HomeDie Entstehung des Psychischen und des Bewusstseins

 

Notizen zu einer Vorlesung im WS 1989/90

 

Inhalt

 

Teil 1: Zurück zum Urknall - und noch weiter

Teil 2: Wie entwickelte sich das Psychische auf der Erde?

(Die lange Psychophylogenese: 1 Mia. Jahre)

Teil 3: Anmerkungen zur Evolution

Teil 4: Die Entstehung des Bewusstseins

(Die kurze Psychophylogenese: 10 Mio. Jahre)

Teil 5: Intelligenz und Modellgebrauch bei höheren Tieren (separat)

Teil 6: Das "neue" Wesen - der Mensch

Teil 7: Der aufrechte Gang

Teil 8: Wie sah die Urfamilie aus?

Teil 9: Altsteinzeit - Kannibalismus und Totenbestattung

 

37 Abbildungen: Übersicht

 

Zusammenfassung

 

Es gibt in der Geschichte des Kosmos und der Erde vier grosse natürliche "Revolutionen":

·        Die Entstehung der Materie beim und nach dem Urknall (vor 20-15 Mia. Jahren)

·        Die Entstehung des Lebens in einem Prozess, der etwa 3 Ma. Jahre dauerte

·        Das Auftauchen des Psychischen vor rund 1 Mia. Jahre

·        Die Entstehung des Bewusstseins im Übergangsfeld von den höheren Primaten zu den Menschen, also vor 10-5 Mio. Jahren

Nachher kommen die "menschlichen" Revolutionen.

 

Auf diesem Hintergrund erfährt unser Horizont gegenüber der üblichen Psychologiegeschichte eine enorme Ausweitung. Drei der wichtigsten Punkte sind:

1. Psychisches ist 1 Mia. Jahre alt.

2. Schon höhere Tiere, vor allem Primaten, können als "Psychologen" betrachtet werden. Wenn wir Psychologie als "soziale Intelligenz" auffassen, dann ist Psychologie 5 Mio. Jahre, vielleicht auch 10 oder 50 Mio. Jahre alt.

3. Das, was wir mit einem ganz pauschalen Begriff als menschliches Bewusstsein bezeichnen, wuchs heraus aus Psychischem und Psychologie.

 

 

Hauptliteratur

 

Abb. 5:Literatur zu den ersten Etappen der Protopsychologie und Psychologie

 

Weitere Literatur

                        Vorgeschichte: von oben her: religionsgeschichtlich, ethnologisch

                        Vorgeschichte: von unten her: evolutionsbiologisch, archäologisch

                        Mensch und Tier: Unterschiede/ Intelligenz der Tiere

                        Modelle bei höheren Tieren

                        Modelle: Archäologische Spekulationen - lang

 

 

Teil 1: Zurück zum Urknall - und noch weiter

 

Der aktuelle Anlass für diese Vorlesung war Frust, eine tiefe Unzufriedenheit mit der heutigen Psychologie.

Ein gängiges Modell für das Verhalten des Menschen oder eines Organismus ganz allgemein sieht etwa folgendermassen aus:

Der Mensch wird als Informationsverabeitungs-Maschine gesehen. Reize gelangen nach Innen, werden verarbeitet, verglichen, gespeichert. Sie lösen Verhaltensprogramme aus, die sich dann in Aktionen äussern.

 

Diese Modell stammt aus der Frühzeit der Kybernetik am Anfang der 1960er Jahre.

Es ist ein gutes Modell, geeignet zur Untersuchung bestimmter Fragestellungen. Aber: Es gibt viele andere Modelle, und diesen möchte ich nachspüren. Ich behaupte also, die heutige akademische Psychologie habe einen viel zu engen Horizont. Sie schöpft den Reichtum an möglichen Auffassungen über das Psychische, Seelische, Geistige oder das Innenleben von Lebewesen nicht aus. Und deshalb forscht und arbeitet sie vielleicht am Menschen vorbei.

 

Also ist Horizonterweiterung nötig. Aber das kann eine gefährliche Sache werden. Was mir ganz persönlich dabei passiert ist, werde ich Ihnen berichten.

 

Schon die alten Ägypter …

 

Wenn Sie meine Kurzfassung für die Ankündigung dieser Vorlesung gelesen haben, werden Sie sich erinnern, dass ich die erste Revolution in der Psychologie bei Platon und Aristoteles angesetzt habe. Der Grund ist folgender: Ich habe mich immer geärgert, dass die meisten Bücher über die Geschichte der Psychologie, wenn sie bis ins Altertum zurückgingen, stereotyp mit Platon und Aristoteles anfangen.

Ich fand das ungenügend, weil ich von meiner Studienzeit her wusste, dass zumindest die Alten Ägypter schon eine Psychologie hatten. Am C. G. Jung Institut hörte ich häufig vom "Zwiegespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele". Ein Text, der über 4000 Jahre alt ist. Daher schrieb ich in meiner Vorlesungsankündigung von 5000 Jahren Psychologie. Dann wird nämlich auch klar, dass Platon und Aristoteles nicht am Anfang stehen, sondern dass sie gegenüber der vorherigen Auffassungen bereits eine Revolution boten.

 

Um Revolutionen zu verstehen, muss man wissen, was jeweils vorher war. Diese Frage bildete die Haupttriebfeder für meine weiteren Bemühungen.

Zuerst war ich erstaunt, wieviel Literatur es über die ägyptischen Vorstellungen von Seele, Körper, Mensch, Leben und Tod gab.

 

Bald fragte ich mich, ob etwa die ägyptische Psychologie auch schon eine Revolution war, und zwar gegenüber noch früheren Vorstellungen. Ich dachte bei mir: Also landest du wieder bei den Höhlenbewohnern, mit denen du seit bald 30 Jahren immer wieder einen Aufsatz oder eine Artikelserie angefangen hast.

 

Schon vor 4-5 Millionen Jahren …

 

Nach einigem Zögern wandte ich mich also der Steinzeit zu und gelangte bei meiner Lektüre bald in die Zeit vor 4/5 Mio. Jahren, als der Mensch sich aus der Tierwelt herauszuheben begann.

4/5 Mio. Jahre, das ist ein riesiger Zeitraum. Ich rechnete aus, dass ich damit die Geschichte der Psychologie glatt um den Faktor 1000, also von 5000 auf 5 Mio. Jahre verlängert hatte.

 

Damit man sich nicht im Nebel der Vergangenheit verliert, muss man sich ein graphisches Hilfsgerüst erbauen. Man muss Zeitabschnitte bilden.

 

Das gibt wichtige Orientierungsmarken. Wir brauchen sie, wenn wir angeben wollen, wovon wir überhaupt reden.

 

Schon vor einer Milliarde Jahren …

 

Jetzt wird es spannend. Ich flunkere nicht bei dem, was ich jetzt weiter erzähle. Die meisten Bücher über das Verhältnis vom Menschen zum Affen gehen weiter zurück, sie setzen vor etwa 70 Mio. Jahren an, als die ersten Primaten, also die höheren Säugetiere auftauchten. Das waren die Spitzhörnchen, ein kleiner Insektenfresser zwischen Maus und Eichhörnchen. Als die Dinosaurier vor 64 Mio. Jahren ausstarben, begannen sie sich rasch auszubreiten und zu entfalten.

 

So langsam wurde mir mulmig zumute. Ich dachte: Wenn ich so weiter mache, lande ich noch beim Urknall. Ich hatte bereits etwa 100 Bücher aus den Bibliotheken geholt und die Hälfte davon auf dem Boden neben dem Schreibtisch gestapelt.

Nun griff ich zu den beiden Bänden von Volker Schurig: "Naturgeschichte des Psychischen" (1975). Und was behauptet dieser ehemalige DDR-Zoologe? Das Psychische hat sich seit etwa 1 Mia. Jahre in den Tieren herausgebildet.

 

Das ist erneut ein Riesenschritt in die Vergangenheit. Man denke sich, angefangen von der ersten Mehrzellern, wie Schwämmen und Hohltieren, über die Würmer, Stachelhäuter und Wirbeltiere kann man eine Evolution des Psychischen während rund 1 Mia. Jahre feststellen.

 

Schon vor 20 Milliarden Jahren ….

 

Nun war es nicht mehr so weit bis zum Urknall. Schon das nächste Buch, das ich durchblätterte, führte mich dahin. Es erschien 1959 unter dem Titel "Homo sapiens - Vom Tier zum Halbgott" und stammt vom Zoologen Bernhard Rensch. Es könnte die Inspirationsquelle von Schurig gewesen sein. Jedenfalls vertritt Rensch dieselbe These von der Psychophylogenese in der Tierwelt. Darüber hinaus brachte er noch eine weitere Auffassung ins Spiel.

Da Rensch sich nicht vorstellen kann, dass das Psychische einfach irgendeinmal entstanden oder in die Organismen eingegangen ist, meint er, schon Atome und Moleküle, d.h. schlicht die Materie sei psychischer, genauer protopsychischer Natur. Da sind wir nun tatsächlich beim Urknall gelandet. Vor 20 oder 15 Mia. Jahren entstand Materie mit protopsychischer Natur.

 

Die Zeit vom Urknall bis zum Auftreten des Menschen können wir in fünf Etappen gliedern.

1.    Der Urknall. Er dauert ja nur winzige Bruchteile von Sekunden bis Minuten. Es gibt viele Bücher darüber. Ein recht bekannt gewordenes stammt von Steven Weinberg und trägt den Titel "Die ersten drei Minuten" (1977; engl.: The first three minutes. New York: Basic Books 1977).

2.    Die Bildung des Kosmos dauerte 10-15 Milliarden Jahre.

3.    Die Bildung des Sonnensystems und der Erde kann man auf 1 Mia. Jahre veranschlagen.

4.    Die Entwicklung des Lebens dauerte etwa 3 Mia. Jahre, dann kam

5.    Die Entwicklung der Tier- und Pflanzenarten.

 

Damit sind wir wahrlich in astronomische Dimensionen resp. Zeiträume vorgestossen (Abb. 1).

 

Einige hundert Milliarden Jahre

 

Spasseshalber dachte ich mir: Auch das wird noch nicht alles sein! Und siehe da, als ich Erhard Oesers Buch "Psychozoikum" (1987) zur Hand nahm, entdeckte ich, dass er von einer noch grösseren Phase berichtet: Es könnte sein, dass das Weltall sich weiter und weiter ausdehnt, bis es einst kollabiert. Dieser ganze Prozess könnte 80 Mia. Jahre dauern. Dann begänne alles wie er von vorn.

Wir hätten also ein pulsierendes Weltall, das mehrere 100 Milliarden Jahre "alt" ist. Diese These wurde 1965 vom Astronomen Allan Sandage aufgestellt (vgl. auch Lloy Motz: "The Universe: Its Beginning and End", 1975).

 

Damit ist wohl etwa das Äusserste an Denkmöglichkeiten erreicht. Zur Kontrolle nahm ich noch das Buch von Erich Jantsch "Die Selbstorganisation des Universums" (1979) zur Hand, und siehe, auch da fand ich dieselben Auffassungen, einschliesslich des "pulsierenden Universums".

 

Geist als "Selbstorganisations-Dynamik"

 

Im übrigen findet sich bei Erich Jantsch eine verwandte Auffassung zu Bernhard Rensch. Jantsch war ja einer der ersten, welcher 1972 die These der "dissipativen Strukturen" oder wie wir heute sagen, der "Selbstorganisation" des Belgischen Chemikers Ilya Prigogine ernst genommen hat. Zudem war er beeindruckt von Thesen des New Age. Daraus ergab sich für ihn die Auffassung:

"Geist erscheint ... als die Selbstorganisations-Dynamik schlechthin. Er tritt überall auf, wo es dissipative Selbstorganisation gibt" (227, vgl. 411).

"In einer dynamischen Sicht findet die alte Streitfrage...' ob Geist immanent oder transzendent sei, eine ganz neue Antwort: Geist ist immanent, aber nicht in einer soliden räumlichen Struktur, sondern in den Prozessen, in denen sich das System selbst organisiert, erneuert und weiterentwickelt - eben evolviert" (228).

 

Auch Gregory Batson identifiziert die Einheit des Geistes mit der Einheit der Evolution - beide sind ein und dasselbe kybernetische System.

Im weitern weist Jantsch darauf hin, dass auch die buddhistische Lehre Geist ein "primordiales Erfahrungskontinuum" nennt, das aus der Dynamik der Selbstorganisation und Beziehungsbildung zur Umwelt hervorgeht (228, vgl. 412f.)

 

Unversehens sind wir also über den langen Weg der Geschichte des Psychischen zum Urknall, zum Geist und zum New Age gelangt.

So sehr man sich auch über New Age streiten kann, der wissenschaftliche Teil davon hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten unseren Horizont wieder weit geöffnet. Er hat Dimensionen ins Blickfeld gerückt, die lange verschüttet gewesen sind. Insbesondere hat New Age uns für die Vergangenheit sensibilisiert und für alternative, ungewohnte Perspektiven. Das wichtigste Schlagwort des New Age ist "Ganzheit". Wir versuchen heute wieder - es ist nicht das erste Mal -, die Welt und die Evolution als Ganzheit zu sehen.

 

Doch ich möchte hier nicht von New Age sprechen.

 

Drei Phasen der Evolution

 

Die Naturwissenschaften unterscheiden drei Phasen der Evolution, eine präbiotische bis zur Bildung der Erde, eine biotische, und eine postbiotische.

 

Die biotische erstreckt sich von den ersten präzellulären Aggregaten bis zum Menschen, und zwar bis zum Homo sapiens sapiens, der vor etwa 35'000 Jahren auftaucht. Seither hat sich die Biologie des Menschen nicht mehr verändert: Die Höhlenmaler waren wie wir.

 

Als der Mensch aber vor 10'000 Jahren begann, sesshaft zu werden, und Landwirtschaft zu betreiben, hat er allerdings selber wieder begonnen, in die biotische Evolution einzugreifen: Er domestizierte oder züchtete Pflanzen um.

Als drittes ist zu erwähnen: Seit 200 Jahren betreibt der Mensch auch aktive Selektion: Er rottet, in zunehmend beängstigendem Mass, Tiere aus.

 

Eine Darstellung der biotischen Evolution hat z. B. der Mikrobiologe Reinhard W. Kaplan (1972) gezeichnet (Abb. 2). Er hat auf der einen Achse die Funde in geologischen Formationen in zeitlicher Folge abgetragen, auf der andern Achse die Anzahl Gen-Sorten, was etwa der Organisationshöhe entspricht.

Nach Schurig setzt vor ca. 1 Mia Jahre die Psychophylogenese ein.

Bei den Nonsuch-Sedimenten - das ist eine Schieferformation in Nordmichigan - fand man bei der mikroskopischen Untersuchung Reste von Mikroben.

 

Eine andere Darstellung (Abb. 3) legt das Schwergewicht auf die Entwicklung der verschiedenen Tier- und Pflanzenstämme resp. -klassen. Damit man die riesigen Zeiträume etwas besseranschaulich vor Augen hat, wurden die ersten 3,5 Mia. Jahre der Erdgeschichte spiralig aufgezeichnet.

Ganz zuallerletzt, am Ende des Tertiärs, erscheint der Mensch.

 

Die 3. Evolutionsstufe, die postbiotische, kann man auch als sozio-kulturelle, oder wie es die Marxisten tun, als gesellschaftlich-historische bezeichnen. Je nachdem kann man sie vor rund 5 Mio. Jahren oder irgendwann in der Altsteinzeit ansetzen. Jedenfalls wird seit ca. 5 Mio. Jahren die biologische Evolution von der kulturellen, d. h. spezifisch menschlichen, überlagert und von ihr zunehmend abgelöst.

 

Mensch und Welt werden immer "älter"

 

Eine solche gesamthafte Darstellung der Weltgeschichte ist nicht neu. Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hat in seinem Büchlein "Die Geschichte der Natur" (1948) damit angefangen.

Er berichtet darin über die räumliche und zeitliche Struktur des Kosmos, über Sternsysteme und Sterne, über die Erde, das Leben, die Seele und den Menschen.

 

Schon in dieser kleinen Schrift spricht von Weizsäcker übrigens von der "Geschichte der Seele bei Tieren" (99). Anhand von Konrad Lorenz - schon damals, 1948 - schildert er einige Erkenntnisse der Verhaltensforschung und meint: "Wenn die Identifizierung des physischen und des psychischen Ich berechtigt ist, wird sich dann am Verhalten für den, der Seelisches zu sehen vermag, das Seelische ablesen lassen."

 

Nun hat von Weizsäcker eine Reihe von Zeittafeln aufgestellt (Abb. 4), die jedesmal eine Zehnerpotenz mehr Jahre aufweisen, er fängt mit 100 Jahren an, geht dann über 1000 zu 10'000. Die nächsten Gruppen sind: 100'000 Jahre, 1 Mio., 10 Mio., 100 Mio., 1 Mia., 5 Mia. Jahre.

Interessant ist zweierlei: Damals nahm man das Alter des Menschen mit etwa 500'000 Jahren an. Seither ist er 7-10 x älter geworden.

Ähnliches gilt für das Alter der Welt. Im Text (34) spricht von Weizsäcker von 3-4 Mia. Jahren, heute sprechen manche von 20 Mia., also 5-7 x mehr.

Also: In einigen Jahrzehnten sind Mensch und Welt rund 7x "älter" geworden.

 

Diese Verlängerung der Vergangenheit ist nur das vorläufige Ende eines wissenschaftlichen Phänomens, das seit 300 Jahren anhält. Seit Martin Luther rechnete man für das Alter der Welt mit bescheidenen 6000 Jahren. Sogar der grosse Astronom Johannes Kepler beteiligte sich noch an diesen Berechnungen. Er korrigierte das Datum der Weltschöpfung von 4000 v. Chr. auf 4004 v. Chr. Der grosse Physiker Isaak Newton versuchte vierzig Jahre lang, diese klassische Chronologie mit astronomischen Daten in Übereinstimmung zu bringen und kam kurz vor seinem Tod zum Schluss, dass die Welt sogar 530 oder 534 Jahre jünger sei (posthum publiziert 1728). http://www.efodon.de/html/archiv/chrono/topper/newton.htm

 

"Wissen" besteht aus Spekulationen

 

Was entnehmen wir daraus?

Wir müssen vorsichtig sein mit dem Wörtchen "wissen". Es handelt sich vielmehr um blosse Spekulationen.

 

Die Wissenschafter sprechen etwas vornehmer von Hypothesen, Modellen oder Theorien. Aber beweisen lässt sich nichts in der Vergangenheit. Manche Spekulationen mögen gut begründet sein, andere nicht, aber allemal sind es Spekulationen. Schon die Einteilung der Evolution in Phasen ist eine solche.

Spekulationen und Einteilungen sind Versuche, Vorgänge zu rekonstruieren und zu verstehen. Sämtliche Zahlenangaben und Behauptungen sind also stets mit grösster Vorsicht aufzunehmen. Das gilt ganz generell.

 

Was ist nun, endlich, für die Psychologie an dieser Weltgeschichte so interessant? Neben der allgemeinen Horizonteröffnung ergibt sich eine spezielle: Wir sehen nämlich anhand der zeitlichen Strukturierung mehrere und ganz verschiedene Probleme oder Bereiche.

Ich habe dafür eine Tabelle zusammengestellt und einige Literaturangaben (Abb. 5) damit verbunden. Die Tabelle hat insgesamt 10 Stufen (Abb. 6). Ich bespreche zuerst nur die ersten zwei.

 

Die erste Etappe: Die Materie ist protopsychisch

 

Die erste Frage ist uralt. Es gelten z. B. die ersten griechischen Philosophen, die ionischen Naturphilosophen, als Hylozoisten, sie hielten die Materie für belebt. Wir werden später herausfinden, dass diese Auffassung noch viel weiter zurückgeht als bis zu den alten Griechen, vielleicht bis zu den Höhlenbewohnern.

Mit andern Worten. Manche Auffassungen über die Materie ziehen sich durch die ganze Kultur- oder Geistesgeschichte.

Ähnlich ist es mit dem Spiritualismus und Panpsychismus, mit Voluntarismus, Energetik, Dynamismus, usw. Es sind uralte Thesen der Menschheit. Man könnte je ein Buch schreiben oder eine Vorlesung halten über diese Geistesströmungen.

 

Selbstverständlich sollte man zwischen Geist, Seele, Lebe, Bewusstsein, usw. sauber unterscheiden. Was ist das eigentlich für ein Geistbegriff, Seelenbegriff, Lebensbegriff, der da auf Atome und Moleküle, auf die Materie angewendet wird? Das ist schwierig herauszufinden. Aber ich hoffe, wir werden im Verlauf dieser Vorlesung zu einigen Klärungen gelangen.

 

Ich habe nur einige neuere Literatur zum Thema angegeben. Gerade in der Physik seit den 1930er Jahren hat unter dem Einfluss östlicher Philosophie eine, neue Begeistung der Materie stattgefunden. New Age ist ein später Ausdruck davon.

 

Interessant ist es mit dem Seelischen. Bereits vor der Atomtheorie der Jahrhundertwende 1900 hat der Biologe Ernst Haeckel, ein Popularisator Darwins, die Atome für beseelt gehalten. Er sprach von Kristallseelen (1917).

Wenn also Egon Freiherr von Eickstedt und Bernhard Rensch von Atom und Psyche sprechen, liegen sie damit in einer guten Tradition.

 

Die zweite Etappe: Die lange Psychophylogenese

 

Die zweite Stufe, die lange Psychophylogenese oder die "Naturgeschichte des Psychischen", ist eine Vertiefung der "Naturgeschichte des Menschen", die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, also seit Spencer, Darwin und Haeckel gepflegt wurde.

 

Bald versuchte man auch, die bemerkenswerten Leistungen der Tiere zu fassen. Erwähnt seien die beiden Begründer der "vergleichenden Psychologie" George J. Romanes und Conwy Lloyd Morgan. Ersterer schrieb schon vor über 100 Jahren Bücher mit den Titeln: "Animal Intelligence" (1882) und "Mental Evolution in Animals" (1883), letzterer die beiden Werke "Animal Life and Intelligence" (1890-91) und "Habit und Instinct" (1896; revidiert "Animal Behavior" 1900).

Auch John Lubbock, sonst eher als Ethnologe bekannt, schrieb "On the senses, instincts and intelligence of animals" (1888; dt.: Die Sinne und das geistige Leben der Thiere insbesondere der Insekten. 1889). Der als Begründer der Intelligenztests bekannt gewordene Alfred Binet veröffentlichte 1888 Gedanken über das psychische Leben der Mikroorganismen.

 

Den Tieren Intelligenz, geistige oder psychische Qualitäten zuzuschreiben, war damals so sehr im Schwange, dass schon 1898 Albrecht Bethe fragte: "Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben?"

 

Also nichts Neues. Immerhin hat Volker Schurig 1975 die neuen Erkenntnisse über das Psychische bei Tieren in eine chronologische Abfolge gebracht.

 

Zur selben Zeit, also um 1975, machten sich zwei neue Strömungen bemerkbar: die evolutionäre Erkenntnistheorie, mit ihrem Wortführer Rupert Riedl, und die Soziobiologie. Während Schurig nur von den marxistischen, resp. kritischen Psychologen beachtet wurde, haben die beiden andern Richtungen zu ausgedehnten Diskussionen geführt.

 

Was ist der "Geist"?

 

Die massgebliche Zusammenstellung all dessen, was im Deutschen "Geist" heisst, hat Rudolf Hildebrand gemacht. Sein Text ist eine Auskopplung aus dem Grimmschen Wörterbuch und umfasst über 220 Seiten (1926; Nachdruck 1966).

 

Erich Jantsch benutzt den Begriff Geist. Er macht es sich einfach, indem er einfach mehrere unterschiedliche Begriffe von Geist verwendet.

 

Die allgemeinste Version ist wohl der Geist des Universums; wir können ihn auch als kosmischen Geist bezeichnen. Am Anfang und Schluss seines Buches setzt Jantsch ihn mit Gott in Beziehung: "Gott ist die Evolution. Da wir aber die Selbstorganisations-Dynamik jedes Systems seinen Geist genannt haben, können wir nun sagen, Gott sei zwar nicht der Schöpfer, wohl aber der Geist des Universums" (412; vgl. 47) (siehe auch: Ganzheit - das „evolutionäre Paradigma“).

 

Im speziellen unterscheidet Jantsch vier Arten von Geist, nämlich einen metabolischen Geist, also die Geist-Dynamik des Stoffwechsels, und den neuralen Geist, der drei Stufen aufweist:

·        organischer Geist

·        reflexiver Geist und

·        selbstreflexiver Geist.

 

Er bringt diese drei Stufen mit einer wohl nicht ganz neuen Entdeckung von Paul McLean (1973) in Verbindung, der für das Grosshirn der Primaten und des Menschen eine Dreistufigkeit festgestellt hat. Über dem "neuralen Chassis", gebildet aus unterem Hirnstamm, Rückenmark und Zwischenhirn, haben sich im Verlauf der Evolution 3 Steuerungsorgane gebildet:

·        das Reptilienhirn (vor 280 Mio. Jahren)

·        das ältere Säugerhirn (vor 165 Mio. Jahren), es wird auch limbisches System genannt, und

·        das jüngere Säugerhirn, der Neokortex (seit ca. 50 Mio. Jahren).

 

Alle drei Hirnstufen sind an der Regulation des menschlichen Verhaltens beteiligt. Das mit den unterschiedlichen Gehirnen leuchtet ein. Dass sie drei ineinander geschachtelte Stufen des Geistes darstellen sollen, vielleicht weniger. Daher greift Jantsch zu einem Kunstwort. Er nennt die "Wirkungsweise des neuralen Geistes Mentation" (236). Die selbstreflexive Mentation "kommt beim Menschen zu voller Blüte" (230).

 

Wenn man will, kann man Erich Jantschs Auffassung als Spiritualismus bezeichnen. Das ist insofern nahe liegend als Jantsch, wie erwähnt, ein New Ager war, und New Age ist u. a. ein Kind des Spiritualismus, in gewissen Formen sogar ein Kind des Spiritismus.

 

Nun gibt es schon lange eine Gegenposition zum Spiritualismus.

Schon Aristoteles meinte, der Geist sei "von aussenher" ins Leben eingebrochen. Schopenhauer hat diesen Gedanken aufgenommen, und Ludwig Klages hat ihn ausgebaut.

Geist, wie Klages ihn fasst, ist erst vor etwa 8'-5'000 Jahren über den Menschen hereingebrochen. Geist ist nach Klages eine zerstörerische Macht, er ist der "Widersacher der Seele". Über Jahrhunderttausende lebte der Mensch, nach Klages, in einem geschichtslosen Zustand, einem paradiesischen Zustand. Erst als der Geist in sein Leben einbrach, hub die "Geschichte der Menschheit" an. Es ist, in Klages' Worten, "die blutige Orgie namens Weltgeschichte".

 

Es gibt noch eine extremere Auffassung des Geistes. Der Altphilologe Bruno Snell spricht von der "Entdeckung des Geistes" nach Homer, also erst ab 800 v. Chr. im Alten Griechenland.

Er meint, "der europäische Geist ist erst geworden, indem er entdeckt wurde" (7).

Noch später setzt Jean Gebser das an, was er als mentale Struktur, als 3. Bewusstseinsmutation bezeichnet. Das Mentale taucht bei den alten Griechen um 500 v. Chr. auf, musste aber seit etwa 1250 n. Chr. "durch den europäischen Menschen nachgeholt" (126) werden. Der Geist, mens, träte damit erst vor ein paar wenigen 100 Jahren deutlich hervor.

 

Es gibt also sehr verschiedene Auffassungen von Geist.

Eine Mittelstellung zwischen all diesen Extremen nehmen die Auffassungen ein, nach denen der Geist allmählich beim Übergang von den höheren Primaten zum Menschen auftaucht, also vor 10-5 Mio. Jahren. Manchmal spricht man dabei von Bewusstsein.

 

Damit sind wir wieder bei Volker Schurig angelangt.

 

 

Teil 2: Wie entwickelte sich das Psychische auf der Erde?

(Die lange Psychophylogenese: 1 Mia. Jahre)

 

Gegenüber dem letzten Mal erfährt unser Zeithorizont eine gewaltige Schrumpfung. Statt einige 100 Mia. Jahre, oder 20 Mia. Jahre seit dem Urknall, haben wir heute - abgesehen vom Einstieg - nur noch 1 Mia. Jahre im Auge.

 

Ich habe in der letzten Stunde erwähnt, dass es offenbar unterschiedliche Auffassungen von Seele und Geist oder von Psychischem und Geistigem gibt.

Da sich Bernhard Rensch nicht vorstellen kann, dass Psychisches als fundamental Neues in der Phylogenese der Tierstämme und während der Embryonalentwicklung des Menschen plötzlich auftaucht, muss er annehmen, dass schon die Materie psychisch oder "protopsychisch" sei.

 

Dies hält Volker Schurig für verfehlt. Er meint, das Psychische sei "ein relativ spätes Produkt der Evolution biologischer Systeme" (71) und bringe etwas völlig Neues.

Schurig spricht nicht von Revolution, sondern von einem "qualitativen Sprung" (60), von einem "Qualitätsumschlag in der Entwicklung informeller Prozesse" (62). Was meint er damit?

 

Grundlegend für biologische wie psychische Vorgänge sind offenbar Informationsaustausch, Informationsverarbeitung und Kommunikation.

Was das so genau ist, wird weder bei Schurig noch in andern Büchern recht deutlich. Man muss sich mit einem vagen Verständnis begnügen.

Schurig meint, psychische Prozesse könnten "als eine extrem auf Informationsverarbeitung spezialisierte Eigenschaft biologischer Materialien angesehen werden" (52). Da schlägt die Doktrin von Marx-Engels-Lenin deutlich durch. Es ist gut zu wissen, dass die Auffassung, Tiere hätten eine Seele oder Psychisches, nicht nur ein romantischer Gedanke ist.

 

Drei Stufen von biologischem Informationsaustausch

 

Bevor es zur psychischen Informationsverarbeitung kam, gab es nach Schurig drei Stufen von biologischem Informationsaustausch (56; vgl. 76f; Abb. 7 oben)

 

1) Schon bei stoffwechselphysiologischen Prozessen sind die beteiligten Substanzen, in bestimmten Grenzen, Informationsträger. Erich Jantsch (221) erwähnt eine biomolekulare Kommunikation, ohne allerdings zu präzisieren, was das ist. Vielleicht entspricht sie den stoffwechselphysiologischen Prozessen bei Schurig.

 

2) Bereits in einem sehr frühen Stadium der Biogenese sind hochmolekulare Substanzen entstanden, z. B. DNS, RNS, die sich ausschliesslich auf die Weitergabe genetischer Informationen spezialisiert haben. Jantsch spricht von genetischer Kommunikation.

 

3) Innerhalb des physiologischen Prozessgefüges bilden sich Substanzen mit besonderen Informationsqualitäten heraus, sogenannte Botenstoffe, z. B. Hormone, die innerhalb eines physiologischen Milieus wirken, und Duftstoffe, die sich auf innerartliche Informationsübertragung spezialisiert haben. Erich Jantsch nennt dies, verwirrend, metabolische Kommunikation.

 

Der psychische Informationsaustausch

 

Gegenüber diesen drei Arten des Informationsaustausches bieten die psychischen Prozesse etwas Neues. Die, wie Schurig sagt, "rein materiell-biologische Abbildung von Umweltveränderungen, etwa durch spezialisierte physiologische Reaktionen", wird verlassen. Der Informationsaustausch zwischen biologischen Systemen erhält einen qualitativ neuen, nämlich psychischen Charakter (62).

Gebunden sind diese psychischen Vorgänge an spezialisierte Zellen und Systeme, nämlich Nervenzellen und Nervensysteme (Abb. 7 Mitte und unten).

Erich Jantsch spricht deshalb von neuraler Kommunikation.

 

Auf der Prozessebene bilden biochemische und elektrophysiologische Erscheinungen die Grundlage.

 

Was ist nun das Besondere an dieser neuralen Kommunikation? Der Zusammenhang zwischen materiellem Träger und informellem Gehalt, der auf den vorigen 3 Stufen sehr eng ist, wird wesentlich unbestimmter. Dies erlaubt dem Organismus "ein gegenüber den physiologischen Prozessen verselbständigtes Verhalten" (81).

 

Auf der psychischen Ebene kommt also zum physikalischen Informationsgehalt eine besondere biologische Bedeutung hinzu. Informationen werden zu Signalen; diese werden gedeutet und beantwortet mit Signalhandlungen, tierischen Kommunikationssystemen, tierischem Lernverhalten usw. (77).

 

Das soll den Hintergrund bilden für die kurze Zusammenstellung, die ich von Volker Schurigs 3 Büchern gemacht habe (Abb. 8): Schurig unterscheidet nämlich scharf zwischen der Entwicklung des Psychischen bei Tieren und der Entstehung des Bewusstseins beim Menschen. Der Entstehung des Bewusstseins hat er ein eigenes, eben das 3. Buch gewidmet.

 

5 Arten von psychischen Prozessen

 

Im Verlauf der 1 Mia. Jahre bildeten sich fünf Arten von psychischen Prozessen heraus.

 

1. eine spezielle Reizbarkeit, die über die generelle Reizbarkeit von einzelnen Zellen hinausgeht.

 

2. ein kommunikativer Informationsaustausch zwischen biologischen Systemen, also zwischen Tieren. Die Reize haben Signalfunktion. "Tierische Kommunikation bedeutet sowohl Empfang wie auch Erzeugung von Signalen" (178)

 Beim Empfang kann man auslösende und bedingte Reize unterscheiden. Das Erzeugen besteht in einem bestimmten Verhalten.

Schurig definiert: "Der Prozess der Umwandlung von Gebrauchshandlungen in besondere Signalbewegungen wird als Ritualisation bezeichnet" (179). Man kann auch von sozialen Signalen sprechen. Beliebte Untersuchungsobjekte dafür sind die Vögel und Säugetiere.

 

3. Wenn man Lernen als individuelle Anpassung auffasst, dann kann man es schon bei hoch entwickelten Einzellern feststellen, z. B. bei Wimpertierchen, wie dem Pantoffeltierchen. Das Ergebnis kann man Gewöhnung nennen (II, 51).

Vor allem bei Vögeln hat man die Prägung während sensiblen oder kritischen Perioden untersucht.

Lernen durch Einsicht, auch Problemlösungsverhalten genannt, kann man schon bei Chamäleons, Ratten und Hunden feststellen, nicht erst bei Affen.

 

4. Auch wenn der Begriff Abstraktion umstritten ist, kann man doch mehrere Arten von Leistungen identifizieren, die so bezeichnet werden können. Untersuchungsmittel sind z. B. Attrappen, Dressurversuche mit Mustern und Labyrinthe.

 

5. Traditionsbildung schliesslich bezieht sich nicht mehr auf Individuen, sondern auf Populationen. Sie kann daher als soziales Lernen bezeichnet werden. Wichtigste Grundlage ist die Eltern-Jungtier-Beziehung.

Bekannte Beispiele für Traditionsbildung bilden die Singvögel und die Makaken (eine alte Primatenart). Aber auch bei Fischen und Bienen kann man von Traditionsbildung sprechen.

 

Fassen wir zusammen: Im Laufe von 1 Mia. Jahre haben sich fünf Arten von psychischem Informationsaustausch und Informationsverarbeitung im Tierreich ausgebildet und weiterentwickelt: spezielle Reizbarkeit, dialogische Kommunikation, Lernen, Abstraktion und Tradition.

 

Zum Thema "Revolutionen"

 

Die Rede von "Revolutionen" ist eigentlich unwissenschaftlich. Ich muss mich dabei selber an der Nase nehmen. Ich gebe zu, "Revolutionen in der Psychologie" klingt und ist grossspurig.

 

Interessant ist die Doppeldeutung von Revolution. Das Buch von Kopernikus trug den Titel: "De revolutioniobus orbium coelestium" und beschrieb die Umdrehungen oder Bewegungen der Himmelssphären.

Erst viel später sprach man von der kopernikanischen Revolution und meinte damit die geistige Umwälzung, die Kopernikus bewirkt hat. Dass diese geistige Umwälzung sehr lange brauchte, bis sie akzeptiert wurde, zeigt sich darin, dass noch 100 Jahre nach Kopernikus' Tod nur wenige Gelehrte sich zu seiner Theorie bekannten (Thomas S. Kuhn, 199).

 

Nun, die Rede von den Revolutionen hat einen mächtigen Aufschwung genommen, seit Thomas S. Kuhn 1962 das Buch "The Structure of Scientific Revolutions" publizierte (dt. 1967). Riesige Diskussionen entfachten sich, u. a. darüber, ob auch in der Psychologie von Revolutionen gesprochen werden könne. Mittlerweile ist die Diskussion abgeflaut.

 

Thomas S. Kuhn hat noch einen andern Begriff in die Diskussion gebracht: "Paradigmenwechsel". Dieser Ausdruck wurde von den New Agern, unter anderem Erich Jantsch, aufgegriffen. Er ist heute in aller Munde. Paradigma ist das griechische Wort für Modell. Wir könnten also auch von Modellwechsel sprechen.

 

Ob man etwas als Revolution oder Modellwechsel bezeichnet, hängt von der Distanz ab, die man zum Geschehen hat. Aus späterer Sicht konnte man bei Kopernikus von einer Revolution sprechen, zu seiner Zeit war es keine. Seine Thesen setzten sich nur langsam durch; man spricht deshalb besser von Evolution.

Die Thesen wurden ja auch nicht tel quel aufgenommen, sondern laufend modifiziert. Vermutlich handelt es sich bei allen geistigen Revolutionen um Evolutionen, enorm langsame Prozesse, in denen ab und zu ganz sachte Neues auftaucht und allmählich Fuss fasst.

 

Das gilt auch für die Natur. Die Entstehung des Lebens kann man gegenüber der Materie als Revolution auffassen, aber sie dauerte etwa 3 Milliarden Jahre. Ähnlich ist es mit dem Auftauchen des Psychischen, des Bewusstseins oder des Menschen. Aus weiter Distanz kann man es als Revolution sehen, aus der Nähe zeigen sich nur minime Veränderungen.

Wenn man also holzschnittartig von Revolutionen spricht, und das kann man, genauso wie man die Vergangenheit in Etappen einteilt, dann sollte man sich immer den Satz bewusst halten: "Die Natur macht keine Sprünge." Und wir dürfen ergänzen: "...die geistige Entwicklung der Menschheit auch nicht."

Für die Natur hat schon Aristoteles formuliert: "Die Natur schreitet so allmählich von den unbeseelten Dingen zu den belebten Wesen fort, dass man bei dem stetigen Zusammenhange nicht gewahr wird, wo die Grenze der beiden Arten liegt."

 

Wenn ich also in Zukunft immer wieder von Revolutionen spreche, werden wir dabei stets bedenken, dass diese immer und überall im "stetigen Zusammenhange" stehen. Das ist auch der Grund für meine weit ausgreifende Darstellung der "ganzen" Weltgeschichte...

 

 

Teil 3: Anmerkungen zur Evolution

 

Die Betrachtung des Kosmos und der Lebewesen als Ergebnis der Evolution ist in der neuzeitlichen Wissenschaft in drei Etappen aufgetreten, zuerst

·        in der Aufklärung, ab etwa 1750

·        im 19. Jahrhundert ab etwa 1850

·        im 20. Jahrhundert ab etwa 1950.

 

Das heisst, wir müssen immer zwei Schienen der Geschichte im Auge haben: Die "Evolution" und die Theorien über die Evolution.

 

Viele unterschiedliche Auffassungen

 

Ich vertrete hier also eine Evolutionsbetrachtung. Dabei sind, soviel ich sehe, vier Auffassungen wichtig:

 

1. Die Materie ist bereits protopsychisch oder geistig oder dergleichen. Die Extremformen sind: eher organisch - eher mental.

Dazu gib es Gegenthesen, z. B.

a) den Materialismus, der besagt, Leben, Seele, Geist, Denken seien bloss Erscheinungsformen oder Produkte, Bewegungen oder Kräfte der Materie

b) den Idealismus, nach dessen extremster Form alles nur Erzeugnis unserer Wahrnehmung oder unseres Denkens ist.

 

2. Die Dynamik der Evolution verläuft nach dem Prinzip der Selbstorganisation. Das kann völlig nach Zufall geschehen oder irgendwie beeinflusst von Restriktionen ("constraints").

Dazu gibt es selbstverständlich eine Gegenthese: die Schöpfung - sei sie einmal erfolgt oder bestehe sie in ständigen Akten.

Eine andere Gegenthese besteht in der Annahme einer zielgerichteten Kraft, eines teleonomischen Prinzips.

Die neueste Version in der Biologie ist die "Cognitive Biology". Hier wird die Evolution betrachtet als werde sie kognitiv kontrolliert.

 

3. Die Natur macht keine Sprünge. In der Evolutionslehre nennt man diese Auffassung Gradualismus.

Auch da gibt es Gegenthesen: In der Physik steht der These vom Raum-Zeit-Kontinuum die Entdeckung gegenüber, dass die Energie gequantelt ist. Energieveränderungen im atomaren Bereich erfolgen in Sprüngen.

In der Evolutionslehre spricht man von "punctuated equlibrium". D. h. Tierarten bleiben lange Zeit gleich, dann gibt es plötzlich einen Sprung zu neuen Arten. Und zwar erfolgt dieser in kleinen, isolierten Populationen durch eine "genetische Revolution". Indizien dafür sind sog. Fossillücken. Es gibt viele "leere Stellen" bei Fossilfunden. Aber das könnte auch einfach daran liegen, dass Übergangsstufen noch nicht gefunden worden sind. Es wären also bloss Forschungslücken.

Wie dem auch sei. Aus einer grösseren Distanz betrachtet, muss auch der Vertreter der Kontinuitätshypothese folgendes beachten: Im Laufe der Jahrmillionen und Jahrmilliarden gab es immer lange Zeiten, wo anscheinend wenig los war. Plötzlich entstand aber allenthalben Neues. Man könnte also von kosmischen und biologischen, später auch von kulturellen, Rhythmen sprechen: Längere Phasen der Ruhe (stasis) wechseln mit gesteigerter Aktivität und Kreativität (Explosionen) ab.

 

4. Man kann die Evolution als laufende Höherentwicklung betrachten, als Ausbildung von immer höherer Ordnung oder immer mehr Komplexität.

Gegenauffassungen sind:

a) Jede Art ist in sich schon vollkommen oder optimal an ihre Nische angepasst und führt dort das ihr entsprechende Leben. In einem neueren Buch heisst es: "Every animal is the smartest."

b) Manche Erscheinungen können als Zurückentwicklungen aufgefasst werden, ja sogar als Abfall von einer vollkommenen Form oder Idee. Es gibt z. B. die Auffassung, Affen seien rückentwickelte Menschen.

 

Auch die Wissenschaft unterliegt einer Evolution

 

In der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte sind diese Gegenpositionen mehrmals und in allerlei Facetten aufgetaucht. Sie stehen im ständigen Wechselspiel. Einmal wird die eine favorisiert, ein andermal die andere. Ferner erfolgen ständige Rückgriffe auf Früheres, Modifikationen und Erweiterungen.

Wissenschaft ist also genau so dynamisch wie die dynamisch betrachtete Evolution, ein evolutionärer Prozess des Menschen. Wie die Evolution ist die Wissenschaft nicht abgeschlossen. Im Unterschied zur Evolution vermischen sich aber die einzelnen Arten resp. Auffassungen und sind fruchtbar. Ebenfalls im Unterschied zur Evolution sind die Auffassungen aber nicht so langlebig, stabil oder verlässlich.

Heidegger sagte einmal: "Wissenschaft heisst, Unsicherheiten aushalten können."

 

Wir stehen im Moment in unserer Vorlesung bei der Entstehung des Bewusstseins oder des Menschen.

 

Fragen zur Entstehung des Bewusstseins oder des Menschen

 

Was ergibt sich für die Psychologie aus der Evolutionsbetrachtung?

 

1) Der Mensch ist vor 10-5 oder 6-2 Mio. Jahren aus dem Tierreich herausgewachsen. Nun gibt es da auch verschiedene Thesen:

a) entweder erfolgte der Übergang kontinuierlich, in stufenweisen kleinen Veränderungen, oder

b) es gab irgendwann einen Rubicon, der auf dem Weg vom Mensch zum Tier überschritten wurde.

c) Eine dritte These sieht irgendwo ein Tier-Mensch-Übergangsfeld..

 

Die Gegenthese hier lautet, dass der Mensch durch einen göttlichen Akt geschaffen wurde.

 

2) Die menschlichen Eigenarten und Fähigkeiten sind Produkt oder Ergebnis der biologischen Evolution, insbesondere auch die kognitiven Vermögen und die Kulturfähigkeit. Auch die philosophische Anthropologie formuliert: "Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen".

Die Gegenthese lautet, dass dem Menschen ein göttlicher Funken, eine göttliche Seele eignet. Dazu hat er von Gott Aufträge erhalten, z. B.: "Seid fruchtbar und mehret euch!", "Machet euch die Erde untertan!" und "Im Schweisse deines Angesichts ...!"

 

3) Die Erklärung des menschlichen Verhaltens kann ebenfalls auf zwei Weisen erfolgen. Entweder verhält er sich als Primat, der einige wesentliche zusätzliche Errungenschaften gegenüber den Affen aufweist, oder er verhält sich als "Krone der Schöpfung". Nicht optimales oder nicht richtiges Verhalten kann dann gedacht werden als Regression auf frühere, tierische Verhaltensweisen, oder aber als Abwendung von Gott, als Sünde.

 

4) Was das Ziel des menschlichen Lebens betrifft, so kann es aus evolutionärer Sicht das Überleben der menschlichen Art betreffen (genannt "Gesamtfitness"); aus religiöser Sicht ist es ein demütiger Lebenswandel ins "Reich Gottes".

 

5) Ein letzter Punkt betrifft die Herkunft dieser Auffassungen selber. Man kann sagen, dass alle diese Thesen oder Überzeugungen Ergebnisse der menschlichen Kultur sind. Sowohl Evolutionstheorie wie Religion wären dann einfach verschiedene Weisen der Deutung der Welt und ihrer Erscheinungen.

Da gibt es aber auch wieder die Gegenthese, dass die richtige, d. h. religiöse Auffassung eine Inspiration von Gott her ist. Die Bibel ist Gottes Wort. Die falschen, d. h. evolutionären Auffassungen wären dann Abwege, Verirrungen des menschlichen Geistes. Wenn und weil sich der Mensch von Gott losgesagt hat, kommt er zu solch gottlosen Theorien.

 

Wir gelangen also, wenn wir aufs Grundsätzliche gehen, immer in philosophische und religiöse Fragestellungen. Das lässt sich nicht vermeiden. Und das gestehen auch die Evolutionstheoretiker, Biologen, Verhaltensforscher usw. dem Menschen zu: Er ist ein Wesen, das, auch wenn er aus dem Tierreich kommt, Philosophie und Religion und manch anderes hat, was die Tiere, auch die Affen, nicht haben.

 

Damit sind wir endlich wieder bei unserem Thema. Die Entstehung des Bewusstseins resp. seines Trägers, des Menschen oder eines unmittelbaren Vorläufers von ihm.

 

Heini Hediger sieht wiederholt göttliche Schöpfungsakte

 

Eine prominente Gegenposition zu den Ethologen und Evolutionsbiologen nimmt der Zürcher Zoologe und langjährige Zoodirektor Heini Hediger ein. Er akzeptiert, dass der Körper des Menschen aus der Tierwelt evolviert ist, "hingegen sehe ich keine Möglichkeit, seine geistigen Eigenschaften ebenfalls vom Tier aus abzuleiten. Vielmehr muss ich hier als Zoologe und Verhaltensforscher notwendig einen Schöpfungsakt, und zwar einen göttlichen Schöpfungsakt - oder vielleicht mehrere - annehmen, nicht aus irgendwelcher dogmatischer Bindung, sondern aus biologischer Einsicht" (1980, 269f).

 

Ein paar Seiten später schliesst er sich ausdrücklich einer modernen katholischen Auffassung an, dass sich "die nicht fliessend ableitbaren Eigenschaften des Menschen wie Feuermanipulation, Sprache, Wissenschaft, Kultur etc." als wiederholte göttliche Schöpfungsakte verstehen lassen (277).

 

Offenbar denkt Hediger beim Menschen plötzlich nicht mehr dynamisch.

 

Dass wir kaum etwas über die geistige Entwicklung des Menschen in den letzten 5 Mio. Jahren wissen, ist bedauerlich; aber der Schluss auf ein- oder mehrmaliges göttliches Eingreifen ist deshalb nicht zwingend. Dann müsste man das auch in den paar Milliarden Jahren vorher ansetzen.

Hediger äussert sich tatsächlich in dieser Richtung: "Die Schöpfung braucht nicht wörtlich nach dem bildhaften Bericht der Bibel erfolgt zu sein, sondern lässt sich als wiederholte Akte verstehen und als weitgehende Delegation an die Natur mit dem Auftrag: Es werde… " (301). Das ist reichlich ungenau. Was steht denn in der Bibel? In der Genesis, Verse 11 und 24, heisst es nicht, Gott habe die Pflanzen und Tiere geschaffen, sondern: "Und Gott sprach, es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut..." "Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art."

Allerdings ist es nicht so einfach. Es heisst nämlich schon im nächsten Vers: "Und Gott machte die Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art."

 

Die Schöpfung des Menschen schliesslich ist allein Gottes Werk. Und am Schluss heisst es beim Rückblick auf die sechs Schöpfungstage: "Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte. Und siehe da, es war sehr gut."

 

 

Teil 4: Die Entstehung des Bewusstseins

(Die kurze Psychophylogenese: 10 Mio. Jahre)

 

Nun kommen wir zur zweiten psychischen Revolution. Volker Schurig nennt sie die Entstehung des Bewusstseins (Abb. 8 unten).

 

Erich Jantsch spricht von der selbstreflexiven Mentation, deren Kennzeichen die Antizipation und die Umgestaltung der Aussenwelt sind (229, 235, 239).

 

Andere sprechen von Fähigkeiten, z. B. Doris und Norbert Bischof von Zeit-Repräsentation, Heinz Peter Znoj von Kulturfähigkeit.

 

Träger dieses Bewusstseins oder selbstreflexiven Geistes oder der neuen Fähigkeiten ist der Mensch oder ein unmittelbarer Vorgänger.

 

Damit kommen wir also zur Frage: Was unterscheidet den Menschen von den höchstentwickelten Primaten ausser ihm? Was ist das Besondere am Menschen? Die Versuche von Antworten füllen Bibliotheken. Es gibt religiöse und philosophische Antworten, biologische, ethologische, chemische, molekulargenetische usw. Das ist ein uferloses Gebiet. Was sollen wir da machen?

 

1. Als Lektüre für die philosophische Anthropologie empfehle ich die beiden Bücher von Michael Landmann: "Philosophische Anthropologie", ein Göschenbändchen, 1955; und: "De homine", 1962.

2. Von der biologischen Literatur habe ich eine Liste zusammengestellt.

 

Siehe: Vorgeschichte: von unten her

 

Sie enthält auch Literatur zum vorher besprochenen, also zur Psychophylogenese und sogar einiges zur Evolution allgemein. Sie deckt nicht die ganze Frage der Sonderstellung des Menschen ab. Ich werde dazu später eine weitere Liste auflegen, weil die Sonderbarkeiten des Menschen vom Homo erectus bis zum Homo sapiens erneut zur Sprache kommen werden.

 

3. Ich beschränke mich hier auf biologisch und ethologisch orientierte Antworten und greife nur 6 heraus: Konrad Lorenz, Volker Schurig, Doris und Norbert Bischof, Heini Hediger, Heinz Peter Znoj sowie die "Machiavellian Intelligence".

 

4 Fragen zur Entstehung des Bewusstseins in evolutionärer Sicht

 

Aus biologischer Sicht kann man die Entstehung des Bewusstseins als evolutionären Vorgang betrachten. Wir haben bereits gesehen, dass auch ein Zoologe, z. B. Heini Hediger, anderer Ansicht sein kann.

 

Evolutionär gesehen stellen sich u. a. folgende vier Fragen:

 

1. Wo fangen die Primaten an?

Eine Möglichkeit ist das Spitzhörnchen vor ca. 70 Mio. Jahren, also noch zur Zeit der Saurier.

Eine andere These wird von den Creationisten vertreten.

 

2. Wann trennten sich die Entwicklungslinien der verschiedenen Affenarten untereinander und im speziellen die Linie zum Menschen von den Affen, insbesondere von den Menschenaffen?

Insgesamt steht da ein Zeitraum von 50 oder 60 Mio. Jahren zur Verfügung!

 

Mit einem kernigen Spruch könnte man sagen, die Sache mit dem Stammbaum des Menschen sei ein richtiges Affentheater. Daran sind nicht die frühen Affen schuld, sondern die Forscher in den letzten 100 Jahren.

Ein vornehmeres Bild ist dasjenige eines Schachspiels (de Beer 1948). Die Entwicklung des Menschen entspricht einem Schachbrett, und die fossilen Funde werden von den Forschern auf verschiedenen Feldern aufgestellt und herum geschoben, je nachdem von welchen Prinzipien oder Abstammungshypothesen sie ausgehen. Allein für die Abzweigung des Menschen von der äffischen Linie gibt es mindestens ein Dutzend ganz verschiedene Versionen (Abb. 9, 10, 11, 12, 13, 14).

 

3. Ab wann können oder dürfen wir vom "Menschen" sprechen? Auch da gehen die Meinungen weit auseinander. Verwirrend sind auch die Bezeichnungen. Die Gelehrten sprechen von

·        Hominoideae (Menschenähnliche, z. B. ab 40 Mio.)

·        Hominidae (Menschenartige, z .B. ab 6 Mio.)

·        Homininae (Menschen, z. B. ab 2 Mio.)

·        Hominini (Menschen)

 

Es gibt aber auch ganz andere Datierungen, die von anderen Gruppierungen herrühren. Ferner kann man Vor- und Zwischenstufen benennen, z. B.

·        subhumane Hominiden

·        Urprähomininen

·        Prähomininen

·        humane Hominiden

·        Euhomininen usw.

 

Auch viele andere Bezeichnungen stiften Verwirrung, insbesondere die zahlreichen Formen der Australopithecinen, der Pithecanthropinen und der Archanthropinen.

 

Schwierig ist es auch bei den Bezeichnungen Homo. Grosso modo kann man heute sagen: Es gibt die Stufen

Australopithecus (3,5 Mio. - 1 Mio.)

Homo habilis (4/2 Mio - 1,6 Mio.)

Homo erectus (2 Mio. - 100'000)

Homo sapiens neanderthalenis (100'000-35'000) und

Homo sapiens sapiens (seit 50'/30'000 Jahren); letzteres sind wir.

 

4. Wieder näher an unsere gegenwärtige Fragstellung führt die Frage: "Was ist der Unterschied der höchsten nicht-menschlichen Primaten zum Menschen?

Ausgerechnet von unseren nächsten Verwandten, Gorilla und Schimpanse, die vor rund 5 Mio. Jahren aufgetaucht sein könnten, gibt es keine fossilen Funde. Das heisst, für diese Wesen schweigen die paläontologischen oder archäologischen Quellen 5 Mio. Jahre lang.

Wir kennen also nur Form und Verhalten der heutigen, rezenten Gorillas und Schimpansen. Vielleicht aber haben sich diese in den letzten 5 Mio. Jahren ebenfalls verändert. Vom heutigen Schimpansenverhalten auf das Verhalten des Urmenschen zu schliessen ist also zumindest gewagt.

Auch die Umweltbedingungen sind heute nicht mehr wie vor 5 Mio. Jahren.

 

Einige wichtige Unterschiede Tier/ Mensch

 

Die wichtigsten Erkenntnisse von Doris und Norbert Bischof (1978-87) kann man  tabellarisch zusammenfassen (Abb. 15, 15b und 15c) und folgendermassen kommentieren:

 

1. Es gibt drei kognitive Ebenen. Die erste findet sich bei den Wirbeltieren, die zweite beim Schimpansen und die dritte beim Menschen.

 

2. Aber so einfach ist es nicht. Erinnern wir uns an die Rattenversuche. Diese gehören offenbar zur Selbstobjektivierung.

Die Schimpansen, die sich im Spiegel erkennen, sind ebenfalls hier zu finden, auch die Schimpansen, die auf einem Videofilm Absichten des Akteurs erkennen.

 

3. Ein wichtiger Unterschied besteht zwischen dem blossen Vorstellungsvermögen und der Zeit-Repräsentation.

Die Vorstellung erlaubt ein inneres Probehandeln, eine Manipulation der Akzidenzien, d. h. das Objekt, z. B. eine Kiste, bleibt gleich, aber Ort und Lage können im Kopf verändert werden. Aber beim Schimpansen ist dies abhängig von aktuellen Bedürfnissen. Nur der Mensch kann von aktuellen Bedürfnissen absehen.

 

4. Was den Menschen auszeichnet, ist die Fähigkeit der Zeit-Repräsentation.

Nun gibt es aber bei der Zeit-Repräsentation ein spezielles Phänomen, das unter dem Titel Internalisierung läuft. Es lässt sich bei Schimpansen, aber auch bei Hunden beobachten. Es beruht auf der Extrapolation künftiger Ereignisse (nicht Bedürfnisse).

a) Die Internalisierung betrifft z. B. ein Verbot. Ein Hund lernt bei der Dressur, was er nicht tun darf. Er internalisiert dies. Wenn er etwas dennoch getan hat, macht er sich ganz klein und niedrig. Er fürchtet die künftige Strafe.

b) Ein anderes Beispiel für Internalisierung findet sich beim Schimpansen. Hier geht es nicht um die Erwartung eines künftigen Ereignisses, aber die Zeit spielt eine grosse Rolle. Es geht um die längere Trennung eines Kumpanen von der Herde. Es scheint, als würden sich die Schimpansen ein Bild von ihren Freunden machen und es im Gedächtnis herumtrage. Wenn dann ein "Freund" nach längerer Trennung wieder zurückkommt, wird er nicht als Fremder, sondern als Freund begrüsst.

 

5. Der Erwerb der Fähigkeit der Zeit-Repräsentation hat emotionale Konsequenzen. Der Mensch muss dafür einen Preis zahlen:

a) Da Unsicherheit entsteht, ergib sich Angst

b) Da mehr Motive wirksam werden können und gleichzeitig die aktuellen reduziert werden, entsteht motivationale Instabilität

c) Der Mensch kann soziale Motive gegen sich selber und andere wenden; daraus ergibt sich ein Konflikt zwischen Abstossen und Zuwendung. Dieser wiederum kann durch dreierlei abgebaut oder kompensiert werden: Clanbildung, Bildung von Mythen und von Moral.

 

6. Ein weiterer Unterschied, den ich erwähnen möchte, betrifft die Sprache. Sie haben sicher schon von den vielen Versuchen gehört, mit Affen sprachliche Kommunikation zu betreiben, etwa mit Plastic-Täfelchen oder mit der Taubstummensprache. Was damit möglich ist, ist nach Norbert Bischof bloss die Mitteilung von Wünschen. Diese Sprache ist also expressiv, nicht kommunikativ.

Beim Menschen dagegen erlaubt die Sprache die Benennung und Transfigurierung von Inhalten der Vorstellungsebene. Dies erlaubt eine Mitteilung von Sachverhalten.

Weil überdies die Sprache ein Vorgang in der Zeit ist, handelt es sich um einen Signalfluss bei begrenzter Kanalkapazität. D. h. zur Übertragung müssen wir unsere reichhaltigen Vorstellungen erstens vereinfachen und zweitens in eine Reihenfolge bringen. Das kann man Digitalisierung nennen. Wenn wir uns also mitteilen wollen, können wir nie die ganze Fülle unseres Innenlebens weitergeben, wir müssen Schwarzweissmalerei betreiben.

 

7. Wie gut der Mensch mit seinen Fähigkeiten umgeht, ist eine offene Frage.

 

8. Als letzen Punkt möchte ich die Frage anschneiden: Wie können wir Metamorphosen sehen, also Wandel, z. B. Evolution. Im Unterschied zum Probehandeln findet nicht nur eine Veränderung der Akzidenzien statt, sondern auch eine der Substanz - also aus einem Fisch wird ein Amphibium, aus diesem ein Reptil, aus diesem ein Säuger…. Damit haben wir Mühe.

 

 

Teil 5: Intelligenz und Modellgebrauch bei höheren Tieren

 

(siehe unter Modelle: Modelle bei höheren Tieren)

 

Tiere verwenden Modelle zur Orientierung, zum Werkzeuggebrauch und zur sozialen Kompetenz

 

Inhalt:

Haben Tiere Bewusstsein?

Empirische Untersuchungen zum tierischen Bewusstsein

Was ist Psychologie?

Was steckt hinter dem Verhalten von Tieren?

"Animal Intelligence" und "Comparative Psychology"

"Cognitive factors"

"Cognitive ethology"

Machiavellische Intelligenz bei Tieren

Täuschungsmanöver bei Tieren

 

Literatur dazu: Mensch und Tier: Unterschiede/ Intelligenz der Tiere

 

 

Teil 6: Das "neue" Wesen - der Mensch

 

Wir sind jetzt unwiderruflich beim Menschen. Das ist die 4. natürliche Revolution.

 

Sie erinnern sich 1a. Materie, 1b. Leben, 2. Psychisches, 3. Bewusstsein.

 

Träger des Bewusstseins ist der Mensch oder ein unmittelbarer Vorläufer.

 

Verschiedene Thesen zur Entstehung des Bewusstseins

 

Für die Entstehung des Bewusstseins habe ich, ausserordentlich gedrängt, im einzelnen vorgestellt: die Ansätze von Konrad Lorenz, Volker Schurig, Doris und Norbert Bischof, Heini Hediger und Heinz Peter Znoj sowie der "Machiavellian Intelligence".

 

Ich habe dazu eine Übersicht zusammengestellt (Abb. 16; Literatur dazu: Abb. 5). Sie ergibt ein ganz schönes Spektrum.

Etwas deutlicher als bisher werden auch Zusammenhänge sichtbar. Auf Lorenz (Abb. 17) stützt sich das Ehepaar Bischof (Abb. 15), auf dieses Heinz Peter Znoj (Abb. 18).

Volker Schurig bringt die beiden Komponenten: technische und soziale Intelligenz. Die Vertreter der Machiavellischen Intelligenz sehen beim Menschen ein Netz von Lügen und Täuschungen. Aus dem Rahmen fällt der Zoodirektor Hediger mit seiner göttlichen Schöpfung des Menschen.

 

Nun, das sind einige Mosaiksteinchen zur Frage nach dem Unterschied Tier/ Mensch, genauer: Primaten/ Mensch. Das ist aber noch nicht dynamisch gesehen.

 

Wie eine dynamische Betrachtung aussehen könnte, habe ich ebenfalls für Sie zusammengestellt (Abb. 19). Sie orientiert sich an Volker Schurig.

Bei der dynamischen Betrachtung kann man unterscheiden:

·        die Entstehung des Bewusstseins, z. B. in seinem rudimentären oder einfachsten Formen, im Vorfeld des eigentlichen Menschen, und

·        die anschliessende Entwicklung, Entfaltung, Differenzierung des Bewusstseins beim Menschen.

 

Ablösung der biologischen Evolution durch die kulturelle

 

Ein zweiter wichtiger Punkt, und zwar nur in diesem Zeitbereich (also grob gesehen in den letzten 10 Mio. Jahren), ist die sukzessive Ablösung der biologischen Evolution durch die kulturelle Evolution. Dabei laufen beide einige Mio. Jahre miteinander.

 

Die biologische Evolution wirkt bis vor etwa 40'000 Jahren, als

1)     nachweislich das Sprachvermögen des Menschen eine voll artikulierte Sprache erlaubte und

2)     der Homo sapiens sapiens auftrat, also die Art, der wir auch heute noch angehören. Ganz aufgehört hat die biologische Evolution freilich bis heute nicht.

 

Die kulturelle Evolution kann man z. B. bei der Werkzeugherstellung und der anderen Nahrungsbeschaffung ansetzen, also vor vielleicht 2,5 Mio. Jahren. Sie wurde immer wirksamer, bis sie vor 40'000 Jahren endgültig das Heft übernahm.

 

Ein dritter wichtiger Punkt bei der dynamischen Betrachtung ist, dass die Dynamik nicht einfach irgendwo anfängt und anderswo aufhört, sondern sie durchzieht Äonen; sie fängt vor vielen Milliarden Jahren an und sie wird morgen weitergehen.

Jede Zeichnung, wie diese (Abb. 19), bietet also nur einen Ausschnitt aus einem Prozess. Dies vernachlässigt z. B. Heini Hediger. Bei ihm bricht die Dynamik plötzlich ab.

 

Es hat sich also schon enorm viel ereignet, bis vor 10-5 Mio. Jahren die höchsten Primaten und bei diesen komplexe Sozialverbände mit hoch entwickelten innerartlichen Kommunikationsstrukturen entstanden. Aus diesen entwickelte sich vor rund 5 Mio. Jahren der Träger des Bewusstseins. Das war vermutlich noch nicht ein "Homo", aber ein unmittelbarer Vorläufer, vielleicht der Australopithecus.

 

Abstieg von den Bäumen und Umkonstruktion von Körper und Physiologie

 

Jedenfalls trat das Bewusstsein nicht schlagartig auf, sondern zwei ganz andere Veränderungen fanden statt. Wie sie zusammenhängen, ist wie immer, Gegenstand von wissenschaftlichen Kontroversen.

Jedenfalls nisteten sich einige dieser "neuen" Wesen in anderen Lebensräumen ein, plump gesagt, sie stiegen von den Bäumen hinunter und bewegten sich in die Savanne oder Steppe hinaus (Abb. 20), und zweitens erfolgten zahlreiche Änderungen des Körperbaus. Am auffälligsten dabei ist der aufrechte Gang auf zwei Füssen, was eine Umkonstruktion des ganzen Skeletts erforderte (Abb. 21 und 22); dazu kamen Umbau des Schädels, des Kauapparates, der Greifhand, Verlust des Haarkleides und verschiedene physiologische, hormonelle usw. Umstellungen.

Der Mensch ist physisch, körperlich, physiologisch, vegetativ gesehen eine weitgehende Umkonstruktion.

 

Wie erwähnt, begannen diese "neuen" Wesen vor etwa 2,5 Mio. Jahren einfachste Steinwerkzeuge, eventuell auch Knochen- und Holzwerkzeuge herzustellen und zu verwenden.

Hier setzt nach Schurig auch die Subjekt-Objekt-Trennung als besonderes Kennzeichen des menschlichen Bewusstseins ein. Ferner begannen die "neuen" Wesen damals Fleisch zu verzehren, entweder als Aasfresser oder als Jäger. Das ist auch Gegenstand ausgedehnter Diskussionen. Sollte es Jagd gegeben haben, wäre dafür die Zeit-Repräsentation wichtig gewesen, nämlich für die vorausschauende Planung.

 

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die merkliche Vergrösserung des Gehirns erst nach der Werkzeugherstellung einsetzt, und zwar erst beim sogenannten Homo erectus, der vor 2 Mio. Jahren auftaucht und bis vor ca. 100'000 Jahren lebte. Bei ihm vergrösserte sich in diesen rund 2 Mio. Jahren das Gehirn auf das Doppelte.

Nochmals: Die Menschwerdung setzt  schon lange vor der Vergrösserung des Gehirns ein.

Es liegt also jedenfalls nicht oder nicht nur am Gehirn, dass der Mensch zum Menschen wurde.

 

Sprache und die Schaffung neuer Umwelten

 

Immerhin verbesserten sich in den letzten 2 Mio. Jahren auch die menschliche Kommunikation und Sozialisation, also das Hineinwachsen in die Gemeinschaft. Wann die richtige, artikulierte Sprache auftrat, ist umstritten, vielleicht schon beim Neandertaler, vielleicht, wie erwähnt, erst vor 40'000 Jahren bei seinem Nachfolger, dem Homo sapiens sapiens. Dass dabei die Symbolisierungsfähigkeit, die schon bei den Schimpansen festgestellt wurde, und die Zeit-Repräsentation eine grosse Rolle spielen, ist offensichtlich.

 

Nun erst ist das möglich, was die marxistisch-leninistischen Theoretiker und Forscher gerne die "gesellschaftlich-historische" Entwicklung nennen. Dabei schaffen die mittlerweile immer differenzierter gewordenen Werkzeuge, Waffen und Geräte eine gegenüber der natürlichen Umwelt zunehmend wichtigere Geräte-Umwelt. Darüber hinaus lassen sich mittels Zeit-Repräsentation und Symbolisierung richtiggehende sekundäre Umwelten aufbauen, also Vorstellungswelten mit Weltbildern, Seelenbildern, Gesellschaftsbildern usw.

 

Nun setzt erst mit voller Wucht das ein, was wir gemeinhin als menschliche Kultur bezeichnen: nämlich Kannibalismus, vielleicht mit rituellem Hintergrund, rituelle Totenbestattungen, vermutlich verbunden mit naturreligiösen Vorstellungen, magisches Denken, Schmuck und Kunst, soziale Arbeitsteilung usw.

 

Soweit, schematisch vereinfacht, Volker Schurigs Auffassung.

 

Wie bereits erwähnt, ist fast jeder Punkt umstritten; wir werden einiges in den folgenden Stunden noch näher betrachten. Aber als grobes Schema für das Verständnis ist diese Darstellung brauchbar.

 

Eine andere, aber ähnliche Darstellung dieser Dynamik stammt aus einem neuen Beitrag von David Pilbeam (1988). Das Auseinandergehen im Laufe der Entwicklung veranschaulicht eine Zunahme der Komplexität des Verhaltens sowie der Geräte- und Vorstellungs-Umwelt (Abb. 23).

 

Wenn man diese Dynamik von der Seite her betrachtet, kann man zwei Auffassungen vertreten: Entweder verlief die Entwicklung kontinuierlich, oder aber in Sprüngen. Sie kennen das bereits. Das eine ist die These des Gradualismus, d. h. die Evolution ist eine Folge von vielen kleinen Veränderungen. Pilbeam dagegen stützt sich auf die These vom "punctuated equilibrium". Längere Zeit passiert nicht viel, dann erfolgt plötzlich ein Sprung (Abb. 24). Je nach Art der Funde resp. der betrachteten Fähigkeiten oder Verhaltensäusserungen kann man die eine oder andere Auffassung vertreten.

 

Erneute Kontroversen

 

Dass die wissenschaftlichen Lehrmeinungen hin- und herschwanken, habe ich bereits mehrfach angetönt.

Gerade bei der Entfaltung des Menschen ändern sich die Auffassungen etwa alle 10-20 Jahre. D. h. es gibt immer wieder Störenfriede, welche die herrschenden Auffassungen umstossen möchten. David Pilbeam (1988) ist ein solcher, ein anderer ist der Archäologe Lewis Binford. Wir werden beiden später wieder begegnen. Diese beiden haben jedenfalls das Bild, das man in den 1960er Jahren vom frühen Menschen hatte, ziemlich fest umgestossen. Damals sah man ihn in grosser Nähe zu uns heutigen Menschen. Binford und Pilbeam aber wollen ihn viel weniger human sehen.

 

Das ist übrigens interessant, weil, umgekehrt zur selben Zeit die Bestrebungen zugenommen haben, den Tieren, insbesondere den Primaten, mehr kognitive Fähigkeiten, Bewusstsein usw. zuzuschreiben. In einer drastischen Formel: Der gegenwärtige Stand der Wissenschaft wertet die Affen auf, die frühen Menschen ab. Das kann sich wieder ändern.

 

Unterschiede Tier/ Mensch oder: Das typisch Menschliche

 

Die Sache ist jedenfalls kompliziert, ungeheuer kompliziert. Damit Sie nie mehr in die Versuchung geraten, die Sache des Menschen, die Menschwerdung im Besonderen, als einfach anzusehen, habe ich drei weitere Übersichten für Sie kopiert. Sie betreffen den Unterschied Tier/ Mensch, oder anders formuliert, das typisch Menschliche. Das ist enorm viel.

 

Die erste stammt aus einem neuen Buch von Frank E. Poirier: "Understanding Human Evolution" (1987). Es bietet (Abb. 25) anhand archäologischer Daten eine ausserordentlich detaillierte Übersicht von den ersten Primaten bis zum Homo sapiens. Poirier bietet hier etwa 20 Veränderungen, die nach der Abspaltung des Menschen von der äffischen Linie aufgetreten sind.

 

Die zweite Zusammenstellung (Abb. 26) stammt von Richard D. Alexander und Katharine M. Noonan (1979). Alexander ist der Soziobiologe, der die menschliche Gesellschaft als ein "Netz von Lügen und Täuschungen" bezeichnete.

Nun, er hat zusammen mit Frau Noonan eine Liste von nicht weniger als 30 "Distinctively Human Attributes" zusammengestellt. Habituelles Lügen und Täuschen ist also bei weitem nicht das einzig menschliche Merkmal.

 

Wir stellen unter anderem dreierlei fest:

 

1) Lüge und Täuschungen kommen da gar nicht vor.

 

2) Über die ersten 5 Punkte haben wir im Laufe dieser Vorlesung schon mehrfach gesprochen: Consciouness und self-awareness, foresight und deliberate planning.

Auf Grund der Untersuchungen der Affenforscher Jane Goodall, Gallup, Premack und anderen weisen Alexander und Noonan darauf hin, dass diese Merkmale bereits bei höheren Primaten, vor allem Schimpansen vorkommen. Wie ebenfalls mehrfach erwähnt: Vorsicht wäre da am Platz.

 

3) Ein dritter wichtiger Punkt ist die geschlechtliche Asymmetrie der typisch menschlichen Merkmale, ausser 6 (aufrechter Gang) und 30 (die Bildung von Kernfamilien). Das behaupten wenigstens die Autoren; man kann sich darüber streiten. Es ist jedenfalls eine anregende Liste.

 

55 spezifisch menschliche Merkmale

 

Ich habe es mir nicht nehmen lassen, selber auch eine solche Liste zusammenzustellen. Sie umfasst nicht weniger als 55 Merkmale, genauer: Merkmalsgruppen.

Ich bezeichne sie als Faktoren, weil ich damit ausdrücken möchte, dass sie den Menschen ausmachen, also alle zusammen das Menschliche bewirken.

 

Diese Zusammenstellung bedeutet, dass wir, wenn wir über den Menschen sprechen, sämtliche 55 Faktoren beachten sollten. Es liessen sich gewiss noch weitere anfügen, aber als Orientierungsrahmen scheint es mir ausreichend. Man kann damit arbeiten. Erstens schaffen die einzelnen Stichwörter Assoziationen zu Hauf, man kann also amplifizieren, d. h. die Gruppe weiter auffüllen. Zweitens kann man sich den Kopf über Zusammenhänge zerbrechen.

 

Ich unterscheide 4 Hauptgruppen.

 

Die ersten zwei nenne ich das physische Chassis (Abb. 27) und das Psychische (Abb. 28). Wenn man das im grossen betrachtet ergibt sich das Erstaunliche:

Die physische Ausstattung des Menschen ist eine weitgehende Umkonstruktion gegenüber den andern Primaten. Sie betrifft den Kopf, den ganzen Körper und die ganze Physiologie.

Die psychische Ausstattung des Menschen ist dagegen zu einem grossen Teil alt, mindestens zur Hälfte ein Erbe von Hunderten von Millionen Jahren. Es ist, wenn Sie an die Zeichnung mit den konzentrischen Ringen denken, das "Leben in mir" und das "Tier in mir".

Von der Basis haben wir nicht gesprochen. Sie gehört aber zu einer Gesamtbetrachtung des Menschen. Das eigentlich Psychische habe ich von Volker Schurig übernommen, drei der kognitiven Vermögen vom Ehepaar Bischof. Hinzugefügt habe ich hier so pauschale Bereiche wie Denken und Subjektivität samt Wille. Ebenfalls nicht besprochen haben wir die emotionalen und sozialen Bedürfnisse.

 

Die 3. Gruppe von Faktoren (Abb. 29 oben) habe ich in Ermangelung eines besseren Begriffs als "geistiges Chassis" bezeichnet. Gemeint damit ist folgendes: Diese Faktoren werden in der Literatur als Voraussetzungen oder Grundlagen genannt, wie es zu Kultur, zur menschlichen Intelligenz oder speziell zu Bildern und Glauben kommen konnte.

 

Und letzteres interessiert uns hier im Endeffekt: Wie kam es zu den geistigen Inhalten, zu den Vorstellungen und Meinungen, die der Mensch über sich und seinesgleichen und die Welt im Kopf hat?

Daneben gibt es noch eine Menge anderes: Aus der kombinierten Wirksamkeit der drei Hauptgruppen A, B und C ergeben sich (Abb. 29 unten) unzählige kulturelle Erscheinungen, Prozesse und Institutionen, dazu individuelle Eigentümlichkeiten, Verhaltensweisen usw.

 

Wie gesagt, der Mensch, und was er tut und schafft, ist keine einfache Sache. Jede Formel, die nur ein Merkmal herausgreift, greift zu kurz. Das fängt ganz vorne an:

 

Der Mensch ist ein aufrecht gehender Zweibeiner, ein nackter Affe, ein Allesfresser, ein Gehirntier, das einzige Wesen, das Weinen kann, usw.

Alles dies bedeutet nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Besonderen und aus dem Potential des Menschen.

 

Die geistige Entwicklung des Frühmenschen

 

Andere Darstellungsmöglichkeit der geistigen Entwicklung des Frühmenschen zeigen die Abbildungen 30 und 31.

 

Eine Extreme Auffassung vertritt wiederum Heini Hediger. Er behauptet: "Die Begegnung des frühen Menschen mit dem Transzendenten fällt ... zusammen mit der Beherrschung des Feuers" (Abb. 32).

 

 

Teil 7: Der aufrechte Gang

 

Eine bemerkenswerte Spekulation darüber, wie der Mensch aufrecht gehen lernten, stammt vom englischen Forscher Alister Hardy (1960). Sie wurde übernommen von einer Feministin: Elaine Morgan, keine Fachfrau, sondern eine Theaterautorin. Ihre systematische Zusammenfassung heisst "The Aquatic Ape" (1982).

 

Die Affen stiegen ins Wasser und verloren den Pelz

 

Wie geht die Story? Vor 6/ 5 Mio. Jahren stiegen die Wasserspiegel in Nordost-Afrika und isolierten manche Hominidengruppen auf Inseln. Die Ressourcen wurden knapp. Diese mussten also neue Anpassungen erwerben. Sie stiegen ins Wasser, um Muscheln und Krebse zu fangen. Sie passten sich also allmählich ans Wasser an.

 

Wenn sie hineinwateten, mussten sie sich aufrichten. Wenn sie dann in untiefes Wasser gerieten, war das Wassertreten die gegebene Bewegungsweise. Beim Schwimmen streckt sich der Körper resp. das Skelett.

 

Damit verbunden waren zahlreiche weitere Erwerbungen, z. B.

·        ein ausgeprägter Gleichgewichtssinn

·        andere Nasenform

·        Verlust des Haarkleides

·        Unterhautfett

·        schwitzen, wenn die Hominiden zurück aufs Land gingen.

 

Also: Die Affen stiegen zuerst von den Bäumen, dann ins Wasser, und wurden so Menschen.

 

Die Fussspuren von Lateoli

 

In der Praxis gilt eines: Die Arbeit des Paläoanthropologen und Archäologen ist eine Detektivarbeit.

 

Ein Detektiv sichert und untersucht Spuren und Hinterlassenschaften, um dann durch Prüfung alternativer Deutungen und scharfsinnige Schlussfolgerungen herauszufinden, was warum geschehen ist.

 

Diese vorliegende Spur (Abb. 33) ist nicht die Spur des Yeti. Sie ist etwa 3,7 Millionen Jahre alt. Es sind die ersten Fussspuren eines aufrecht gehenden Wesens, eines menschenartigen Wesens also. Die Spuren wurden 1976 von Mary Leakey in Laetoli (Tansania) entdeckt. Es sind drei Spuren. Was lesen die Forscher daraus?

 

"Aufgrund der relativen Nähe der Spuren G1 und G2 sowie der symmetrischen Schrittfolge erscheint es möglich, dass die beiden unterschiedlich grossen Individuen sich umfassten und nebeneinander gingen. Die dritte und kleinste Spur G3 ist von ihrem Verursacher artifiziell in die Spur G2 gesetzt worden, ein Verhalten, das für Pongiden zumindest untypisch ist ...

Geht man davon aus, dass es sich bei den Verursachern dieser Spuren um Hominiden gehandelt hat, dann erscheint es als sicher, dass es sich um ein männliches und ein etwas kleineres weibliches Wesen gehandelt hat, die Arm-in-Arm gingen und denen ein Kind folgte. Anderseits umfassen sich auch Menschenaffen des öfters im Spiel und legen so eine kleine Strecke zurück, was eine ähnliche Fussspur bewirkt. Hinzu kommt, dass zumindest die Spur G3 - wie auch die übrigen Tierspuren - zu einem anderen Zeitpunkt hinterlassen worden sein kann." (Horst M. Müller 1987, 65f).

 

So fasst Horst M. Müller die Deutung von Mary Leakey, zusammen.

 

In der "Cambridge Enzyklopädie der Archäologie" (1980, 69) heisst es: "Den Spuren nach kamen hier zwei Individuen zu verschiedenen Zeiten vorbei."

 

Bei Horst M. Müller sind die Fussspuren 27 m lang.

Yves Coppens (1985, 85) schreibt: "Diese insgesamt drei Fussspuren sind in zwei Tuffschichten erhalten: die erste, 1,50 Meter lang, besteht aus fünf kurzen, dreieckigen, mit der Ferse eingedrückten, sich nach vorn verbreiternden Fussstapfen, die einen sehr deutlichen Abdruck der grossen Zehe aufweisen.

Die beiden andern, parallel verlaufenden Spuren wurden vielleicht zu unterschiedlichen Epochen eingedrückt.

Eine Spur besteht aus 22 Abdrücken ...; die zweite Spur hat 12 Abdrücke. Sie alle sind, was Kontur, Wölbung und Abstützung des Fusses betrifft, erstaunlich neuzeitlich."

 

Zwei weitere Versionen bietet ein Buch der National Geographic Society über Archäologie (1988) an. Ein Bild (299) zeigt zwei Erwachsene, die zur gleichen Zeit, aber nicht Arm in Arm gehen; einer davon trägt ein kleines Kind an der Seite (Abb. 34). Im Text schreibt Brian M. Fagen (303), Mary Leakey habe die Ansicht vertreten, die linke, kleinste Spur, stamme von einem Kind und biete "eine Art von reizvoller Zeitverzerrung. An dieser Stelle ... hört (das Kind) auf zu gehen, macht eine Pause und dreht sich nach links, um einen kurzen Blick auf eine mögliche Bedrohung oder Unregelmässigkeit zu werfen; erst dann setzt es seinen Weg in Richtung Norden fort.

Diese so menschliche Bewegung überbrückt die Zeit. Vor 3,6 Jahrmillionen erlebte ein entfernter Vorfahr einen Moment des Zweifels, wie wir ihn heute auch erleben."

 

Was gilt nun: Liefen vor 3,7 Millionen Jahren ein Mann und eine Frau Arm-in Arm und waren von einem Kind begleitet, oder kamen zwei oder drei Hominiden zu verschiedenen Zeiten vorbei?

 

Dieses kleine Beispiel zeigt die Problematik aller historischen Forschung.

1)     Es werden Spuren gefunden.

2)     Sie werden gedeutet, und der Deuter publiziert seine Deutung.

3)     Andere Gelehrte geben diese Deutungen in weiteren Publikationen weiter, und das meist ungenau. In vielen Aufsätzen und Schriften ist die Berichterstattung schlampig.

 

Frau Leakey publizierte ihre Deutung mehrmals:

M. D. Leakey, R. L. Hay: Pliocene Footprints in the Laetolil Bed at Laetoli, Northern Tanzania. Nature 278, 1979.

M. Leakey: Footprints frozen in time. National Geographic 155, 1979, 446-458.

M.D. Leakey: Tracks and Tools. In J. Z. Young, E. P. Jope, K. P. Oakley (Hrsg): The Emergence of Man. Cambridge University Press 1981, 95-102.

 

vielleicht aber auch schon:

M. D. Leakey: The Early Hominids of Oldurvai Gorge and the Laetolil Beds. In P. V. Tobias, Y. Coppens (Hrsg.): The Oldest Hominids. Colloque VI, IX Congrès de l'Union Internationale des Sciences Préhiostoriques et Protohistoriques, Nice 1976.

 

Man müsste sich also die Original-Berichte beschaffen und sie genau studieren. Das erste Gebot für den Historiker wie den Prähistoriker heisst also:

Zurück zu den Quellen.

Dabei kann man vielleicht feststellen, dass Mary Leakey in einer Forschergruppe arbeitete, deren Mitglieder die Fussspuren unterschiedlich deuteten.

 

Frau Leakeys Deutung war also vielleicht nur eine von mehreren möglichen. Zweitens könnte Frau Leakey ihre Meinung im Laufe der Zeit geändert haben. Und zwar entweder als Folge von Diskussionen mit Fachkollegen oder nach einer Neuüberprüfung der Funde.

Neuüberprüfung von Funden können schliesslich auch von andern Forschergruppen unternommen worden sein. Man müsste also die Fachzeitschriften nach Originalbeiträgen weiterer Autoren über die Funde von Laetoli durchstöbern.

 

Wiederum: Vorsicht ist am Platz

 

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist also ein mühseliges Unterfangen - wenn man sie seriös betreiben will. Dabei ist dieses Beispiel noch einfach. Es geht ja bloss um Fussspuren.

Wenn aber da schon keine Einigkeit herrscht, wie sollen wir denn da Folgerungen trauen, die Auskunft über den "psychischen Status" des Urmenschen geben? "Alles Spekulation", darf man kritisch sagen. Das wäre weiter nicht schlimm, denn nicht nur die historischen Wissenschaften, sondern alle Wissenschaften arbeiten mit Spekulationen. Die Wissenschafter formulieren nur etwas anders: Sie sprechen von Hypothesen, Modellen und Theorien. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn sie nicht immer wieder mit dem Brustton der Überzeugung verkünden würden: "Wir wissen heute." Oder: "Es ist erwiesen, dass...".

 

Als zweites Gebot für den Historiker kann man festhalten: Je entschiedener die Behauptung, desto vorsichtiger ist sie zu betrachten.

 

Das wäre bereits eine wissenschaftspsychologische Erkenntnis. Wissenschaftstheoretisch muss die Erkenntnis lauten: "Man darf sich nie nur auf eine Behauptung (Deutung) berufen."

 

Andere Funde des Frühmenschen

 

Nun gibt es aus der Zeit des Urmenschen noch andere Funde. Der eindrücklichste wurde 1974 von Donald Johanson und seinem Team in Hadar, Äthiopien, gemacht. Als er die ausgebuddelten Knochen am Abend ins Zelt brachte, spielten im Transistorradio die Beatles "Lucy in the Sky with Diamonds". Daher nannte Johanson das Individuum, zu dem die 52 Knochen gehörten, "Lucy".

 

Aus der Rekonstruktion ergab sich, dass es sich um eine junge, ca. 19jährige Frau handelte, die etwas über einen Meter gross war. Das Skelett ist rund 3 Millionen Jahre alt und insofern einzigartig als für die nächsten 2,9 Mio. Jahren bisher nur noch ein einziges anderes Skelett gefunden wurde (1984 ein Homo erectus am Rudolf-See, ca. 1,6 Mio. Jahre alt, vgl. Brian M. Fagen 1988, 304-306).

40% des Skeletts von Lucy wurden gefunden. Daraus kann man 80% des Skeletts rekonstruieren.

 

Andere Funde in Ost- und Südafrika betreffen Zähne, Kiefer- und Schädelfragmente, ferner Steine und zerbrochene Knochen von Tieren und menschenartigen Wesen. Manche Steine sind bearbeitet (Quarzkieselsplitter und Pebble Culture), andere sind in kleinen Haufen mit ca. 30 Zentimeter Höhe im Abstand von 60-75 cm. so angeordnet, dass sie eine runde oder ovale Fläche von etwa 4 Meter Durchmesser begrenzen.

 

In den letzten Jahrzehnten (seit Dart 1925), vor allem seit den 1960er Jahren, wurden immer mehr Funde gemacht. Merkwürdigerweise fand man aber nicht die geringste Spur von unseren nächsten Verwandten, den Gorillas und Schimpansen, die sich zur selben Zeit herausgebildet haben dürften (Y. Coppens 1985, 109, 113).

 

Nun kommt das Problem der Deutung:

Ab wann darf man bei Knochen von der Gattung Homo sprechen? Wie sind die Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse? Was unterscheidet die weniger menschenartigen von den menschenartigen Wesen? Was haben letztere gemacht, wie haben sie gelebt und gedacht? Konnten sie sprechen? Gingen sie auf die Jagd, besassen sie Wohnstätten?

 

Die Auseinandersetzung ist in vollem Gange. An ihr beteiligen sich nicht nur Archäologen und Geologen, sondern auch Primatenforscher, Anthropologen und Evolutionsbiologen, Ethnologen und Psychologen.

 

Die freien Hände erlauben das Hantieren

 

Was berichtet die "Cambridge Enzyklopädie der Archäologie" (1980, 69-70) über diese Zeit?

Der aufrechte Gang auf zwei Beinen erlaubte zweierlei:

·        "Hominiden konnten auf Nahrungssuche das offene Terrain [der Savanne] durchstreifen.

·        Mit ihren zum Greifen und Hantieren freien Händen konnten sie Nahrung und Rohmaterial für die Geräteherstellung zum Lager transportieren. Mehr noch - sie waren zu allerlei differenzierten Manipulationen imstande, wie zur Anfertigung und zum Gebrauch von Werkzeugen."

 

Diese Schilderung ist nicht unbestritten. Lewis R. Binford, der Begründer der New Archaeology zweifelt sie an und berichtet in seinem Buch "Die Vorzeit war ganz anders" (1984; engl. 1983) darüber.

Insbesondere die Existenz von "Heimfluren" und von "Arbeitsteilung" bestreitet er (z. B. 55). Nach Binford zogen die Frühmenschen in Gruppen von Männlein, Weiblein und Kindern als Aasfressern herum. Sie schliefen nicht am selben Ort, wo sie das Aas mit mitgebrachten Werkzeugen ausweideten (73f).

 

Horst M. Müller (1987, 66f) versucht, einige Angaben über den "psychischen Status der Australopithecinen" zusammenzufassen.

 

Umstritten ist insbesondere, ob diese ersten menschenartigen Wesen schon sprechen konnten.

 

 

Teil 8: Wie sah die Urfamilie aus?

 

Das Grundproblem bei der Deutung von Funden, die Millionen Jahre alt sind, liegt in folgendem: Wir gehen mit unseren heutigen Vorstellungen und Erkenntnissen daran heran. Und diese Vorstellungen und Erkenntnisse haben sich in den letzten 200 Jahren mehrmals geändert. "Geschichte" ist also immer durch eine seltsame Doppelspurigkeit gekennzeichnet:

 

·        Einerseits versucht sie, historische Ereignisse zu deuten und auf eine Reihe zu bringen,

·        anderseits haben diese Versuche selber eine Geschichte.

 

"Geschichte" ist also immer zugleich der Versuch einer Real-Geschichte und die Erkenntnis, dass dieser Versuch selber Wissenschaftsgeschichte ist, eingebettet in die Geistesgeschichte.

 

Einige Beispiele:

 

Doris F. Jonas: Die erste Weltordnung wurde weiblich gesehen

 

Die Anthropologin Doris F. Jonas (1979, 174) behauptet: "Die ersten Menschen müssen die Welt notwendigerweise als eine umfassend weiblich bestimmte Ordnung empfunden haben" (vgl. 184).

 

Der Grund liegt in der Biologie.

 

1) Primaten gehören zur Gruppe der Säugetiere und sind "als solche ganz und gar von ihren Müttern abhängig, was Ernährung, Pflege und Schutz während ihrer so gefährdeten Kindheit angeht" (159).

 

2) Bei allen Primaten ist die Kindheit länger als bei anderen Säugetieren, beim Menschen nochmals doppelt so lang als bei den Affen (160).

 

3) Die verlängerte Säuglings- und Kindheitsphase führt "notwendigerweise eine fortgesetzte Zusammengehörigkeit zwischen Individuen" herbei; das ist eine Situation, "die geradezu unvermeidlich zur Grundlage einer sozialen Organisation werden muss" (160).

 

Kurz: Ohne die Mutter-Funktion würde keine Gesellschaft bestehen, noch hätte sie je entstehen können (161). Die Männchen haben eher eine Aussenseiterrolle. Sie dürfen die Gesellschaft von Müttern, Kindern und Jugendlichen beschützen, sie notfalls mit Waffengewalt verteidigen; ferner können sie auf die Jagd gehen. Beides kann in Gruppen geschehen.

Die Männchen bilden also eine Art zweite Gesellschaft, die für den Schutz und den luxuriösen, d. h. auf Fleisch beruhenden Unterhalt der "ersten", weiblichen Gesellschaft verantwortlich ist.

 

Daher heisst der Untertitel des Buches, in dem Frau Jonas' Aufsatz erschien: "Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau".

(Aber: Waffen und Jagd deuten auf eine spätere Zeit hin: ab 2 Mio. Jahre, eventuell auch erst vor 500 000 Jahren oder noch später.)

 

So abwegig ist diel These gar nicht. Auch Günter Dux meint in seiner "Logik der Weltbilder" (1982, 66): Die Mutter-Kind-Beziehung hat eine Schlüsselposition für die Ausbildung der gesamten kulturellen Lebensformen. "Die Ausbildung kultureller Lebenswelten beginnt gerade in ihren kategorialen Formen in dieser frühen Beziehung zwischen Mutter und Kind."

Und später: "Für das Kleinkind ist die Mutter die Natur" (93).

 

Carleton S. Coon: Die Kinder werden fortgeschickt

 

Gerade umgekehrt sah es Carleton S. Coon (1970, 77-79; amer. 1954-62) unter der Kapitelüberschrift "Ödipus geht in die Lehre".

Er meint, zuallererst lebten die Hominiden in Familiengruppen. Nach der gemeinsamen Erziehung jagte jeder Elternteil jeweils die Kinder gleichen Geschlechts fort, sobald sie das Interesse des Ehepartners zu erregen begannen. Später schlossen sich mehrere Familien zu Horden zusammen. Jungen und Mädchen mussten ihren Partner dann aus einer andern Horde heiraten.

 

Ulrich Kull: Familie mit einem Mann

 

Eine dritte Version bietet Ulrich Kull (1979). Er behauptet:

 

- "Die frühen ostafrikanischen Vertreter von Homo (von Koobi Fora) stellten Werkzeuge her und führten diese bei ihren Wanderungen zur Gewinnung von Nahrung mit. Ebenso transportierten sie Fleischnahrung zu den Lagerplätzen, wie die Knochenfunde beweisen. Durch diese Verhaltensweise unterschieden sie sich von den Menschenaffen eindeutig" (120f).

 

- Beim Menschen dürfte "schon sehr früh als Einheit der Sozialstruktur eine Familie mit einem Mann aufgetreten sein. Im Zusammenhang mit der Herausbildung des kooperativen Jagens entstanden dann im Verlauf der menschlichen Evolution Sippen (Familiengruppen) in denen es zur ausgeprägten Arbeitsteilung zwischen den Männern und den Frauen kam" (159).

 

 

Teil 9: Altsteinzeit - Kannibalismus und Totenbestattung

 

In der frühen Altsteinzeit, beim Homo erectus also, ergeben Funde aus der Zeit vor ca. 500'-400'000 Jahren (Chou-kou-tien; Vertesszöllös) zwei auffallende Ergebnisse

·        es gab eine kontrollierte Feuerbenutzung

·        es gab einen Schädelkult.

 

Weitere Errungenschaften in chronologischer Abfolge gibt Abbildung 35.

 

Gerade dieser Schädelkult hat Anlass zu weitreichenden Spekulationen gegeben. Worum handelt es sich?

Archäologisch gesehen ist auffallend, dass über einen Zeitraum von fast 3 Mio. Jahren, nämlich von "Lucy" (3 Mio.) bis zum Neandertaler (100'000 v. Chr.) - mit einer Ausnahme - kein ganzes Skelett von Australopithecus resp. Homo gefunden wurde, sondern nur Schädel und Unterkiefer.

 

Bei fast allen Schädelfunden in Fernost fehlte zudem der Gesichtsschädel, und das Hinterhauptsloch war erweitert. Eine Interpretation stammt von Yves Coppens (1985, 128f). Er meint,

"dass wir es hier mit der ersten, wenigstens 500'000 Jahre alten und mehrere hunderttausend Jahre existierenden rituellen Manifestation zu tun haben; der Schädel wurde vielleicht geöffnet, um das Gehirn zu opfern, das Gesicht wurde vielleicht zerstört, um das Ebenbild des betreffenden Menschen auszulöschen".

 

Andere Autoren sprechen unumwunden von Kannibalismus (Abb. 36).

 

Erhard Oeser (1987, 83) meint, "die Erweiterung des Hinterhauptloches diente der Entnahme des Gehirns zu kannibalischen Zwecken, wobei man praktischerweise mit der Speise, die zum Unterschied von zähem rohem Fleisch keiner besonderen Zubereitung bedurfte, zugleich auch das geeignete Essgeschirr geliefert bekam, das man auch später noch weiterverwenden konnte."

Allerdings räumt Oeser ein, es sei nicht auszuschliessen, dass es sich dabei "immer auch um einen zeremoniellen Kannibalismus im Rahmen einer rituellen Beisetzung handelt".

 

Hermann Müller-Karpe (1974, 249 vgl. auch 253) betont, dass dies nur eine Deutungsmöglichkeit sei. "Mit einiger Sicherheit ist den Befunden von Chou-k'ou-tien nur allgemein zu entnehmen, dass der menschliche Schädel irgendwie besonders behandelt und bewertet wurde."

 

Horst M. Müller (1987, 69f, vgl. 76) formuliert dagegen sehr salopp:

"Ein sicheres Zeichen für das Vorhandensein einer menschlichen Kultur ist der nachgewiesene Kannibalismus mit einer wahrscheinlich kultisch motivierten Kopfjagd und einem Verzehr von Gehirnen, wie sie bis vor kurzem auch noch von rezenten Menschen ausgeübt wurde."

 

Dass die Vertreter der "weiblichen" Weltordnung nichts von Kannibalismus wissen wollen, ist verständlich. Es passt nicht in das Bild der Harmonie und Frauenherrschaft dieser Forscher.

Marie E. P. König (in R. Fester 1979,112; ähnl. In: "Unsere Vergangenheit ist älter", 1980, 33-37) deutet die Deponierung isolierter Schädel symbolisch.

Das erste Weltbild des Menschen basierte auf dem runden Weltraum; von innen wird er als Wölbung gesehen, von aussen als Kugel. "Der universale Begriff der Welt konnte dem Typ 'rund' entsprechen. Um diesen Gedanken ergreifbar, begreifbar zu machen, musste der an sich grenzenlose Raum abgegrenzt sichtbar gemacht werden. Der Mensch suchte vielleicht Objekte, die dieser Form entsprachen, runde Bachkiesel etwa. Doch könnte es unter anderem auch der menschliche Kopf gewesen sein."

Auch von Hand geformte Lehmkugeln (300'000 v. Chr.) hat man gefunden, später zu Kugeln zurecht gehauene Steine.

 

Eine ganz andere Spekulation hat Jacques Attali, ökonomischer Berater der Sozialistischen Partei Frankreichs und später persönlicher Berater des Präsidenten, vorgetragen.

Er spricht von einer "kannibalischen Ordnung" (1981, frz. 1979). Er meint: "In fast allen primitiven Gesellschaften bedeutet Kranksein für jeden Menschen und jede Gruppe eine tödliche Bedrohung und einen Angriff von den Seelen der Toten, die auf der Suche nach Beute und nach Gefährten sind.

Um sich selber zu erhalten, müssen diese Seelen bekämpft und ferngehalten werden. Und daher die geniale List, ihren Träger zu verzehren, die Leichname der Toten in den Körper der Lebenden einzuschliessen, um die Seele abzusondern und ihr die Möglichkeit einer Rückkehr endgültig zu verwehren.

Der therapeutische Kannibalismus ist eine grundlegende und dauerhafte Ordnung, doch zugleich bedrohlich und zerbrechlich, weil sie mit Zerstörung, Jagd und Diebstahl einhergeht. Er lehnt es ab, jedem Menschen das Eigentum über sich selbst und seine Ewigkeit zuzubilligen. 'Essen, um zu leben' führt zum 'Mord, um zu essen'" (12-13).

 

Kannibalismus wäre demnach mit den Vorstellungen von Krankheit und Tod verbunden. Krankheit wäre eine Vorstufe des Todes, der abgewehrt werden muss.

Attali meint: "Der Tod stellt eine unsichtbare Welt dar. Sie ist von allen Seelen bevölkert, Gedächtnis aller Menschen; Sitz aller Kräfte und Ursache aller Schmerzen, Krankheiten und allen Sterbens; hier regieren Laune oder Weisheit der Seelen, die als Tyrannen und Richter der Lebenden auftreten.

Die Welt der Lebenden ist also ein Schauspiel, das für die Seelen aufgeführt wird" (22) usw.

 

Eine gegenteilige Deutung gibt Reay Tannahill (1969,11f). Sie meint, der Pekingmensch sei zum Schluss gekommen, Blut sei die Lebensessenz und Fleisch sei mit Stärke gleichzusetzen. Fleisch und Blut seinen übertragbar, wenn sie unabhängige Kraft besässen.

"Wenn ein Mensch Blut eines anderen (ob lebendig oder tot) trank, so trank er gleichsam einen Teil der geistigen und natürlichen Kraft des anderen."

Ähnlich könnte es mit dem Leib gewesen sein. Frau Tannahill meint, es liege "eine fundamentale Logik in dem Gedanken, die durch das Fleisch und Blut verstorbener Stammesmitglieder verkörperte Lebensessenz einem Stamm zurückzuführen. Der Geist der Weisen ging ebenso wenig verloren wie die Stärke des Kriegers oder der Humor des Fröhlichen." (ähnl. Leakey und Lewin 1977, 132).

 

Eine noch abenteuerlichere Version tischte 1971 Oscar Kiss Maerth auf. Er meinte: "Intelligenz ist essbar". Die geistige Entwicklung des Menschen beruhe also darauf, dass er das Hirn seiner Vorfahren verspies und demzufolge immer intelligenter wurde.

 

Vorsichtiger ist der DDR-Autor Friedhart Klix (1980, 37; vgl. 121) Er meint: "Die Vermutung, dass Artgenossen verzehrt wurden - sei es aus rituellen, sei es aus kannibalischen Gründen - muss dahingestellt bleiben. (Schimpansen erschlagen verwandte Arten, und das Hirn ist ihr Leckerbissen.)"

 

Auch Eike Winkler/ Josef Schweikhardt (1982, 147) weisen auf Kannibalismus bei andern höheren Primaten hin: "Fest steht, dass das Verzehren von Artgenossen im Tierreich, auch unter den höheren Primaten, wie z. B. bei Pavianen und Schimpansen, des öfteren beobachtet wurde. Bei den Pavianen isolieren die Männchen ein Jungtier, töten und verzehren es dann mit sichtbaren Anzeichen freudiger Erregung. Auch bei den Schimpansen sind es ausschliesslich die Männchen, die Jungtiere töten und fressen, wobei dem erfolgreichen Jäger meist die gesamte Beute zufällt."

 

Radikal räumt der Anthropologe William Arens mit dem Mythos der Menschenfresserei (1979) auf. Nach genauer Prüfung unzähliger Berichte hält er fest:

"Ausser wo es ums Überleben ging, habe ich nirgends hinreichende Belege gefunden, dass Kannibalismus eine Gewohnheit irgendeiner Gesellschaft war" (21; vgl. 172-174, 181). Es handelt sich offenbar um Greuelmärchen, die über Jahrhunderte abgeschrieben wurden. Für die prähistorischen Zeiten stösst er auf eine "self-fulfilling prophecy", d. h. da die Forscher des 19. Jahrhunderts der Meinung waren, die Naturvölker ihrer Zeit seien Kannibalen, mussten auch die "Primitiven", die am Anfang der Menschheitsgeschichte standen, Kannibalen gewesen sein (120). Und was man finden will, das findet man auch. Schlimmer noch ist es bei den Popularisatoren, die schon immer zu Übertreibungen und Ungenauigkeiten neigten.

 

Manche Forscher blieben übrigens selber oft recht vorsichtig. So gab etwa Franz Weidenreich, der den Peking-Menschen (Sinanthropus) genau untersuchte (1943), bekannt, es gebe auch andere Erklärungs­möglichkeiten für den auffälligen Zustand der Knochen in der Höhle von Choukoutien Er könnte beispielsweise von fleischfressenden Tieren verursacht sein (wie schon beim Australopithecus; vgl. Binford).

Die Erweiterung des Hinterhauptloches könnte nach Ashley Montagu (1976) auch eine sorgfältige Methode gewesen sein, den Schädel in intakter Form sauber aufbewahren zu können, z. B. als Erinnerung an den Verstorbenen (W. Arens 1979, 124f).

 

In Anlehnung an Konrad Lorenz schliesslich meint Volker Schurig (1976, 295): "Das Auftreten des Kannibalismus ist … ein Kennzeichen des Durchbrechens ethologischer Instinktschranken. Für den Frühmenschen müssen … die Spezifik wichtiger Schlüsselreize verlorengegangen sein, die bei Tieren die Auswirkungen innerartlicher Aggression regulieren und nur in Ausnahmen zur Tötung führen."

 

Der Neandertaler bestattete seine Toten

 

Nun kommen wir zum Neandertaler: Die kannibalische Ordnung besteht weiter.

Attali sieht auch die Bestattung des ganzen Toten im Sinne der "kannibalischen Ordnung". Solche ist erstmals beim Neandertaler, ab ca. 100'000 v. Chr., festzustellen. Attali meint: "Alle anderen [d. h. ausser dem "Verzehr von Leben"] primitiven Formen, dem Tod seinen Platz zuzuweisen, gehen auf den Kannibalismus zurück. An erster Stelle sind die Beerdigungsriten zu nennen; nach dem Kannibalismus sind sie zweifellos der bedeutsamste Versuch, die Körper der Toten abzusondern, ihre unheilbringende Macht zu nehmen und sie von den Lebenden zu trennen, nachdem man sie als eine Gefahr erkannt hat" (30).

 

Frau Tannahill meint wiederum umgekehrt (1969, 15): "Selbst wenn ein Stamm es sich nicht zur Gewohnheit machte, die Eigenschaften der Toten wieder in sich aufzunehmen, es sei denn die Jagdbeute war gering, so konnte er es sicher nicht zulassen, dass es Feinde taten. Es kann sein, dass das Begraben der Toten ein Brauch, der zu Zeiten des Neandertalers aufkam, ursprünglich eine Methode war, sie zu verbergen."

 

Jedenfalls haben wir seit dem Neandertaler (bis ins Neolithikum) zwei Arten des Umgangs mit Toten: Erdbestattung und Schädelbestattung.

 

Merkwürdig ist, dass schon beim "Steinheimer Schädel" (ein Präsapiens, ca. 200'000 v. Chr.) Hinweise auf Gewalteinwirkung am lebenden Kopf und zudem Zerstörungen am Schädel des Toten festzustellen sind.

Manche Neandertaler-Schädel zeigen ebenfalls Spuren eines gewaltsamen Todes (z. B. Monte Circeo, Weimar-Ehringsdorf). Hermann Müller-Karpe (1974, 253) meint, dass die gewaltsame Tötung" im Rahmen eins kultischen Rituals" geschah.

Auffallend ist auch in allen drei Fällen (wie schon bei Choukoutien) das erweiterte Hinterhauptloch. Dass dies nicht unbedingt auf Kannibalismus deuten muss, zeigt Frau Tannahill (1979, 22): "Es gibt zwei [weitere] mögliche Interpretationen dieser Fakten. Es kann sich um einen Fall von Euthanasie an einem alten und geachteten Stammesmitglied gehandelt haben, wobei das Hinterhaupts loch entweder vergrössert wurde, damit die Seele herausfliegen konnte, oder aber, damit der Schädel gereinigt und feierlich aufgestellt werden konnte, um symbolisch nachfolgenden Sippenräten vorzustehen oder um als Trinkschale benutzt zu werden, wenn ein feierlicher Pakt abgeschlossen wurde."

 

Ähnlich argumentiert Erhard Oeser (1987, 82) für Trepanationen, die allerdings erst ab 10'000 v. Chr. festgestellt worden sind.

Zum "Öffnen des abgehauenen Schädels von unten her" formuliert er salopp: "Denn die Erweiterung des Hinterhauptloches diente der Entnahme des Gehirns zu kannibalischen Zwecken, wobei man praktischerweise mit der Speise, die zum Unterschied von zähem rohem Fleisch keiner besonderen Zubereitung bedurfte, zugleich auch das geeignete Essgeschirr geliefert bekam, das man auch später noch weiterverwenden konnte" (83).

 

Eine weitere Lösung bieten Eike Winkler und Josef Schwetkhardt (1982, 110) an. Sie nehmen zwar auf die Körperbestattung Bezug, aber formulieren: "Der Tote behielt in der Vorstellung der Zurückbleibenden zumindest in Form seines Skeletts und hier besonders in Form seines Schädels einen 'Kern', in den die Seele von ihren Reisen immer wieder zurückkehren konnte, um sich auszuruhen."

Allerdings sprechen sie einige Seiten später von einer Angst vor der Wiederkehr der Toten (116).

 

Die verschiedenen Arten des Begräbnisses

 

Begraben wurden die Toten meist in Hockerstellung.

 

- Die auffallende Ausrichtung der Toten - oft in ost/ westlicher Richtung - könnte als "Einbettung der gefährdeten menschlichen Existenz in das kosmische Geschehen"(König 1980, 40) betrachtet werden.

 

- Sie wurden oft mit Ocker bestreut, was man als Lebenssaft interpretieren kann (z. B. R. Tannahill 1969, 23), als Abend- und Morgenrot (König 1980, 40) oder als blossen Ausdruck der Festlichkeit (Müller-Karpe 1974, 254).

 

- Häufig wurden sorgfältig beigelegte Steingeräte mitgegeben (Müller-Karpe 1974, 250, deutet sie als "Abschiedsgeschenke")

 

- Auch Fleischstücke wurden beigegeben (z. B. Le Moustier), ferner fanden sich Tierknochen, was man auf "Opfer" deuten könnte. In Tesik-Tas in Usbeskistan waren um einen Kinderschädel (oder das Skelett) fünf Hornpaare von Bergziegen kreisförmig angeordnet.

(Die isolierte Schädeldeponierung in der Guattari-Höhle in Monte Circeo südlich von Rom wurde in einer ovalen Steinsetzung gefunden.)

 

- Einzigartig ist die Beigabe von Blumen in der Höhle von Shanidar (60/ 50'000 v. Chr.). C. S. Coon (1970, 81) behauptet, die Analyse von Pollen aus dem Grat habe ergeben, "dass dem Verstorbenen gelbblühendes Kreuzkraft und Kiefernzweige beigelegt wurden, die mit Traubenhyacinthen, Kornblumen und Stockrosen dekoriert waren".

Ulrich Kull (1979, 44) behauptet, es seien "darunter viele Heilpflanzen" gewesen.

Der Ausgräber, Ralph Solecki meint dazu: "Wir können nicht leugnen, dass auch der frühe Mensch über das ganze Ausmass menschlichen Fühlens und Empfindens verfügte."

 

Nun wurde an der selben Fundstätte auch ein Mann gefunden, der offenbar nach einer tödlichen Verletzung unter der neunten Rippe in einem Zweikampf starb. Ein anderer starb nach einem gewaltigen Schlag auf den Kopf. Interessant sind jedoch seine Gebrechen. Offenbar konnte er von Geburt an die obere rechte Körperhälfte nicht gebrauchen, ausserdem litt er an Arthritis und war auf dem rechten Auge blind. Demnach erhielt er von andern bis zu seinem Tod Nahrung und Schutz. Ulrich Kull (1979, 124) behauptet: "Damit sind ethische Vorstellungen nach­gewiesen."

Erik Trinkaus, ein Mitarbeiter Soleckis, folgert: "Die von Neandertalern ausgestandenen Mühsale übertreffen sicherlich jene, die der heutige Mensch gewöhnlich zu ertragen hat ... Dennoch lieferten sie uns Beweise für menschliche Fürsorge und Pietät, aber auch für Gewalt zwischen den einzelnen Personen" ( nach L. Fasani, 1983, 67).

 

(Für weitere Literatur und kritische Bemerkungen: Modelle: Archäologische Spekulationen – lang, Kap.: Pietät bei der Totenbestattung?)

 

Homo sapiens: "The Creative Explosion"

 

Vor rund 40'000 tritt der Homo sapiens sapiens auf. Er ist die bislang letzte Entwicklungsstufe der Stammesgeschichte. Seither hat sich keine erkennbare Veränderung der anatomischen Eigenschaften oder der Leistungsfähigkeit des Gehirns vollzogen. Was sich seither verändert hat, ist einzig die Kultur.

 

Vor 40'000 Jahren hat also ein Wechsel von der biologischen Evolution zur kulturellen Evolution stattgefunden. Seither zeigt die "kognitive Entwicklung des Menschen einen exponentiellen Anstieg" (Horst M. Müller 1987, 66, vgl. 128).

 

Die Hinterlassenschaften des doppelweisen Menschen sind derart vielfältig und auffällig, dass der Wissenschaftsjournalist John E .Pfeiffer (1982) von einer "Creative Explosion" spricht, die vor ca. 30-10'000 Jahren stattgefunden hat.

Was sind die auffälligsten Kennzeichen?

 

1. Ein technologischer Wandel, der sich fortlaufend schneller entwickelt. "Es sind differenzierte Klingen-Industrien entstanden, deren steinerne Blattspitzen als Harpunen-, Pfeilspitzen usw. verwendet wurden" (Horst M. Müller 1987, 85).

 

2. Eine faszinierende Fülle von künstlerischen Erzeugnissen: Höhlenmalereien und Zeichnungen, Plastiken und Schmuck.

 

3. Da nach Ansicht vieler Forscher Kunst eng an kultische Handlungen gebunden ist, nimmt man die Ausübung solcher an, möglicherweise unter Führung von "Experten" wie Priester, Zauberer, Schamanen.

 

4. Weiterhin wurden die Toten in Mulden oder Gruben bestattet und häufig mit Ocker bestreut.

Neu ist die Beigabe von Schmuck, in einzelnen Fällen von Elfenbeinfiguren (Brünn) und Lochstäben aus Geweih (Les Hoteaux, Candide), ferner wie früher Steingeräte und Fleischstücke sowie von Tierschädeln.

Bei den Teilbestattungen muss man nun isolierte Bestattung des ganzen Kopfes (also mit Unterkiefer und den ersten Halswirbeln) von Schädeldeponierungen unterscheiden. Schwere Schädelverletzungen, die den Tod der betreffenden Individuen herbeigeführt haben dürften, finden sich bei Männern, Frauen und Kindern. Hermann Müller-Karpe (1974, 259) spricht von "Ritualtötungen", meint aber, wir könnten über den religiösen Gehalt dieser Vorgänge nichts aussagen. "Nichts kann hier so in die Irre führen wie die Berufung auf ethnologische Analogien." Immerhin: Die Aufstellung eines Schädels ohne Unterkiefer, dafür mit einer sorgfältig zugeschnittenen Knochenplatte in der linken Augenhöhle, in einer nischenartigen Wandaushöhlung in Mas d'Azil deutet auf Ahnenverehrung hin (260).

Weiter auffallend sind Funde sorgfältig bearbeiteter Schädelkalotten. Man kann sie als Trinkschalen rituellen Charakters ansehen.

 

Was lässt Leroi-Gourhan gelten?

 

Scharf ins Gericht mit den Spekulationen der Vorgeschichte (Abb. 37) geht der bekannte Erforscher der Höhlenmalereien, André Leroi-Gourhan in seiner Schrift "Die Religionen der Vorgeschichte" (1981, frz.1964). Er spricht ungeschminkt von "wissenschaftlicher Folklore" (85, 165).

Immerhin lässt er einiges gelten, z. B.

 

- den Fund eines isolierten Schädels aus der Guattari-Höhle am Monte Circeo südlich von Rom aus den Moustérien. "Dass der Schädel deponiert wurde, ist gewiss und spricht schon weitgehend für sich; dass der Mensch totgeschlagen und verspeist wurde, ist allenfalls wahrscheinlich" (52).

 

- "Die Existenz eines religiösen Kannibalismus im Paläolithikum mag wahrscheinlich sein, doch lässt sich dies bei der gegenwärtigen Materiallage absolut nicht beweisen" (56). Besonders für die Funde von Krapina gilt: "Der Eindruck einer Zertrümmerung zu Nahrungszwecken springt ins Auge" (59).

Grundsätzlich: "Die Frage des Kannibalismus ist nicht völlig entschieden; einige Fakten belegen mit Sicherheit, dass er hie und da vorkam, der Aufweis seines religiösen Charakters muss jedoch illusorisch bleiben, jedenfalls solange nicht eines Tages wirklich geeignete Tatsachen entdeckt werden" (60)."

Der rituelle Kannibalismus lässt sich für keine Epoche des Paläolithikums belegen" (74).

 

- Was die Bestattung der Toten betrifft, meint Leroi-Gourhan: "Mit Sicherheit bedeutet die Tatsache der Beerdigung eines Körpers ein starkes Indiz für Vorstellungen über die Fortdauer des Lebens jenseits des offenkundigen Todes" (61).

Oder: "Die Arbeiten aus den letzten Jahren haben durchgängig die Tatsache belegt, dass die Neandertaler ... die Bestattung in gelegentlich komplexen Formen praktizierten" (67).

 

- Zur Verwendung des Ockers meint er, die Schlussfolgerungen seien durchaus vernünftig, "dass er auch zur Färbung der Gräber, zur Bemalung des lebenden Körpers sowie zur Symbolisierung des Blutes und damit des Lebens, insbesondere des Lebens der Toten, verwendet wurde" (76).

Ein interessanter Fall ist das Cavillon-Grab in Grimaldi: "Ein 18cm langer Gang, der mit Ocker gefüllt war, führte von der Nase und dem Mund nach aussen. Von dort ist es nur ein Schritt bis zu einer Interpretation, die den Ocker mit dem Atem, dem Lebenshauch oder der Sprache identifiziert, und diese Interpretation wird umso verführerischer, als es in der Magdalénien-Kunst mehrere Fälle von Tieren gibt, bei denen Striche von der Schnauze ausgehen, die als Darstellung des Atems gelten" (78).

 

- Spuren ritueller Handlungen gibt es wenige, immerhin finden sich an verschiedenen Orten (Moustérien-Zeit) ganze Haufen von kugelförmigen Steinen, vermischt mit Mammutzähnen oder zertrümmerten Mammutknochen (vgl. 29f) , ferner faustgrosse Kugeln aus Ocker mit Einschlüssen (85). Bemerkenswert sind überdies Funde von Fossilien, die ein Interesse des Neandertalers an ungewöhnlichen Formen zeigen (79).

 

Höhlenmalereien und Frauenstatuetten

 

André Leroi-Gourhan hat sich einen Namen damit gemacht, dass er die Höhlenmalereien und die mobile Kunst der Zeit von ca. 35'-9'000 v. Chr. in Phasen einteilte. "Allein die chronologische Perspektive" erlaube zu sagen, "dass die paläolithische Kunst vom Abstrakten ausgeht und zu einem immer prägnanteren Realismus tendiert" (97f).

"So folgt die paläolithische Kunst, die während ihrer gesamten Dauer derselben symbolischen Grundlage verhaftet bleibt, einer kohärenten Entwicklungskurve" (100).

 

Ferner hat Leroi-Gourhan entdeckt, dass die Anordnung der Höhlenmalereien und Zeichen nach einem bestimmten Muster erfolgte: "Aufgrund der Rohergebnisse der topographischen Analyse erscheint die Höhle als eine wirklich organisierte Welt" (117). Die weitere Analyse zeigt "ein kohärentes figuratives System" (130).

Auch "der figurative Gehalt der Stein- oder Knochenplaketten und der Statuetten ist derselbe wie im Fall der ausgeschmückten Höhlen" (132). Daraus folgert Leroi-Gourhan, "dass die Plaketten und Statuetten die Elemente kleiner Heiligtümer bildeten, die von der gleichen Art waren wie die Höhlen" (133).

 

Was die Frauenstatuetten betrifft, so geben sie nicht die anatomische Wahrheit wieder. "Ihr unermesslicher plastischer Wert liegt gerade in der Tatsache, dass sie der figurativen Entwicklung ihrer Epoche entsprechen ... Was man über die Fruchtbarkeitsgöttinnen gesagt hat, ist völlig banal und erklärt gar nichts: dass Fruchtbarkeit als wünschenswerte Erscheinung angesehen wird, gilt für alle oder fast alle Religionen, und wenn die Frau zu deren Symbol gemacht wird, so ist daran nichts besonders Originelles (138).

 

Auch bei den Riten ist Vorsicht walten zu lassen, seien es nun die maskierten und tanzenden Zauberer, die Initiation junger Menschen oder die Darreichung von Opfergaben. "Die Existenz von Riten ist gewiss ..., aber die Dokumente erbringen einzig den Beleg für die Konstruktion eines Rahmens. Dieser Rahmen wird in aussergewöhnlichem Masse respektiert, was immer man sonst davon sagen mag" (155).

Das heisst, es mag Magie (162), Totemismus (163) und Schamanismus (164) gegeben haben, aber wir haben keine hinreichenden Dokumente dafür, wie das praktiziert wurde.

 

Fazit: "Es liegt auf der Hand und ist dennoch kaum beweisbar, dass die Menschen der Höhlen Praktiken besassen, die recht komplex waren und wahrscheinlich den Praktiken ähnelten, die heute noch bei manchen der letzten Primitiven vorkommen" (165).

 



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