Intelligenz und Modellgebrauch bei höheren Tieren
Dramatisch wird die Betrachtung des
Modellgebrauchs, wenn man die Herkunft des Menschen aus dem
Tierreich zum besseren Verständnis beizieht.
Dann muss man etwa dreihundert Jahre
Evolutionstheorie und vergleichende Verhaltensforschung,
insbesondere Primatenforschung berücksichtigen
(vgl. G. Ledyard Stebbins 1982, D. S. Bendall 1983, Stephen Walker
1983, Tim Ingold 1986, Graham Richards 1987).
siehe auch / see also: Frühmensch
- Literatur: Mensch und Tier
Modelle des frühen Menschen
Tiere verwenden Modelle zur Orientierung,
zum Werkzeuggebrauch und zur sozialen Kompetenz
Wir staunen immer wieder über die
Orientierungsleistungen von Tieren, z. B. der Zugvögel
und Insekten, der Hunde und Ratten.
Wir entdecken immer mehr Formen von
Werkzeuggebrauch im Tierreich (Peter-René Becker
1993), und die "soziale Kompetenz" der Primaten ist ein
beliebtes Diskussionsthema (z. B. Richard W. Byrne, Andrew Whiten
1988, Frans B. M. de Waal 1989).
Dazu einige historische Bemerkungen.
Haben Tiere Bewusstsein?
Es gibt verschiedene Auffassungen von
Bewusstsein:
· Wir
reservieren es ganz für den Menschen.
Das ist z. B. die Auffassung von Volker Schurig (1976) und vielen
anderen. Er unterscheidet Psychisches und Bewusstsein. Das
Psychische hat sich in 1 Milliarde Jahren entwickelt, das
Bewusstsein in den letzten 10 oder 5 Millionen Jahren.
Nach der Evolutionstheorie müsste irgendwo bei der Abzweigung
des Menschen von der äffischen Linie das Bewusstsein
entstanden sein. Ebenfalls gemäss Evolutionsbetrachtung
müssten dann bei den nächsten Affen Vorstufen des
Bewusstseins vorhanden sein.
Konrad Lorenz nahm das an beim sog. einsichtigen Verhalten von
Köhlers Schimpansen.
·
Genau so gut kann man das Bewusstsein aber auch bei den
Tieren generell suchen.
Seit etwa 1960 versucht eine neue Strömung in der
Evolutionsbiologie, die cognitive ethology, Bewusstseinsprozesse
bei Tieren ausfindig zu machen. Dabei kommt es freilich auf die
Definition von Bewusstsein an. Dabei tauchen auch immer andere
Begriffe auf: Intelligenz, Denken, Überlegung.
Seither häufen sich die (englischen) Bücher über
"Animal Intelligence". Der Obertitel ist "animal mind".
Donald R. Griffin hat eine interessante
Zusammenstellung gemacht. Er hat in aufsteigender Reihe angeordnet,
was wir den Tieren ohne Bedenken zuordnen, und was nur sehr
zögernd. Dabei sind in den letzten Jahren zunehmend auch
"höhere" Tätigkeiten, wieder, den Tieren
zugeordnet worden.
Griffin hat seine Ideen unter dem Titel
"Wie Tiere denken" (1985, engl. 1984) zusammengefasst. In eine
ähnliche Richtung geht Heini Hedinger: in seinem Buch: "Tiere
verstehen" (1980).
Empirische Untersuchungen zum tierischen
Bewusstsein
Dem tierischen Bewusstsein versuchte man
sich in drei interessanten Untersuchungen zu nähern.
Die erster betrifft die Frage: Weiss ein
Tier, was es tut?
1974 versuchten die experimentellen
Psychologen Beninger, Kendall und Vanderwolf herauszufinden, ob
Ratten ihr eigenes Verhalten unterscheiden können. Sie
trainierten sie darauf, bei vier Verhaltensweisen einen von 4
verschiedenen Hebeln zu drücken, wenn ein Summer ertönte,
also z. B. bei: sich putzen, herumlaufen, sich aufrichten,
ruhen.
Und siehe da, sie konnten das. In 70-90
% der Fälle reagierten die Ratten richtig. Es wäre also
durchaus möglich, dass Ratten ein gewisses Bewusstsein davon
haben, was sie gerade tun.
Bekannter ist das Beispiel von den
Schimpansen, welche sich im Spiegel betrachten (Gordon G.
Gallup jr. 1970). Zuerst betrachten sie das Bild als ein anderes
Tier, aber nach etwa drei Tagen fangen sie an, eigene
Körperteile zu berühren, während sie in den Spiegel
schauen; bald benützen sie den Spiegel auch, um
Körperteile zu sehen und berühren zu können, die sie
ohne Hilfe des Spiegels nicht sehen können.
Nach 10 Tagen anästhetisierte Gallup
seine Schimpansen und malte ihnen einen geruchlosen roten Fleck
über eine Augenbraue und an die obere Hälfte des Ohres
auf der entgegengesetzten Kopfseite. Als die Tiere erwacht waren,
führte er sie vor den Spiegel, worauf sie sofort mit den
Fingern die farbigen Stellen an ihrem Kopf berührten und daran
herumrieben. Oft betrachteten und beschnupperten sie hernach die
Finger, als ob sie erwarteten, dass etwas von der Farbe daran
haften geblieben sei.
Von allen andern Tieren zeigten vorerst
nur noch die Orang-Utans dieses Verhalten; Gorillas z. B. nicht.
Allerdings konnte bei Tauben und Elephanten später
ähnliches Verhalten erwirkt werden.
Betreffen diese beiden Experimente so
etwas wie das Körperbewusstsein, so kann man auch noch weiter
suchen, z. B. ob Tiere bei anderen Wesen emotionale oder
kognitive Vorgänge identifizieren können.
David Premack und G. Woodruff ("Does the
chimpanzee have a theory of mind?" 1978) zeigten Schimpansen einen
Videofilm, in welchem ein Mensch, vergeblich, eine unerreichbar
hoch aufgehängte Banane zu ergreifen suchte. Nachher legten
sie den Schimpansen zwei Photos vor. Auf dem einen waren zwei
Kisten aufeinandergestellt, auf den andern nebeneinander. Die Affen
wählten das Photo, auf dem die beiden Kisten aufeinander
standen. Das könnte bedeuten: Die Affen erkannten, dass der
Mensch im Videofilm die Absicht oder den Wunsch hatte, die Banane
zu erreichen.
Was ist Psychologie?
Andere Untersuchungen betreffen
Täuschungsmanöver bei Tieren. Sie kommen häufig
vor.
1980 veröffentlichte Nicholas K.
Humphrey einen Beitrag zu einem Sammelband unter dem Titel:
"Nature's psychologists". Dahinter steckt die Frage: Gibt es in der
Natur, d. h. ausserhalb des Menschen, bereits Psychologen Was
heisst das?
Dass wir Menschen uns als Psychologen
fühlen, ist wohl allgemein akzeptiert. Dass aber auch Tiere
Psychologen sein sollen, kommt uns merkwürdig vor. Was
verstehen die Verhaltensforscher denn unter Psychologie?
Psychologie ist ein
verständiger Umgang mit andern Menschen oder Lebewesen.
Die eine Hälfte der Bewältigung
von Problemen im Leben betrifft den Umgang mit andern Menschen, mit
seinesgleichen. Dann gibt es aber noch eine andere Hälfte, den
Umgang mit Sachen, z. B. Probleme der Fortbewegung, Orientierung
und Suche eines Schlafplatzes, Nahrungsbeschaffung, Schutz gegen
Naturerscheinungen, Vermeiden von Giften, usw. Dabei zeigen die
Objekte des Umgangs einen bedeutsamen Unterschied: Andere Lebewesen
reagieren auf das Verhalten des Subjekts, die "Sachen", also die
materielle Umgebung, kaum.
Aus weiter Distanz können wir also
beim Menschen zwei Lebens-Aufgaben sehen:
1. Umgang mit
seinesgleichen, mit andern Lebewesen; dazu braucht er Psychologie
oder soziale Intelligenz.
2. Bewältigung
praktischer, technischer Probleme; dafür braucht er, grob
gesagt, biologische, physikalische und handwerkliche Kenntnisse.
Wir können pauschal von technischer Intelligenz
sprechen.
Analog können wir auch bei "Animal
Intelligence" soziale von technischer Intelligenz
unterscheiden.
Dazu haben wir eine neue Definition:
Psychologie = "Soziale Intelligenz".
Merkwürdigerweise hat man sich
sowohl bei der Erforschung des frühen Menschen als auch der
Tiere vorwiegend mit der technischen Intelligenz abgegeben, also z.
B. mit Werkzeugherstellung und -gebrauch beim Frühmenschen
oder Orientierungsleistungen, Beutefang und Nestbau bei Tieren.
Gewiss, auch das soziale Verhalten wurde
studiert. Beim frühen Menschen kann man darüber
spekulieren; dasjenige von Tieren kann man beobachten. Das ist auch
über Jahrhunderte geschehen. Aber: Es blieb meist nur bei
Verhaltens-Beschreibungen. Man fragte sich selten, was dahinter
steckt. Doch halt, das stimmt nicht ganz, Man fragte schon, was
dahinter steckt. Aber meist projizierte man in die Tiere einfach
menschliche Motive und Fähigkeiten. Das änderte sich in
der Aufklärungszeit.
Was steckt hinter dem Verhalten von Tieren?
Was also steckt hinter dem praktischen
und sozialen Verhalten der Tiere, speziell demjenigen der
Primaten?
Bereits 1647 hat Marin Cureau de la
Chambre in seinem "Traité de la connoissance des animaux"
(dt. 1751) den Tieren Überlegung zugeschrieben, aber nur
partikuläre, nicht wie bei den Menschen "universelle".
Die ersten ernsthaften Untersuchungen zur tierischen Intelligenz erfolgten durch die Schweizer Charles Bonnet (1744) und Albrecht von Haller (1756-60) sowie die Franzosen Georges-Louis Leclerc de Buffon (1749ff) und Etienne Bonnot de Condillac (1755).
Die noch heute unterschiedlichen
Auffassungen über die Hintergründe tierischen
Verhaltens gehen auf die Jahre um 1750 zurück. Die
beiden Erklärungsversuche sind Instinkt und Intelligenz. Der
Philosoph David Hume hat einerseits den Instinktbegriff
eingeführt (1750), anderseits in seinem "Enquiry concerning
human understanding" (1748) ein Kapitel über die Vernunft
(reason) der Tiere eingefügt.
Bekannter geworden ist die nachfolgende
Auseinandersetzung. Einer der frühen Begründer der
vergleichenden Psychologie, der Professor für orientalische
Sprachen, Hermann Samuel Reimarus, führte 1760 das Verhalten
der Tiere, inklusive Kunstfertigkeit, auf Instinkte
zurück.
Schon 11 Jahre früher, 1749, hat ein
anderer Tierpsychologe, der Philosoph Georg Friedrich Meier, den
gegenteiligen Standpunkt vertreten. Er schrieb den Tieren, sogar
Insekten, nicht nur Intelligenz, sondern auch Vernunft zu. Wir
würden heute von "Problemlösungsfähigkeit"
sprechen.
Meier beobachtete z. B., wie eine Ameise
eine tote Fliege fortzubewegen versuchte. Als es ihr nicht gelang,
verschwand sie. Darauf kam eine zweite Ameise und versuchte, die
Fliege wegzuschaffen. Nach Meier gab es keinen Zweifel
darüber, dass die erste Ameise der zweiten ihre
Schwierigkeiten berichtet hatte und auf diese Weise eine
intelligente Zusammenarbeit zustande kam (nach A. A. Roback 1970,
321f). Wir könnten in unserer heutigen Ausdrucksweise sagen,
die Ameise habe ein technisches Problem mit sozialer Intelligenz
gelöst.
Für die damalige Zeit war das eine
mutige Behauptung. Seither jedenfalls besteht der Streit zwischen
Gelehrten, welchen Tieren wir Instinkt oder aber auch Intelligenz
zusprechen. Besonders um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die
Diskussion stark im Gange. So schrieb etwa schon 1841 der
Gehirnforscher Pierre-Jean-Marie Flourens " De l'instinct et de
l'intelligence des animaux''. 1864 erschien von ihm ein Buch
über "Psychologie comparée".
Gleichzeitig wurden die ersten Theorien
über Lernen (Alexander Bain 1855), Gedächtnis (C. G.
Carus 1850; E. Hering 1870), Denken (G. Broole 1854; F. C. Donders
1868) und den Erfindergeist resp. Kreativität aufgestellt.
"Animal Intelligence" und "Comparative
Psychology"
Der Zoologe George John Romanes schrieb
1876 über "Conscience in animals" und veröffentlichte
1882 sein grundlegendes Werk über "Animal
Intelligence". Es inspirierte den Biologen Conwy Lloyd Morgan
zu den Berichten seiner experimentellen Untersuchungen
·
"Animal Life and Intelligence (1890-91)
·
"Introduction to Comparative Psychology" (1894)
·
"Habit and Instinct" (1896) und die Revision davon:
·
"Animal Behavoir" (1900).
Der amerikanische Psychologe Edward Lee
Thorndike studierte als erster das Tierverhalten im Labor. Er
begann in Harvard mit Hühner, wechselte dann aber zur Columbia
University und doktorierte dort 1898 über Katzen, die er in
"puzzle boxes" beobachtete. Damit begründete er zugleich die
moderne Lernpsychologie ,die er bald (1901) auf den Menschen
ausdehnte. Daraus entwickelte sich auch die "Theory of Mental and
Social Measurements" (1904).
1900 doktorierte an der Clark University
der Psychologe Willard Stanton Small mit experimentellen
Untersuchungen über "mental processes" von Ratten, die sich in
einem Labyrinth, analog demjenigen von Hampton Court in London,
bewegten.
In Harvard forschte seit 1899 der
Psychobiologe Robert Mearns Yerkes. Sein Interesse galt kleinen wie
grossen Tieren. 1907 erschien sein Buch "The Dancing Mouse",
1911 ein Bericht über "The intelligence of earthworms" und
1916 "The mental life of monkeys and apes". Zur Untersuchung der
höheren Primaten richtete er später die "Yale
Laboratories of Primate Biology" ein.
Der deutsche Forscher Wolfgang Koehler
betitelte seine Untersuchungen über die Menschenaffen, die er
im ersten Weltkrieg auf Teneriffa durchführte, als
"Intelligenzprüfungen an Anthropoiden" (1917). 1921 schrieb er
einen Aufsatz über Vorstellungen, Sozialleben und Spiele der
Schimpansen (" Zur Psychologie der Schimpansen").
In den Jahren 1928 bis 1932 beobachtete
der südafrikanische Anatom Solly Zuckerman das Verhalten der
höheren Primaten am Affenfelsen im Londoner Zoo. Er berichtete
darüber in zwei Büchern:
·
"The Social Life of Monkeys and Apes" (1932) und
·
"Functional Affinities of Man, Monkeys and Apes" (1933)
Daneben stand aber stets der
Instinktbegriff immer noch hoch Kurs; dazu kamen zahlreiche
Untersuchungen über Lernen und Gedächtnis.
"Cognitive Factors"
Die Überleitung zur heutigen
Diskussion "Animal Intelligence" verdanken wir dem amerikanischen
Psychologen Edward Chace Tolman.
Er untersuchte Ratten im Labyrinth, wobei
ihn vor allem "cognitive factors" interessierten. Einer der ersten
Berichte darüber erschien 1917: "More concerning the temporal
relations of meaning and imagery". Weitere Berichte über
"higher mental processes in animals" und "'insight' in
rats"veröffentlichte er 1927 resp. 1930. Sein Wälzer
"Purposive Behavior in Animals and Men" (1932) erreichte mehrere
Auflagen.
Nach Tolman lernt ein Tier nicht eine
Folge von Bewegungen, sondern Beziehungen zwischen einzelnen Reizen
(Zeichen) und dem Verhaltensziel (z. B. Futter), wobei die
Erwartung eine wesentliche Rolle spielt.
Die von Tolman eingeführte
Bezeichnung "cognitive map" bezeichnet assoziative Beziehungen
zwischen Mittel, Weg und Ziel, die beim Erreichen eines
Verhaltensziels gebildet werden. Durch wiederholte Konfrontation
mit der gleichen Situation wird diese "kognitive Landkarte"
gefestigt und verbessert so die Leistung, was als Lernen
interpretiert wird. Wie eine Landkarte führt sie das Verhalten
und ermöglicht auch die Anpassung an veränderte
Bedingungen.
"Cognitive ethology"
Seit etwa 1960 gibt es so etwas wie eine
internationale Forschungsrichtung "cognitive ethology"
(einer der Wortführer ist Donald R. Griffin 1976, 1984) mit
einer deutschen Abart, der "evolutionären
Erkenntnistheorie" (Konrad Lorenz, Franz M. Wuketits 1983).
Sie versucht, Gehirnprozesse zu
untersuchen, gefasst in Worten wie Geist, Denken, Überlegung,
kognitive oder Kognitionsleistungen, Intelligenz, Modellbildung,
Repräsentation, Bewusstsein, Motivation, vor-kulturelles oder
moral-analoges Verhalten.
Die Universität Zürich ist mit
namhaften Vertretern dabei. Erwähnt seien die Zoologen Heini
Hediger (1980), Hans Kummer (1957, 1971, 1982) und Rüdiger
Wehner (1982, 1990) sowie die Psychologen Doris Bischof (1980,
1985, 1993) und Norbert Bischof (1978, 1985, 1987).
Einige Verwandtschaft ergibt sich dabei
zu zwei neueren Forschungsrichtungen, die sich seit etwa 1970 mit
sogenannten "Überzeugungssystemen" (ideological systems) und
Ritualen der Höhlenbewohner und Naturvölker befassen:
"Cognitive Archaelogy" und "Cognitive Anthropology".
Ebenfalls erst in jüngster Zeit hat
sich eine "cognitive biology" (z. B. B. C. Goodwin 1976-1994;
Margaret A. Boden 1980) herausgebildet. Sie betrachtet die
Evolution als werde sie kognitiv kontrolliert.
Eher als Kuriosität darf gewertet
werden, dass der ostdeutsche Philosoph Georg Klaus in seinem
"Wörterbuch der Kybernetik" (1967/69) erwähnt,
verschiedene Tierarten verwendeten verletzte Beutetiere als Modell
zur Demonstration und zur Übung für ihre Jungen, die
lernen sollen, die Beute zu fangen.
Machiavellische Intelligenz bei Tieren
Die These der Vertreter einer
"Machiavellischen Intelligenz" (Richard W. Byrne, Andrew Whiten
1988) bei Primaten lautet: Nicht die zunehmend bessere Verwendung
und Herstellung von Werkzeugen, noch die Probleme der
Nahrungsbeschaffung, haben die Intelligenz gefördert, sondern
die Probleme des Sozialen, des Zusammenlebens, insbesondere
sexueller Wettstreit.
So hat Alison Jolly schon 1966
formuliert: "Der soziale Gebrauch der Intelligenz ist von
grösster Bedeutung für alle sozial lebenden Primaten
...Soziale Integration und Intelligenz haben sich vermutlich
zusammen entwickelt, wobei sie einander in einer aufsteigenden
Spirale gegenseitig verstärkten."
Was ist dabei "machiavellisch"? Der
Einsatz der Intelligenz als "soziales Werkzeug" (Hans Kummer 1971),
d.h. um andere zu beeinflussen, manipulieren, ausbeuten und
täuschen. Da aber andere Lebewesen auf solche Versuche
reagieren, und zwar in schwer vorherzusehender Weise, ist das nicht
leicht. Das bildet einen Ansporn für die soziale Intelligenz.
Sie versucht, Strategien zu verbessern.
Dabei haben diese Strategien eine
zweiseitige Funktion: Sie können dazu dienen, den eigenen
Vorteil zu bewirken. Sie können aber auch dem Zusammenhalt der
Gruppe, des Sozialgefüges dienen.
In Ergänzung zu Volker Schurig
kann man sagen: Bewusstsein geht hervor aus der Fähigkeit,
Aktionen anderer vorherzusehen und dementsprechend zu handeln.
Diese spezielle Fähigkeit nenne wir soziale Intelligenz oder
Psychologie. In einer Formel: "Das Bewusstsein geht hervor aus dem
Psychischen und einer speziellen Fähigkeit, der
Psychologie."
Was es zu sozialen intelligenten
Strategien braucht, ist folgendes:
·
Kenntnis der sozialen Beziehungen (z. B. Verwandtschaft,
Gruppenzugehörigkeit) und Ränge
·
Vermutungen über Motive, Gefühle und Absichten bei
andern
· die
Fähigkeit, Allianzen mit den richtigen Partnern
einzugehen.
Zahlreiche Untersuchungen wurden in den
letzten Jahren dazu unternommen, darunter auch in Zürich, von
Verena Dasser in Zusammenarbeit mit Hans Kummer am Zoologischen
Institut der Universität. Hans Kummer hat selber in mehreren
Aufsätzen über Freilandbeobachtungen berichtet. Frans de
Waal von der Universität Utrecht, hat ein ganzes Buch
über seine Beobachtungen geschrieben: "Chimpanzee Politics"
(1982).
Ein mittlerweile klassisches Beispiel
für "Gedankenlesen" wurde bereits erwähnt. Premack und
Woodruff führten ihrer Äffin Sarah Videoaufnahmen vor, in
denen ein Mensch vergeblich versuchte, eine Banane zu erreichen.
Nachher zeigten die Forscher Sarah Photos, unter denen eines war,
in dem die Lösung des Problems angeboten wurde, z. B. auf
einen Stuhl steigen oder mit einem Stock die Banane
hinunterschlagen. In über 80 % der Fälle wählte
Sarah das richtige Photo aus. Sarah hat also erkannt, dass der
Mensch die Banane erreichen wollte.
Täuschungsmanöver bei Tieren
Das hat noch nichts mit Machiavelli zu
tun. Ein paar andere Beobachtungen und Experimente geben aber
Hinweise in diese Richtung.
Es geht um absichtliche Täuschungen
(deceit). Anekdotische Berichte darüber sind häufig, z.
B. über Warnrufe vor einem Feind, der gar nicht vorhanden
ist.
Interessanter ist da ein weiteres
Experiment von Premack und Woodruff. Sie arbeiteten mit insgesamt
vier Affen und zwei Wärtern. Die Situation war folgende: In
einem von zwei Behältern war Futter versteckt. Die Affen
wussten in welchem, aber die Wärter nicht. Die Behälter
waren überdies den Affen nicht zugänglich, aber den
Wärtern. Also mussten die Affen auf irgendeine Art dem
Wärter signalisieren, in welchem Behälter das Futter war,
z. B. durch Blickrichtung, Körperorientierung oder Zeigen.
Nun waren es aber zwei verschiedene
Wärter, ein guter und ein "böser". Der gute öffnete
den Behälter und gab den Affen das Futter, der böse
behielt es für sich und ging damit weg. Die Affen lernten
rasch, dem "bösen" Wärter keine Hinweise mehr zu geben.
Der älteste Affe ging noch weiter, er zeigte dem "bösen"
Wärter den falschen Behälter!
Dieses Experiment wurde vielfach
kritisiert. Es ist nämlich sehr schwierig, herauszufinden, was
in dem Affen vorging, z. B. ob er wirklich täuschen wollte. Es
könnte nämlich sein, dass die Affen einfach neugierig
waren, was der "böse" Wärter angesichts der Verweigerung
des Hinweises oder gar des falschen Zeigens machen würde.
Diese Begründung ist gar nicht so abwegig, wie die Anekdote
vom Dorftrottel zeigt.
Nun, insgesamt gesehen, gibt es eine
ganze Reihe von Beobachtungen einfacher Täuschungsversuche von
Primaten, insbesondere
·
Verstecken (sich selber oder Objekte)
·
Verheimlichen (z .B. dass man Futter gesehen hat)
·
Ablenken (z. B. durch andere Blickrichtung) oder
· So
tun als ob.
Aber:
1. Solche Täuschungen sind selten,
sie sind nicht habituell. Sie sind meist harmlos.
2. Man hat nie feststellen können,
dass ein Tier einem andern gegenüber vorgibt, es habe etwas
getan, was es nicht getan hat, oder es wisse etwas, was es
tatsächlich nicht weiss. Solches tut offenbar nur der Mensch,
und er verwendet dafür die Sprache; er lügt.
Ein Soziobiologe formulierte ganz extrem:
"Die menschliche Gesellschaft ist ein Netz von Lügen und
Täuschungen, das sich nur hält, weil ganze Systeme von
Konventionen darüber entstanden sind, welche Lügen
erlaubt sind" (Richard D. Alexander 1977).
Literatur zum Vorspann
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Molecules to Humanity. San Francisco: Freeman 1982.
D. S. Bendall: Evolution from molecules
to men. Cambridge University Press 1983 (Konferenz zum 100.
Todestag Darwins , 1982).
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Routledge & Kegan Paul. 1983.
Tim Ingold: Evolution and social life.
Cambridge University Press 1986.
Graham Richards: Human Evolution. An
introduction for the behavioural sciences. London: Routledge &
Kegan Paul 1987.
Literatur
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Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine
Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich
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Pierre Jean Marie Flourens:
Résumé analytique des observations de
Frédéric Cuvier sur l'instinct et l'intelligence des
animaux. Paris 1841;
2. ed. u. d. T.: De l'instinct et de
l'intelligence des animaux. 1845, 4. ed. 1861.
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eprint in
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Beiträge zur "evolutionären Erkenntnistheorie"; betreffs
Hauptthema unbefriedigend, in der 2 .Hälfte einige
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Rüdiger Wehner, Randolf Menzel: Do
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1992.
Peter-René Becker:
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und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Hogrefe
1993.
Brian Carey Goodwin: How the leopard
changed its spots. The evolution of complexity. London: Weidenfeld
& Nicolson/ New York: Scribner 1994: Princeton, N. J.: Princeton University Press 2001;
dt.:. Der Leopard, der seine Flecken verliert. Evolution und Komplexität. München: Piper 1997.