 500 B-D; vgl. B. Snell 1975, S. 233, 240ff).

Analog dazu muss ein Handwerker, der etwa einen Tisch herstellen will, "wissen, was ein richtiger, guter Tisch ist, und im Hinblick auf diesen macht er seinen Tisch" (B. Snell 1975, S. 201; vgl. Gorgias 503 ff.). Gleich arbeitet der Demiurg (Timaios 28ff.).

 

Wie die griechischen und römischen Künstler Figuren aus Wachs und Ton als "Modelle", d.h. hier Übungsobjekte und Vorbilder für Skulpturen verwendeten, berichten zur selben Zeit die "Encyclopédie" (1765 unter "modele") und Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Altertums (Wien, 1776, 4, S. 508 ff.). Daraus erhellt nach J. G. Krünitz (1803, S. 576), dass sie sich vorzüglich der Hände und Fingernägel beim Formen und Bilden der Gestalten bedienten. Die Redensart des Horaz "ad unguem factus homo" bezeichnet demnach einen sehr vollkommenen Menschen, "weil die Bildhauer ihren Modellen mit den Nägeln die letzte feinere Ausbildung gaben".

Unter erstmaliger übertragener Verwendung vorn modulus berichtet 200 n. Chr. Tertullian (nat. 1, 12, 9) über die Methode der Herstellung von plastischen Figuren: "circino (i. e. mit dem Zirkel, R. M.) et plumbeis modulis praeparatio simulacri in marmor ... transmigratur".

 

Dass vor der Errichtung öffentlicher Bauwerke bereits in der Antike sowohl Gesamt- wie Detailmodelle (paradeigma; exemplar, typos) angefertigt wurden, weisen sachkundig J. v. Schlosser (1891, S. 36 ff. u. 62 ff.) und daran anknüpfend O. Benndorf (1902) sowie L. H. Heydenreich (1937) nach.

Im Unterschied zu heute wurden die Wettbewerbsaufgaben nicht anonym eingereicht, was u. a. aus einer Plutarchstelle hervorgeht: "Wenn Gemeinden für Tempelgebäude oder Kolossalskulpturen eine Bestellung ausschreiben, so hören sie sich die Vorträge der konkurrierenden Künstler über die beigebrachten Voranschläge und Modelle an; dann wählen sie denjenigen, der die nämliche Leistung billiger, besser und rascher ausführt" (H. Straub 1964, S. 57, zitiert Friedländer: "Anschläge und Risse") [8].

Im Abschnitt "Geschichte der christlich-antiken Baukunst" hat J. v. Schlosser schon 1891 (S. 28-78) über die Verwendung von Modellen berichtet, wobei er als Charakteristikum erwähnt, dass ein Modell "nicht unmittelbar praktischen Zwecken dient, sondern wieder ein Schema, ein Simile, ,ad instar antiquorum operum', zur Verdeutlichung der Lehren Vitruv's vorstellt" (S. 32, vgl. 36). Das Material für solche Modelle war meist Wachs.

 

 

1.4 Buchillustration und Bilderbuch

 

Abgesehen von Gesten, Signalen und Lauten können Skizzen, Ornamente und Zeichen, Figuren und Idole, Gewebe und Schmuck sowie dreidimensionale Modelle und Musterexemplare von Gerätschaften, insbesondere Töpfen, durchaus als frühe Mitteilungsmittel und Ideenspeicher angesehen werden.

Doch wurde das Gedächtnis der Menschheit erst durch die Schrift gefestigt. Dabei ergab sich folgender Werdegang: Alle Schriften wurzeln in Bilderschriften, aus denen im Laufe der Jahrhunderte Wort- und Lautzeichen und schliesslich das "Alpha-bet" entstanden. In einer Gegenbewegung dazu begann man, die Texte zu illustrieren. Frühe Beispiele sind das ägyptische Totenbuch, das seit der 26. Dynastie (7. Jh. v. Chr.) in Kapitel eingeteilt und mit Vignetten versehen wurde.

 

Dank des regen kulturellen Austauschs mit dem ägyptischen Kulturkreis seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. (z. B. Thales, Hekataios, Pythagoras) fassten sowohl Buchbild wie Bilderbuch auch im alten Griechenland Fuss. Einerseits waren Illustrationen für Lehrbücher unentbehrlich: Astronomische und geometrische Lehrbilder gab es vermutlich seit dem 6., medizinische seit dem 4. Jahrhundert v. Chr.

Nach Kurt Weitzmann (1959) wurden auch mythologische Handbücher, Homerische Epen, die Tragödien des Euripides und bukolische Poesie mit Bildern versehen. Weitzmann selbst hat Rekonstruktionen von Rollen der "Iphigenie" für das 3. und der "Ilias" für das 1. Jahrhundert v. Chr. versucht (1959, S. 66 u. 36). Szenen- und Schauspielerbilder gab es etwa zu den Komödien von Terenz (ca. 160 v. Chr.); Portraits von Autoren lieferte Varro (1. Jh. v. Chr.).

 

Auf der andern Seite erstellte man Bilderbücher auf Papyrusrollen, "fortlaufende zyklische Bildfolgen, vielleicht von kurzen erklärenden Texten begleitet, z. T. als Vorlagen für Handwerker aller Art gedacht" (H. Hunger im "dtv-Lexikon der Antike", 1969-70, S.269). Das waren richtiggehende Musterbücher. Bildfolgen anderer Art finden sich später auf der Trajans- und Mark-Aurel-Säule auf dem Forum Romanum (2. Jh. n. Chr.).

Mit dem Aufkommen des Codex nach der Zeitwende entfaltete sich eine reichhaltige Illustration von Bibel- und anderen christlichen Texten bis zu "filmstreifenartigen Darstellungen" (H. Hunger, a. a. O., S. 268; Cottonbibel, 5. Jh. n. Chr., Wiener Genesis 6. Jh. n. Chr.). Weitzmann führt sie in seiner sorgfältigen und reichhaltig bebilderten Übersicht (1959, S. 133 ff.; vgl. 31 ff.) prinzipiell auf die illustrierten Texte des klassischen Altertums zurück, ebenso in direkter Linie die Pflanzen- und Tierbilder (z. B. die Apuleius-Herbarien seit dem 4. Jh. n. Chr., der Dioskurides-Codex von 512; später der "Physiologus"), die Homer- und Vergil-Illustrationen, Jagdszenen und mythologischen Bilder, Tierkreis- und Sternbilder, astronomische Personifikationen und geographische Karten. Der ganze Reichtum der Bilderwelt entfaltete sich fortan unter den Stichworten "Miniatur", "Illumination" und "Initialen" [9].

 

 

2.         Zur Geschichte des Modellbegriffs

 

2.1 Mass, Form, Muster, insbesondere Hohlform und figürliche Vorlage

 

Im Unterschied zu "System", das schon bei den Alten Griechen, und zwar als ein "Gebilde, das aus mehreren Teilen zusammengesetzt und meist irgendwie ein ,Ganzes` ist", vorkommt - wiewohl nicht als durchreflektierter Terminus (vgl. A. von der Stein 1968) -, ist "Modell" ein Lehnwort aus dem Lateinischen, doch, wie Herbert Stachowiak ausführt (1973, S. 129), verfügt es über eine indogermanische Wurzel (*meH;), die im Griechischen als metron (Mass) und medo, medomai (ich denke an etwas, erwäge, sorge für etwas) auftaucht (vgl. zur Wurzel ma/me z. B. J. Gebser 1973, S. 127ff. u. 188ff.).

 

Nachweise im "Thesaurus Linguae Latinae" (ca. 1970) und spärlicher im "Totius Latinitatis Lexicon" (Ägidius Forcellini, III, 1805, S. 98-100) sowie schon im "Thesaurus Eruditionis Scholasticae" (Basilius Faber, Leipzig 1572, S. 512 f.) zeigen bei den alten Römern einen regen Gebrauch sowohl von modus wie modulus und verwandter Wörter - z. B. moderor, modificor, modulatio, nicht aber modellus - im Bereich "Art" "Weise", "Form" resp. "Mass", "Grösse", "Menge", und zwar sowohl im allgemeinen Sinne wie im speziellen vorab für Reden, Stimmen und Töne.

Horaz (40 v. Chr.) verwendete modulus allgemein, Vitruv führte es kurz darauf in seinem "Buch über die Baukunst" (neu gedruckt 1490) mehrfach (vgl. M. Jammer 1965, S. 167) als architektonisches Grundmass ein und wies auf die griechische Entsprechung "embates" hin [10].

 

[Zur genauen Geschichte der Begriffe Modell, Model, Modul, Modulation, usw. siehe: Modellgeschichte ist Kulturgeschichte und Abb. 1.]

 

Bemerkenswerterweise ist rnodulus zweimal ins Deutsche aufgenommen worden. Zuerst als das frühhochdeutsche Lehnwort "Model" [aber auch als „Modul“]. In Grimms "Deutschem Wörterbuch" (1885) wird vermutet, die geistlichen Baumeister hätten das Wort von den namentlich unter Karl dem Grossen ins Land gezogenen römischen und südfranzösischen Werkleuten gelernt, denen Modulus "ein Mass für die Anlegung der Säulen und des Verhältnisses der einzelnen Teile derselben zueinander war".

In diesem strengen Sinne haben sich Modul (vgl. z. B. Chr. Wolff 1716 u. 1734; J. Hübner 1717 u. 1741, J. H. Zedler 1739, J. K. G. Jacobsson 1783; J. G. Krünitz 1803; G. S. Klügel 1808; W. T. Krug 1827-29) wie Model (J. G. Krünitz 1803; I. Jeitteles 1839; J. u. W. Grimm 1885) auch in der Neuzeit gehalten.

Eng verwandt damit sind die Moduln in der Physik als Proportionalitätsfaktoren bei Verformungseigenschaften (Elastizität; Hooke, Young), in der Technik (bei Zahnrädern) und in der Mathematik (Logarithmen - seit Cotes' ( 1716) "Harmonia mensurarum" (vgl. G. S. Klügel 1808) - Kongruenzen, Vektorräume, Abelsche Gruppen, Ringe).

Auch Le Corbusiers "Modulor" gehört hierher.

Als standardisierte Bauteile finden wir schliesslich Module in der Technik, u. a. in der Elektronik.

 

Seit dem 10. Jahrhundert ist Model auch in freierem Gebrauch üblich: wiederum allgemein als Muster, Form, Vorbild, spezifisch als gewerbliche Musterform eines Dinges, das in vielen Fällen obrigkeitlich hinterlegt ist. Dabei kann es sich um eine Hohlform handeln (z. B. Guss-, Druck-, Backmodel, lat. oft forma, proplastice, proplasma) oder um figürliche Vorlagen für Gewebe, Stickereien und Spitzen [11] (vgl. A. Lotz 1933; auch J. L. Frisch 1741; J. G. Krünitz 1803; J. u. W. Grimm 1885) oder um Schnittmuster.

Der Schuster macht Pantoffeln, Schuhe und Stiefel "super Modulo", "über dem Leist" (vgl. J. A. Comenius 1658, S. 128f.).

 

 

2.2 Idealer oder plastischer Entwurf: Vorbild, Beispiel, Nachbildung

 

(Auszüge aus diesem Kapitel sowie aus den Kap. 2.3 und 2.6 wurden nachgedruckt im Sammelband: Innovation gewinnt. Kulturgeschichte und Erfolgsrezepte. Zürich: Orell Füssli 1997, im Kap. 11: „Innovatives Lernen am Modell“, 131-135)

 

Die Renaissance brachte die Entdeckung von Person, Perspektive und Plastik: Der Mensch erobert seine Selbständigkeit - zuweilen mündet sie in Selbstüberheblichkeit aus -, er erkennt und stellt sich dar als nackt, und er tritt als freie Figur aus Säule, Relief oder Nische ins Helle, in den Raum, in die Welt; er setzt sich in Bewegung und studiert Bewegungen. Vorbild für den Künstler ist nicht mehr eine Platonische Idee, sondern das "modello". Das ist einmal der Mensch - "Mensch" geht ja, wie auch "Materie" und "Masse", nach J. Gebser (1973, S. 129f.) auf dieselbe Wurzel zurück wie "Modell".

Dass dabei immer noch ein Vollkommenheitsideal virulent ist, erhellt etwa aus der Klage von Raffael: "Um eine Schöne zu malen, müsste ich deren mehrere vor Augen haben. Da es mir an Modellen fehlt, male ich aus dem Gedächtnis nach einer Idee, die ich im Kopfe habe."

 

Modelli sind aber auch die künstlerischen Nachbildungen des Menschen aus Ton oder Wachs, die ihrerseits als Vorbilder für die endgültige Skulptur aus Holz, Terrakotta, Marmor oder Bronze dienen, sowie die verschiedenen technisch notwendigen Formen für den Metallguss selber.

 

Ferner wurden kleinmassstäbliche architektonische Entwürfe spätestens seit der Verbreitung der Vitruvschen Lehren durch Leonbattista Alberti (L. Olschki 1918, I, S.83-88) als "moduli" bezeichnet [12], woraus dann z. B. 1550 in der Übersetzung ins Florentinische "modegli" und "modelli" wurden.

Brunelleschi, der Begründer der perspektivischen Zeichnung (J. Gebser 1973, S. 47; vgl. L. Olschki 1918, I., S. 33, 39-44) erhielt den Bauauftrag für die Kuppel des Domes zu Florenz erst, nachdem er 1418 den beratenden Ausschuss mit "neuen Argumenten und einem genauen Modell" (L. Sprague de Camp 1964, S.450) zu überzeugen vermocht hatte (vgl. auch J. Burckhardt 1868, S. 84; J. v. Schlosser 1891, S. 41).

Erhalten sind von Michelangelo Holzmodelle für die Fassade von S. Lorenzo (1516f.) und die Peterskuppel (1558-61: un modello grande di legniame), und Aufsehen erregten die langwierigen Entwurfsarbeiten für das Grabmal von Papst Julius II und die Mediceische Grabkapelle [13].

 

Daneben soll modello nach J. G. Krünitz (1803, S. 524) auch für "vertiefte Form" gebraucht worden sein, und von daher hat das deutsche Wort "Modell" laut dem hierfür wenig ergiebigen und unzuverlässigen Grimm (1885, Sp. 2440) "schon im 16. Jahrhundert unter oberdeutschen Goldschmieden ... bestanden, die von Italien her vielfach Musterformen in Blei und Gips für ihre Arbeiten bezogen".

 

Selbstverständlich wurde modello stets auch in übertragener und damit allgemeiner Bedeutung als Vorbild, Massstab, Muster verwendet.

 

Über Entwicklung und Vielfalt der verschiedenen Abkömmlinge von modulus geben für das Italienische z. B. Tommaseo, 1929, für das Französische Godefroy, 1888, Littré, 1957, Robert, 1959, und von Wartburg, 1966, für das Englische der "Oxford English Dictionary", 1933, detaillierte Nachweise.

Der Fluss im Sprachgebrauch zeigt sich sehr schön im Englischen, wo für Modelle von Bauwerken, Maschinen und Landschaften seit Mitte des 16. Jahrhunderts model und modell (selten moddel), aber auch module verwendet wurde; umgekehrt wurde Vitruvs modulus mit module und modulus wie model übersetzt.

 

Systematisiert wurde in dieser fruchtbaren Zeit der heuristische Ansatz der Modellverwendung durch den Geistlichen Simon Sturtevant im ebenso modern anmutenden wie detaillierten und anschaulichen Kapitel "Heuretica" seiner Patentschrift "Metallica" von 1612 (vgl. J. D. Bernal 1970, S.390f.).

Heuretica definiert er als "the Art of inuentions, teaching how to find new, and to iudge of the old". Diese Lehre von den Erfindungen zerfällt in einen realen und in einen technischen Teil. Ersterer betrifft "the instruments and reall things which belong to the inuentions", letzterer die Fertigkeiten, "the dexterous habit and faculty", der Handwerker.

Bei der Unterscheidung von Erfindungen selbst ergibt sich in Bezug auf die Grösse (,,magnitude ... greatnesse or quantity") eine Dreiteilung in Modell, Protoplast und Grosse Mechanik. Das "moddle" ist eine "Mechanick", welche auf einer kleinen Unterlage die Teile und Umrisse einer Erfindung repräsentiert und zeigt, ohne dass diese auch nutzbringend funktioniert. So kann also vom Modell einer Windmühle nicht erwartet werden, dass es auch Korn mahlt.

Ein solches Modell kann kleiner, aber auch - im Falle von Details - grösser sein als das dargestellte Ding. Es kann gezeichnet oder gemalt sein (und ist dann "superficiall"), oder aber es kann "reall" sein, wie etwa ein Schiffsmodell.

Die realen Modelle sind verbesserungsfähig und leiten den Handwerker und seine Hilfskräfte an, wie er das endgültige Gebilde (die "grand Mechanick") auszuführen hat. Eine Vorstufe dazu ist der "Protoplast" - in heutiger Sprache der Prototyp -, der alle Funktionen des endgültigen Geräts bereits erfüllt und nutzbar arbeitet, durch weitere Modifikationen aber noch verfeinert oder auf spezifische Umstände umgerüstet werden kann. Der allererste Protoplast einer Gruppe von Geräten oder Apparaten ist der "Archetype of the Protoplast", z. B. die erste Windmühle, mit der überhaupt Korn gemahlen werden konnte.

In einem besonderen Kapitel gibt Sturtevant dann noch "Cannons or Rules seruing to iudge of the goodnesse" einer Erfindung oder Verbesserung an, wobei er eine differenzierte Äquivalenztheorie entwickelt mit den Kriterien Equi-sufficiencie, Equi-cheapness, Equi-excellency.

 

Wiewohl der Barock in Gegenwendung zur eher körper- und bilderfeindlichen Reformation der Körperlichkeit erneut Raum schuf und ihr durch geballte Masse, ausladende Figur und ausgreifenden Entwurf dreidimensionale Form gab, setzte sich auch die abstrakte Bedeutung des Modellbegriffs weiter fort.

Sie findet Ausdruck im Vorwort des Herausgebers William Rawley zu Francis Bacons "New Atlantis" (1635): "This Fable my Lord devised, to the end that Hee might exhibite therein a Modell or Description of a College ..." In der drei Jahre später erschienenen lateinischen Fassung heisst es: "modulum quendam et descriptionem".

Wenig Beachtung fand dagegen Descartes sinnigerweise gleichzeitige eigenhändige Mahnung in seinem "Discours de la méthode" (1637, 2.3a): "Zeige ich Ihnen hier also das Modell (modèle, R. M.) meines Unternehmens, weil es mir ziemlich gut gefallen hat, so bedeutet dies nicht, ich wolle irgend jemandem raten, es nachzuahmen." Als Descartes 13 Jahre später in Schweden starb, verfasste der ihn wie einen Vater verehrende 20jährige Christiaan Huygens ein Klagegedicht, in dem es unter anderem heisst: "apres avoir produit le modele du monde, s'informe desormais du mystere des cieux" (R. Specht 1966, S. 31).

Weshalb ging es weit über 200 Jahre, bis diese beiden Werklein - 1890 resp. 1863, 1870, 1898 usw. - wie auch etwa die frischen Programme von Galilei - 1892 - und Comenius - 1870, 1875, 1876, 1892 - ins Deutsche übersetzt wurden?

 

Mars und die Musen gehen mitunter Hand in Hand. Nicht von ungefähr befassten sich die grossen Künstler, Mechaniker und Geometer Leonardo, Michelangelo und Dürer, aber auch Galilei, Stevin, Guericke und Desargues unter anderem mit Festungsbau (vgl. L. Olschki 1918, I, S. 35-44, 120-137, 210, 240 f., 428 ff.; III, S. 71-87, 152-157, 206 f., 223 f.).

Daher findet sich auch ein früher Nachweis des deutschen Modellbegriffs in Daniel Speckles vielfach aufgelegter "Architectura von Vestungen" (Strassburg: Jobin, 1589, S. 6), wobei der Autor zugleich Begründung und Beschreibung des Modellbaus gibt: "Weil aber etwann Potentaten und andere Herren sich nicht allwege auss den grundrissen noch auffgerissenen Perspectiven berichten können, So will im Bawen ein hohe notturfft sein, dass man solches von Holtzwerck auffrichte, da dann alle grösse, höhe, breite, dicke, böschungen an Bolwercken, Wähl, Mauren, Streiche, Brustwehren, Gräben, Läuffen und alles nach dem junge Massstab auffzogen und für augen gestelt werden kan, wie es gebawen werden soll, darnach man sich zurichten."

 

Gleichermassen erläutert Leibniz 1669 in seiner "Ars inveniendi" die Vorzüge der Verfertigung von Modellen: "is qui volet exstruere fortificationem utiliter conficiet Modulum omnes loci elevationes et incommoda repraesentantem, idem hoc modo facilè poterit variis modis eum redigere in perspectivam"' (G. W. Leibniz 1903, S. 163, übers.: "wer eine Festung errichten will, verfertigt mit Vorteil zuerst ein Modell, das alle Erhebungen und Unregelmässigkeiten des Geländes genau zeigt; so kann man das auszuführende Werk leicht in die richtige Stellung bringen").

 

Ohne den Begriff modulus zu verwenden, beschreibt schliesslich Comenius in seiner 1633-38 entstandenen "Grossen Didaktik" (1957, S. 140) worum es geht im XVI. Kapitel unter dem Grundsatz VI: "Der Baumeister ... fasst erst ein allgemeines Bild von dem ganzen Gebäude in Gedanken auf (mente ideam concipit, R. M.) oder zeichnet eine Skizze davon auf Papier (in charta sciagraphiam delineat) oder fertigt auch wohl ein hölzernes Modell an (ligneum exemplar conficit), und demgemäss (secundum hoc) legt er den Grund, führt dann die Wände auf und sichert es endlich mit dem Dach darüber" (ähnl. schon in der vorher entstandenen "böhmischen" Didaktik mit dem Hinweis auf mögliche Verbesserungen am Modell, vgl. J. A. Comenius 1970, S. 107, ähnl. 116).

Hier zeigt sich deutlich, dass auch beim dreidimensionalen Architektur-Modell die Betonung nicht auf Abbild - nämlich des allgemeinen Bildes (imago) in Gedanken - liegt, sondern stets auf dem verbesserungsfähigen Vorbildcharakter.

 

Daher heisst es auch in einer der frühesten deutschsprachigen Lexikon-Definitionen bei J. Hübner (1717, Sp. 1078): "Modele (in der Auflage von 1741 eingeschoben: ,Modell, Exemplar`, R. M.), eine cörperliche Abbildung eines Dinges ins kleine, oder nach dem verjüngten Maas-Stabe, sonderlich die Abbildung einer Vestung in Holtz, Gips, Thon, oder auf der Erde selbst. Die Mahler und Bildhauer nennen alles, was sie nachzumachen sich vorsetzen, ein Modell, und also nennet man auf der Mahler- und Bildhauer-Academie denjenigen ein Modell, welcher sich gantz nackend vor die Schüler darstellet oder hinleget, damit man nach ihm zeichnen möge.

lnsgemein werden Modelle genannt, die von Holtz, Gips, Wachs, oder Thon gemachten kleinen Figuren von Bildern, Häusern, Palatiis oder Machinen, nach welcher hernach das grosse soll verfertiget werden, daher an vielen Höfen, sonderlich wo grosse Schlösser erbauet werden, die so genannten Modell-Tischer und Wachs-posirer seyn, welche vorher ein cörperliches Modell nach dem auf dem Papier vorgezeichneten Aufriss, nach dem verjüngten Maass-Stabe verfertigen müssen, damit sich der Bau-Herr eine so viel bessere ideam von dem aufzurichtenden Gebäu vorstellen, und so lange es noch ins kleine ist, die Fehler so viel besser daran können corrigiret werden. Ein Modell heist man auch, die in den Parterren oder Lust-Gärten angebrachten zierlichen Blumen-Betten-Figuren (1741: Beeten, R. M.), bestehende entweder in schönen, und auf das Wappen alludirenden Figuren, oder künstlich geschlungenen Zügen und Gängen."

 

 

2.3 Anschauungsunterricht als Ideal

 

In einer späteren Auflage von Chr. Wolffs "Mathematischem Lexikon" (1734, Sp. 852) heisst Modell "ein nach verjüngtem Maass-Stab verfertigter und einem grössern Cörper ähnlich gemachter kleiner Cörper. Es hat diese Sache vielerley Nutzen, sonderlich aber dienet ein Modell, den Begriff einer Grösse deutlicher zu machen,. die Imagination zu stärcken, Licht und Schatten an denen Cörpern zu lernen, die Profile und Durchschnitte ohne die geringsten Anstösse zu machen, nicht weniger eine Fertigkeit im Zeichnen, sonderlich in denen perspectivischen Stellungen sich zuwege zu bringen" (fast identisch auch bei J. K. G. Jacobsson 1783, S. 79).

 

Anweisung zum Modellieren gab man z. B. im Mathematikunterricht an den fünf Platonischen Körpern. Und J. H. Zedler (1739, Sp. 714f.), der Wolff ausgiebig zitiert, fährt fort: "Man lässet alsdenn die Anfänger sich auch in Verfertigung anderer Körper üben, als in Kegeln, Pyramiden, Prismatibus, Kugeln, Cylindern, und so fort. Besonders werden die, welche sich auf Professionen und Handwercke legen, einen grossen Nutzen spüren, wenn sie zuvor in der Stereometrie nach den Geometrischen Handgriffen richtige Modelle machen lernen, indem alle Künste nichts anders als Nachahmungen der Natur sind, welche der Grösse nach in der Geometrie auf das genaueste untersuchet wird."

 

Nach der Bücher-, Wort- und Kunstgelehrsamkeit der Renaissance galt der muttersprachliche Sach- und Anschauungsunterricht [14] - Lernen durch Nachahmung und Übung am Modell, die Verwendung von Originalen, Mustern und bildhaften Darstellungen mit Erläuterungen, das Bemühen um stufenweisen Aufbau und Methodik sowie die Förderung des Verständnisses durch Einsicht statt blossem Auswendiglernen - als Erziehungsideal des Barocks.

Das wird schon in Campanellas "Sonnenstaat" (1623; erste Fassung 1602) deutlich, wo er sein Reformprogramm an den sieben Mauerringen der Stadt erläutert: "Der ,Weisheit` hat die Mauern der ganzen Stadt von innen und aussen, unten und oben mit herrlichen Gemälden schmücken und auf ihnen so alle Wissenschaften in fabelhafter Anordnung wiedergeben lassen.

 ... Sie haben Lehrer, die all diese Bilder erklären, und die Kinder pflegen noch vor dem zehnten Lebensjahre ohne grosse Mühe, gleichsam spielend und dennoch auf historische Weise (also ,durch Anschauung`; Voigt) alle Wissenschaften zu lernen" (T. Campanella 1960, S. 120 u. 122).

Doch nicht nur um Bilder geht es: "Auf der Innenseite der Mauer des zweiten Ringes ... erblickt man alle Arten von edlen und gewöhnlichen Steinen, Mineralien und Metallen gemalt, ebenso wirkliche Bruchstücke davon als Proben (atque verorum quoque frustula, R. M.), jedesmal mit einer Erklärung (declaratione) in zwei Versen." Auf der Aussenseite "stehen in Mauernischen Gefässe mit teilweise 100 bis 300 Jahre alten Flüssigkeiten zur Heilung der verschiedenen Krankheiten". Ausserdem sind "Hagel, Schnee, Donnerschläge, und was sonst alles in der Luft vor sich geht, in Bildern (figuris) und Versen (versiculis) dargestellt. Sie (die Bewohner) kennen sogar die Kunst, innerhalb eines geschlossenen Raumes alle meteorologischen Erscheinungen wie Wind, Regen, Donner, Regenbogen usw. hervorzubringen".

An der Innenseite des dritten Ringes stehen neben Abbildungen lebende Bäume und Kräuter in Töpfen auf den Bogen der äusseren Mauer, und bei der Aussenseite geriet Campanella in Erstaunen, als er "Fische sah, die einen Bischof, eine Kette, einen Panzer, einen Schlüssel, einen Stern, ein männliches Glied und die Abbilder (simulacra) dieser bei uns vorkommenden Dinge im allgemeinen bedeuten" (T. Campanella 1960, S. 121).

Eine weitere Art von Anschauung lässt uns auf älteste magische Praktiken des Homo sapiens rückblicken: "Im Schlafgemach stehen schöne Bildwerke berühmter Männer, die die Frauen anschauen. Darauf richten sie die Blicke durch das Fenster zum Himmel und bitten Gott, er möge ihnen einen tüchtigen Nachkommen schenken" (T. Campanella 1960, S. 131).

 

Francis Bacon berichtet wenig später in seinem "New Atlantis" (1624 geschrieben) im Rahmen der Obersicht über Forschungsstätten und Hilfsmittel von den Werkstätten für mechanische Künste (mechanical arts), wo, "wenn es sich um eine eigene Erfindung handelt, jeweils Musterstücke davon, also die am sorgfältigsten gearbeiteten Ersterzeugnisse", zurückbehalten werden (engl.: we have of them also for Patternes and Principalls; lat.: Exemplaria, tamquam primigenia, et optime elaborata).

Ferner ahmen die Atlantier "die Bewegungen der Lebewesen in Nachbildungen nach (engl.: by Images; lat.: in simulachris, R. M.). wie etwa in künstlichen Menschen, Vierfüsslern, Vögeln, Fischen und Schlangen" (F. Bacon 1960, S. 210 u. 212).

 

Bei Comenius, dem grossen Theoretiker und Praktiker der Anschaulichkeit, findet sich im zentralen XX. Kapitel der "Grossen Didaktik" über die "Methode für die Wissenschaften" die wichtige didaktische Regel, der Mensch müsse alles durch eigene Anschauung und sinnlichen Nachweis lehren (per autopsiam et sensualem demonstrationem doceamus omnia).

Bemerkenswert dabei ist, dass man zu Lernzwecken von allen, nicht nur den real fassbaren Dingen Modelle - im Sinne von Stellvertretern (exemplaria), Abbildern (imagines) - als Anschauungsmittel (autoptica instrumenta) herstellen kann: "Wenn einer daran zweifelt, dass man auf diese Weise den Sinnen alles vorführen könne, auch Geistiges und Abwesendes (was sich im Himmel oder in der Hölle oder an Orten jenseits des Meeres befindet und ereignet), der möge bedenken, dass von Gott alles zur Harmonie geschaffen ist, so dass das Obere durch das Untere, das Abwesende durch das Gegenwärtige, das Unsichtbare durch das Sichtbare durchaus dargestellt (repraesentari, R. M.) werden kann" (J. A. Comenius 1957, S. 197).

 

 

2.4 Handwerkliche und technische Ausbildung im Banne von Wissenschaft und Wirtschaft

 

(Dieses Kapitel wurde in leicht veränderter Form nachgedruckt im Sammelband: Innovation gewinnt. Kulturgeschichte und Erfolgsrezepte. Zürich: Orell Füssli 1997, als Kap. 8: „Fördern Schulen den Erfindungsgeist?“, 86-92)

 

Vorbereitet durch Johannes Scotus Eriugena (9. Jh.), Gerbert (10. Jh.) und Theophilus (1 I . Jh.) wurden im 12. Jahrhundert die "artes mecharticae" durch Hugo v. St. Victor den klassischen sieben freien Künsten gleichgestellt (A. Timm 1964, S. 1417).

Dennoch pflanzte sich die antike Abwertung der mannigfaltigen Fertigkeiten, Erkenntnisse und Erzeugnisse von Handwerk und Gewerbe als "banausoi technoi" (dazu C. Graf v. Klinckowstroem 1959, S. 52ff., 64; F. Wagner 1970, S. 20ff., 221 f.) und "artes vulgares et sordidae" zum Teil bis in unsere Tage hartnäckig fort - so finden sie etwa in den meisten philosophischen Wörterbüchern, im "Kleinen Pauly", 1964ff., und im "dtv-Lexikon der Antike" (1969-70) keine Erwähnung.

 

Dazu kann freilich beigetragen haben, dass in den weitgehend autonomen Baukorporationen (collegium fabrorum, auch Bauhütten-Bruderschaft) sowohl der Antike wie des Mittelalters bis zur Reformation die "Geheimnisse" - Geometrie, Statik, Architektonik, Materialkunde usw. - der für heilig gehaltenen (vgl. noch Chr. Wolff 1734, Sp. 854) "hohen Kunst" recht eifersüchtig gehütet wurden (vgl. auch L. Olschki 1918, I, S. 417ff.). Analoges gilt seit dem 11 ./ 12. Jahrhundert für die z. T. aus den Gilden vorab der Kaufleute (bezeugt seit dem 8. Jh.) hervorgegangenen Zünfte der Gewerbetreibenden und Innungen der Handwerker.

 

Der Gedanke des Modellbaus fand in solchen geschlossenen Berufsvereinigungen seinen ersten Nährboden. Im Bauwesen war er im Trecento so weit gediehen, dass beispielsweise jeder neue Baumeister für den Dom zu Florenz den Eid auf ein in der Nähe der Kirche aufgemauertes Modell, die "Chiesa piccola", ablegen musste (J. v. Schlosser 1891, S. 41).

Auf etwa 1235 datiert das legendäre Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt (1935 neu herausgegeben und erläutert von Hans R. Hahnloser, Wien).

Zusammen mit dem Musterbuch aus dem Kloster Rein (A. Timm 1964, S. 15) und den Portraitbüchern der Zwölfbruderstiftung des Nürnbergers Konrad Mendel (C. Graf v. Klinckowstroem 1959, S. 76f.) leitet es den rasch breiter werdenden Strom von Büchern mit liebevoll angefertigten Darstellungen: aus Technik und Wirtschaftsleben ein, wobei häufig weder die handwerkliche noch die kriegerische Komponente zu kurz kommt (z. B. "Bellifortis" von Konrad Kyeser, 1405).

Die Erfindung der Buchdruckerkunst sicherte ihnen bald weitere Verbreitung. Das erste Druckwerk über Ingenieurtechnik ist das 1472 in Verona erschienene Maschinen- und Waffenbuch von Robert Valturio "Elenchus et Index rerum militarium" (vgl. L. Olschki I, S. 131 f.). Die ganzseitigen Holzschnitte wurden dann in Augsburg zur Illustration von Flavius Vegetius Renatus' "De re militari" (um 390 entstanden) übernommen.

 

Neben der Verwendung von Gesamt- und Teilmodellen für Bauwerke und Skulpturen gab es bald auch solche für technische Hilfsmaschinen (Brunelleschi und sein Schüler Francesco di Giorgo) oder Apparate, wobei bei Leonardo da Vinci schwer auszumachen ist, was er nur skizziert und was er tatsächlich ausgeführt hat (A. Timm 1964, S. 22; J. D. Bernal 1970, S. 370ff.).

1586 verfertigte der Tessiner Baumeister Domenico Fontana, der nachmalige Vollender der Peterskuppel, ein Demonstrationsmodell, wie er den legendären Transport des Obelisken auf den Petersplatz zu bewerkstelligen gedachte (H. Straub 1964, S. 132; Bild bei C. Graf v. Klinckowstroem 1959, S. 36; vgl. 127).

 

Es ist als wahrscheinlich anzusehen, dass etwa zur selben Zeit der junge Galilei sich mit Maschinen und mechanischen Spielen beschäftigte. Die ältesten Biographen berichten davon. "Während Gherardini beständig auf Galileis technische Tätigkeit in Verbindung mit der Theorie der Mathematik hinweist, erzählt Viviani mit überzeugendem Reichtum an Einzelheiten, dass Galilei in den ersten Jahren seiner Kindheit sich an der Herstellung von Instrumenten und Maschinen vergnügte, die er selbst erfand oder den allgemein gebräuchlichen nachbildete" (L. Olschki 1927, III, S. 143). Daher bestellte Vater Galilei den an der Florentiner Kunstakademie wirkenden Lehrer für angewandte Mathematik, Ostilio Ricci, zum Mentor seines Sohnes. "Galilei lernte infolgedessen diese Wissenschaft nicht in ihren abstrakten und reinen Formen, sondern in ihren zweckdienlichen Anwendungen als die führende Disziplin der ,arti del disegno' kennen, welche alle Zweige der Kunst- und Ingenieurtechnik umfasste" (III, S. 142f.). Später hat er einmal geäussert, dass ihm gerade die Erfahrung der Maschinen- und Apparatebauer "oft den Kausalzusammenhang wunderbarer Erscheinungen eröffnete, die zuvor für unerklärbar und unglaublich gehalten wurden".

 

Jahrhundertelang waren es die Klöster - allen voran St. Gallen - gewesen, die neben den Berufsvereinigungen auch das handwerkliche Wissen bewahrt und in eigenen Werkstätten gefördert hatten (dazu etwa H. J. Störig 1954, S. 148 f.). Es war eingebettet in die weite Spanne zwischen christlicher Gelehrsamkeit und Ordensstrenge auf der einen, Landwirtschaft und Obstzucht, Gewerbe und Handel auf der andern Seite.

Mit dem Aufblühen der Städte änderte sich die Situation. In vielen Städten Italiens, Flanderns und der Hanse entstanden Schulen mit Laien als Lehrern und mancherorts auch eine eigentliche Handwerkskultur. Ein wichtiges Zentrum war Nürnberg, das auch für die Wissenschaft grosse Bedeutung erlangte, wofür die Namen Regiomontanus, Werner, Dürer und Pirckheimer stehen (vgl. L. Olschki I, S. 261, 419ff.). Regiomontanus selbst gehörte der Wiener Mathematiker- und Astronomenschule an, die wesentlich zur Erneuerung der mathematischen Wissenschaften beigetragen hatte (z. B. Peurbach).

 

Welche Verbreitung und damit welchen Einfluss die Schilderungen handwerklicher Verfahren durch den Benediktiner Theophilus Presbyter (11. Jh.) und Hugo von St. Victor (vgl. A. Timm 1964, S. 13 ff.) oder die Hinweise auf Haushaltsführung durch Konrad von Megenberg ("Öconomica", 1354) hatten, wäre noch abzuklären.

Ebenso die Wirkung des ersten Naturphilosophen, der in französischer Sprache schrieb, Nicole d'Oresme ( 1382; vgl. J. D. Bernal 1970, S. 324), verdanken wir ihm immerhin die graphische Darstellung durch geometrische Figuren (forma) als Veranschaulichung der "Funktion", die gebrochenen Exponenten, die Ausweitung der Impetustheorie und zahlreiche Sätze zur Mechanik samt einer Abhandlung über das Geld (z. B. H. J. Störig,1954, S. 157f.).

 

Da also mathematisches, insbesondere algebraisches und geometrisches Wissen samt den zugehörigen Fertigkeiten als Rüstzeug sowohl zur Ausübung eines Handwerks wie für die Bau- und Ingenieurtechnik, für den Aufschwung der Wirtschaft wie die Grundlegung der Naturwissenschaft zunehmend Gewicht erlangte, ist auch ein kurzer Blick auf dessen Geschichte angezeigt (vgl. dazu J. E. Hofmann 1951, S. 142ff.).

Schon im ausgehenden Altertum war die mathematische Ausbildung von der Kirche nur noch insoweit geduldet worden, als solche Ausbildung unumgänglich zur Feststellung des Osterdatums und zur Ausrichtung des Chors de Kirche nach Osten nötig war. Im Laufe der Zeit wurde im Rahmen eine anfänglich recht dürftigen Ausbildung in den einst stolzen artes liberales Zählen, Finger- und Kopfrechnen geübt (daher "trivial"). Die "Arithmetik" de Oberstufe bestand in Abacus-Rechnen und pythagoräischer Zahlenmystik, die "Geometrie" vor allem in Erd- und Naturkunde und die "Astronomie" in de Berechnung der kirchlichen Feiertage (computus).

 

Erst an den seit dem 13 und 14. Jahrhundert in rascher Folge - in Anlehnung an die früheren "Häuser der Weisheit" in Bagdad und Kairo - gegründeten und meist aus Rechts- und Medizinschulen herausgewachsenen Universitäten (H. J. Störig 1954, S. 152 ff., 165 f., 171 f.) wurden die Fächer des Trivium und Quadrivium ausgebaut und in der Artistenfakultät gelehrt. Diese musste von allen Studenten - in Ermangelung einer "Mittelschule" - durchlaufen werden, ehe sie sich der juristischen, medizinischen oder theologischen Fakultät zuwenden durften.

"Mathematik" umfasste nun als selbständiges Fach die Gebiete des ehemaligen Quadriviums. Ihr fiel im Quattrocento die Führung in der Wende vom Traditionalismus zum Rationalismus zu. Vorerst rein theoretisch, wurde sie unter dem Eindruck eines wiederaufgetauchten Archimedes-Codex (um 1450) praxisnaher (vgl. auch L. Olschki I, S. 209ff., 130ff., 58ff.).

 

Ein namhafter Anteil dieser Entwicklung fiel auch den zahlreichen italienischen Akademien zu. Sie hatten sich zwar noch nicht vom Buchstaben, aber von der Kirche losgelöst, legten damit den Grund für das, was wir heute Geisteswissenschaften nennen, und befruchteten Naturwissenschaften und Technik. Leonardo Olschki (1918-27) vermittelt einen Eindruck auch von den Gepflogenheiten und Stimmungen, die damals herrschten. Die Bezeichnung "Akademie" wurde als humanistische Reminiszenz für durchaus familiäre, zwanglose und freundschaftliche Zusammenkünfte von Gelehrten, Enthusiasten, Ästheten und Fürsten erstmals von den florentinischen Platonikern um die Mitte des 15, Jahrhunderts eingeführt, deren tragendes Fundament das Streitgespräch bildete.

 

Ein weiterer Schritt erfolgte um 1540 mit der Gründung einer neuen Florentiner Akademie durch Laien. Ihr Programm war, die Landessprache - statt das gelehrte Latein - zu pflegen und Wissenschaft und Bildung auch dem Volk zugänglich zu machen. Berühmt wurden die öffentlichen Vorträge des Polyhistors Benedetto Varchi (L. Olschki II, S. 171-194; vgl. 114ff., 161ff., 199ff.). Da sich dieses allgemeine Programm im Laufe der Zeit erfüllte bzw. erschöpfte, traten Spaltungen auf.

Die 1582 gegründete, Accademia della Crusca wurde als rein philologischer Verband das Vorbild aller europäischen Sprachakademien (II, S. 172).

 

Schon 1563 war die vom Biographen Vasari ins Leben gerufene Accademia del Disegno durch Cosimo I feierlich eröffnet worden (II, S. 187 f.). Sie strebte die Pflege der Mathematik als Grundlage der Zeichenkunst in den verschiedensten Anwendungen an (I, S. 430; vgl. 143). Wie umfassend ihr Auftrag aufgefasst wurde, ersieht man aus dem Lehrplan, welcher folgende Gebiete betraf: 1. Anatomie, 2. Mathematik, 3. Technik, d.h. Strassen-, Kanal- und Brückenbau, 4. Architektur und 5. Perspektive; Euklidische Geometrie wurde am Sonntag öffentlich gelehrt (II, S. 188).

Man kann diese "mirabile scuola", wie Cellini sie nannte, zu deren erstem Leiter noch der greise Michelangelo berufen wurde und die 1571 von Cosimo mit den Privilegien und dem Titel einer Universität ausgestattet wurde, durchaus unseren technischen Hochschulen mit ihren auf die praktische Verwertung wissenschaftlicher Hervorbringungen hinzielenden Aufgaben vergleichen.

Auch H. Straub (1964, S. 18) erwähnt sie als "eine Art polytechnischer Schule mit obligatorischem Mathematikunterricht" (nach L. Olschki III, S. 141; vgl. 293). Versehentlich verlegte sie F. Wagner (1970, S. 220) als "eine Laienhochschule für Praktiker mit einem Wissensprogramm, das den andern Hochschulen fehlte" nach Rom. Die gleichnamige Römer Akademie entstand aber - laut J. G. Krünitz, 1791 - erst unter Papst Benedikt XIV (1740-1758).

Mehr als Kuriosität erwähnt werden kann schliesslich in diesem Zusammenhang die 1560 vom vielseitigen Giambattista della Porta in Neapel eingerichtete Accademia secretorum naturae (L. Olschki II, S. 262-267).

 

Zu den Mitgliedern der Florentiner Kunstakademie zählten unter anderem Galileis Lehrer Ricci und Galilei selbst schon als Vierundzwanzigjähriger (III, S. 175-178; vgl. S. 278). Sein Lieblingsschüler und Biograph Vincenzo Viviani wirkte als Mathematiklehrer wiederum an derselben Stätte, aber auch an der 1651 (oder 1657) gegründeten kurzlebigen dritten Florentiner Akademie des Cimento (II, S. 194, 300).

 

Mit Galilei verbunden sind schliesslich auch die akademischen Bestrebungen in Venedig (II, S. 195-199, 298-300; IlI, S. 231) und die "Akademie der Luchse" (Lincei, 1603-1630) in Rom (III, S. 233ff., 283 ff., 293, 296ff., 331 f.; vgl. II, S. 177), die ihn mit hohen Ehren aufnahm und als einflussreichstes Mitglied anerkannte. (Ihr Name könnte eine Anspielung darauf sein, dass hier erstmals Versuche mit Fernrohren unternommen wurden.)

Galilei entwarf auch ein Lehrprogramm für eine 1607 gegründete Akademie in Padua, die sich der Erziehung von Militärpersonen widmen sollte (Accademia Delia; III, S. 154f.). 1611 leitete er selber Zusammenkünfte, die er nach altem Brauch Akademien nannte (III, S. 247 ff.).

 

In Frankreich war 1530 von Franz I. das College Royal, das heutige College de France, für den Unterricht in den Humaniora, den die Sorbonne - einst blosses Studenten- und Lehrerheim (college) - nicht duldete, gegründet worden (J. D. Bernal 1970, S. 357).

 

Das erste Institut in England, in dem die Wissenschaft gelehrt wurde, war das 1579 errichtete Gresham College. Hier wurden nicht mehr nur die Humaniora gepflegt: Von den sieben Professoren waren je einer für Geometrie und Astronomie berufen worden.

Die Royal Society sollte daselbst einmal ihre ersten Zusammenkünfte abhalten (S. 393 f.). Wie bei der Academie royale des Sciences gingen ihrer offiziellen Gründung Jahrzehnte an formlosen Vorbereitungen im Stile der ersten italienischen Akademien voraus. Es waren aber in beiden Fällen, wie F. Wagner (1970, S. 111) berichtet, Versammlungen von Laien und Aussenseitern, von unabhängigen, reichen und interessierten "Liebhabern", von "virtuosi". Sie waren zwar von den Dynastien privilegiert, jedoch nicht mehr von der Gunst eines Fürsten abhängige Höflinge (vgl. auch J. D. Bernal 1970, S. 421 ff.).

 

In der Hochstimmung der "Galileischen Wendung" mit der "Entdeckung "der Mechanik und der "Instauratio magna" zur Vermehrung und nutzbringenden Verwertung der "Ergebnisse" hatte Bacon eine Forscher-Technokratie skizziert und sein Antipode Descartes versucht, ein Technikum als Sonntagabendschule zu gründen (F. Wagner 1970, S. 76).

 

Doch erst Mitte des 17. Jahrhunderts war die Zeit reif zur organisierten Beförderung von Wissenschaft und instrumentaler Forschung durch die Königlichen Gesellschaften (vgl. F. Wagner 1970, S. 76ff., 81 ff., 110ff.; J. D. Bernal 1970, S. 421 ff.). In Deutschland erfüllten diese Sendung die Academia Naturae Curiosum (die nachmalige Leopoldina) und später die von Leibniz initiierte Preussische Akademie der Wissenschaften (1700). Ihrer gleichzeitig in Prag entstandenen Schwester folgten bald weitere Akademien und Naturforschende Gesellschaften in ganz Europa.

Als Leitbild dienten weitgehend die Statuten der Royal Society, welche deren Geschäft definierten als "die Mehrung des Wissens von natürlichen Dingen und von allen nutzbaren Künsten, Manufakturen, mechanischen Fertigkeiten durch Experimente - ohne Berücksichtigung von Fragen der Theologie, Metaphysik, Moral, Politik, Grammatik, Rhetorik und Logik".

 

Wenn auch im Schatten dieser gelehrten Bemühungen stehend, hat zur Beförderung von Technik und Bildung einerseits der" Vorstoss in den Erdboden" (Stichworte: Bergwerksschulen; Kraftübertragung, Pumpen, Metallurgie, Hochöfen), andererseits derjenige auf die hohe See (Entfaltung und Anwendung von Astronomie und Geographie im Dienste des Ruhmes und des Profits; J. D. Bernal 1970, S. 375ff.: vgl. 293-296, 357f.) namhaft beigetragen.

Seefahrtsschulen gehörten zu den ersten, die intelligenten Jugendlichen aller Schichten eine Ausbildung sowohl in Mathematik wie Handwerk boten. In ihrem Schosse entstanden neue Berufe für die Herstellung von Kompassen, Karten und Instrumenten.

 

Es ist aber vor allem das Verdienst der Merkantilisten und Kameralisten (z. B. V. L. v. Seckendorff, W. v. Schröder), sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts im Rahmen einer Etatisierung der Wirtschaftskräfte auch der Verbesserung der Volkserziehung gewidmet zu haben (A. Timm 1964, S. 27 u. 31 ff.). J. J. Becher strebte mit "Werkhäusern" und der Forderung nach "Kunstschulen" die Verbreitung technischer Kenntnisse an. Leibniz folgte 1692 mit dem Wunsch nach "Handwerkerschulen".

A. H. Franckes Idee einer Verbindung von Frömmigkeit und Nützlichkeit in der "Realschule" breitete sich nach 1700 über ganz Europa aus, und zwar als anschaulicher "praktischer Unterricht", der auf einer breiten Lehrmittelsammlung basiert.

Fortan achtete man darauf, dass sich darunter auch Instrumente, Maschinen und Modelle befanden (vgl. auch etwa J. G. Krünitz 1803, S. 549ff.). In Stockholm hatte Christopher Polhem bereits 1697 ein "Laboratorium mechanicum" als Versuchs-, Forschungs- und Ausbildungsanstalt eingerichtet und dafür zahlreiche Maschinenmodelle angefertigt gehabt, die "noch heute im Bergbaumuseum in Falun sowie im ,Technischen Museum` in Stockholm durch ihre Präzision Staunen erregen" (A. Timm 1964, S. 27).

Auch Christian Wolffs Förderung der allgemeinen Schulbildung und der Technologie hatte einen nachhaltigen Einfluss. Endlich erkannte man auch die Ausbildung der Lehrer selbst als Erfordernis, und richtete dafür Seminarien ein (z. B. 1696 A. H. Francke).

 

Die Ecole polytechnique ist ein Kind der französischen Revolution. Ineins mit der Reform des veralteten Staatsapparates fand hier ein Aufschwung der höheren Volkserziehung nach wissenschaftlichen Grundsätzen statt, denn für die sich machtvoll ausbreitende Industrie wie das Militär war die Wissenschaft unentbehrlich geworden. Nur die hervorragendsten Männer wurden an diese Schule sowie an die Ecole Normale Superieure und die Ecole de Médecine berufen.

Diese Institutionen gewährten erstmals Begabten aus allen Schichten die Möglichkeit, in der Wissenschaft Fuss zu fassen. Leider verschloss die 1799 in London gegründete Royal Institution als Treffpunkt der feinen Gesellschaft aber gerade für talentierte Mechaniker ihre Türen. Die Lehre beschränkte sich auf öffentliche Vorträge.

Erst als nach dem Vorbild der 1822 von Lorenz Oken gegründeten "Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte" 1831 von Charles Babbage die British Association for the Advancement of Science eingerichtet wurde, wäre der Popularisierung der Wissenschaft - und zwar durch private Initiative - der Weg geebnet gewesen (J. D. Bernal 1970, S. 513f.).

 

Doch dieser in Frankreich eingeleitete Bildungsumbruch hatte andere weit reichende Konsequenzen. Zu deren Klärung muss etwas ausgeholt werden, da sich in mehreren Etappen verschiedene Entwicklungsrichtungen ineinander verflochten. Die neuzeitlichen Akademien waren die ersten selbstgesetzlichen wissenschaftlichen Institutionen gewesen. Sie bahnten die "Sozialfunktion der Wissenschaft" (F. Wagner 1970, S. 110) an und verliehen ihr Öffentlichkeit.

Ihnen folgten die Forschungsgesellschaften einerseits unter dem Prinzip der Reduktion der Qualität auf die Quantität, das heisst der Abstraktion und Isolation der Erscheinungen, was das systematische Experimentieren, Messen und Berechnen und schliesslich durch die induktive Methode die mathematische Fassung in Gesetzesform erlaubt, andererseits mit der Absicht, das Verständnis des Naturwissenschafters für das Handwerk Zu fördern (J. D. Bernal 1970, S. 427, 432) und drittens mit dem Ziel, das neue Wissen nutzbringend anzuwenden.

Von hier aus vollzog sich der Einzug der Wissenschaft in die Gesellschaft und ihre Anerkennung als führende geistige Macht. Nicht zuletzt die in diesem Zusammenhang zu sehende wissenschaftliche Konstruktion und Verbreitung von Schiffschronometern sowie optischen Instrumenten ineins mit der erfolgreichen Lösung der Hauptprobleme der Mechanik und Astronomie wurde zur technischen Grundbedingung der industriellen Revolution.

 

Ihre volle Gewalt erhielt diese letztere jedoch erst durch die Einführung der verbesserten Dampfmaschine, der ersten auf wissenschaftlichen Grundlagen aufgebauten Maschine. Gleichzeitig bemächtigte sich dieser technischen Innovation, wie F. Wagner (1970, S. 113) unverblümt formuliert, das "kapitalistische Wirtschaftsdenken des unbeschränkten Erwerbs".

Erst diese ungehemmte Erwerbsgesinnung spannte die Naturwissenschaft und Technik in den Produktionsprozess ein - Manufaktur, Bergbau und Landwirtschaft wurden "mechanisiert" und konzentriert - und machte sie "aus virtuellen zu expansiven Kräften, die in der Tat die ,Natur` wie die geistigen und sozialen Lebensformen verwandelten" (S. 90; s. a. 113).

Daraus ergab sich eine Verflechtung von Forschung und Lehre mit der Fabrikation (und Rüstung), so weit, dass der Physiker und Chemiker ein "Instrument der Wirtschaft" wurde, welcher die Ergebnisse dieser Forschung als "Handelsobjekt" dienen (S. 121).

 

Hatten im Zeitalter der Manufaktur und vorwissenschaftlichen Technik die Methoden und Instrumente der Wissenschaft zwar die Erforschung, nicht aber die Nutzung und Ausbeutung der Natur erlaubt, so hat also die industrielle Umwälzung "jene Erfindungen, von denen Bacon Komfort und Reichtum erwartete, aus dein Bereich vereinzelter Fünde oder geselliger Spielereien in den unaufhaltsamen Strom des ,technischen Fortschritts` gerissen, der das ,Erfinden` zu einem Beruf erhob, der seine Berufung in der Verwandlung der Welt erblickt" (S. 90).

 

Doch nicht nur das Erfinden wurde zum bürgerlichen Beruf, sondern auch das Lehren. Wie J. D. Bernal (1970, S. 501 ff.) ebenso deutlich schreibt, löste zuerst in Frankreich der besoldete Wissenschafter (Professor) im Staatsdienst den - gewiss auch oftmals politisch missbrauchten - Wissenschafter aus Liebhaberei und den vom Adel ausgehaltenen Wissenschafter ab. Hinzu trat der moderne Ingenieur und Techniker (S. 511, 552 ff.).

 

Nicht vergessen werden darf, dass für die polytechnische Ausbildung immerhin die Realschulen mit ihrem technologischen und kameralistischen Unterricht bereits mehr als ein Jahrhundert den Boden vorbereitet hatten (A. Timm 1964, S. 39) und auch in den Universitäten diesen neuen Betrachtungsweisen zunehmend Platz eingeräumt worden war.

 

Auf dem Hintergrund einer von der Wirtschaft usurpierten Technik wurde die Wissenschaft indes zur Weltmacht, die Welt zur "Wissenschaftswelt". Die "christlichen Virtuosen" des 17. Jahrhunderts hatten ausgespielt. Aus Gelehrten wurden Forscher, aus Entdeckern Erfinder, aus der Wissenschaft ein Geschäft und aus dem göttlichen Heilsplan ein rationaler Zukunftsplan. Resultat ist eine technisch-formale, das heisst "ethisch indifferente Haltung" (F. Wagner 1970, S. 121).

Daher verwundert es nicht, wenn als Abwehr gegen eine Allmacht dieser Art und in Verbindung mit einem Neuhumanismus Humboldtscher Prägung vorab in Deutschland humanistische Gvmnasien an die Stelle der alten Lateinschulen traten. Sie sollten zugleich über die bisherigen Realschulen hinausweisen und keine Erziehung "von Sklaven einer Profession", sondern eine "freie Menschenbildung" erreichen.

Das bedeutete freilich eine Abwendung von den "Realien" und der Technologie im umfassenden Sinne. "Der Verbindung mit der gewerblichen Wirtschaft ging man während der Dauer der Schulpflicht, ganz aus dem Wege, und die in den Schulen eingerichteten Kabinette für den Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern boten lediglich Stücke zu, Demonstrations-, aber keineswegs zu Übungszwecken" (A. Timm 1964, S. 55).

Damit ging die Volksbildung eines wesentlichen Verständnisbereiches des:, industriellen Zeitalters verlustig. Es ergab sich eine Lücke, die durch Bau- und Bergakademien sowie Gewerbeschulen bis heute nur partiell geschlossen werden konnte. Auch in England, dem Mutterland der Maschinenindustrie, gab es vor dem 20. Jahrhundert eine technische Volks-Ausbildung nur in ganz geringem Umfange (J. D. Bernal 1970, S. 518; vgl. 513ff.).

 

Doch noch nicht genug der Folgen: Die französische Revolution konnte sich - als sowohl politische wie soziale - als die Erfüllung des Fortschritts von Wissenschaft und Technik begreifen. Wissenschaftlich fundierte Ausbildung schaffte fortan nützliche Arbeitskräfte für Staat und Industrie.

Umgekehrt wurden infolge ihrer zunehmenden Komplexität Wissenschaft und Technik immer abhängiger von der Wirtschaft; diese wieder bestimmte, bald als Grossindustrie, den Staat. So entwickelte sich eine Eigendynamik, deren Früchte bestimmten Schichten - Beamte, Elite - vorbehalten blieb.

Vor allem die Naturwissenschaften schieden infolge ihrer Technisierung, Spezialisierung und Fachsprache weitgehend aus dem öffentlichen Gespräch und dem allgemeinen Begreifen aus. Dadurch ergab sich "das weltgeschichtliche Paradox; dass eine Wissenschaft, die aus dem Anliegen einer Handvoll Gelehrter zu eine Weltmacht geworden war, im gleichen Masse an Zugänglichkeit verlor, in dem sie an ,Öffentlichkeit' und Weltläufigkeit gewann" (F. Wagner 1970, S. 119).

 

 

2.5 Hochblüte des alten und Keime des neuen Modelldenkens

 

Die zunehmende Differenzierung der Bauformen und Dekorationen seit der Frührenaissance machte einen Ausbau der Geometrie notwendig: Perspektive, Stereometrie und Konstruktion regelmässiger Vielflächner wurden entwickelt.

Bereits um 1490 hat sich einer der ersten Vermittler zwischen offizieller Wissenschaft und weltlicher Praxis, Luca Pacioli, damit befasst (L. Olschki 1918, I, S. 157). Seine "Summa" (1494) ist der erste vulgäre. Text - also geschrieben in der Volkssprache, nicht im gelehrten Latein -, in welchem die fünf regulären Körper beschrieben sind, "deren symbolische Bedeutung der Humanismus und das Studium Platos der naturwissenschaftlichen Forschung wieder offenbarten" (I, S. 172 u. 223).

Im Anhang seiner von Leonardo da Vinci illustrierten "Divina Proportione" (1497 geschrieben, 1509 gedruckt) ist der "Libellus de quinque corporibus regularibus" seines Lehrers Piero de' Francesci übersetzt ( I, S. 142 f., 207 ff., 215-239).

Olschki betont, dass die von Pacioli resp. Piero erdachte Methode der Herstellung regelmässiger Körper direkt auf die Materialienbearbeitung für Dekorationszwecke zurückgeht. "Die Bearbeitung des Materials, wie Stein und Marmor, für bautechnische wie bildhauerische Zwecke nach den damals vorherrschenden mathematischen Prinzipien machte genaue Volumenbestimmungen und zuverlässige Angaben für die Verwandlung eines Körpers in einen anderen notwendig. Die Zeiten, in welchen man das Material nach dem Augenmass bearbeitete, waren längst vorüber" (I, S. 218). Daher durfte auch ein Abriss über die Architektur nicht fehlen, welcher die Anregungen Albertis bis zu den letzten Konsequenzen durchführte, genau wie es für alle Forschungen bei Leonardo da Vinci in den gleichen Jahren der Fall war.

 

Doch nicht nur wegen der Erfordernisse der Baukunst war dieser bis dahin vernachlässigte Zweig der Geometrie wieder aktuell geworden, sondern auch dank der Beschäftigung mit den Platonischen Dialogen vorab im Kreis um Marsilio Ficino in Florenz.

Im "Timàus" spricht Platon andeutungsweise von einer heliozentrischen Weltordnung und versinnbildlicht deren Harmonie durch stereometrische Gebilde und ihre Beziehungen zueinander (I, S. 222). Diese geometrische Mvstik verband Pacioli mit der auf die Pythagoräer zurückgehenden Zahlenmystik. Das ist aus seiner Zugehörigkeit zum Franziskanerorden erklärlich, welcher sich besonders um die Verbreitung der letzteren bemühte (I, S. 171).

Vor allem Nicolaus von Cusa hatte schon mit "phantastischen Kombinationen" aufgewartet. Geradezu modellistisch ist seine Auffassung der Zahl als .primum rerum exemplar" oder als "symbolicum exemplar rerum". Sowohl der Cusaner wie vor ihm Albert von Sachsen, Leonardo von Pisa, Thomas Bradwardine und der Euklid-Kommentator Campanus hatten auch die regelmässigen Vielflächner erwähnt, allerdings noch nicht in die mystische Sphäre erhoben (I, S. 216f., 221).

 

Seit Paciolis eigentümlicher Verknüpfung von Mystik und Praktik wurde die mystische Komponente der Platonischen Körper zu einem Angelpunkt in der wissenschaftlichen Forschung (I, S. 220-227). Sie erfuhr in der Kosmographie Keplers ihre Krönung. Darin sind die regelmässigen Vielflächner symbolische Modelle der Weltordnung (vgl. auch F. Wagner 1970, S. 58f.). Das Bild bei J. D. Bemal (1970, S. 397) vermittelt einen Eindruck von dieser klassischen Modell-Vorstellung.

 

Auch Kopernikus hatte den "Timäus" gelesen. Wie er zu seinem System gelangte, ist indes weitgehend unbekannt. Neben dem Unbehagen über die. unterschiedlichen und "unsicheren" Deutungsversuche der Planetenbewegungen durch "die Mathematiker", dem Wunsch nach einer einfacheren und exakteren Vorhersage der Planetenstellungen und der Kenntnis von Theorien der Philosophen über Heliozentrik und Erdbewegung aus dem Studium griechischer und lateinischer Autoren, mögen vor allem die von Aristoteles stammenden physikalischen Grundsätze - die Kopernikus fälschlicherweise als pythagoräische ansah - von der Forderung nach Kreis- und Gleichförmigkeit sämtlicher Bewegungen am Himmel leitend gewesen sein.

Eine Wiederbelebung des Kreis-Gedankens hatte schon Cusanus für seine Theorie der Elemente ersonnen gehabt. Doch die Planeten und Fixsterne beschreiben bei keine vollkommenen Kreise, und die Erde bewahrt ihre Vorrangstellung, auch wenn sie nicht unbeweglich inmitten des Weltalls ruht. Nicole d'Oresme und Regiomontanus hatten bereits eine Erdrotation als theoretische Möglichkeit erörtert. Und von Leonardo gibt es eine Tagebuchnotiz: "Il sole non si muove."

 

Klar beschreibt Kopernikus am Anfang seines Buches (1543) sowohl sein Programm wie seine Philosophie: "Nachdem ich nun die Bewegungen angenommen, die ich der Erde in nachstehendem Werke zuerteile, fand ich endlich nach langjähriger und sorgfältiger Untersuchung, dass, wenn die Bewegungen der übrigen Planeten auf die Umkreisung der Erde bezogen und nach der Umwälzung eines jeden Gestirnes berechnet werden, nicht bloss die an ihnen beobachteten Erscheinungen daraus folgerichtig sich erklären lassen, sondern auch die Reihenfolge und Grösse der Gestirne und alle ihre Bahnen und der Himmel selbst eine solche harmonische Ordnung darbieten werden, dass in keinem Teile ohne Verwirrung der übrigen Teile und des ganzen Universum irgend etwas umgestellt werden könne."

 

Kommen diese Ansätze naturwissenschaftlichen Modelldenkens von der Mathematik her, so findet sich eine zweite Richtung in den Experimenten von William Gilbert und Otto von Guericke. Ersterer begriff in seinem Buch "De Magnete" (1600) die Erde als einen grossen Magneten. Für den experimentellen Beweis nahm er eine "terrella", d. h. einen globusförmigen Magneten mit eisernen Zacken als "Gebirgen" besetzt (Bild bei J. D. Bernal 1970, S. 409). Die Zeichnungen im Kapitel II von Buch IV (W. Gilbert 1958, S. 235-240) können als erste echte Modelldarstellungen in der Experimentalwissenschaft angesehen werden.

Schon die Versuche von Guericke zur Herstellung eines Vakuums auf der Erde, welche 1663 in der Vorführung der "Magdeburger Halbkugeln" am Hofe des Grossen Kurfürsten bei Berlin kulminierten (Bilder bei J. D. Bernal 1970, S. 442 und C. Graf von Klinckowstroem 1959, S. 131), dienten der experimentellen Untersuchung der Frage nach der Natur des interplanetarischen Raumes. (Kann dieser unter Anerkennung der kopernikanischen Lehre von einem Stoff wie dem Äther erfüllt sein, oder ist er als blosser Raum leerer Raum?)

Wenn nun zwischen den Weltkörpern, die auf Kreisen um ihr Bahnzentrum ziehen, spezifische, bewegende und qualifizierende, unkörperhafte Wirkkräfte über das Vakuum hinweg wirken, dann müsste dies durch eine drehbare und zu reibende Schwefelkugel darzustellen sein, meinte von Guericke (Bild bei C. Graf von Klinckowstroem 1959, S. 133).

Ohne sich dessen bewusst zu werden, erfand er damit die Elektrisiermaschine. Sie regte die Experimentatoren der Royal Society in London zu ähnlichen Versuchen über Reibungselektrizität an.

 

Umgekehrt standen bei William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs hydraulische Vorstellungen Pate. In seiner ersten handschriftlichen Aufzeichnung aus dem Jahre 1616 heisst es, er habe an der Beschaffenheit des Herzens demonstriert, "dass das Blut in kontinuierlichem Strome von den Lungen in die Aorta fliesst wie durch zwei Ventile einer zum Wasserheben verwendeten Wasserpumpe".

Ähnliche hydraulische Überlegungen finden sich auch bei Descartes, vorab im "Traité de l'homme" (1664). Das erste Modell des Blutkreislaufs wurde von dem Deutschen Salomon Reisel (1674) angefertigt. An anderer Stelle verglich Harvey das Herz als "Urquell des Lebens" mit der Sonne als Herz der Welt (J. D. Bemal 1970, S. 411).

Diese Vorstellung weckt sofort Erinnerungen an Kopernikus, der die Sonne in alter Tradition u. a. als "die Seele, die Leuchte der Welt" betrachtete.

 

Unter einem Schlagwort zusammengefasst könnte man für einen wichtigen Teil der Bestrebungen dieser Zeit "empirische Mechanik als Modell" namhaft machen, wobei Descartes mit der Einbettung in die Geometrie als Mass aller Dinge auch wieder die Ansätze von Pacioli und Kepler einbrachte.

 

Nicht zu unterschätzen für die Konstruktion sowohl von Maschinen als auch für die Gewinnung wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnisse wie für deren didaktisch geschickte Darstellung ist also die Benützung von Analogien wohl eines der fruchtbarsten und dauerhaftesten Leitmotive der Menschheit. Sie erlaubt die Verknüpfung von Phantasie, Gelehrsamkeit und Leben, weshalb sie in der Renaissance besonders im Schwang war.

Das erste Meisterstück der beginnenden Neuzeit für ein durch Beispiele, Anekdoten, Sprichwörter, Zitate und Sprüche belebtes mathematisches Werk ist die erwähnte "Summa" von Pacioli (L. Olschki I, S. 164ff.). Hier verbinden sich Wissenschaft und Pädagogik miteinander und beide sich wiederum mit Akribie und Anschaulichkeit.

Von Boethius hat Pacioli etwa den Vergleich von vollkommenen und unvollkommenen Zahlen mit einem gut gewachsenen Menschen und einem Krüppel. In einer Serie von Analogien und Allegorien entwickelte er ihn weiter (I, S. 169). Weitere Wurzeln lassen sich in die Patristik und Scholastik zurückverfolgen, wobei häufig mystische Elemente unverkennbar sind (vgl. II, S. 18ff.).

 

Seine Vollendung erreichte das bildhafte Denken bei Leonardo da Vinci. Leonardo Olschki (I, S. 365-413) bringt eine Fülle von Analogien, welche Leonardo zur Beschreibung und Erklärung von Naturgegenständen verwendete, und zwar in der Überzeugung der Gleichwertigkeit von Kunst und Wissenschaft als Mittel der Erkenntnis.

Die "experientia" ist ihm und seinen Zeitgenossen "in jener Welt von Künstlern und Praktikern, deren Schaffen ebenso von der Vision wie von der Berechnung abhängt und bestimmt wird, ... nicht der wissenschaftliche, die rohe Erfahrung läuternde Versuch, sondern die' Erfahrung selber, eben das Erlebnis. Dieser Kategorie von Denken und Forschen entspricht die Schaffung ausdrucksvoller Scheinbilder einer Begriffsbildung und -formulierung. Deren Programm ist Leonardos Bestreben, ,eine Fiktion zu bilden, welche grosses bedeutet' " (I, S. 411).

Was bei Leonardo die graphische Darstellung im speziellen anbelangt, so hat sie methodischen Charakter. Sie erfüllt einen ökonomischen und pädagogischen Zweck. Die Abbildung ist primär, das Wort nur Kommentar. Wo keine Darstellung möglich ist, bedient er sich des Aphorismus (I, S. 334-365).

 

Hatte noch Giordano Bruno ebenfalls Analogien, Wortspiele und Aphorismen verwendet (III, S. 50-67) und damit "den Begriff dem Bilde geopfert"; so verzichtete Galilei ganz auf sie. Er ersetzte das Analogische durch das Gesetzmässige: Dadurch "hat er alle Zusammenhänge gelöst, welche die Naturphilosophen der Renaissance mit den antiken und den mittelalterlichen unzertrennlich verbinden, und sich von vornherein von diesen seinen angeblichen Vorgängern in der Naturbetrachtung frei gemacht. Dieser Bruch mit uralten Anschauungen und Methoden hat auch die Aufgabe des Zweck- und Wertbegriffes aus dem naturphilosophischen Denken zur Folge gehabt" (III, S. 22).

Der menschlichen Vernunft ist ein Einblick in den göttlichen Schöpfungsplan, mit Hilfe der Mathematik möglich, die auf Grund von Abstraktion das Verhalten physikalischer Körper zutreffend beschreiben und so die Sprache der Natur zu entziffern vermag. Es ist also das Gesetzmässige, das nun seine ökonomische Funktion zeigt. "Die Erkenntnis einer einzigen Tatsache nach ihren Ursachen", heisst es in den "Discorsi" (1638), "eröffnet uns das Verständnis anderer Erscheinungen, ohne Zurückgreifen auf die Erfahrung" (III, S. 432). Ein Satz, der uns von Ernst Mach her vertrauter ist.

Dass Galilei die von Kepler errechnete Ellipsenbahn der Planeten nicht einmal für diskussionswürdig hielt, weil in seinen Augen die vollendete Kreisbewegung der Gestirne als ewig währende Bewegung ohne Ziel eine Sonderstellung einnahm, wirft ein Licht auf die Schwierigkeit der völligen Ablösung vom klassischen Vorstellungen in dieser wohl fruchtbarsten wissenschaftlichen Umbruchszeit des 17. Jahrhunderts.

 

Descartes wiederum liebte Analogien und bildhafte Vergleiche, man denke nur an die hydraulischen Vorstellungen für Anatomie und Physiologie oder an die Metaphern vom Baum der Wissenschaft und dem "grossen Buche der Welt". Dafür steuerte er eine Korpuskular- und Wirbeltheorie bei: Alle Phänomene im lückenlos gefüllten Universum können durch Gestalt und Bewegung von Korpuskeln erklärt werden. Und dieselbe Materie und dieselben Gesetze finden wir auch auf der Erde, gültig für die unorganische Natur, aber auch für Lebewesen - ein theologisch begründetes Weltbild von bisher noch nie postulierter Umfassendheit, Einfachheit und Einheitlichkeit.

Eine Fabel oder ein "Modell"?

 

 

2.6 Modellwelten: Presse, Sammlung, Spiel

 

Neben Schule, Theater, Spiel und Wissenschaft das bedeutendste Muster der Erzeugung und Vermittlung von Modellwelten durch die beiden Modellierungsvorgänge Verkürzung und Hinzufügung, oft Ausschmückung, ist die periodische Presse.

Kurz nach 1600 setzt sie ein, zunächst als populäres Wochenblatt, dann Tageszeitung, als "Intelligenzblatt" (1633) oder "Gelehrte Zeitung" (1651 die "Miscellanea" der Leopoldina, 1665 das "Journal des Scavans" usw.). 1635 wartete der Basler Matthäus Merian der Ältere mit der ersten Illustrierten auf; ihr folgten 1672 in Frankreich der "Mercure Galant" und 1676 in Hamburg die "Erbaulichen Ruh-stunden" als Vorläufer der "Moralischen Wochenschriften", die nach 1700 von England ausgehend weite Verbreitung fanden.

Ziel derselben war, wie Joseph Addison seinen Lesern mitteilte, "ihre Belehrung angenehm und ihre Zerstreuung nützlich zu machen. Aus diesen Gründen will ich danach trachten, die Moral mit Witz zu beleben und den Witz mit Moral zu mässigen".

Wiederum ist es Comenius, der für seine Schola pansophica eine besondere Stunde für die Benützung von Zeitungsnachrichten einplante.

 

Bedeutsam ist nun, dass auch ausserhalb der Schule eine Ergänzung der zweidimensionalen Schautafeln des 15.-17. Jahrhunderts - etwa von Schedel und Schilling, Vesalius, Gesner, Mercator und Agricola bis zu den "Theatri mechanicarum" von Besson, Zeising, Zonca, Böckler, Leupold, van Zyl und van der Horst - durch dreidimensionale Modelle stattfand: Den Naturalien-Kabinetten traten Kunstkabinette zur Seite.

 

Unmittelbar anschliessend an die Beschreibung der Vorzüge einer Herstellung von "Modulis" für den Festungsbau erwähnt Leibniz 1669 in seiner Skizze zur "Ars inveniendi" die in seiner Zeit verbreiteten Modellsammlungen: "de Theatro Naturae et Artis seu de Modulis rerum ipsarum conservatoriis" (Gottfried Wilhelm Leibniz 1903, S. 163).

Wenig später schlägt er in seinem dem "Orbis pictus" nachempfundenen Entwurf eines "Atlas universalis" als Abteilung der Objekte, die den "oculis subjici possunt", vor: "Mechanica, ubi omnis generis Machinae et moduli" (S. 223). Zur gleichen Zeit preist er auch im Detail die Verfertigung von "modulis ligneis (aut cereis)" zur Förderung der Imagination (S. 596f.).

 

Legendär waren etwa die Nachbildungen des Petersdoms im Vatikan und der Kirche St. Paul in London, welche als reales Bauwerk ihrerseits "a été bâtie sur le modèle de S. Pierre de Rome" (Encyclopédie 1765, S. 599).

Gleichermassen liebevoll wie ausführlich beschreibt der fleissige Kompilator J. G. Krünitz (1803, S. 526ff.) die zahlreichen Modelle von Gebäuden, Landschaften und Bergwerken, Maschinen, Gerätschaften, Fenstern und Watten (Tafel lose zusammenhängender Gespinstfasern, oft geleimt), welche damals in vielen Städten Europas zu besichtigen waren.

Interessant dabei ist, dass vielfach vom selben Objekt mehrere Modelle in unterschiedlich grossem Massstab hergestellt wurden, beispielsweise eine ganze Messingfabrik als Überblick, dann von "denjenigen Theilen, die zu klein ausgefallen sind, und folglich nicht deutlich genug vorgestellt werden konnten, z. B. von den Messingkammern, Drathmühlen, Stockscheeren, und dergl. ein besonderes Modell von einem grössern Massstabe ... Diejenigen Theile aber, die an der Maschine aus Eisen geschmiedet, oder aus Metall gegossen werden, ... pflegt man zuvor, in ihrer natürlich wahren Grösse, aus Holz zu machen, damit sie den Arbeitern zu einem Muster, zu einer Lehre dienen können" (S. 529, ident. zitiert nach J. K. G. Jacobsson 1793, S. 576).

 

Bei Schiffen ist - seit Pierre Bouguer ( 1758) - zu beachten, dass die kleine Kopie "sich bey der Untersuchung seines Verhältnisses in Folge der Bemastung unmöglich so bezeugen" kann, "wie das Original in seiner wahren Grösse. Denn man kann ja den Wind auch nicht verkleinern" (S. 535; das ist, wie manch' anderes, wiederum zitiert nach J. K. G. Jacobsson 1783, S. 79).

 

Besonders schöne Modelle wurden in Kunstkammern ausgestellt, z. B. der Tempel Salomos mit 6726 Säulen in der Modellsammlung in Dresden, das Schlesische Riesengebirge im Kabinett des Bergwerks- und Hütten-Departements in Berlin, das von Pfyffersche Modell der Zentralschweiz in Luzern. Von den Ruinen, Tempeln. und Monumenten des alten Rom wurden zahlreiche Korkmodelle (Felloplastiken) hergestellt, ihrerseits um 1800 in Deutschland von einem Konditor kopiert und zum Verkauf angeboten. Ihr Zweck: "den Kunstsinn durch Anschauen und Vergleichung zu schärfen, wahren Kunstgeschmack zu verbreiten, und den Begriffen von architektonischen Kunstwerken mehr Klarheit, Deutlichkeit und Bestimmtheit zu geben" (J. G. Krünitz 1803, S. 544f.; vgl. auch L. H. Heydenreich 1937, Sp. 932f.).

 

Zentrale Bedeutung hat die Arbeit am Modell bei der Entwicklung der Dampfmaschine gespielt: Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert waren zahlreiche Mechaniker und Erfinder damit beschäftigt, ein "working model" der atmosphärischen oder Dampfmaschinen zu bauen. Schon vor 1700 stellte Thomas Savery "a model of his engine before King William at Hampton Court" aus (R. Stuart 1824, S. 35). Desaguliers meldete 1716: "we resolved to have a working model" (S. 75 ).

Etwa 1760 wurde ein Feinmechaniker namens James Watt in Glasgow mit der Besorgung der ,university's collection of mechanical and philosophical (i.e. naturwissenschaftlichen, R. M.) models" (S. 95) betraut. Er interessierte sich zwar nicht sonderlich für diese Apparate, doch als ein Modell von Newcomen eines Tages nicht mehr funktionierte, begann er es 1763/64 zu reparieren. Dann packte ihn der Ehrgeiz, und er sann sich die zahlreichen Verbesserungen aus, die 1769 zum ersten Patent und zum Fliehkraftregler führten.

Ein klassisches Beispiel für die Faszination durch Modelle und des Lernens am Modell durch geduldiges, vielleicht mühseliges Probieren mit anschliessender Verbesserung des Modells.

 

Die Spannweite der Modellverwendung reicht mithin, der Eigenart menschlicher Aktivitäten entsprechend, vom Kriegshandwerk über die Kunst bis in die Kinderstube. Deshalb verweist J. G. Krünitz (1803, S. 552) am Ende seines 30seitigen Modell-Artikels auf den Artikel "Kriegs-Schule" (1790, S. 1-272, bes. 24ff.), wo er vom Nutzen der Modelle zum Unterricht in der Kriegswissenschaft handelt: "Wo der Gebrauch der Zeichnungen aufhört, da fängt der von den Modellen an; er erstreckt sich, eben so wie bey jenen, über alle Theile der Kriegs-Kunst. Insonderheit kann man alle Arten von Bewegungen der Truppen gar leicht durch Modell zeigen" (S. 27).

Dafür hat der Mathematiker Johann Christian Ludwig Hellwig 1780 den "Versuch eines aufs Schachspiel gebaueten taktischen Spieles, von zwey und mehreren Personen zu spielen" entworfen (zu operationalen Akteur-Systemen z. T. spieltheoretischen Charakters vgl. H. Stachowiak, 1973, S. 67-103).

Krünitz bemängelt allerdings in seiner ausführlichen Beschreibung die enge Anlehnung ans Schachspiel und fragt: "Warum folgen wir hierin nicht dem Wege, den uns die Alten schon vor mehr als 2000 Jahren, durch die hölzernen Figuren, womit sie die Gründe der Stellungs-Kunst und die Evolutionen den Schülern begreiflich machten, gezeigt haben ...?" (S. 30).

 

Unter "Kinder-Spiel" (1786, S. 847-867, bes. 854ff.) legt Krünitz dar, wie man mit Modellen von Gebäuden und nützlichen Maschinen sowohl vergnügt als auch unterrichtet. Bekannt ist von Goethe, dass er sich 1786 bei seinem Besuch in Venedig an ein Gondelmodell erinnerte, das sein Vater besass und mit dem er manchmal spielen durfte (beschrieben in der "Italienischen Reise", 1816).

Nach A. Timm (1964, S. 91) spielten die Kinder dieser Zeit auch schon mit "Elektrisierapparaten".

Puppenspiel, -theater und -stube sind jahrtausendealte Schau- und Lehrstücke sozialen Verhaltens.

Dass Kinder auch selber modellbildend tätig sein sollen, erhellt aus der Angabe eines Buchtitels bei J. G. Krünitz (1803, S. 576): "Rockstroh's Anweisung zum Modellieren aus Papier; ein nützlicher Zeitvertreib für Kinder".

Je spezifische Modellwelten eröffnen die bunten Paletten von Brett- und Kartenspielen, Würfel- und Glücksspielen, Geschicklichkeitsspielen und Sport.

 

Gemäss dem sowohl heuristischen wie exemplarischen Charakter des dreidimensionalen Modells als Lernobjekt und Lehrstück, das den "Raum für Möglichkeiten" (F. Kaulbach 1965, S. 475f.), sei es des Sehens, Erkennens und Vorstellens, sei es des Gestaltens, Verbesserns und Vollendens bietet, kann man auch das Kinderspielzeug - wie die Aktivitäten Basteln, Modellieren und Spielen - nicht nur als Medium der Kenntnisvermittlung, sondern auch als Mittel zum Ausprobieren von Möglichkeiten im Kleinen, in überschaubaren Verhältnissen auffassen.

Im Spannungsfeld zwischen reiner Nachahmung und freiem Entwurf, Realität und Illusion, bildet sich die Persönlichkeit, das Erleben von Freiräumen und von Grenzen, das Verständnis für Strukturen, Zusammenhänge und Masse, für Ursachen und Wirkungen. Zwischen Betrachten und Planen, schönem Schein und berechnender Zweckhaftigkeit entfalten sich Handfertigkeit und Kunstsinn, gestalterisches wie soziales Vermögen (vgl. z. B. auch Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795, bes. 12. Brief ff.).

 

2.7 Innere Anschauung und Versinnlichung

 

Zum zweitenmal entlehnt wurde "Modell" also zu Beginn der Neuzeit vom italienischen modello. Die Bedeutungsnuance als kleinmassstäbliche Nachbildung oder aber als freier, spielerischer Entwurf hat wohl den Weg zum Modellbegriff als terminus technicus in der Wissenschaft geebnet, wobei vermutlich eine dritte Entlehnung, diesmal aus dem Englischen, stattgefunden hat.

 

Dazu muss etwas ausgeholt werden: Eine Haupttendenz der Physik des 19. Jahrhunderts besteht in der Ersetzung des Substanzdenkens durch das Denken in Strukturen und Funktionen [15]. Vor allem Lagrange und Laplace bringen die (mechanische) Dynamik auf eine hohe mathematische Perfektionsstufe.

Kennzeichnend für diese Physikperiode ist des weiteren die Ausdehnung der experimentellen (wie der mathematischen) Methoden der Dynamik auf andere, nicht-mechanische Gegenstandsbereiche der Physik. Beobachtung und Experiment - nach den Vorbildern von Franklin, Cavendish und Lavoisier - werden bestimmend.

Auf der anderen Seite kommt es mit dem Abstrakterwerden der physikalischen Wirklichkeitserfassung gleichzeitig aber auch zu einer "zweiten Welle" der Veranschaulichung. Kants und wohl auch Goethes Einfluss wird hierbei spürbar.

 

So lassen sich in der Naturwissenschaft seither drei Methodenbereiche unterscheiden:

 

1.     Zählen, Messen und Wägen sowie Konstruktion von Instrumenten, Apparaten und Maschinen.

2.     Berechnen, Ausdrücken in mathematischen Formeln und Aufstellen von Theoremen, Lehrsätzen, Gesetzen.

3.     Theoriebildung und ihre Veranschaulichungen in hypothetischen Konstruktionen, aber auch in graphischen Darstellungen, Bildern sowie schliesslich dreidimensionalen Modellen, die dann oft wieder von gedanklichen Entwürfen abgelöst wurden, jedenfalls aber "dynamisch" und damit, wenn man so will, raumzeitlich und damit vierdimensional blieben.

 

Diese Bestrebungen sind zum Teil gegenläufig, zum Teil ergänzen sie einander.

 

Wegbereiter dieser Entwicklung war seit 1820 der grosse Experimentator Michael Faraday. Er hat einen zweifachen Bezug zu Kant. Einmal übernahm er dessen dynamische Ansichten von der Materie, welche die Existenz diskreter Teilchen (Atome), mit denen die Chemiker so vorteilhaft zu chemischen Gesetzen gelangten, ablehnte.

Zum anderen kann man seine Bemühungen auf dem Hintergrund der Auffassung Kants sehen, dass sich alles Denken direkt oder indirekt, vermittelst gewisser Merkmale, auf Anschauungen beziehen muss, und dass es deshalb notwendig sei, seine Begriffe ins Sinnliche zu wenden, d.h. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen (Kr. d. r. V. B 33 u. 75; vgl. F. Kaulbach 1954, 1958, 1965; V. A. Stoff 1969, S. 379-328).

 

Dies bildet den Ausgangspunkt für eine beträchtliche Begriffsverwirrung, die sich seither aus dem wechselnden Gebrauch der Wörter Analogie, Ähnlichkeit, Bild, Illustration, Darstellung, Konstruktion, Apparat, Vorstellung, Veranschaulichung und Versinnlichung ergeben hat. Rezeptions- und Übersetzungsprobleme kommen dazu. Zudem ist das Beiwort "mechanisch" geeignet, den heutigen Leser in die Irre zu führen.

 

Es empfiehlt sich, eine chronologische Betrachtung zu versuchen. Häufig vorkommende Wörter sind bei Carl Friedrich Gauss "Vorstellungsart" und "graphische Darstellung". In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Weber vom 19. März 1845 (1867, S. 629-631) berichtet er, dass er etwa zehn Jahre zuvor seine Untersuchungen über das Ampèresche Fundamentalgesetz abgebrochen habe, weil es ihm nicht gelungen sei, den "Schlussstein" zu finden: die Ableitung der Zusatzkräfte zwischen bewegten elektrischen Teilchen "aus der nicht instantaneen, sondern (auf ähnliche Weise wie beim Licht) in der Zeit sich fortpflanzenden Wirkung". Er habe aber noch die Hoffnung gehegt, "dass dies später vielleicht gelingen könnte, obwohl - erinnere ich mich recht - mit der subjectiven Überzeugung, dass es vorher nöthig sei, sich von der Art, wie die Fortpflanzung geschieht, eine construirbare Vorstellung zu machen".

Wie Maxwell in seinem "Treatise" (1873, § 861 ff., II, S. 435 f.) berichtet, wies später Carl Neumann nach, dass diese Analogie zur Ausbreitung des Lichts nicht zutrifft. Er selber aber sei nicht imstande gewesen, "to construct a consistent mental representation of Neumann's Theory".

Das ist ein bemerkenswertes Eingeständnis am Ende eines über 850seitigen Werkes, das davon ausgeht, es gebe ein "medium in which the propagation takes place", nämlich den Äther, und das mit dem Satz schliesst: ,If we admit this medium as an hypothesis, I think ... we ought to endeavour to construct a mental representation of all the details of its action, and this has been my constant aim in this treatise" (1873, II, S. 438).

 

Einen Markstein in der "graphischen Darstellung" bildet unter dem Begriff und Programm "Versinnlichung" der von Wilhelm Weber erstellte "Atlas des Erdmagnetismus" (C. F. Gauss u. W. Weber 1840).

Grundlage war die "Allgemeine Theorie des Erdmagnetismus" von Gauss (1839, S. 1-57; auch 1867, S. 119-180). Darin findet sich der Satz: "Die Art der wirklichen Verteilung der magnetischen Flüssigkeit in der Erde bleibt notwendigerweise unbestimmt" (1839, S. 46; auch 1840, S. 30; 1867, S. 165). Man kann aber, wie bereits in der "Intensitas ..." (1832; auch 1867, S. 86f.) nachgewiesen, die innere Verteilung "substituieren" und durch eine Verteilung auf der Oberfläche "fingieren", welche der inneren Kraft "exacte aequivaleat".

 

Eine weitere Schlüsselfigur der Veranschaulichung ist der Schotte William Thomson. Als erster stellte er 1842 eine Analogie zwischen den Formeln der Wärme und Anziehungslehre auf (vgl. den Reprint 1890, § 1-24, S. 1-15 und die Bemerkungen Maxwells [16] 1883, S. 53ff.; 1895, S. 6).

Drei Jahre später, im Alter von 21 Jahren - ein Jahr bevor er Professor für theoretische Physik in Glasgow wurde, wo er bis zu seinem Lebensende blieb -, entwickelte er "das Prinzip der Bilder als Mittel zur Lösung einiger Aufgaben über die Verteilung der Elektrizität" (1890, § 208, S. 143) und hob in einem Aufsatz über Magnetismus die "Analogie" zwischen einem Resultat für die Induktion und "dem entsprechenden aus der Optik" hervor (1890, § 157 f., S. 104).

Vier Jahre später gab er die Begründung: "Der Ausdruck ,Elektrische Bilder', der für die gedachten elektrischen Punkte oder Gruppen von Punkten eingeführt werden soll, ist der allgemein üblichen Ausdrucksweise der Optik entnommen; die vollkommene Analogie mit den optischen Bildern darf, wie ich hoffe, als ausreichende Begründung für die Einführung einer neuen, äusserst passenden Bezeichnung in die Elektrizitätslehre betrachtet werden" (1890, § 127, S. 83).

 

 

2.8 Dynamische Veranschaulichung, mechanische Konstruktion (ideal und real)

 

Gerade diese Bilder (electrical images [17]) fielen zunächst nicht unter den Modellbegriff! Sie betreffen einzig die Elektrizitätsverteilung auf kugelförmigen Leitern, bleiben also auf den Bereich der Elektrostatik beschränkt.

Jedoch lässt sich Veranschaulichung auch in die Elektro- und Thermodynamik einführen. Das tat Thomson 1847 in seiner Abhandlung "über die mechanische Darstellung der elektrischen, magnetischen und galvanischen Kräfte" ("mechanical representation", vgl. 1904, S. 45), in Kapitel III und V seiner "mathematischen Theorie des Magnetismus" (1849-50; dt. 1890, § 430-554, S. 329-410), wo er eine "gedachte magnetische Substanz" (1890, § 463, S. 340), also eine "supponirte magnetische Materie" (1890, § 478, S. 348 et passim) einführt, sowie 1856 in dem Aufsatz "Dynamical Illustrations of the Magnetic and Helicoidal Rotatory Effects of Transparent Bodies on Polarized Light" (nachgedruckt in den Baltimore Lectures, 1904, Appendix F, S. 569-577).

 

Die beiden ersten gaben Maxwell Anstoss für seine Behandlung von Faradays Ergebnissen (1895, S. 70).

In diesen 1855-56 gehaltenen Vorlesungen "über Faraday's Kraftlinien" postulierte der 24jährige: Der Fortschritt in der Theoriebildung basiert auf Vereinfachung und Veranschaulichung der Ergebnisse früherer Untersuchungen. Als Hilfsmittel dafür bediente er sich - der selber kaum Experimente durchgeführt hat - der Analogie: "Unter einer physikalischen Analogie verstehe ich jene teilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Erscheinungsgebietes mit denen eines andern, welche bewirkt, dass jedes das andere illustriert" (1895, S. 4).

Es handelt sich demnach um eine "formale Ähnlichkeit", um Übereinstimmung von Gesetzen bloss der Form nach. Und da der Bereich der Mechanik, samt Gravitation und Hydrodynamik, sehr anschaulich ist, kann man seine Gesetze zur Illustration von Erscheinungen in allen andern Bereichen verwenden, und zwar, wie Maxwell bezüglich der Elektrizität betont, "ohne irgendwelche Annahmen über die physikalische Natur der Elektrizität zu machen oder irgend eine Hypothese aufzustellen, welche über die durch das Experiment bewiesenen Tatsachen hinausgeht" (1895, S. 9).

Im speziellen Fall der Kraftlinien eines elektrisierten Körpers will Maxwell mithin ein "geometrisches Modell" (1895, S. 7) [18] der physikalischen Kräfte geben und unter Hinzunahme der "rein geometrischen Idee der Bewegung einer imaginären Flüssigkeit" (S. 9), nämlich einer in Röhren von veränderlichem Querschnitt strömenden unzusammendrückbaren Flüssigkeit, eine "geometrische Konstruktion" (S. 12) erstellen, um "die mathematischen Ideen in einer greifbaren Form darzustellen, als Systeme von Linien oder Flächen, nicht durch blosse Symbole" (S. 45). "Diese Darstellung involviert keine physikalische Theorie, sie ist nur eine Art künstlicher Versinnlichung" (S. 66).

Auch in den 1861-62 verfassten Aufsätzen "über physikalische Kraftlinien" (dt. 1898) betont er, er habe sich in den früheren Vorlesungen "der mechanischen Bilder bloss zur Erleichterung der Vorstellung, nicht aber zur Angabe der Ursachen der Erscheinungen" bedient (1898, S. 5 ), wie auch Thomsons Methode der mechanischen Darstellung von 1847 "bloss die mathematische Analogie der beiden Probleme", nämlich Magnetismus und Elektrizität, benutze, "um beim Studium beider die Vorstellung zu erleichtern" (1898, S. 6).

 

Es sind diese Aufsätze, worin Maxwell seine durch die oben erwähnte dritte Abhandlung von Thomson angeregte (vgl. 1898, S. 74) "Theorie der Molekularwirbel" entwickelte.

Kernpunkt ist das "Medium", in welchem sich diese Wirbel wie Räder in einem Mechanismus drehen. Damit sich diese gleichsinnig drehen, braucht es "Zwischenräder". Also macht Maxwell "die Annahme, dass sich eine Lage von Teilchen zwischen je zwei Wirbeln befindet, welche wie Frictionsrollen wirken" (1898, S. 25, Zeichnung dazu S. 35).

Selbstkritisch bemerkt er allerdings: Die "Vorstellung" von Friktionsteilchen "mag einigermassen unbefriedigend scheinen. Ich will sie nicht als die richtige Ansicht über das, was in der Natur existiert ... angesehen wissen. Diese Art der Verbindung ist jedoch mechanisch denkbar, leicht zu untersuchen und geeignet, die wirklichen mechanischen Beziehungen zwischen den bekannten elektromagnetischen Erscheinungen darzustellen" (1898, S. 50).

Maxwell hat also einzig gezeigt, "in welcher Weise die elektromagnetischen Erscheinungen durch die Fiction eines Systems von Molekularwirbeln nachgeahmt werden können", ist sich aber bewusst: "Die Tatsachen des Elektromagnetismus sind so kompliziert und mannigfaltig, dass die Erklärung irgend einer Gruppe derselben durch mehrere verschiedene Hypothesen von Interesse sein muss" (1898, S. 52).

 

Soweit eine Skizze der grundlegenden Ansichten. Ursachen der Begriffsverwirrung liegen nun u. a. in folgendem: Zu Lebzeiten Maxwells erschien von ihm nur kurz vor seinem Tod die "Theorie der Wärme" ("Heath", 1871) auf deutsch, dafür gerade zweimal nach der 4. Auflage übersetzt (von F. Auerbach; Breslau, 1877 und von F. Neesen; Braunschweig: Vieweg, 1878).

Im Todesjahr 1879 erschien "Substanz und Bewegung" (engl. 1876), worin der Modellbegriff zum zweitenmal vorkommt. 1883 erschienen das "Lehrbuch" (engl. 1873) und "Die Elektrizität in elementarer Behandlung" (engl. 1877), worin der Modellbegriff ebenfalls auftaucht (1883, S. 46 u. S. 53).

Erst in den 90er Jahren erschienen die beiden Schriften über die "Kraftlinien", wobei in den Anmerkungen von Ludwig Boltzmann 1895 (S. 97-128) nur die Begriffe "Bild" und "Analogie" vorkommen, 1898 (S. 85-146) jedoch "mechanische Modelle" hinzutreten.

Dieselbe Inkonsequenz findet sich bereits in Boltzmanns "Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichtes" (1891-93).

Immerhin hat er 1892 in seinem Aufsatz "über die Methoden der theoretischen Physik" sehr schön die drei Typen von Modellen der damaligen Zeit herausgearbeitet, von denen im "Katalog mathematischer und mathematisch-physikalischer Modelle, Apparate und Instrumente" (Ed. v. Walther Dyck, 1892) - in dem dieser Beitrag erstmals erschien - eine Unmenge abgebildet sind:

 

1.     Modelle für den Unterricht in Mathematik und Physik wie geometrische "Gipsformen, Modelle mit fixen und beweglichen Schnüren, Schienen und Gelenken aller Art ... mechanische Modelle, optische Wellenflächen, thermodynamische Flächen aus Gips, Wellenmaschinen aller Art, Apparate zur Versinnlichung der Gesetze der Lichtbrechung und anderer Naturgesetze";

2.     Rechenmaschinen, die "an Stelle des Menschen die Ausführung wirklicher Rechnungsoperationen übernehmen, von den vier Species bis zu den kompliziertesten Integrationen";

3.     die Modelle der theoretischen Physik (1892, S. 90f.).

 

Von letzteren war bisher die Rede. "Alle diese mechanischen Modelle bestanden vorerst freilich nur im Gedanken, es waren dynamische Illustrationen in der Phantasie und sie konnten auch in dieser Allgemeinheit nicht praktisch ausgeführt werden. Doch reizte ihre grosse Bedeutung dazu an, wenigstens ihre Grundtypen auch praktisch zu verwirklichen" (L. Boltzmann 1892, S. 97).

Vorangegangen sein soll hier Maxwell selber. Ob er allerdings den von Boltzmann im Cavendish Laboratory in Cambridge besichtigten Apparat selbst gebaut hat, ist nicht ersichtlich (vgl. W. Dyck 1892, S. 405) [19].

Das erste Seilmodell als ,mechanical illustration of passage of electricity" hat jedenfalls Oliver Lodge, einer der eifrigsten Schüler Maxwells, 1876 beschrieben und wohl auch hergestellt (s. die Abbildungen in W. Dyck 1892, S. 401 ff., O. Lodge 1896, S. 41 ff., ähnl. S. 96ff., 142ff., 427 f., 470ff.).

Das hydraulische Modell der Leydener Flasche stammt wohl aus späterer Zeit (Abbildungen bei W. Dyck 1892, S. 403, und O. Lodge 1896, S. 67 u. S. 71 f.) [20]. Für das Jahr 1876 führt L. Boltzmann (1891, S. 140) in der Literaturübersicht eine weitere Arbeit Lodges an: "Modell der elektrischen Absorption" (vgl. dazu O. Lodge 1896, S. 338ff.).

 

Dass es nicht ganz unberechtigt ist, bei diesen Bemühungen von geistigen Spielereien zu sprechen, erhellt aus der Vielzahl von Bemühungen, das Maxwellsche Äthermodell von 1861 zu realisieren (A. Rosenblueth u. N. Wiener (1945, S. 318) bezeichnen sie als "sterile and actually misleading").

G. F. Fitzgerald konstruierte 1885 "ein System von Messingrädern mit massivem Rand, die auf festen Achsen drehbar und durch Gummibänder gekuppelt sind" (O. Lodge 1896, S. 324, vgl. W. Dyck 1892, S. 400f.).

Lodge selbst hat "eine doppelte Serie von direkt in einander greifenden Rädern vorgeschlagen" (1896, S. 325, zahlreiche Abbildungen dazu in Kap. X und XI als "Mechanische Modelle", S. 224-270). Interessanterweise ist dieses "System von Zahnrädern" bereits 1861 bei Maxwell angedeutet: "Von unserem gegenwärtigen Gesichtspunkte aus erscheint also die Beziehung eines elektrischen Stromes zu seinen Kraftlinien analog der eines Zahnrades oder einer Zahnstange zu den Rädern, in welche sie eingreift" (1898, S. 30).

 

Thematisiert hat den Modellbegriff Fitzgerald seit seinen zwei Vorträgen 1885 (1902, S. 142-156; S. 157-162), worin er seine Konstruktionen vorstellte. Als Terminus hat ihn jedoch im Jahr zuvor Thomson in seinen legendären "Baltimore Lectures" eingeführt. Doch ihr Druck war erst 1904 abgeschlossen [21]. Darin entwickelte er sein "rude" oder "crude mechanical model" des "luminiferous aether" durch "supposition of spherical shells": "This is the simplest mechanical representation we can give of a molecule or an atom" (1904, S. 12 ff., 104ff.).

Hernach löste er ein fast dreissig Jahre altes Versprechen ein: "to make a model of a solid having the 21 independent coefficients of Green's theory" (1904, S. 125 mit Zeichnungen). Dann beschreibt er ausführlich Modelle von "Vibratoren" (1904, S. 163ff.): Holzbalken, die mit Klaviersaiten verbunden und wie eine Art Strickleiter an der Decke aufgehängt sind. Schliesslich streift er auch das legendäre Beispiel der Gallerte ("jelly"; 1904, S. 83ff.; vgl. dazu O. Lodge 1896, S. 18ff. und die Proteste von G. F. Fitzgerald 1902, S. 153 f., 173) [22].

 

Was an technisch realisierten Modellen vorführbar war, wurde im Herbst 1892 in einer Ausstellung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung gezeigt. Der Katalog dazu von W. Dyck (1892, S. 400ff.) gibt die Beschreibungen der Modelle von Fitzgerald und Lodge sowie des Norwegers C. A. Bjerknes, ferner von zwei Modellen aus Braunschweig (M. Möller/ O. Günther) und des wohl ausgefeiltesten Apparates, den Boltzmann kurz vorher ausgedacht hatte und hatte ausführen lassen (vgl. auch G. H. Bryan 1903, S. 153-155; L. Graetz 1908, S. 938 f.). Dies, weil auch bei ihm "mächtig der Drang nach realer Existenz" gewirkt hatte (L. Boltzmann, 1891, S. 45).

 

Die ersten deutschsprachigen Modell-Titel in diesem Rahmen, die auch Zeichnungen enthalten, finden sich bei H. Ebert (1893; vgl. L. Graetz 1908, S. 939f.) und Arthur Korn (1897).

Ebenfalls mit mechanischen Darstellungen befassten sich anfangs der neunziger Jahre A. Sommerfeld, R. Reiff und W. Voigt. Die ausführlichsten Übersichten über verschiedene mechanische Modelle mit Zeichnungen bieten neben W. Dyck O. Lodge (1896) und H. Ebert (1905).

Bemerkenswert ist wiederum, dass zu dieser Zeit auch im Schulunterricht sich solche Modelle einer weiten Verbreitung erfreuten [23].

 

Dieser Rückgang ad fontes hat sich aufgedrängt, weil man von ihnen in der Sekundärliteratur (z. B. R. Seeliger 1948; M. Jammer 1965; V. A. Stoff 1969) kaum etwas findet. Er mag die dort gegebenen Ausführungen illustrieren und verständlicher machen.

 

 

2.9 Anschauliche Modelle in Mathematik und Chemie

 

Dass diese Bemühungen nicht auf den Bereich der Physik beschränkt blieben, muss ebenfalls angemerkt werden.

Immerhin erwähnt M. Jammer (1965, S. 170), dass sich schon Daniel Bernoulli, Fresnel und Riemann nie zufrieden gegeben hätten ohne das, was Gauss "construierbare Vorstellungen" nannte, und R. Seeliger (1948, S. 135, 126) erwähnt, dass Felix Klein von der "Veranschaulichung der komplexen Abbildungen durch Strömungsbilder" ausgegangen sei (vgl. F. Klein 1923, S. 478 f., 484-497), wobei er das von Henri Poincaré gegebene Beispiel nachzeichnet: "Er studiert eine der allerabstraktesten Fragen der Funktionentheorie ... Was macht der berühmte deutsche Geometer? Er ersetzt seine Riemannsche Fläche durch eine Metallfläche, deren elektrische Leitungsfähigkeit nach bestimmten Gesetzen variiert. Er verbindet zwei ihrer Punkte mit den zwei Polen einer elektrischen Säule. Er sagt sich, dass der Strom hindurchgehen muss, und dass die Art, in der er sich über die Fläche verteilt, eine Funktion definiert, deren Singularitäten genau die durch das Problem geforderten sind" (H. Poincaré 1906, S. 9).

Wie R. Seeliger richtig bemerkt, hat sich Klein (vgl. 1923, S. 516ff.) dies im Jahre 1882 nur gedacht - und zwar in Anlehnung an die grundlegenden Erörterungen von Kirchhoff, 1845, sowie an Maxwells "Treatise" -, aber ein Jahr später geschrieben (1923, S. 649), er habe dieses "Experiment" als realisierbar vorausgesetzt. Da kürzlich Niveaukurven des logarithmischen Potentials auf physikalischem Wege realisiert worden seien, gelinge es den Physikern vielleicht auch, seine von ihm erzeugten Kurvensysteme "experimentell herzustellen und dadurch dem näheren Studium zugänglich zu machen" (vgl. auch 1923, S. 507).

 

Eine analoge Erscheinung zu Thomson ist in der Chemie Friedrich August Kekulé. Seine Visionen im Halbschlaf über die tanzenden Atome, die sich zuerst zu einer offenen Kette gruppierten, später zu einer Schlange, die sich in den Schwanz beisst, sind Legende geworden. Es ging also um die Lagerung der Atome im Raum.

Die graphische Darstellung durch die Strukturformel mit den Valenzstrichen hatte der Schotte Archibald Couper 1858 eingeführt, und drei Jahre später prägte A. Butlerow den Begriff "chemische Struktur". Das war der erste Schritt.

Wie Kekulé in seinem "Lehrbuch der Organischen Chemie" (I, 1861, S. 157 f.) bemerkte, ist es aber einleuchtend, "dass man die Stellung der Atome im Raum, selbst wenn man sie erforscht hätte, nicht auf der Ebene des Papiers durch nebeneinandergesetzte Buchstaben darstellen kann; dass man vielmehr dazu mindestens einer perspectivischen Zeichnung oder eines Modelles bedarf". Daran hat Kekulé gearbeitet, und er war nach L. Horner (1965, S. 240) "wohl der erste, der aus einem ,unwiderstehlichen Bedürfnis nach Anschaulichkeit' heraus aus Kugeln und Drähten Atom- und Molekülmodelle aufbaute".

 

Die vollen praktischen und theoretischen Konsequenzen aus der Vierwertigkeit des Kohlenstoffatoms zog aber - basierend auf Arbeiten von Pasteur und Wislicenius über optisch aktive Substanzen, welche bei völliger chemischer Identität die Ebene polarisierten Lichts unterschiedlich drehen (geometrische Isomere) - der Holländer Jacobus Hendricus van't Hoff 1874. Einige Monate später kam der Franzose Joseph Achille Le Bel zum gleichen Schluss.

Eine Weile lang tat man dies als "Verirrung des Geistes" oder "Phantasiespielereien" ab. Doch die "Stereochemie" bewährte sich, und 1885 bzw. 1890 konnten A. v. Baeyer und H. Sachse mit Hilfe tetraedrisch gebauter Drahtmodelle neue Einsichten erschliessen und durch Experimente überprüfen.

Das von H. A. Stuart 1934 eingeführte Kalottenmodell (L. Horner 1965, S. 242) erinnert an eine Photographie (!), die einem Vortrag von Thomson aus dem Jahre 1893 über "the molecular tactics of a crystal" beigegeben ist (1904, Appendix H, S. 602ff.): "You see it looks, in size, colour, and shape, quite like a mulberry."

 

Was den Modellbegriff im deutschen Sprachgebiet anlangt, so hatten ihn auch die Mathematiker schon lange verwendet (vgl. Chr. Wolff 1734; J. H. Zedler 1739; J. K. G. Jacobsson 1783; ferner den ersten Modelltyp im Aufsatz von L. Boltzmann 1892, S. 90f. und die vielen Beispiele im Katalog von W. Dyck 1892, S. 168-179, 243-306 et passim).

Am 30. Juni 1862 zeigte E. Kummer ein "in Gyps gegossenes Modell der Krümmungsmittelpunktsfläche des dreiaxigen Ellipsoids" in der Sitzung der physikalisch-mathematischen Klasse der Königlichen Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Monatsberichte derselben, S. 426-428).

Auch Julius Plücker ( 1868; vgl. 1895 u. 1896) hat, wie sein ehemaliger Assistent Felix Klein (W. Dyck 1892, S. 283 f.) berichtet, in den letzten Jahren seines Lebens, und zwar angeregt durch Faraday, zahlreiche auf die Theorie der Linienkomplexe zweiten Grades bezügliche Modelle anfertigen lassen [24].

 

 

2.10 Äquivalente Abbildung von Zuständen beliebiger Systeme

 

Anders verwandte Ernst Mach in seiner "Mechanik in ihrer Entwicklung" (1883, S. 463 f.) den Modellbegriff, wenn er meint: "Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche Funktion, wie gewisse mathematische Hülfsvorstellungen, sie ist ein mathematisches Modell zur Darstellung der Thatsachen."

Und er erläutert: "Wenn man auch die Schwingungen durch Sinusformeln, die Abkühlungsvorgänge durch Exponenzielle, die Fallräume durch Quadrate der Zeiten darstellt, so denkt doch niemand daran, dass die Schwingung an sich mit einer Winkel- oder Kreisfunction, der Fall an sich mit dem Quadriren etwas zu schaffen hat."

 

Nachdem Boltzmann 1891 den Modellbegriff für ideale Konstruktionen zur Veranschaulichung von Gleichungen eingeführt hatte [25], sprach er im 2. Band 1893 nur noch von "Bild". Die praktische Ausführung bezeichnet er konsequent als "Apparat". Das ist auch im Nürnberger Katalog der Fall, doch nennt er hier den Maxwellschen Vorläufer "Modell" (1892, S. 405) und verwendet diesen Begriff in seinem Aufsatz (1892, S. 97) für analoge Bestrebungen.

 

Das ist also die Nahtstelle, wo sich der doppelte angelsächsische Sprachgebrauch Einlass in die deutsche Sprache verschafft hat. Grundlegend ist jedenfalls die Repräsentationsfunktion des Modells, sei es nun ideal oder (sekundär) real. Es verweist so oder so, und zwar als "Fiktion" oder Entwurf, auf Ausschnitte der Welt, auf physikalische Erscheinungen.

 

In aller Klarheit hat das Heinrich Hertz im Kapitel "Dynamische Modelle" seiner "Prinzipien der Mechanik" dargelegt, womit er 1894 den Modellbegriff explizit in die deutsche Fachsprache der Naturwissenschaft eingebracht hat.

Er stützt sich auf Theorie und Terminologie Maxwells, insbesondere dessen Schrift "Substanz und Bewegung" (dt. 1879). Hiernach dient ein Modell der dreidimensionalen Darstellung der "Configuration materieller Systeme", und es wird von ihm nur vorausgesetzt, "dass es dem materiellen Systeme in der Form gleiche, es ist nicht notwendig, dass es sonst noch etwas mit ihm gemeinsam habe" (1879, S. 3).

Es erlaubt aber, Eigenschaften eines materiellen Systems zu studieren. Dass es eine Mehrzahl von solchen Darstellungsmöglichkeiten gibt, lehrt nicht nur die Geschichte, sondern auch Maxwell, wenn er im "Treatise" (1873, § 831, S. 416f.) über seine Theorie der Friktionsteilchen als Verbindung der rotierenden Wirbel schreibt: "The attempt which I then made to imagine a working model of this mechanism must be taken for no more than it really is, a demonstration that mechanism may be imagined capable of producing a connexion mechanically equivalent to the actual connexion of the parts of the electromagnetic field.

The problem of determining the mechanism required to establish a given species of connexion between the motions of the parts of a system always admits of an infinite number of solutions. Of these, some may be more clumsy or more complex than others. but all must satisfy the conditions of mechanism in general."

Deshalb betonte auch H. Poincaré (1891, S. 2 u. 6): "Maxwell gibt nicht eine mechanische Erklärung der Elektricität und des Magnetismus; er beschränkt sich vielmehr darauf, nachzuweisen, dass solch' eine Erklärung möglich ist ... Wenn also eine Erscheinung eine vollständige mechanische Erklärung zulässt, so wird sie auch noch eine unbeschränkte Anzahl anderer Erklärungen zulassen, welche ebensogut von allen durch das Experiment enthüllten Einzelheiten Rechenschaft ablegen" (ebenso 1904, S. 215 u. 222).

 

So konnte also Hertz formulieren: "Unendlich viele, physikalisch gänzlich verschiedene Systeme können Modelle eines und desselben Systems sein. Ein System ist Modell unendlich vieler, gänzlich verschiedener Systeme" (1894, S. 197).

"Um den Ablauf der natürlichen Bewegung eines materiellen Systems vorauszusehen, genügt die Kenntnis eines Modells jenes Systems. Das Modell kann unter Umständen viel einfacher sein, als das System, dessen Bewegungen es darstellt" (1894, S. 198).

"Das Verhältnis eines dynamischen Modells zu dem System, als dessen Modell es betrachtet wird, ist dasselbe, wie das Verhältnis der Bilder, welche sich unser Geist von den Dingen bildet, zu diesen Dingen. Betrachten wir nämlich den Zustand des Modells als eine Abbildung des Zustandes des Systems, so sind die Folgen der Abbildung, welche nach den Gesetzen dieser Abbildung eintreten müssen, zugleich die Abbildung der Folgen, welche sich an dem ursprünglichen Gegenstand nach den Gesetzen dieses ursprünglichen Gegenstandes entwickeln müssen" (1894, S. 199).

 

Dahinter steckt also das Grundprinzip der Gewinnung von Erfahrung, welches Hertz in der Einleitung wie folgt beschrieben hat: "Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äusseren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände" (1894, S. 1) [26].

Zu beachten ist, dass Modell hierbei nicht einfach mit Abbildung verwechselt werden darf. "Modell" ist hier ein terminus technicus, und zwar insofern als die Relation "Modell sein" symmetrisch und transitiv ist. In der Formulierung von Hertz: "Ist ein System Modell eines zweiten Systems, so ist auch umgekehrt das zweite System Modell des ersten. Sind zwei Systeme Modelle eines dritten, so sind sie auch Modelle von einander. Das Modell des Modells eines Systems ist auch Modell des ursprünglichen Systems. Alle Systeme, welche Modelle von einander sind, heissen auch dynamisch ähnlich" (1894, S. 197).

Äusserst scharfsinnig unterscheidet somit Hertz zwei Ebenen: Abgebildet werden nur Zustände von Systemen. Modelle haben dagegen Systemcharakter, bilden also eine Ganzheit von Zusammenhängen, entweder im Reich des Geistes oder im Reich der Natur. Und einzig um diese Zusammenhänge im einen oder andern Bereich geht es, denn wie Maxwell zur verständigen Anwendung von Analogien (sc. Modellen) betont: "Die Ähnlichkeit ist nur eine Ähnlichkeit von Beziehungen, nicht eine Ähnlichkeit der in Beziehung stehenden Dinge" (1883, S. 54).

 

Wenig bekannt sein dürfte, dass Ludwig Wittgenstein Hertz sehr genau studiert hat. In seinem im Ersten Weltkrieg verfassten "Tractatus logico-philosophicus" ist Hertz einer der wenigen dort genannten Wissenschafter und Philosophen, und unter 4.04 weist er sogar auf das Kapitel "Dynamische Modelle" in Hertz' Mechanik hin (vgl. auch 6.361).

Einige Kernsätze des Wittgensteinschen Tractatus (1969) lauten:

 

"1.13     Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt.

2.063    Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt.

2.1         Wir machen uns Bilder der Tatsachen.

2.12       Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.

2.182    Jedes Bild ist auch ein logisches.

3            Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.

3.1         Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.

4            Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.

4.01       Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.

Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken."

 

 

2.11 Isomorphie, Ähnlichkeit, Analogie und Äquivalenz

 

Wittgenstein als Isomorphietheoretiker hat in zahlreichen Abhandlungen Wolfgang Stegmüller herausgestellt, u. a. in der umfangreichen und vielfältigen Übersicht der "Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie" (1965, S. 524-561). Wichtig dafür sind auch Kap. VI und VII in Erik Stenius' "Wittgensteins Traktat" (1969) [27].

 

Der Isomorphiebegriff wird in ganz unterschiedlichen Wissenschaften verwendet. In der Chemie entdeckte Eilhard Mitscherlich 1818 den Isomorphismus als Gestaltgleichheit bei Kristallen (vgl. z. B. G. Link 1923; "Eilhard Mitscherlich und die Isomorphie". Abhandlungen und Berichte des Deutschen Museums 1973).

Über den Isomorphiebegriff in der Mathematik und in der Psychologie geben H. G. Steiner und W. Witte (in J. Ritter und K. Gründer IV, 1976, Sp. 627-630) detaillierte Aufschlüsse: Für die Mathematik wird auf die "Isomorphismen" bei Camille Jordan, 1870, und Felix Klein, 1884, auf die "Ähnlichkeit" bei S. Lie, 1876, und Georg Cantor - 1884, 1886; ähnlich, conform, Ordnungszahl -, auf die "abstrakten Gruppen" bei H. Weber, 1893, sowie auf den 2. Band der "Principia Mathematica" von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead, 1913, Neudruck 1968, hingewiesen.

Allerdings verwendeten die letzteren Autoren den Begriff Isomorphie nicht. Russell sprach von "ordinal similarity" und "likeness". Laut Max Apel und Peter Ludz (1958, S. 150) ist in der Logistik "Isomorphie oder ordinale Ähnlichkeit (simple ordinality) die besonders von B. Russell entwickelte Theorie von der Identität zweier formaler Strukturen, die nur in ihren formalen Qualitäten ähnlich (und identisch) sind".

 

Die psychophysische Isomorphie wurde von Wolfgang Köhler (1924) postuliert, als Begriff taucht sie erst 1929 in seinem Werk "Gestalt Psychology" (dt. "Psychologische Probleme", 1933) auf. 1938 handelt dann eines der zehn Kapitel seines Buches "The Place of Value in a World of Facts" (dt. "Werte und Tatsachen", 1968) über Isomorphie. Die Sache lässt sich freilich schon in Ansätzen bei Lotze, 1852, Fechner, 1860, Mach, 1865, Hering, 1878, G. E. Müller, 1896, und Wertheimer, 1912, nachweisen.

 

Noch weiter zurück geht Georg Klaus (in G. Klaus und M. Buhr 1972, S. 542): "Leibniz hat die Bedeutung der Isomorphierelation für die Erkenntnistheorie erkannt ( Dialog über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten). Die Abbildung eines Bereichs der Wirklichkeit auf Begriffe, Aussagen, Theorien ist letztlich nichts anderes als die Herstellung einer Isomorphierelation ... Vermöge einer solchen Isomorphierelation kann dann im Prozess der Erkenntnis u. U. die praktisch-konkrete Bearbeitung und Handhabung der Dinge und ihrer Beziehungen durch das gedankliche Operieren mit den Namen der Dinge und ihren logischen Beziehungen ersetzt werden."

 

Auch Hermann Weyl (1927, S. 4ff.) nimmt mehrfach auf Leibniz Bezug. Im Kapitel über die "axiomatische Methode" erläutert er die "Modellmethode ". Mit ihr kann der Mathematiker die Widerspruchslosigkeit eines Axiomensystems auf diejenige eines anderen zurückführen. Für die Obersetzung von Namen für Objekte und Relationen des einen in Namen für das andere System erstellt er ein "Lexikon".

So hat etwa Felix Klein ein euklidisches Modell für die nicht-euklidische Geometrie angeben können: "die Objekte der euklidischen Geometrie selber erfüllen bei einer von der üblichen abweichenden Namengebung die nicht-euklidischen Axiome" (S. 19). Dabei braucht man nicht über die zur Konstruktion des Modells benutzten Objekte und Relationen die Wahrheit zu wissen, ist doch ein Axiomensystem nur eine "logische Leerform möglicher Wissenschaften" (S. 21). Erst wenn für die Namen der Grundbegriffe eine Bedeutung ausgewiesen ist, werden die Axiome zu wahren Aussagen.

Dieser Vorgang ist die "inhaltliche Interpretation" des Systems, welche das Sachgebiet einer Wissenschaft ergibt. Nun kann eine Wissenschaft ihr Sachgebiet immer nur bis auf eine isomorphe Abbildung festlegen (vgl. auch S. 58, 85, 90). Das heisst, sie verhält sich dem "Wesen" ihrer Objekte gegenüber indifferent: Wir können die "Dinge an sich" gar nie erkennen, wissen aber zufolge der postulierten Isomorphie über sie genau soviel wie über die Erscheinungen, die der Anschauung offen daliegen (vgl. S. 49, 83ff.). Denn nichts kann über die Objekte des einen Bereichs ausgesagt werden, was nicht auch im anderen Bereich gültig wäre (S. 21).

Da nun unser Schauen "nicht selige Ruhe in sich" ist, sondern zur Erkenntnis drängt, beschreiben wir die Erscheinungen immer wieder mit anderen bedeutungsvollen Namen. Findet dies im Rahmen eines Lind desselben, und zwar widerspruchsfreien Axiomensystems statt, dann haben wir verschiedene inhaltliche Interpretationen desselben, und alle sind, von der reinen Mathematik aus gesehen, wahr.

Im Lichte dieser strengen Betrachtungsweise gehört "Modell" demnach allein dem Bereich der Logik (und damit der Widerspruchsfreiheit) an, "Isomorphie" dagegen dem Bereich der Sachen (der inhaltlichen Interpretation).

 

Die somit "für die ganze Erkenntnistheorie fundamentale Idee der Isomorphie" (S. 21) wurde auch in die Kvbernetik und Systemwissenschaft übernommen (vgl. z. B. das 1945 verfasste 3. Kap. in L. v. Bertalanffy: "General System Theory", 1973). Sollen zwei oder mehr Systeme hinsichtlich ihrer Struktur verglichen werden, so versucht man eine Äquivalenz-Relation im Sinne einer Abbildung der Struktur des einen Systems auf ein anderes zu eruieren. Ist eine solche Abbildung eindeutig (d.h. nur in eine Richtung vollständig möglich), so spricht man von Homomorphie, ist sie umkehrbareindeutig oder ein-eindeutig (d.h. ohne "Verlust" in beide Richtungen möglich), von Isomorphie.

 

W. Ross Ashby beschreibt dies noch präziser:

1. "Die kanonischen Darstellungen von zwei Maschinen (oder Black-Boxes, d. h. von zwei Sachen, die sich genau so verhalten wie eine geschlossene eindeutige Transformation R. M.) sind isomorph, wenn eine umkehrbar-eindeutige Transformation von den Zuständen (Eingang und Ausgang) der einen Maschine zu denen der anderen Maschine die eine Darstellung in die andere umwandeln kann" (1974, S. 148).

Das bedeutet: Unterscheiden sich zwei Systeme nur im Hinblick auf die Art ihrer Elemente (z. B. Zustände, Variablen), nicht aber in der Anzahl der Elemente und in der Art und Weise der Verknüpfung, so sind sie isomorph.

2. "Wenn zwei Maschinen so zueinander in Beziehung stehen, dass sich eine nicht-umkehrbar-eindeutige Transformation finden lässt, die, wenn man sie auf eine der Maschinen anwendet, diese mit der anderen isomorph werden lässt, dann ist die andere (die einfachere der beiden) ein Homomorphismus der ersten" (S. 157 f., im Druck sind hier einige Seiten vertauscht worden).

Das bedeutet: Zwei Systeme sind homomorph, wenn sie einander gleich (isomorph) werden, sobald das eine (ev. auch beide) vereinfacht wird, d.h. nicht mit voller Unterscheidungsfähigkeit betrachtet wird.

 

Bei der Homomorphie kommt es somit auf die Blickrichtung an, die bei der Isomorphie nicht von Belang ist. Wenn wir vom einfacheren System (meist als Modell gefasst) auf das komplexere blicken, müssen wir dieses komplexere System vereinfachen.

Das kann auf zwei Weisen geschehen: Entweder greifen wir ein Teilsystem heraus, oder aber wir fassen bestimmte Elemente (z. B. Zustände) und Relationen (z. B. Transformationen) zusammen, vermindern also ihre Anzahl. Dann können wir, vom einfacheren Modell auf das Teilsystem oder die reduzierte Darstellung des Gesamtsystems schauend, herauszufinden versuchen, ob sie isomorph sind.

 

Dieses Sachverhalts muss man sich in der Forschungspraxis bewusst sein, wenn man von Isomorphie spricht, sintemal man im allgemeinen Modelle eines zu untersuchenden Originals erstellt (S. 158-164).

Diese Modelle sind meistens, jedenfalls sofern es sich um hochkomplexe Originale (Systeme) handelt, nur einem Teilsystem oder einer Vereinfachung des "Ganzen" isomorph (und überdies wird es auch selten in sämtlichen Einzelheiten betrachtet). Das heisst, wir erfassen die Wirklichkeit nie vollständig.

Man sagt auch, es gibt zwar eine inverse Abbildung vom Nachbereich auf den Vorbereich, doch der Vorbereich deckt nicht das Original in seiner ganzen Komplexität ab. Das bedeutet: Wir erfassen die Wirklichkeit selektiv, aspekthaft und niveaubedingt.

Die Aufgabe des Wissenschafters besteht somit darin, Entdeckungen verschiedener Beobachter zu koordinieren, sorgfältig ausgewählte Teilansichten miteinander zu verbinden. Für den Praktiker dagegen genügt jedoch meist die Verwendung eines Homomorphismus zur Lösung seines spezifischen Problems. Denn auch Teilerkenntnisse, wie sie Homomorphismen liefern, sind in sich selbst vollständig und für praktische Vorhaben ausreichend, auch wenn sie vom "Ganzen" nur Bruchteile erfassen (S. 154f.).

Trotz Verwendung des Begriffs "Struktur" lässt sich freilich mit Hilfe von Isomorphien nicht der innere Aufbau des Originals festlegen. Das Original bleibt weitgehend eine Black-Box, ein schwarzer Kasten. Isomorphie gibt uns nur gleiche Verhaltens-Strukturen von Modell und (reduziertem) Original.

Durch welche und wieviele spezifischen Verbindungen (z. B. Schaltungen, Netze) innerhalb des Originals dieses Verhalten zustande kommt, kann nicht ermittelt werden (S. 141 f.). Freilich ist in manchen Fällen durch die Strukturanalyse ein gewisses Grundschema als mehr oder weniger begründete Hypothese auszumachen, das seinerseits als Modell ein Homomorphismus des untersuchten Verknüpfungsaufbaus ist. (Manche Autoren sprechen dabei von Funktionsanalogie.)

 

Es gibt kaum ein Thema, bei dem um Platons "Timaios" herumzukommen wäre. Daher ist er auch in Zusammenhang der mit diesen Erörterungen unweigerlich auftauchenden Fragen von "Ähnlichkeit" und "Analogie" zu konsultieren.

Dass die Abbildung zum Urbild im Verhältnis der Ähnlichkeit steht, findet sich 30Cff. Demgegenüber ist freilich "Parmenides" (131A, 132Dff.) zu beachten.

Die Verbindung zur "Anamnesis" bringen "Menon" (81 ff.), "Phaidon" (73ff.) und "Phaidros" (249ff.).

Ähnlichkeit als Grundbegriff taucht im "Theätet" (185C) auf, bei Aristoteles dann in der "Metaphysik" (V 15, 1021 a 9 ff). Definiert wird sie daselbst V 9, 1018a 15 ff.

Eine andere Art von Ähnlichkeit findet sich schliesslich bei der Erzeugung (genesis) natürlicher Dinge ("Metaphysik" VII 8, 1033b 29 ff.; "De anima" II 4, 415a 26 ff.).

Ähnlichkeit wurde dann zu einem wichtigen Begriff in der Scholastik und vor allem bei Thomas von Aquin (similitudo).

 

Das 1796 von Samuel Hahnemann formulierte Ähnlichkeitsgesetz begründete in der Medizin die Homöopathie.

Die Ähnlichkeitstheorie der Strömungslehre (z. B. M. Weber 1919, 1930; W. Herrmann 1930; P. Füsgen 1939; Dimensionsanalyse zur Auffindung von Kennzahlen) geht auf Formulierungen des Ähnlichkeitsgesetzes durch Helmholtz, 1873, 1882, 1889, zurück. Sogenannte "Modellregeln" für diesen Bereich stammen u. a. von Cauchy, 1829, Bertrand, 1847 u. 1848, Froude, 1869 ff., und Reynolds, 1883.

 

Lehren von der Ähnlichkeit gibt es auch in der Geometrie und Optik, in der Biologie (Homologie und Analogie; letztere erfuhr ihre erste Definition durch Richard Owen 1846, vgl. "On the Archetype and Homologie of the Vertebrate Skeleton" 1848) und in der Sprachwissenschaft.

Grundsätzliches bei Theodor Lipps ("Einheiten und Relationen" 1902); Ernst Mach ("Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotive der Forschung", Annalen der Naturphilosophie I, 1902); Harald Höffding (1911 ); Irmgard Vogt ("Zur Psychologie der Ähnlichkeit" 1972); und in den Aufsätzen zu Analogie und Ähnlichkeit in Heft 11 des "Studium Generale", 1955.

 

Was die "Analogie" betrifft, so sei wiederum auf Platon ("Timaios" 31 B ff., 53E, 56C) und Aristoteles ("Metaphysik" V 6, 1016b 31 ff.; "Nikomachische Ethik" V 6, 1131a 31; "Analytica priora" II 24 - und zwar das Verfahren als "paradeigmä ") hingewiesen, ferner auf Archytas von Tarent (Fr. 2) und Euklid ("Elemente" V, in Anlehnung an Eudoxos von Knidos; und VII, zurückgehend auf die Pythagoräer).

Aus der Fülle der Literatur J. Hoppe ("Die Analogie" 1873), L. William Stern ("Die Analogie im volkstümlichen Denken" 1893), Harald Höffding (1911; 1924), S. Buchanan (1932), Erich Przywara ("Analogia entis" 1932), H. Schwarz (1971) und Harald Holz (1973); vgl. auch T. Pavlov (1973).

 

"Äquivalenz" schliesslich findet sich zuerst in der Physik bei der Energieumwandlung (Robert Mayer, 1842), in der Elektrotechnik, Chemie und Optik, aber auch in der Mathematik, insbesondere der Mengenlehre (wiederum Cantor, 1886 - vgl. auch Freges "eindeutige Zuordnung", 1884) und der Logik (eingeführt durch Hugh McColl, 1877-78, Giuseppe Peano, 1889; ferner bei C.S. Peirce, "Collected Papers" IV, 213 und Russell/Whitehead, "Principia Mathematica", 4.01 sowie z. B. Gerald A. Sanders, "Equational grammar". 1972).

Narziss Ach hat in die Psychologie das "Prinzip des assoziativen Äquivalents" eingeführt.

 

Weitere Begriffe in diesem fast unausschöpfbaren Bereich der Beziehungen können nur benannt werden:

Affinität, Assoziation und Verwandtschaft;

Adäquation, Entsprechung, Kongruenz, Korrespondenz und Übereinstimmung;

Repräsentation, Substitution, Äquipollenz und Stellvertretung;

Zuordnung, Transformation und Code;

Korrelat und Kopie;

Belegung, Erfüllung, Sättigung, Darstellung, Konkretion, Abstraktion, Realisierung, Interpretation, Formalisierung;

schliesslich in einem weiteren Zusammenhang Verifikation, Bestätigung, Bewährung, Rückführung, Validierung, Begründung, Beweis.

 

 

3.                   Von dem Bewusstsein davon, dass wir in Modellen denken

 

3.1 Von der Abbildtheorie zur kybernetischen Betrachtung

 

Soviel zur Geschichte des Modellbegriffs. Wie steht es nun aber mit dem "Bewusstsein davon", dass der Mensch in Modellen oder Bildern, Zeichen, Symbolen, Analogien denkt?

 

Einen Markstein setzt hier wohl Xenophanes. Er karikiert die anthropomorphe Vorstellung von den Göttern und fährt fort: "Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte" (Fr. 15).

Darüber hinaus hat er das Hauptprinzip der Modellierung entdeckt: "Wahrlich nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles enthüllt, sondern allmählich finden sie suchend das Bessere" (Fr. 18). Aber es bleibt dabei: "Schein haftet an allein" (lt. Diels) resp. "Wähnen nur ist uns beschieden" (lt. Capelle, Fr. 34).

 

Die Porentheorie seines Schülers Empedokles führt dann bereits einen Schritt auf die Abbildtheorie [28]weiter: Von den Gegenständen gehen "Ausflüsse" (aporroai) aus, die in die Sinnesorgane eindringen und dort, zusammen mit gleichartigen Partikeln (homoion-Lehre), die Wahrnehmung erzeugen.

Bei den Atomisten (Leukipp, Demokrit) und Epikur sind es "Bildchen" (eidola, typoi), die ins Auge eindringen und hier Spiegelbilder der gesehenen Gegenstände erzeugen.

 

Bei Platon kommt ein anderer Modellierungsvorgang ins Spiel. Die Körper, die sinnlichen Gegenstände sind ihm Abbilder (eidola) oder Nachbilder (mimemata, ektypomata) der unkörperlichen Ideen (als Urbilder, paradeigmata, oder Erstgeprägte, Prototypen). Die physikalische Welt ist ein Bild (eikon) der Welt der Ideen (to on). Diese Ideen sind ferner geistig (als noumena) fassbar.

Unter Verzicht sowohl auf die Ideenlehre wie die Zustrom-Theorien fasst dann Aristoteles die in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen als Abbilder der Dinge (homoiomata).

 

Wie genau diese Vorstellungen den Sachen entsprechen, wurde Gegenstand der Wahrheitslehre, später insbesondere geprägt durch die Formel "veritas est adaequatio rei et intellectus" des Thomas von Aquin. Freilich verwendet er statt "Übereinstimmung" (adaequatio, gr. homoiosis) auch correspondentia (Entsprechung) und convenientia (Übereinkunft: bei Cicero Übersetzung von homologia).

Aus philosophischen Gründen bestreitet Nicolaus von Cusa die Möglichkeit einer strengen Gleichheit bei anderen als rein rationalen Beziehungen und beschränkt sich auf eine fortwährend verbesserungsfähige adäquatio (J. E. Hofmann 1951, S. 154).

 

Wenn wir uns wieder zu dem Bewusstsein, dass wir in Modellen denken, zurückwenden, so liegt die Erwähnung Francis Bacons nahe.

Ähnlich wie Xenophanes karikiert er in seiner Idolenlehre ("Novum Organon", 1620) die fälschen Vorstellungen oder Begriffe, die sich die Menschen machen. Er unterschied "vier Arten von Vorurteilsgötzen, die im Besitze des menschlichen Gemüts sind" und kritisiert z. B. "jenes Vorgeben, dass sich die himmlischen Körper sämtlich in vollkommenen Zirkeln bewegen, mit gänzlicher Verwerfung der Schlangen- und Spirallinien, fast bis auf den Namen. Eben deshalb hat man das Feuer mit seinem Kreise als Element eingeführt, um mit den Übrigen dreien, welche in die Sinne fallen, die. Zahl Vier voll zu machen. Nicht weniger willkürlich legt man den Elementen, wie man sie nennt, ein zehnfach steigendes Verhältnis zu einander in Absicht ihrer Feinheit bei, und dergleichen Träume mehr" [29].

Was Bacon freilich noch nicht erkannt hat, ist der Tatbestand, dass man auch durch die Verwendung der in seinen Augen "richtigen Methode", nämlich Induktion aus Beobachtung und Experiment, zu Modellen gelangt.

 

Da sieht Comenius klarer, wenn er in seiner böhmischen "Didaktik" folgende Schilderung des Modellierungsprozesses gibt: "Die rechte Vollzugsweise des ersten (sc. des Kennenlernens der Werke Gottes) kann man leicht am Beispiel des Spiegels, der Augen und der Malkunst nachweisen. Denn alles geschieht ja hier als Widerspiegelung und Abbildung.

Gott z. B. hat seine mannigfaltige Weisheit in seinen Geschöpfen, in der Heiligen Schrift und in seinem Sohn dargestellt; die Geschöpfe wiederum stellen sich dar in den Sinnen, Augen, Ohren, Nasen usw. durch das Berühren, das Betrachten etc. Aus den Sinnen wechseln die Abbildungen ins Gehirn über, wo der Geist sie betrachtet und sich an ihnen labt. Die Wiedergabe dessen, was derart im Gehirn (im Geist) ist, ist das ausgesprochene Wort; das Bild des gesprochenen Wortes hinwiederum ist (las geschriebene Wort oder irgendein aus dem Gedächtnis hergestelltes Werk" (J. A. Comenius 1970, S. 85f.).

Merkwürdigerweise hat Comenius diese Fussnote aus dem XIII. Kapitel nicht in die .,Grosse Didaktik" übernommen, die sonst im wesentlichen denselben Aufbau und Inhalt wie die "böhmische" aufweist.

Diese Bildtheorie hat sich auch im "Orbis pictus" (1658) niedergeschlagen, der seinerseits inspiriert worden ist von Campanellas "Sonnenstaat". Die Wirkung war rasch und nachhaltig.

 

Weit weniger schnell hat sich dagegen das sozusagen kybernetische Modell aus David Humes "Untersuchungen über den menschlichen Verstand" (1748) durchgesetzt. Erst Mach knüpfte an die darin gebotene Assoziationspsychologie, Avenarius an die Empfindungstheorie an.

Hume begründete die Aktpsychologie und leitete damit die Abwendung vom Substanzbegriff ein. Als Stammvater des modernen Positivismus arbeitete er gleichzeitig das Problem der Letztbegründung heraus.

Analog dem Modellierungsprozess bei Comenius liest sich das Schema bei Hume etwa folgendermassen: Empfinden und Gefühl liefern Eindrücke (als lebhaftere Auffassungen); die Einbildungskraft arbeitet mit Gedanken und Vorstellungen (d.h. schwächeren Auffassungen als Abbilder, "copies", der Eindrücke).

Die ganze schöpferische Kraft des Geistes besteht in nichts anderem als der "Fähigkeit der Verbindung, Umstellung, Vermehrung oder Verminderung des Stoffes, den uns Sinne und Erfahrung liefern" (D. Hume 1973, S. 19). Oder positiver formuliert: "Nichts ist so frei wie die menschliche Einbildungskraft; kann sie auch den ursprünglichen Vorrat an Vorstellungen nicht überschreiten, den die inneren und äusseren Sinne liefern, so hat sie doch unbeschränkte Macht, diese Vorstellungen zu all' den mannigfaltigen Gebilden, die sie dichtet und schaut, zu mischen, zusammenzusetzen, zu trennen und zu teilen" (S. 60).

Diese Verbindung, Vermischung und Abwandlung beruht auf den drei Prinzipien der Assoziation: Ähnlichkeit, Berührung und Verursachung. Motivation, Gedächtnis und Erfahrung als Wirkung der Gewohnheit und Übung spielen dabei die tragenden Rollen.

 

Eine der vielen von Hume ausgiebig untersuchten Wirkungen der Assoziation auf die Affekte und Einbildungskraft ist die Erstellung eines Planes: "Da der Mensch ein vernünftiges Wesen ist und beständig sein Glück verfolgt, das er durch Befriedigung eines Affekts oder einer Neigung zu erlangen hofft, so handelt, spricht oder denkt er selten ohne Vorsatz und Absicht. Immer sieht er einen Zweck vor sich; und wie ungeeignet die Mittel auch manchmal sein mögen, die er zur Erreichung seines Endziels wählt, so behält er doch irgend ein Ziel im Auge. Nicht einmal seine Gedanken und Überlegungen wird er verschleudern, wo er keine Befriedigung davon zu ernten hofft" (S. 26).

Daraus resultiert als letzte Modellierungsstufe die "Einheit der Handlung", die das ganze Menschenleben als "regelmässige Kette" durchzieht: "Nicht nur in einem beschränkten Abschnitt des Lebens stehen die Handlungen des Menschen in Abhängigkeit voneinander, sondern auch während seiner ganzen Dauer, von der Wiege bis zum Grabe" (S. 28) [30].

 

 

3.2 Abstrahierendes und ökonomisches Strukturdenken

 

Bis weit ins letzte Jahrhundert operierte die Physik wie auch andere Naturwissenschaften - man denke etwa an das "natürliche System" der Pflanzen - unter der Annahme, die wissenschaftlichen Begriffe und Theorien sollten die Realität möglichst getreu widerspiegeln - zumindest als Hypothese, die verbesserungsfähig bleibt, und unter häufiger Verwendung von Analogien (das geht bis zum Rutherford-Bohrschen Atommodell).

Für etwaige Unstimmigkeiten zwischen Modell und Wirklichkeit wurden einzig technische oder mathematische Schwierigkeiten verantwortlich gemacht. M. Jammer (1965, S. 169) zitiert aus Galileis "Dialog", 1632: "Die Fehler liegen weder an dem Abstrakten noch an dem Konkreten, weder an der Geometrie noch an der Physik, sondern an dem Rechner, der nicht richtig zu rechnen versteht." Daher auch seine bekannte Maxime: "Man muss messen, was messbar ist und messbar machen, was zunächst nicht messbar ist" (Opere, hrsg. v. E. Alber, Florenz, 1842 ff., Bd. IV, S. 171).

 

Immerhin hat Galilei aber gerade damit auch den Weg bereitet für die neue Art der physikalischen Weltbetrachtung ä la Mach und Hertz, wie sie M. Jammer (1965, S. 169) beschreibt: "Der Wahrheitsgehalt der Physik wird nicht mehr in einer objekt-treuen Spiegelung der Realität sondern in einer strukturtreuen Beziehung gesehen. Da dieser Isomorphismus keine objekt-treue Abbildungsmöglichkeit voraussetzt, darf er mit blossen Symbolen arbeiten ..., denen vielleicht gar kein Element der objektiven Realität entspricht."

So hat schon 1837 George Green (1871) am Anfang eines Vortrages eingestanden: "... we are so perfectly ignorant of the mode of action of the elements of the luminiferous ether an each other, that it would seem a safer method to take some general physical principles as the basis of our reasoning, rather than assume certain modes of action, which, after all, may be widely different from the mechanism employed by nature."

 

Allerdings hat noch 1844 Hermann Grassmann streng klassisch formuliert: "Die oberste Teilung aller Wissenschaften ist die in reale und formale, von denen die erstern das Sein, als das dem Denken selbständig Gegenübertretende, im Denken abbilden und ihre Wahrheit haben in der Übereinstimmung des Denkens mit jenem Sein; die letztern hingegen das durch das Denken selbst Gesetzte zum Gegenstand haben und ihre Wahrheit haben in der Obereinstimmung der Denkprozesse unter sich" (nach E. Mach 1912, S. 470).

Ausgerechnet Mach zitiert diesen Satz in einer späteren Auflage der "Mechanik" als Vorläufer seiner eigenen Auffassung, die "die Anpassung der Gedanken aneinander" als die Aufgabe der eigentlichen Theorie bezeichnet (1896, S. 252).

Die erste Hälfte von Grassmanns Satz hat freilich bald einer modifizierten und vorsichtigeren Betrachtungsweise weichen müssen, nämlich der Nachbildung der Tatsachen in Gedanken durch allmähliche Anpassung der Gedanken an die durch Beobachtung festgestellten Tatsachen. Das soll auf möglichst ökonomische und zweckmässige Weise geschehen. Mach berichtet (1912, S. 469), er habe die "Vorstellung von einer Ökonomie des Denkens" schon 1861 gehabt (vgl. auch 1912, Vorwörter; S. 252-271; S. 457ff.).

 

Bemerkenswerterweise hat aber bereits Kekulé für die organische Chemie in seinem zwei Jahre vorher abgeschlossenen 1. Band des "Lehrbuchs" (1861, S. 95) erläutert: "Alle s. g. theoretischen Betrachtungen sind nur Wahrscheinlichkeits- und Zweckmässigkeitsbetrachtungen. Aus einer grossen Anzahl von Thatsachen hergeleitet, bei Anwendung auf andere passend gefunden, sind sie vorerst als ein der Wahrheit sich nähernder Ausdruck, aber desshalb nicht als erkannte Wahrheit zu betrachten.

Alles was also dermalen in theoretischer Beziehung geschehen kann, ist: eine Anschauungsweise aufzusuchen, welche sich einer möglichst grossen Anzahl von Thatsachen in möglichst ungezwungener Weise anpasst; welche die chemischen Vorgänge in möglichst einfacher und umfassender Weise darstellt und von ihnen, wenn auch keine Erklärung, doch wenigstens eine einigermassen klare Vorstellung gibt." Dies geschieht durch die sogenannten "rationellen Formeln" (S. 152ff.; 220f.; 521ff. et passim).

[„Die rationellen Formeln haben also den Zweck, eine gewisse Vorstellung zu geben von der chemischen Natur einer Verbindung, also namentlich von ihren Metamorphosen und von den Beziehungen, in welchen sie zu anderen Körpern steht.“]

 

1876 hat Kirchhoff als Aufgabe der Mechanik ausschliesslich die mathematisch verschärfte "Beschreibung" der Bewegungen als Erscheinungen unter Ablehnung jeglicher Erklärung, d.h. Angabe ihrer Ursachen, bezeichnet. Es gilt, "die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben".

 

1883 gab dann Mach einer Richtung der Erkenntnisse seiner Zeit die nachhaltig wirksame Gestalt, indem er den stufenweisen Vorgang der Naturwissenschaft - Beobachtung, Deduktion und formale Entwicklung - in folgende Kernsätze kleidete: "Sind einmal alle wichtigen Thatsachen einer Naturwissenschaft durch Beobachtung festgestellt, so beginnt für diese Wissenschaft eine neue Periode, die deductive ... Es gelingt dann, die Thatsachen in Gedanken nachzubilden, ohne die Beobachtung fortwährend zu Hülfe zu rufen" (1883, S. 396). Genauer noch: "Alles Naturwissen kann nur Complexe von jenen Elementen nachbilden und vorbilden, die wir gewöhnlich Empfindungen nennen. Es handelt sich um den Zusammenhang dieser Elemente" (1883, S. 478).

Oder etwas ausführlicher: "Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Thatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst, und dieselbe in mancher Beziehung vertreten können ... Sie muss daher zwar einerseits in dem Gebiete der Erfahrung bleiben, eilt aber doch andererseits der Erfahrung voraus, stets einer Bestätigung, aber auch Widerlegung gewärtig ... So dürfen wir auch die intellectuellen Hülfsmittel, die wir zur Aufführung der Welt auf der Gedankenbühne gebrauchen, nicht für Grundlagen der wirklichen Welt halten" (1883, S. 452, 461 u. 476).

Bei der "Formalisierung" handelt es sich dann darum, "die vorkommenden und nachzubildenden Thatsachen in eine übersichtliche Ordnung, in ein System zu bringen, sodass jede einzelne mit dem geringsten Aufwand gefunden und nachgebildet werden kann" (1883, S. 396).

Zu beachten ist aber stets: "Wenn wir Thatsachen in Gedanken nachbilden, so bilden wir niemals die Thatsachen überhaupt nach, sondern nur nach jener Seite, welche für uns wichtig ist, wir haben hierbei ein Ziel, welches unmittelbar oder mittelbar aus einem praktischen Interesse hervorgewachsen ist. Unsere Nachbildungen sind immer Abstractionen.

Auch hierin spricht sich ein ökonomischer Zug aus" (1883, S. 454). Und mit Bezug auf das Thema seines Buches betont Mach auf der Grundlage seiner Empfindungslehre: "Selbst die scheinbar rein mechanischen Vorgänge sind also stets auch physiologische, als solche auch elektrische, chemische usw. Die Mechanik fasst nicht die Grundlage, auch nicht einen Theil der Welt, sondern eine Seite derselben" (1883, S. 478).

 

Wie sehr also in Physik und Chemie jener Zeit der Wahrheitsanspruch im klassischen Sinne noch mitschwingt, ist nicht leicht zu sagen. Er ist gewiss unterschiedlich.

Zentral jedenfalls ist der Gesichtspunkt der Gedankenökonomie (Mach, Avenarius) sowie derjenige der Zweckmässigkeit (Kekule, Hertz). Dazu formuliert Hertz: "Verschiedene Bilder derselben Gegenstände sind möglich, und diese Bilder können sich nach verschiedenen Richtungen unterscheiden." Können wir demnach rnehrere zulässige und richtige Bilder derselben Sache haben - am bekanntesten ist wohl das Beispiel vom Wellen- und Korpuskelcharakter des Lichts, der elektromagnetischen Schwingungen überhaupt -, so müssen wir nach der Nützlichkeit oder Zweckmässigkeit auswählen:

"Von zwei Bildern des selben Gegenstandes wird dasjenige das zweckmässigere sein, welches mehr wesentliche Beziehungen des Gegenstandes widerspiegelt als das andere; welches, wie wir sagen wollen, das deutlichere sei. Bei gleicher Deutlichkeit wird von zwei Bildern dasjenige zweckmässiger sein, welches neben den wesentlichen Zügen die geringere Zahl überflüssiger und leerer Beziehungen enthält, welches also das einfachere ist" (H. Hertz 1894, S. 2; vgl. W. Heisenberg 1965, S. 112f.).

 

Es geht also seit Mach und Hertz um die Darstellung funktionaler Abhängigkeiten und Zusammenhänge. Das liegt ganz in der Strömung, die man als "Entmaterialisierung des Weltbildes" (J. Gebser), als Ablösung der "Physik der Eigenschaften" durch die "Physik der Prinzipien" bezeichnen kann: "Struktur" ersetzt "Substanz" [31]. Das ging soweit, dass W. Ostwald 1895 forderte: "Du sollst dir kein Bildnis oder ein Gleichnis machen."

 

Deshalb wurden in der Geometrie und Mathematik sogenannte "Darstellungen" (H. Poincare 1898, D. Hilbert 1899) oder "Konkretisierungen" ("concrete representations" bei J. W. Young 1911) nicht als Bilder, sondern als logische Instrumente verwendet, um die Widerspruchsfreiheit von Axiomen zu beweisen (vgl. dazu schon die "Realisierung" der nicht-euklidischen Geometrie um 1870 durch Beltrami und Klein).

Carnap (1934ff.), Cohen und Nagel (1934) und Tarski (1935) nahmen den Modellbegriff in dieser Bedeutung als "Erfüllung [32] von axiomatischen (sc. linguistischen) Systemen und formalisierten Theorien auf.

Gleichzeitig hatte auch in der Physik der Gebrauch von Modellen für Konsistenzbeweise Fuss gefasst, wie sich z. B. aus einer Bemerkung von J. Larmor, 1900, ergibt: "... das gyrostatische Modell des Äthers hat nicht den Zweck, uns seine wirkliche Struktur zu offenbaren, sondern uns zu zeigen, dass das Schema der mathematischen Beziehungen, die seine Tätigkeitsweise bestimmen, eine legitime Konzeption ist" (M. Jammer 1965, S. 172).

 

Seither hat die Funktion des Modells als blosse Verbildlichung also ständig abgenommen, aber als Ausdruck konsistenter Synthese von a priori unzusammenhängenden Beobachtungselementen an Bedeutung gewonnen [33]. "Als Kriterium der logischen Widerspruchslosigkeit wurde es gerade wegen der Uranschaulichkeit und Abstraktheit der Theorie zum wesentlichen Bestandteil der wissenschaftlichen Methode ... Auch der in der Metamathematik verbreitete Gebrauch von Modellen für die Entscheidung der Definierbarkeit oder Unabhängigkeit fundamentaler Begriffe mit Hilfe von Padoas Prinzip beruht letzthin gleichfalls in dem Wesen des Modells als Kriterium der logischen Konsistenz" (M. Jammer 1965, S. 172).

 

Keine Strömung ohne Wirbel und Gegenströmungen. Solche sind für die mechanistisch-deterministische Betrachtungsweise etwa Romantik und Entwicklungsdenken, Irrationalismus und Individualismus, Historismus und Vitalismus.

Insbesondere Organismusgedanke und Ganzheitsbetrachtung haben über die organismische Biologie Ludwig von Bertalanffys zur Systemtheorie geführt. Hierbei sind auch interessante Sonderformen anzutreffen.

In seinem Aufsatz über "Modell und Urbild" weist Walter Heistermann (1965, S. 27) beispielsweise auf die Theorie der "unbewussten Organprojektion" hin, die Ernst Kapp (1877) entwickelt hat (vgl. auch C. Graf v. Klinckowstroem 1959, S. 435). Danach sind die technischen Gebilde und Werkzeuge, die Artefakte des Menschen, unbewusste Projektionen oder Objektivationen der menschlichen Körper- und Organverhältnisse: Das Telegraphennetz entspricht dem Nervensystem, das Staatsleben dem leiblichen Organismus.

Letzteres schlug sich u. a. in dem bekannten Titel von Albert Schäffle, "Bau und Leben des sozialen Körpers", 1875-78, nieder. Allerdings schwächte er später die Entsprechung ab.

 

 

3.3 Von Symbol und Zeichen zur neopragmatischen Erkenntnistheorie

 

Generationen von Wissenschaftern und Philosophen sind von Mach beeinflusst worden.

Weniger Beachtung fand dabei eine weitere ökonomische Funktion: "Die Mittheilung der Wissenschaft durch den Unterricht bezweckt, einem Individuum Erfahrung zu ersparen durch Übertragung der Erfahrung eines andern Individuums. Ja es werden sogar die Erfahrungen ganzer Generationen durch die schriftliche Aufbewahrung in Bibliotheken spätern Generationen übertragen, und diesen daher erspart. Natürlich ist auch die Sprache, das Mittel der Mittheilung, eine ökonomische Einrichtung. Die Erfahrungen werden mehr oder weniger vollkommen in einfachere, häufiger vorkommende Elemente zerlegt, und zum Zwecke der Mittheilung, stets mit einem Opfer an Genauigkeit, symbolisiert" (1883, S. 452 f.).

Dabei ist wiederum zu beachten: "Es gibt in der Natur kein unveränderliches Ding. Das Ding ist eine Abstraction, der Name ein Symbol für einen Complex von Elementen, von deren Veränderung wir absehen. Dass wir den ganzen Complex durch ein Wort, durch ein Symbol bezeichnen, geschieht, weil wir ein Bedürfniss haben, alle zusammengehörigen Eindrücke auf einmal wach zu rufen ... Die Empfindungen sind auch keine ,Symbole der Dinge'. Vielmehr ist das ,Ding' ein Gedankensymbol für einen Empfindungscomplex von relativer Stabilität. Nicht die Dinge (Körper), sondern Farben, Töne, Drucke, Räume, Zeiten (was wir gewöhnlich Empfindungen nennen) sind eigentliche Elemente der Welt" (1883, S. 454).

 

Allerdings war gerade im 19. Jahrhundert der Widerstand gegen die Aufgabe des Abbild-Gedankens noch stark, wie das die vielen mechanischen Modelle der Elektrodynamik deutlich zeigen, auch wenn man sich weitgehend dessen bewusst war, was Hertz betonte: "Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen." Wir können an ihnen nur, "wie an Modellen, in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äusseren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden; wir vermögen so den Tatsachen vorauszueilen und können nach der gewonnenen Einsicht unsere gegenwärtigen Entschlüsse richten" (H. Hertz 1894, S. 2; vgl. W. Heisenberg 1965, S. 112).

 

Obwohl sich Charles Sanders Peirce, der Begründer der Zeichentheorie, 1893 dagegen gewehrt hat, als "David Hume redivivus" bezeichnet zu werden, hat er doch vieles von Hume übernommen, man denke nur an die zentralen Begriffe "habit", "instinct" und "faith". Bereits 1868 (1967, S. 186 u. 175) hat er festgestellt: "Wir haben kein Vermögen, ohne Zeichen zu denken" (5.265). "Alles Denken muss daher ein Denken in Zeichen sein" (5.251) [34].

Peirce greift wie Comenius auf die von Thomas von Aquin formulierte griechische Erkenntnis zurück: "nihil est in intellectu, quod non sit prius in sensu" (vgl. auch Epikur, Cicero). Erkenntnis ist ihm Repräsentation der äusseren Tatsachen.

Dabei postulierte er ebenfalls bereits 1868 (1967, S. 198; ähnl. S. 204: 5.290) eine Dreistelligkeit aller geistigen Operationen: "Erstens ist ein Zeichen in Relation zu einem Gedanken, der es interpretiert; zweitens ist es ein Zeichen für ein Objekt, für das es jenem Gedanken gleichbedeutend steht, drittens ist es ein Zeichen in einer Hinsicht oder Qualität, die es mit seinem Objekt in Verbindung bringt" (5.283) [35].

 

Bekannt geworden in diesem dreifaltigen Zusammenhang ist die Unterscheidung von Symbol, Index und Ikon, die Peirce vielleicht schon zur selben Zeit in seinen ersten Vorlesungen in Harvard skizziert hat [36]. Ikon ist dabei durchaus mit "Modell" in Verbindung zu bringen: "Ein lkon ist ein Repräsentamen, das die Funktion eines Repräsentamens kraft einer Eigenschaft erfüllt, die es für sich genommen besitzt, und es würde genau diese Eigenschaft auch besitzen, wenn sein Objekt nicht existierte ... Es repräsentiert, was auch immer es repräsentieren kann; und alles, dem es nur immer ähnlich ist, ist es insofern auch. Es ist ein Fall von blossem Sosein" (5.73,74). Ein Ikon ist die qualitativ degenerierte Art von Repräsentamina; es drückt Qualitäten aus (5.119 vgl. 5.162; C. S. Peirce 1970 u. 1973) [37].

 

An diese Formulierungen der "Vorlesungen über Pragmatismus" (1903, dt. 1973) knüpfte dann Charles W. Morris in seiner Schrift "Signs, Language and Behavior" (1946, dt. 1973) an [38], als er über den Grad der Zuverlässigkeit von Zeichen sprach: "Ein Zeichen ist in dem Masse ikonisch, wie es selbst die Eigenschaften seiner Denotate hat; sonst ist es nicht-lkonisch."

Damit ist ein Hinweis auf den Grad der Angleichung [39] (vgl. H. Stachowiak 1973, S. 155ff.) gegeben bzw. auf die Verwendung von abundanten und die Weglassung von präterierten Merkmalen: "Ein Zeichen, das in gewissem Ausmass ikonisch ist, kann auch nicht-ikonische Eigenschaften haben, die für seine Signifikation irrelevant sind. Eine der Gefahren beim Gebrauch von Modellen in der Wissenschaft entsteht z. B. aus der Versuchung, dem Gegenstand der Theorie Eigenschaften des Modells zuzuschreiben, die die Theorie illustrieren, aber in der Theorie selbst nicht enthalten sind" (C. W. Morris 1973, S. 99) [40].

 

Zur selben Zeit da Peirce den Pragmatismus begründete, entwickelte Hans Vaihinger, ausgehend von der schon von Kant verwendeten Konjunktion "als ob" und Nietzsches Begriff der "Fiktion" sein "System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit". (1876-78 verfasst, konnte die umfangreiche Studie infolge widriger Umstände erst 1911 erscheinen.)

Da damals der Modellbegriff noch nicht im heutigen Sinn in Gebrauch war, wird er darin nicht verwendet. Dennoch kann dieses Werk - mit den selben Vorbehalten wie bei Bacons Idolenlehre - als Vorarbeit zu einer "Allgemeinen Modelltheorie" (H. Stachowiak 1973) angesehen werden.

 

Sieht man einmal von den fundamentalen Arbeiten zur Ähnlichkeitsmechanik (M. Weber 1919 u. 1930; W. Herrmann 1930; P. Füsgen 1939) und zur Theorie der Atomkerne (C. F. v. Weizsäcker 1938) ab, so setzen die Reflexionen über das Modelldenken erst in den vierziger Jahren ein.

Zu erwähnen sind hier neben C. W. Morris der Kieler Jürg Johannesson (1942), Arturo Rosenblueth und Norbert Wiener (1945), Eugen Altschul und Erwin Biser (1948), John G. Kemeny (1948), Ernest H. Hutten (1948-49; 1953-54, 1956), Herman Meyer (1951) und die Aufsätze im "Studium Generale" (1948) von Rudolf Seeliger, Karl Friedrich Bonhoeffer und Rudolf Thiele, wobei letzterer allerdings in seinem Aufsatz "Über den Gebrauch von Raumbildern in der Psychologie" nicht von Modellen, sondern von "Bildern" und "Bildhypothesen" spricht.

Das zeigt, wie lange die Verwendung des Modellbegriffs auf den Bereich der Physik, Mathematik, Logik und Semantik beschränkt blieb. Erst Karl W. Deutsch (1949 u. 1951), T. C. Koopmans (1949 u. 1950), Kenneth J. Arrow (195j und Ludwig von Bertalanffy (1951) haben den Modellbegriff für die Sozialwissenschaften und weitere Wissenschaftsgruppen sowie wissenschaftliche Einzeldisziplinen (z. B. die Biologie) fruchtbar gemacht.

 

Gleich etwa Informationstheorie, Kybernetik und Operations Research oder Logistik, Semiotik, Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie hat auch die Beachtung der Probleme und Theorien im Umkreis von "Modell" in den fünfziger und sechziger Jahren in der wissenschaftlichen und philosophischen Welt fest Fuss gefasst, was sich in einer Fülle von Veröffentlichungen dokumentierte [41].

 Auch auf zahlreichen Symposien wurden Modellbegriff und Modelldenken diskutiert (L. Gross, 1959; F. Jung et al., 1961 - s. V. A. Stoff, 1969, S. 33, der auch auf S. 46 auf ein Symposium über Modellierung an der Universität Bristol im Jahre 1959 hinweist -; L. Apostel et al. 1960-61; E. Nagel et al. 1962; J. W. L. Beament 1960; A. C. Hoggat, F. E. Balderston 1963; J. W. Addison et al. 1965: dazu H. Stachowiak 1973, S. 4-7 sowie S. 252f.; vgl. auch die Readings von H. Guetzkow 1962).

 

In der reichhaltigen Sammlung von Aufsätzen über Modelle in verschiedenen Wissenschaften, die 1965 im "Studium Generale" erschien, haben Wolfgang Metzger und August Vetter erstmals den Modellbegriff für die Psychologie explizit thematisiert - ohne dabei freilich etwa auf Karl Bühlers (1934) "Organon-Modell" der Sprache, auf K. Lewin (1938) oder gar B. L. Whorf (1950), E. C. Tolman (1951), R. R. Bush und F. Mosteller (1951), L. v. Bertalanffy (1951), D. Krech und G. S. Klein (1952), H. A. Simon (1957), D. E. Broadbent (1958) und P. Suppes (1960) Bezug zu nehmen.

Daselbst finden sich ebenfalls "Gedanken zu einer allgemeinen Theorie der Modelle" von Herbert Stachowiak. Sie knüpfen an pragmatisch-zeichentheoretische Vorläufer an und eröffnen die Möglichkeit einer logisch wie empirisch adäquaten Präzisierung des Modellbegriffs.

Nicht zuletzt das weltweite Echo auf diese Arbeit (vgl. auch H. Stachowiak 1971 u. 1972) führte den Verfasser zu seiner "Allgemeinen Modelltheorie" (Erscheinungsjahr 1973). Die in diesem Standardwerk erreichte Reflexionsstufe: eine neopragmatische ("modellistische") Erkenntnistheorie, die den Entscheidungsanteil wissenschaftlicher Modellbildung blosslegt und Wissenschaft mit politisch-ethisch zu begründenden Zwecken und Zielen in Verbindung bringt.

 




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