Home Ganzheit - das "evolutionäre Paradigma"

 

Inhalt

Missliche Lage der Gegenwart?

Therapievorschläge: Nachdenken über den Menschen

Die historische Dimension nicht vergessen

Evolutionäre Sprünge

Ist Wissenschaft „der gegenwärtige Stand des Irrtums“?

Weltdeutungen und Spiritualität aus Altertum und Steinzeit

 

Literatur:

Erich Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums. München: Hanser 1979, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1982;
 engl.: The Self-Organizing Universe.
Scientific and Human Implications of the Emerging Paradigm of Evolution. Pergamon Press 1980.

Ervin Laszlo: Evolution. The Grand Synthesis. Boston: Shambhala 1987;
mit dem Untertitel: The General Theory. Creskill, N. J.: Hampton Press 1996;
dt.: Evolution. Die neue Synthese.
Wege in die Zukunft. Wien: Europa-Verlag 1987.

 

 

Die Forderung nach "ganzheitlichem Denken" kommt aus den Strömungen des New Age.

Sie hat eine individualistische und eine politische Stossrichtung. Sowohl das Denken, Fühlen und Handeln des Einzelnen wie die Strukturen und Werte von Staat, Wirtschaft und Kultur sollten sich ändern. "Ganze Menschen" sollten das "Gemeinwesen" (die Polis) aufbauen, gestalten und mittragen. Und da sich die menschlichen Aktivitäten in vielfältigen Ökosystemen abspielen und von diesen abhängig sind, gilt es auch diese als "Ganzes" im Auge zu behalten.

 

Missliche Lage der Gegenwart?

 

Hinter der Formel "ganzheitliches Denken" stecken eine Ursachenanalyse und eine Therapie. Wofür? Für die missliche Lage der Gegenwart, z. B. Hunger und Armut in weiten Teilen der Welt, Umweltzerstörung und Epidemien, Krieg und Korruption, usw.

Das ist freilich schon eine Frage der Sichtweise. Man kann die Augen davor verschliessen und auf die unbestreitbaren Erfolge von Medizin und Pharmazie, Nahrungsproduktion und Hygiene, von Naturwissenschaft, Ingenieurskunst und Technik in den letzten 200 Jahren hinweisen. In gewissen Bereichen der Menschheit hat dies tatsächlich zu höherer Lebenserwartung, Wohlstand und Komfort, Kommunikation und Mobilität geführt. Aber diese Bereiche sind wie Inseln im Meer der ganzen Menschheit.

 

Und auch in diesen Enklaven der Hochzivilisation steht es mit dem Nicht-Materiellen nicht besser als früher. Wir plagen uns immer noch mit Demokratie und Menschenwürde, Wahrheit und Toleranz, Planung, Organisation und Verwaltung, Behörden und Schulen, Familie und Partnerschaft oder mit legalen und illegalen Drogen, Brutalität und Pfuscherei herum. Auch die Fortschritte der Kultur- oder Geistes- und Sozialwissenschaften haben noch nicht zu überzeugenden Einsichten oder Lösungen geführt.

 

Sind die Menschen auf den Wohlstandsinseln wenigstens zufrieden, führen sie in ihrer Konsumgesellschaft ein erfülltes Leben? Wer dies bezweifelt, darf aber nicht auf die platte Ausflucht kommen, alle andern seien eben faul und "arm, aber glücklich". Hinter der Frage nach Erfolg und Misserfolg, nach Freude und Glück steckt jedenfalls diejenige nach dem Sinn. Ist die Art, wie wir in den Industrieländern arbeiten und geniessen sinnvoll? Tun wir es auf Kosten anderer: der Schwachen, der Dritten Welt, der natürlichen Reichtümer?

 

Wer davon ausgeht, dass unser Wohlleben auf der Ausbeutung von Menschen und Natur beruht und - dennoch oder daher - nicht sinnerfüllt ist, der kann zur Diagnose kommen: Unsere Welt ist krank! Dafür kann man verschiedene Ursachen angeben: Abfall von Gott; Zufall der Moral; Entfremdung von der Natur; Egoismus und Habgier, Dummheit und Hast; falsche Werte oder Prioritäten; Ideologien oder Zeitgeist; die Eigendynamik des "militärisch-industriellen Komplexes", der "Monopolkapitalismus" oder "die" Gesellschaft.

 

Diese paar Stichworte lassen sich zusammenfassen als: fehlendes "ganzheitliches Denken".

 

Therapievorschläge: Nachdenken über den Menschen

 

Was würde diese Ursache ins Positive gewendet als Therapie bedeuten? Man könnte dies anhand einiger Buchtitel formulieren:

Grundfrage ist

"Das Rätsel des Humanen" (Edgar Morin 1974) und die

"Conditio Humana" (Helmuth Plessner 1961/64 und 1976).

Das erfordert eine Besinnung auf

"Gott und seinen Rebell" (Emil Brunner 1958), auf

"Die Stellung des Menschen im Kosmos" (Max Scheler 1927) oder kürzer auf den

"Menschen im Kosmos" (Teilhard de Chardin 1959; frz.: "Le phénomen humain"„ 1955), auf

"Mensch und Erde" (Ludwig Klages 1913/20),

"Mensch und Welt" (Theodor Litt 1948), auf den

"Ursprung des Menschen" (Adolf Portmann 1944; Gerhard Heberer 1968), auf

"Mensch und Geschichte" (Max Scheler 1926; Erich Rothacker 1944/50), auf den

"Menschen als Schöpfer und Geschöpf der Kultur" (Michael Landmann 1961), auf

"Mensch und Menschheit" (Harald Holz 1973),

"Individuum und Gemeinschaft" (Theodor Litt 1919: Manès Sperber 1934) resp. auf den

"Menschen als soziales und personales Wesen" (Gerhard Wurzbacher et al., 8 Bde, 1963-1988), als

"Individuum ineffabile" (Leo Baeck 1947).

 

Die historische Dimension nicht vergessen

 

Diese fragmentarische Liste zeigt, dass nicht erst die New Ager über den Menschen nachgedacht haben. Aber auch die philosophische, theologische und biologische Anthropologie dieses Jahrhunderts (zu der diese Titel gehören), ist nur eine der letzten Wellen im 5000jährigen Strom des Nachdenkens des Menschen über sich selber. James Henry Breasted hat 1933 die "Geburt des Gewissens" bei den Alten Ägyptern im 3. Jahrtausend vor Christus geortet. Ja schon die archäologischen Funde aus der Zeit des Neandertalers (ca. 100 000-30 000 v. Chr.) lassen auf die Beschäftigung mit Fragen nach Leben, Tod und Orientierung in der Welt schliessen.

Kultisch gedeutete Hinterlassenschaften führen zur Vermutung einer "Spiritualität" des Altmenschen, andere Zeugnisse weisen auf Streit und Krankheiten, aber auch Fürsorge und Pietät hin.

 

"Ganzheitliches Denken" heisst, auch die historische Dimension im Auge zu haben. Es verbindet uns mehr mit den Menschen der Vorzeit als uns bewusst - oder lieb - ist.

Zahlreiche Wissenschaften wie vergleichende Verhaltensforschung (insbesondere Primatenethologie), Psychobiologie (oder Soziobiologie), Ethnologie, Kultur- oder Sozialanthropologie und Tiefenpsychologie, Religionsgeschichte, Mythologie und Folkloristik haben das deutlich gemacht.

 

Noch viel weiter zurück führt die Anwendung des "evolutionären Paradigmas". Es überstreicht nicht weniger als 20 Milliarden Jahre. Den Anfang machte der theoretische Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker 1946 mit seiner Vorlesungsreihe "Die Geschichte der Natur", die nach damaligem Forschungsstand allerdings "nur" 3-6 Milliarden Jahre umfasste.

Die erste neue Darstellung bot der Wiener Zukunftsforscher Erich Jantsch. Er wandte die Theorie der "dissipativen Strukturen" resp. von "Ordnung durch Fluktuation" des Brüsseler Chemiker Ilya Prigogine (Nobelpreis 1977) auf die "Selbstorganisation des Universums" (1979; engl. 1980) an und beschrieb den Weg "vom Urknall zum menschlichen Geist".

Eine popularisierte Kurzfassung hat 1987 Ervin Laszlo für den Club of Rome verfasst ("Evolution. Die neue Synthese"; engl. 1987).

 

Evolutionäre Sprünge

 

Einige der interessantesten "evolutionären Sprünge" sind:

 

¨ Die Epoche der Galaxienbildung fand etwa eine Million oder - zwölf Zeilen "später" - eine Milliarde Jahre nach dem Urknall statt und dauerte nur fünf Jahre (Laszlo, dt. 83; nach 5 Mia. Jahren 215).

 

¨ Die biologische Evolution auf unserem Planeten begann vor mehr als 3,6 Milliarden Jahren (Laszlo, 91ff; vor 3 Mrd. Jahren, 215) und war kaum vom Zufall bestimmt (Jantsch, dt. 145ff, 162ff – „vielleicht schon vor etwa 4 Mrd. Jahren“; vgl. 33f, 99).

 

¨ Vor etwa 600 Millionen Jahren entstanden im Kambrium "gleichsam explosiv die meisten Arten der Wirbellosen innerhalb des verhältnismässig kurzen Zeitraums einiger Millionen Jahre. Zu dieser Explosion kam es, als die bis dahin vorherrschende Gruppe des aus prokariotischen Zellen bestehenden Stammes der Algen durch das Auftauchen der einzelligen Eukarioten destabilisiert wurde, die sich von Algen ernährten" (Laszlo, 99; vgl. Jantsch, 183; im dtv-Atlas zur Biologie findet die "üppige" Entfaltung erst im Silur statt).

 

¨ Das Auftreten des "neuralen Geistes" in drei Stufen:

  • Reptilienhirn (vor 280-250 Mio. Jahren),
  • älteres Säugetierhirn oder limbisches System (vor 165 Mio. Jahren) und
  • jüngeres Säugetierhirn, vor allem der Neokortex (vor 50 Mio. Jahren).

Die letzte Stufe könnte auf das abrupte Aussterben der Dinosaurier vor 64 Mio. Jahren zurückzuführen sein, welches der explosiven Ausbreitung der Säugetiere und dem baldigen Auftreten der Primaten den Weg ebnete (Jantsch, 227-236.; anders Laszlo, 176).

 

¨ Nicht mehr so sprunghaft ging es bei der Herausbildung des Menschen vom Ramapithecus (vor 15-8 Mio. Jahren) über die Hominiden (z. B. "Lucy", Homo habilis und erectus) zum Homo sapiens (ev. seit 300'000 Jahren) zu (Jantsch, 216f; anders und ungenau Laszlo, 106ff, 118, 215).

Genaueres berichtet John E. Pfeiffer in seinem umfassenden Werk "The Emergence of Humankind" (1985).

 

¨ Eine "ausserordentliche Beschleunigung der Evolution" setzte vor 40'000 Jahren mit der Entwicklung von komplexen Werkzeugen und Waffen, Behausungen und Booten ein. Die dafür verantwortliche verbale Menschensprache intensivierte auch die sozio-kulturelle Evolution (Jantsch, 241ff; vgl. Laszlo, 107f, 115, 119, 177ff).

John E. Pfeiffer widmete dieser Zeit 1982 ein ganzes Buch mit dem bezeichnenden Titel "The Creative Explosion".

 

¨ Zu den nächsten Sprüngen fällt den Evolutionisten nicht mehr viel ein. Dabei bedeutete das Sesshaftwerden des Menschen vor rund 10'000 Jahren eine drastische Änderung seiner Lebensweise. Bislang gewöhnt an das weitgehend friedliche und bequeme Nomadisieren in kleinen Gruppen, brachte dem Menschen das Zusammenleben auf engem Raum mit vielen Unvertrauten erstmals Stress (Doris Bischof).

Die "Vertreibung aus dem Paradies" trifft zu; fortan musste er "im Schweisse seines Angesichts" den Ackerboden bebauen (Genesis 3). Die Weltbevölkerung wuchs von 10'000 bis 3 000 v. Chr. von 5 auf 100 Millionen (Jantsch, 196; der "Kulturfahrplan" hat ganz andere Zahlen).

 

¨ Einen erneuten Sprung bildete das Aufblühen von Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten, Kreta, Indien und China seit 3000 v. Chr. mit der Einführung von Schrift, Verwaltung und Ordnungsprinzipien sowie den ersten fassbaren Weltdeutungen.

 

¨ Die Jahre von 800-200 v. Chr. hat Karl Jaspers als "Achsenzeit" bezeichnet. Wilhelm Nestle bschrieb den Weg "Vom Mythos zum Logos" (1940), Bruno Snell "Die Entdeckung des Geistes" (1946), Julian Jaynes "The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind" (1976; dt. 1988).

In dieser Zeit entstanden die meisten Weltdeutungen, welche im New Age wieder herumspuken, z. B. Upanischaden, Buddhismus und Bhagavadgita, Taoismus und Konfuzianismus, freilich auch das Alte Testament, der Parsismus und die griechische Philosophie, ferner in der 1. Orientalisierungswelle des Mittelmeerraumes die Mysterien, der Pythagoreismus und die Astrologie.

 

¨ Die ersten Jahrhunderte nach der Zeitwende brachten das Christentum sowie in der 2. Orientalisierungswelle Mystik, Gnosis und Kabbala, Hermetik, Alchemie und Neuplatonismus, ferner: Shaktismus, Yoga und Tantrismus.

 

¨ Als vorläufig letzten Evolutionsschritt kann man den seit 1000 n. Chr. sich anbahnenden und seit 1500 (z. B. Leonardo und Kopernikus, Machiavelli und Calvin) zunehmend schneller werdenden Aufschwung von Wissenschaft und Technik, Kapitalismus und Industrie ansehen.

 

Ist Wissenschaft „der gegenwärtige Stand des Irrtums“?

 

Diese paar dürren Angaben werfen zahlreiche Fragen auf. Weshalb sind die Ausführungen der Evolutionisten so ungenau und warum fällt ihnen zur Menschheitsgeschichte nicht viel ein?

Wer den "globalen Zugriff" versucht, hat meist weder Zeit noch Mittel, sich mit den einzelnen Fachgebieten intensiv zu befassen. "Ganzheitliches Denken" und Spezialistentum scheinen einander auszuschliessen. Deshalb hat der Sachkundige, der sich jahraus jahrein mühselig durch Berge von Zeitschriften und Papers hindurcharbeitet, ein berechtigtes Misstrauen gegenüber den Popularisatoren, die entweder mit pauschalen Behauptungen um sich werfen, Forschungsergebnisse ignorieren oder verallgemeinern, verdrehen, umdeuten und in das starre Schema einer gerade aktuellen Ideologie pressen.

 

Die Ausrichtung auf ein modisches "Paradigma" hat überdies weitere Folgen: Die Unauslotbarkeit der Vorgänge in der Vergangenheit - oder ihre "Komplexität" - wird verschüttet.

Überdies geht mit der Einengung auf eine einzige Sicht- oder Erklärungsweise die ganze Fülle und Vielfalt bisheriger Deutungsversuche oder -modelle verloren. Und wer vermöchte zwingend nachzuweisen, dass die gegenwärtige Darstellung gerade die einzig richtige sei.

Schon der Blick in die jüngere Wissenschaftsgeschichte zeigt diese als eine Abfolge ständiger Positionskämpfe und Revisionen. Kosmos, Leben und Mensch sind allein in den letzten 40 Jahren um den Faktor 4 bis 6 "älter" geworden. Solche Verschiebungen sollten zur Vorsicht mahnen. Nicht von ungefähr kursiert z. B. in Medizinerkreisen die ironische Definition: "Wissenschaft ist der gegenwärtige Stand des Irrtums."

 

Weltdeutungen und Spiritualität aus Altertum und Steinzeit

 

Eine weitere Frage lautet: Greift das "ganzheitliche Denken" auf die Weltdeutungen des Altertums zurück? Zumindest Erich Jantsch hat aus seiner Vorliebe für östliche Weisheit keinen Hehl gemacht. Sein Konzept von "Geist" als "Selbstorganisations-Dynamik" beruht auf dem Buddhismus (228, 412ff), desgleichen "die dynamische Verbundenheit des Menschen mit der Evolution auf allen Ebenen, eine Verbundenheit über Raum und Zeit, die ihn selbst als integralen Aspekt einer universalen Evolution erscheinen lässt" (19).

"Evolution verlegt ihren Ursprung und ihr Zentrum in jedes selbstorganisierende System" (324). "In gewissem Sinne konzentriert sich das ganze Universum in zunehmendem Masse im Individuum. Das Individuum seinerseits übernimmt eine immer höhere und weiter gespannte Verantwortung für das Universum" (45; vgl. 357ff). Daher wird die Menschheit "nicht von einem Gott erlöst, sondern aus sich selbst heraus" (412). Gott ist ja nicht der Schöpfer, sondern bloss der Geist des Universums.

 

Verlautbarungen und Rituale des Feminismus erinnern gar an die "Spiritualität" des Neandertalers. Die Vorgeschichtsforscherinnen Marie E. P. König und Doris F. Jonas sehen das Matriarchat schon vor Jahrhunderttausenden. "Die ersten Menschen mussten die Welt notwendigerweise als eine umfassend weiblich bestimmte Ordnung empfunden haben", meinen sie. Die Philosophin und Literaturwissenschafterin Heide Göttner-Abendroth hat 1980 die ursprünglichen Muster matriarchaler Religion rekonstruiert.

Statt "Die Götter waren Astronauten" (Erich von Däniken 1968) heisst es nun: Die Götter waren Göttinnen.

 

Ungereimtheiten gibt es bei den Schilderungen des evolutionären Paradigmas wie des Matriarchats. Spärliche Befunde und kühne Thesen werden zu "ganzheitlichen" Konstruktionen hochstilisiert. Böte wenigstens die genaue Lektüre "alter" Texte bessere Aufschlüsse?

Das ist ein dornenvoller Weg.

Nach Helmut Glasenapp lag z. B. die "Bhagavad Gita" („Gesang des Erhabenen“), eines der heiligsten Bücher der Hindus, erst 1100 Jahre nach ihrer Entstehung, also um 800 n. Chr., in der heutigen Gestalt und im heutigen Umfang vor. Vom gleichzeitig entstandenen "Tao-Tê-King" gibt es laut Günther Debon über 300 Textversionen, "die meist unerheblich, zuweilen gravierend voneinander abweichen".

Noch komplizierter ist es bei den Veden und Upanischaden, den Lehren Buddhas, Konfuzius' oder Zarathustras. Zudem widersprechen die Übersetzungen einander oft. Auch bei den gnostischen und hermetischen, kabbalistischen und alchemistischen Texten ist es nicht besser. Sogar Platonismus und Neuplatonismus wurden im Mittelalter unentwirrbar vermischt.

 

Die Lage scheint desolat. Weder Evolutions-Thesen noch Texte aus dem Altertum bringen "facts". Sie sind sich darin ähnlich, dass sie kosmisch-planetare Schwammigkeiten verbreiten. Ist das nicht eine zu harte Beurteilung? Nein: Wenn auf dieser vagen Grundlage eine Verbesserung der Welt gefordert und angestrebt wird, dann muss die Beurteilung negativ ausfallen. Ja: Wenn diese Thesen und Texte bloss Anstoss geben sollen zu eigener Besinnung.

 

Man kann diese Selbstbesinnung poetisch oder mystisch auffassen, als Versenkung oder Aufschwung, als Konzentration oder Ausschweifen oder als schlichtes, wortloses Erleben, z. B. Erleben des eigenen Körpers, der Natur, von seelischen Energien oder kosmischen Harmonien.

 

„Eine Ökologie schlechter Ideen“

 

Diese paar dürren Angaben zeigen bereits die Problematik des "ganzheitlichen Denkens". Wenn es riesige Zeiträume überstreicht, wird es pauschal und ungenau. Oft hat man den Eindruck, auf ein paar Milliarden oder Millionen Jahre komme es gar nicht an. Bisherige Erkenntnisse oder Hypothesen von Astrophysik, Biologie und Chemie werden entweder ignoriert oder in das starre Schema der jeweils aktuellen Ideologie gepresst.

Die Abstammung des Menschen, seine Besonderheiten gegenüber den andern Primaten oder seine soziokulturelle Geschichte sind seit Isaac de la Peyrère (1655), Tyson (1699), Vico (1725), Voltaire (1756) und Herder (1784) Gegenstand wildester Spekulationen.

Seit 1850 reisst der Strom von Deutungen fossiler und archäologischer, ethnologischer und ethologischer Funde und Befunde nicht mehr ab. Bösartige Kritiker würden Gregory Batesons* Satz darauf anwenden: "Es gibt eine Ökologie schlechter Ideen, genau wie es eine Ökologie des Unkrauts gibt, und es ist charakteristisch für das System, dass sich grundlegende Irrtümer fortpflanzen" (621).

Dem könnte man allerdings Batesons Bemerkung entgegenhalten: "Es ist albern und einfältig, sich dem reichen Spektrum des evolutionären Denkens nur mit Fragen der Art zu nähern, wer recht und wer unrecht hatte" (443).

Gegenüber der Unauslotbarkeit der Vorgänge in der Vergangenheit und gegenüber der Fülle von Deutungsversuchen oder -modellen nehmen sich die gegenwärtigen Schilderungen unter einem evolutionären oder Selbstorganisations-Paradigma dürftig aus.

 

*Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Frankfurt: Suhrkamp 1981; als taschenbuch wissenschaft Nr. 571, 1985 (engl. 1972; die Zitate stammen aus einem Vortrag von 1969 und einem Aufsatz von 1970)

 

(Zusammengestellt im Sommer 1988)

 



Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch