Modelle: Archäologische Spekulationen - lang
Begriffsgeschichte ist nicht gleich
Sachgeschichte
Wir müssen von zweierlei
ausgehen:
1. Die Geschichte der Sachen
ist nicht die Geschichte der Bezeichnungen dafür
Die Geschichte eines Begriffs und die
Geschichte der damit bezeichneten Sachen sind zweierlei.
Gewiss haben schon die Frühmenschen und die
Höhlenbewohner Modelle gebaut, erzeugt und verwendet, aber wir
wissen nicht, wie sie das nannten.
Und heute ist die Begriffsverwirrung eben
so gross: Was der eine als "cognitve map" bezeichnet, sieht der
andere als "mental model" oder "visuo-spatial thinking", was dem
einen eine "Kopie" ist, gilt dem andern als "Original", was der
eine als "Symbol" sehen möchte" ist für den andern nur
ein "Zeichen", für den dritten eine "Signatur" und für
den vierten blosse "Kritzelei", usw.
2. Die Geschichte der Sachen
ist gar nicht leicht festzustellen
Die Geschichte der Sachen selbst
ist gar nicht leicht festzustellen. Es kommt einerseits auf die
Reichhaltigkeit und Qualität des archäologischen oder
archivalischen Materials an, anderseits auf die Darstellung und
Deutung desselben.
Gerade bei den
Höhlenbewohnern und den ersten Hochkulturen ändert
sich diese Deutung laufend. Da gibt es ein breites Spektrum von
begründeten Hypothesen bis zu den wildesten Spekulationen.
Und wenn man als Analogie die sog.
"Primitiven" oder Naturvölker beizieht, dann
müsste man etwa dreihundert Jahre ethnologische und
religionsphänomenologische Deutungen aufarbeiten.
Da gibt es Animismus, Prä-Animismus,
Animatismus und Animalismus, Fetischismus und Totemismus, Mana und
Tabu, das Numinose, das Heilige und den religiösen Schauer,
Manismus, Idolatrie, Polytheismus, Ur-Monotheismus und
Hochgottglaube, Magie und Schamanismus, Ritualtötung,
Kannibalismus und Matriarchat usw.
Etwas bösartig kann man diese
Spekulationen als "wissenschaftliche Folklore" (André
Leroi-Gourhan 1981, 85 u. 165) bezeichnen. Das Bild ist gar nicht
schlecht: Folklore deutet auf bunte Vielfalt hin, auf Adepten und
Begeisterte, auf Nörgler und Kritiker.
Urzeitliche
Grillfeste?
Wie wackelig manche Deutungen sind zeigen
die endlosen Diskussionen um die Funde von Homo erectus (ca. 500
000 v. Chr.) in den Höhlen von Choukoutien etwa 50
Kilometer südlich von Peking seit 1921 (Harry Lionel Shapiro
1974; John A. J. Gowlett 1985, 78-79; Cao Yu 1986; Jia Lanpo, Huang
Weiwen 1990).
Schon die Altersschätzungen gehen um mehrere 100
000 Jahre auseinander. Und viele Fragen bleiben: Warum wurden keine
Faustkeile gefunden? Warum waren die Schädel unten
aufgebrochen? Wie sind die vielen Tierkochen in die Höhlen
gelangt? Wurde wirklich das Feuer dauernd benützt?
Im
US-Magazin "Science" vertraten Wissenschaftler (Steve Weiner et
al.) am 10. Juli 1998 und 15. Januar 1999 die Ansicht, die Asche
und die angekohlten Tierknochen seien das Ergebnis von
Waldbränden, nicht die Hinterlassenschaft urzeitlicher
Grillfeste.
Pietät bei der
Totenbestattung?
Von 1951-1960 wurden in der
Shanidar-Höhle im nördlichen Irak unter der
Leitung von Ralph Solecki zahlreiche Skelette des Neandertalers
(ca. 60 000 v. Chr.) ausgegraben. Eine Paläobotanikerin in
Paris entdeckte 1968 bei einem der Skelette Pollen von acht
Blumenarten, die unmöglich in der Höhle gewachsen sein
konnten (Arlette Leroi-Gourhan 1975). Daraus schloss man auf
Pietät bei der Totenbestattung (Ralph Solecki 1971, 1972;
Erik Trinkaus 1983, 1993; Gerhard Bosinski, Winfried Henke 1993;
James Shreeve 1995).
Doch 1999 behauptete Jeffrey D. Sommer, die
Blumenüberreste seien eher von Wüstenrennmäusen in
die Höhle getragen worden.
Die Frau auf's Wesentliche
reduziert?
Ein drastisches Beispiel sind auch die
wechselnden Deutungen der weiblichen Statuetten der
Höhlenbewohner. Sind es nun weibliche Selbstdarstellungen,
kleine Heiligtümer, Votiv- oder Weihefiguren, Fetische mit
übernatürlicher Macht oder Fruchtbarkeitssymbole - oder
gar "Eiszeit-Pornographie", d. h. die Frau als sexuelles Objekt,
von Männern für Männer gefertigt?
Sind sie realistisch und deuten damit auf
Fettleibigkeit und Magersucht hin? Zeigen sie ein
Schönheitsideal?
Oder was bedeutet denn die
Überdimensionierung (im Fachjargon: Abundanz) in Richtung
Fülle? Kann man anderseits sagen, in der andern Richtung
(Fachjargon: Präterierung) habe man die Frau auf das
"Wesentliche" reduziert?
Was bieten die Vergleiche mit
dem Tierreich?
Noch dramatischer wird es schliesslich,
wenn man die Herkunft des Menschen aus dem Tierrreich zum
besseren Verständnis beizieht. Dann muss man ebenfalls etwa
dreihundert Jahre Evolutionstheorie und vergleichende
Verhaltensforschung, insbesondere Primatenforschung
berücksichtigen (vgl. G. Ledyard Stebbins 1982, D. S. Bendall
1983, Stephen Walker 1983, Tim Ingold 1986, Graham Richards
1987).
Ein schönes Bild hat de Beer 1948
für diesen Sachverhalt gebraucht: Die Entwicklung des Menschen
entspricht einem Schachbrett, und die fossilen Funde werden von den
Forschern auf verschiede Felder aufgestellt und herumgeschoben, je
nachdem von welchen Prinzipien oder Abstammungshypothesen sie
ausgehen.
Doch zur mentalen Entwicklung des
Menschen im einzelnen.
Seit vier Millionen Jahren schafft und
verwendet der Mensch Modelle
Ein schimpansenartiges
Bewusstsein?
Vor vielleicht acht Millionen Jahren
hat sich der Mensch von den andern Primaten (Schimpansen, Gorilla,
Orang-Utan) gelöst.
Die Familie Leakey hat mehrere
Jahrzehnte in Afrika nach den frühesten Menschenspuren
gesucht. Sie ist dabei auch fündig geworden. 1977 schrieb der
Sohn, Richard E. Leakey, seinen Bestseller "Origins". 15 Jahre
später doppelte er nach mit "Origins reconsidered" (1992).
Er meint, der Australopithecus
habe noch einen ziemlich schimpansenähnlichen
Bewusstseinsstand gehabt. "Auch die Sozialstruktur dieser Arten
stelle ich mir nicht wesentlich weiter entwickelt vor als bei den
heutigen Schimpansen, und dafür reichte ein geistiges Modell
von der Welt aus, wie es von einem schimpansenartigen Bewusstsein
im Gehirn der Australopithecinen erzeugt wurde.
Mit dem Auftauchen von Homo und
dem Beginn der Lebensweise als Jäger und Sammler wurde das
soziale Schachspiel anspruchsvoller. Jetzt bedeutete es
tatsächlich einen Fortpflanzungsvorteil, wenn man ein
ausgereifteres geistiges Modell besass, das sich auf ein
geschärftes Bewusstsein gründete" (Richard E. Leakey
1993, 306).
Wie zeigte sich das?
Planen, Koordinieren, Kooperieren
"Ganz obenan stand neben den technischen
Fertigkeiten des Planens, Koordinierens und Werkzeugmachens die
ebenso bedeutsame soziale Fähigkeit der Kooperation. Sie
war ein Gefühl für gemeinsame Ziele und Werte, ein
Bestreben, das gemeinsame Gute zu fördern, und damit war
Kooperation viel mehr als nur einfache Zusammenarbeit. Sie wurde zu
einem System von Verhaltensregeln, einer Moral, einem
Verständnis für richtig und falsch in einem komplexen
Sozialsystem. Ohne Kooperation wären unsere technischen
Fähigkeiten sehr geschwächt worden" (307):
Ichgefühl und Weltdeutung
Was sich ebenfalls im Laufe der Zeit
verstärkte waren folgende Elemente des Bewusstseins:
das Ichgefühl, das Bestreben, anderen Gefühle
zuzuschreiben, die Fähigkeit, die Welt besser kennen zu lernen
und die unmittelbare Empfindung von Mitleid. Am allerwichtigsten
aber war folgendes: "Nachdem das Bewusstsein die Schwelle von
Selbstwahrnehmung und Todesbewusstsein überschritten hatte,
erhob sich im Geist der Menschen die grosse Frage: Warum?...Welchen
Sinn hat mein Leben? Was bedeutet die Welt, in der ich mich
befinde? Wie ist das Universum entstanden?... Infolgedessen waren
Mythologie und Religion immer ein Teil der menschlichen Geschichte,
und das wird wohl auch in unserem Zeitalter der Wissenschaft so
bleiben" (307f). Soweit Leakey.
Arbeit mit den Händen
Ein anderer Gedankengang betrifft das
Arbeiten mit den Händen. Unzweifelhaft ist die
Greifhand mit dem opponierbaren Daumen eine der auffälligsten
Eigenschaften des Menschen. Doch was war der Grund für deren
Herausbildung vor vier Millionen Jahren? War der Vorgänger des
Menschen vom Drang erfüllt, Sachen zu "manipulieren" oder
waren es äussere Erfordernisse, z. B. ein Wechsel des
Lebensraumes?
Einige Primaten stiegen von den
Bäumen hinunter und begannen aufrecht zu laufen, worauf die
Hände frei wurden. Nun stellte sich plötzlich die neue
Aufgabe: Verwendungszwecke zu finden für die freien Hände
(Alexander Marshack 1984). Der als Psychologe bekannte Leon
Festinger (1983) meinte deshalb, der Mensch habe zum "Erfinder"
werden müssen.
Die schönsten Möglichkeiten der
Betätigung der Hände bilden neben sozialen
Aktivitäten sowie Sammeln und Polieren, Malen und Gravieren:
Modellieren und Bauen - beispielsweise Kugeln, aber auch
Behältnisse für die Aufbewahrung und den Transport von
Sachen, Behausungen (vielleicht zuerst Windschirme und Zelte), dazu
Werkzeuge wie Grabstöcke und Faustkeile, später Lanzen
und Speere, Schaber, Klingen und Stichel usw. Mit Baumstämmen
und Stauden, Ästen und Blättern, aus Erde und Lehm, aus
Tier- und Menschenschädeln und -knochen, mit Zähnen und
Fellen, Sehnen und Häuten, liess sich allerlei machen (vgl.
Pierre Honoré 1969).
Steinbearbeitung
Die Entwicklung der geistigen
Fähigkeiten des Menschen lässt sich besonders gut an der
Steinbearbeitung verfolgen. Dabei kann man zweierlei
betrachten:
1. Man kann sich fragen, wie der Mensch
dazu kam. Es könnte sein, dass es die menschliche Faust war,
die den Frühmenschen inspiriert hat, aus Steinen sogenannte
"Faustkeile" herzustellen, die ersten Werkzeuge. Vor 120 Jahren war
die These aktuell, jedes Werkzeug sei eine Ausweitung menschlicher
Organe, eine sogenannte "Organprojektion" (Lazarus Geiger 1871,
Ernst Kapp 1877): Die Greifhand diente als Modell für die
Zange, der Arm für den Grabstock, die leicht gekrümmte
Hand für die Schaufel, die gespreizten Finger für den
Rechen usw.
2. Der Forscher John A. J. Gowlett (1982)
kam zur Überzeugung, der Frühmensch habe schon ein
genaues Konzept für die Arbeitsschritte gehabt, die zu einem
Werkzeug führten: einfach im Falle der Olduwan-Werkzeuge,
komplizierter für die Acheuléen-Industrie. Während
im ersten Fall zwei bis drei Schläge genügten, brauchte
es dann 25 bis 65 Schläge. Dass die Menschen bereits vor 750
000 Jahren geometrisches Verständnis aufwiesen, zeigt eine
Untersuchung von Tausenden von Faustkeilen am Fundort Kilombe (John
A. J. Gowlett 1985, 54f u. 70f).
Der Forscher Thomas Wynn (1989) meint,
bereits die Werkzeugherstellung vor 1,5. Mio. Jahren lasse auf
rudimentäre Konzepte von Symmetrie und Mass schliessen. Die
eine Mio. Jahre jüngeren Handäxte erforderten bereits
räumliches Verständnis für Perspektive und
Kongruenz. Perspektive erlaubt, die selbe Sache von verschiedenen
Seiten als dieselbe zu erkennen.
Symbolische Aktivitäten
Alexander Marshack (z. B. 1972) sieht
seit etwa 500 000 Jahren bereits "symbolische"
Aktivitäten, z. B. Kalendernotationen, graviert auf
Rinderrippen und die gesprochene Sprache. Seit dieser Zeit finden
sich auch Schädeldeponien, die zu unzähligen
Spekulationen Anlass gegeben haben, genauso wie die seit 100 000
Jahren festgestellten Totenbestattungen (vgl. Erich Trinkaus, Pat
Shipman 1993, Gerhard Bosinski, Winfried Henke 1993).
Seit 30 000 Jahren haben wir dann eine
derartige Fülle von künstlerischen Erzeugnissen:
Höhlenmalereien und Zeichnungen, Plastiken und Schmuck, dass
die Archäologin Margaret W. Conkey (1978) von einer "Explosion
des symbolischen Verhaltens", der Wissenschaftsredaktor John E.
Pfeiffer (1982) sogar von einer "Creative Explosion" spricht.
Weibliche Statuetten
Ein beliebtes Thema zum Modellbilden
aller Zeiten bildet der menschliche Körper,
vorzugsweise der weibliche. Seit 30 000 Jahren wird er geritzt,
gezeichnet oder gemalt, als Relief oder Vollplastik geformt, mal
naturalistisch, mal aufs Äusserste stilisiert, entweder in
übermässige Fülle oder asketischer Schlankheit, als
ganzer Mensch, als Torso, Kopf oder Körperteil. Die Frau wurde
gerne auf ein besonders auffälliges Merkmal reduziert. Schon
vor 30 000 Jahren und auch heute noch.
Kultische Handlungen
Da nach Ansicht vieler Forscher Kunst eng
an kultische Handlungen gebunden ist, nimmt man seit den
Zeiten der Höhlenbewohner, ja vielleicht schon seit dem
Neandertaler, die Ausübung solcher an, möglicherweise
unter Führung von "Experten" wie Priesterinnen, Zauberer,
Schamanen.
Wie entstand die Idee der Kausalität
beim Frühmenschen?
Eine wunderbare Schilderung der
Entstehung von Rationalität und Irrationalität
gibt der Mediziner Walter J. Garre:
Vielleicht vor 5 Millionen Jahren,
gerade als sich die Vorläufer des Menschen von der
äffischen Linie abspalteten, rannten sie auf einen Hügel,
um sich vor wilden Tieren, die ihnen nachstellten, in Sicherheit zu
bringen. Sie lockerten grosse Felsbrocken und brachten sie ins
Rollen, so dass diese die wilden Tiere erschlugen. Das mag
über Tausende von Jahren immer wieder geschehen sein, wonach
in den ersten Menschen langsam eine Idee von Kausalität
entstand. Als dieses Verständnis für die Beziehung
zwischen Ursache und Wirkung etabliert war (Walter J. Garre, 1982,
41), hatte der Mensch zweierlei:
1)
die Fähigkeit, erfolgreich mit der Bedrohung durch wilde Tiere
umzugehen und
2)
ein Selbstbewusstsein im Sinne "Ich bin jemand", "Ich kann
etwas".
Daraus entstand aber der den Menschen
vergiftende Eigendünkel: "Alles dreht sich um mich",
und: "Ich kann alles beherrschen." Was wir nicht beherrschen
können - Unwetter, Überschwemmungen, Dürre -,
erfüllen wir mit menschlichem Gesicht oder mit spirituellen
Eigenschaften. Das ist die Entstehung des magischen Denkens. Wir
versuchen nun, diese Mächte günstig zu stimmen, z. B.
durch Opfer oder Rituale.
So haben wir also das Besondere am
Menschen als Doppeltheit: Rationalität als Suchen und Finden
von Kausalitäten und Irrationalität als Suche nach
Selbsterhöhung und Sicherheit, schlimmstenfalls auch nur
imaginär.
Die Sache mit der Kugel
Was für eine Fülle von
Verwendungen gibt es für Kugeln!
Die ältesten von Menschen
hergestellten Kugeln sind etwa zwei Millionen Jahre alt. Eine
archäologische Deutung geht dahin, dass es sich um Bola-Kugeln
handelt, also Jagdwaffen: zwei Kugeln, die durch einen Lederriemen
verbunden sind und so auf ein Tier zugeschleudert werden, dass sie
sich um dessen Beine wickeln, wodurch es zu Fall kommt (M. D.
Leakey 1971).
Da die Archäologen aber
allüberall runde Steine, aber auch Lehm- und Tonkugeln
gefunden haben, gibt es weitere Deutungen. Die Archäologin
Marie E. P. König greift dafür auf den Psychiater und
Philosophen Karl Jaspers zurück. Dieser hat in seiner
"Psychologie der Weltanschauungen" (1919) ausgeführt, dass das
ursprüngliche Weltbild in doppelter Sicht möglich
war:
1. Man konnte sich selbst als
Mittelpunkt empfinden, dann wölbte sich der Himmel wie
eine Kuppel über dem Kopf. Das ist die sogenannte "subjektive
Sicht".
2. Es bestand die Möglichkeit, die
"runde Kuppel" von aussen her gesehen zu denken. Dann
erscheint sie als halbe Kugel, die sich durch die andere, unter dem
Horizont liegende Hälfte zum Sphäroid ergänzt. Dann
spricht man von der "objektiven Sicht."
Nach Frau König müsste nun die
universale Weltsicht sowohl Kugel als auch Hohlraum sein. Das
ergäbe das Bild der Hohlkugel. Daher deutet sie die vielerorts
gefundenen Schädel der Frühmenschen als Sinnbilder
für das All.
Eine andere Möglichkeit bildet die
Formung von Kugeln aus Lehm. Man hat solche gefunden, die
ebenfalls etwa 300 000 Jahre alt sind; sie sind zwar versintert,
aber man sieht noch die Fingerspuren ihrer Hersteller. Marie
König meint dazu: "Sie bezeugen einen neuen Abschnitt in der
Geistesgeschichte. Hier begnügt sich der Mensch nicht mehr
damit, Material zu sammeln, das in der Form dem Symbol
entsprach, er wurde aktiv und stellte die runde Welt
planmässig her, sei es aus Lehm oder Stein." In Swanscombe
(400/300 000 v. Chr.) und andernorts wurden Faustkeile mit
Einschlüssen eines Fossils gefunden und als "Thunderstones"
gedeutet; polierte Bruchstücke von Steinen mit
Koralleneinschlüssen als Sternensteine.
Schwer zu deuten sind Lehmkügelchen,
die offenbar in grosser Zahl an die Höhlenwände geworfen
wurden (z. B. in der Toirano-Höhle; vielleicht Monte Circeo,
ca. 50 000 v. Chr.; ferner in Basura, vgl. L. R. Nougier 1989,
126). André Leroi-Gourhan hat sich in seiner Schrift "Die
Religionen der Vorgeschichte" (1981, 29f u. 85; frz. 1964) damit
beschäftigt. Da in andern Höhlen ganze Haufen von
kugelförmigen Steinen oder faustgrosse Kugeln aus Ocker mit
Einschlüssen gefunden wurden, vermutet er rituelle
Handlungen.
Irgendwann kam der Mensch dazu, vier
Himmelsrichtungen zu unterscheiden. Das Abbild dieser Vorstellung
findet sich auf sogenannten Nummuliten: kleinen Scheibchen
mit einem Linienkreuz.
Die ältesten davon sind etwa 100 000
Jahre alt. Sobald die Töpferei erfunden war, also vor etwa
8000 Jahren, findet man auf flachen gebrannten Scheiben eine
Vielfalt von vierfältigen Ritzungen, darunter bereits das
berüchtigte Hakenkreuz.
In den Mythen: Vier Himmelsrichtungen -
kreisförmige Bewegungen
Das Weltbild der Alten Ägypter
zeichnet sich dadurch aus, dass Widersprüche zwischen
verschiedenen Ansichten und Systemen als selbstverständlich
hingenommen wurden. Die Alten Ägypter stiessen sich deshalb
nicht daran, dass eines ihrer Weltmodelle folgendermassen aussah:
Die Erde ist - gemäss den vier Himmelsrichtungen - ein
viereckiges Gebilde, über dem sich der runde Baldachin des
Himmels erhebt.
Bei den Alten Griechen ist der
geometrische Widerspruch aufgelöst. "Den Aufbau der Welt hatte
Hesiodos sich folgendermassen vorgestellt: Die runde Scheibe der
festen Erde mit den Gebirgen, Flüssen und Meeren wird vom
Okeanos umgeben, der den Übergang zum ebenfalls festen Himmel
darstellt. Der eiserne Himmel stellt eine Halbkugelschale vor,
deren Durchmesser dem der Erde entspricht, so dass Himmel und Erde
eine gleichsam hermetisch abgeschlossene Einheit bilden. Unter der
Erde befindet sich eine der des Himmels gleichgrosse
Halbkugelschale, die den Tartaros, die Unterwelt bildet. "
Ausserhalb dieser Kugel ist das "Chaos" oder "Chasma", das als
erstes und allein da war, bevor die anderen Götter
beziehungsweise Hypostasen von Naturgewalten wie Erde, Himmel usw.
nach ihm und in ihm entstanden, und zwar in einer schrittweise in
Göttergeschlechtern erfolgenden Vervollkommnung und
Ergänzung (Fritz Krafft, 1971, 92).
Anaximander hat dieses Bild etwas
verfeinert. "Auf- und Untergang von Sonne und Mond sowie deren
Bahnen am Himmel werden durch das Kreisen ihrer
schlauchförmigen Räder um die Erde als Mittelpunkt
erklärt." Dabei liegt der Sternenhimmel zuinnerst.
Sternehimmel, Mond- und Sonnenrad drehen sich gleichsinnig je
täglich einmal. (Fritz Krafft 1971, 114f).
Mit der Zeit entdeckte man, dass nicht
nur Sonne und Mond, sondern auch die Planeten Venus, Merkur, Mars,
Jupiter und Saturn "unter" dem Fixsternhimmel sich befinden. Ein
interessantes Bild zeichnete Philolas. Das Zentrum des Alls ist das
Ehrwürdigste, darum nimmt nicht die Erde sondern ein
göttliches Zentralfeuer diesen Platz ein. Daher muss es aber
noch eine "Gegenerde" als Ausgleich geben. Die Sonne ist bloss eine
kleine kristallene Kugel, die den Schein des Zentralfeuers
widerspiegelt (Fritz Krafft 1971, 224-227).
Bei Platon (336 u. 351-353) und
Aristoteles schliesslich wurde die kreisförmige Bewegung der
Himmelskörper hochstilisiert.
Das hatte einen derart nachhaltigen
Einfluss, dass noch Kopernikus (1507; publiziert 1543) und Galilei
davon nicht loskamen. Kopernikus hat noch in alter Tradition die
Sonne als "die Seele, die Leuchte der Welt" betrachtet. Erst Kepler
hat die Planetenbahnen als Ellipsen entdeckt. Doch so nüchtern
war er auch wieder nicht, meinte er doch, als Masse für die
Proportionen des Alls die ineinandergeschachtelten platonischen
Körper zu finden.
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