Home Ungeheuer emsig, aber zielblind

 

Am 15. Juli 1987 an die „Bilanz“ geschickt; hätte laut Schreiben des Chefredaktors in der Oktober- oder Novembernummer erscheinen sollen

(Die Zwischentitel wurden nachträglich eingesetzt)

 

Inhalt

Wir wissen nicht, was wir wollen

1434: Alberti über die drei kostbarsten Besitztümer des Menschen

Was sind „gute Zwecke“?

330 v. Chr.: Aristoteles über Ursachen und Ziele, Tätigsein und Glück

Nach 1900: Freud über Triebe und Treibverzicht

Vor über 4000 Jahren: Die Schwachen und Armen schützen

Seit 4400 Jahren: Weisheitslehren im nahen und fernen Osten

1913: Ludwig Klages beklagt die Vernichtung des Lebens und die Selbstzersetzung des Menschentums

Seit 1500: Individualismus und Machtgelüste

Seit 1650: Die neuen Ziele sind blosse Hilfsmittel oder Zwischenziele

Wir haben unzählige Absichten ohne klare Ziele

Die volle Verwirklichung der Möglichkeiten

Vier unterschiedliche Ziele, die der Mensch anstreben kann

Daraus ergeben sich vier Fragen

 

Legenden zu den Bildern

Literatur

 

 

Vor bald 500 Jahren erhielten Individualismus und Machtgelüste, Wissenschaft und Fortschrittsidee mächtig Aufwind. Der Erfolg war in vielerlei Hinsicht umstürzend. Im Barock zerbrach das christlich-scholastische Weltbild endgültig, womit die Herrschaft über Natur und Mensch freie Bahn erhielt.

Dahinter steckt ein schwerer Verlust: die Kenntnis des Unterschieds zwischen blossen Absichten, zweckdienlichen Mitteln und echten, klaren Zielen.

 

Ein Riesenslalom durch 5000 Jahre Geistesgeschichte kann Vergessenes wieder in Erinnerung rufen. Wir brauchen heute dichtgepackte Denkanstösse, sind wir doch zu gehetzten Egoisten und freudlosen Selbstzweckvirtuosen geworden,

ungeheuer emsig, aber zielblind.

 

Wir wissen nicht, was wir wollen

 

"Früher musste man suchen, wie technische Innovationen gegen alle Schwierigkeiten verwirklicht werden können, heute hat man solch perfekte Methoden zur Erzeugung technischer Innovationen, dass es viel weniger das Problem ist, wie man etwas realisiert, es vielmehr das zentrale Problem wird, was man realisieren will."

Das meinte Karl Steinbuch vor bald 20 Jahren [1969; siehe Anmerkung], und er fuhrt fort: "Aber was will man denn, welche Wirkungen sollen denn erzielt werden, welches sind denn die Massstäbe für technisches Handeln? ... Die Zuständigen interessieren sich kaum für diese profanen Fragen. So leiden wir unter dem Mangel an Zielvorstellungen und einer Ethik technischen Handelns. Je mächtiger das Werkzeug Technik wird, desto unerträglicher wird die Ratlosigkeit, was mit diesem Werkzeug Technik getan werden soll."

 

Dasselbe gilt für das Wirtschaften. Wozu produzieren wir die immensen landwirtschaftlichen Überschüsse, wofür die immer rascher wechselnde Folge modisch aufgeputzter Konsumgüter und angeblicher Luxusartikel, zu deren grimmigem Verschleiss der Verbraucher geradezu gezwungen werden muss? Brauchen wir denn immer den neuesten Maschinenpark? Ist es denn so wichtig, dass ein Grossauftrag eine Woche früher als bisher erledigt werden kann? Warum lassen wir uns als mündige Unternehmer dauernd drängen und hetzen?

Innovationszwang, Kostenschere und Wettbewerbsdruck stellen sich bei nüchterner Betrachtung als Symptome einer Krise heraus, die wir in unserem Unvermögen zu vorausschauender Planung und ganzheitlicher Optimierung selber verursacht haben.

 

Warum strampeln wir uns überhaupt so verbissen ab, um irgendwo und irgendwie ein Quentchen "mehr" zu ergattern, ohne dass wir es genau definieren könnten? Dabei nehmen unsere Gesundheit und unsere Seele immer mehr Schaden, und die Umwelt, Wälder, Gewässer und Landschaften gehen sichtbar zugrunde.

 

„Toujours plus“ beanstandete der französische Zukunftsforscher Bertrand de Jouvenel in seiner Sammlung „Arcadie – Essais sur le mieux-vivre“ (1968).

 

1434: Alberti über die drei kostbarsten Besitztümer des Menschen

 

"Ein derartiger, nicht sehr nötiger Aufwand findet nicht den Beifall der Weisen", schrieb der grosse "uomo universale“ der Renaissance, Leon Battista Alberti 1434 (siehe: Geschichte der Wirtschaftspsychologie); nie habe er gesehen, "dass jemand so reichlichen, so grossartigen Aufwand treibt, dass er nicht von Unzähligen für unzählige Mängel getadelt würde: immer hat es dabei von dem einen zuviel, von dem andern zuwenig gegeben."

 

In seiner ökonomischen Schrift "Della Famiglia" hat Alberti die drei kostbarsten Besitztümer des Menschen beschrieben: Seele, Körper und Zeit.

Mit allen drei muss ich haushälterisch umgehen. Das bedeutet: sie müssen zugleich recht bewahrt und richtig gebraucht werden, und zwar zu "ehrbaren, nützlichen und edlen Zwecken".

Am meisten am Herzen lag Alberti die Zeit. Sie ist ihm "bei weitem das Kostbarste." Er pflegte zu sagen, er habe einen fleissigen Menschen nie anders als langsam gehen gesehen. Das scheint widerspruchsvoll, spruchsvoll, aber es trifft den Kern, denn: "Dem Unaufmerksamen läuft die Zeit davon: Die Folge ist, dass die Notwendigkeit oder auch sein Wunsch, dass etwas getan werde, ihn beunruhigt; da er den rechten Augenblick versäumt hat, ist er dann gezwungen, in Hast und mit Mühe dasjenige zu tun, was vorher, zu seiner Zeit, leicht gewesen wäre. Und haltet euch vor Augen ..., dass kein Ding jemals in solchem Überfluss vorhanden und so leichtlich zu haben sein wird, dass dasselbe nicht ausser seiner Zeit nur mit grösster Mühe zu finden wäre. Saatkorn, Pflanzen, Pfropfreiser, Blumen, Früchte: alles bietet sich dir zu seiner Zeit bequem dar, ausser der Zeit aber lässt es sich nicht ohne grosse Mühe ausfindig machen" (227).

 

Was sind „gute Zwecke“?

 

Alberti gebrauchte "die Seele, den Leib und die Zeit nur zu guten Zwecken". Was sind solche?

Aus dem Zweiten Weltkrieg sind eine Reihe von Betrachtungsweisen - z. B. Kybernetik, Informationstheorie und Informatik, Entscheidungstheorie, Operations Research, Systemanalyse, Futurologie - herausgewachsen, welche unter dem allgemeinen Titel "Systemdenken" zusammengefasst werden können. Sie nährten bald die Hoffnung, mit ihrer Hilfe liessen sich die Planungs-, Optimierungs- und Führungsprobleme in den Griff bekommen.

Die Euphorie der sechziger und siebziger Jahre schlug allerdings bald in Ernüchterung um. Auch der Versuch, die Systembetrachtung mit neuen Bezeichnungen wie "vernetztes Denken" (Frederic Vester) oder "ganzheitliches Denken" (Hans Ulrich) zu retten, schaffte den Durchbruch nicht. Warum?

 

Schon 1969 wies Peter Menke-Glückert darauf hin: "Eines kann die Systemplanung nicht leisten: Sie kann keine Ziele setzen." 1982 kritisierte der Modelltheoretiker Herbert Stachowiak  die „zielblinde“ Anwendung der Kybernetik.

 

Das sah freilich schon der Begründer der Systemtheorie vor über 200 Jahren. Johann Heinrich Lambert - in Mühlhausen geboren, das damals zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft war - befasste sich in seinem "Fragment einer Systematologie" (1764/71 entstanden) auch mit der "Absicht bey Systemen" und sah für den Systembauer oder -benützer zwei Aufgaben:

1) "Wenn ein System, oder auch nur der Stoff und die Kräften zu einem Systeme gegeben, die Absichten zu bestimmen, wozu es entweder überhaupt oder in vorgegebenen Umständen dienen kann."

2) "Wenn eine Absicht vorgegeben, das dazu überhaupt, oder in vorgegebenen Umständen dienlichste System zu finden."

 

Die Absichten sind also nicht aus dem Systemdenken selbst zu bestimmen; die Ziele erst recht nicht. Daher spricht man heute auch nur verschämt von Soll-Zuständen oder Führungsgrössen. Wer diese festlegt, und wie und warum, bleibt offen.

 

Sind Absichten und Ziele denn beliebig? Nicht ganz. Wir könnten sagen: Die Absichten kommen von den Bedürfnissen her, die Ziele aus der Ethik. Es hat allerdings viel Verwirrung gegeben, seit sich die Alten Griechen mit diesen Fragen herumgeschlagen haben.

 

330 v. Chr.: Aristoteles über Ursachen und Ziele, Tätigsein und Glück

 

Aristoteles (um 330 v. Chr.) spürte nicht nur dem Einzelnen und dem Allgemeinen, der Einheit und Vielheit, dem Verhältnis der Teile zum Ganzen, usw. nach, sondern auch den Ursachen (aitia) und Gründen oder Prinzipien (archai) von allem.

Er unterschied in seiner Naturphilosophie, in der "Physik", vier Grundursachen:

1. den Stoff, z. B. das Baumaterial (lat. causa materialis)

2. die Arbeit an diesem Stoff, das Aufbauen durch den Baumeister und seine Gesellen (causa efficiens)

3 den Entwurf und Plan des Architekten resp. die Wesensform, den Begriff des Hauses (causa formalis)

4. den Zweck, das Haus als fertiges Endergebnis, um dessentwillen die ganze Aktion geschieht (causa finalis).

 

Mit gebührender Vorsicht kann man dahinter die Begriffspaare Materie (hyle) und Form (eidos, morphe) sowie Möglichkeit (dynamis) und Wirklichkeit (energia) sehen: Die Materie (1) als blosse Möglichkeit erfährt erst durch die "bewegende Ursache" (2) und die Form (3) die Bestimmtheit der Wirklichkeit (4). Die Form ist dabei das vorweggenommene Ziel (telos), also "entelecheia".

 

Das gehört zum Handgepäck des gebildeten Laien. Für das menschliche Entscheiden und Handeln hat Aristoteles in seiner unübertroffenen "Nikomachischen Ethik" (die beste Ausgabe bei Reclam) den Zweck schon im dritten Satz (NE, 5) in zwei Ziele auseinanderdividiert:

  • "das eine Mal ist es das reine Tätig-sein,
  • das andere Mal darüber hinaus das Ergebnis des Tätig-seins: das Werk".

Ersteres (z. B. das Bauen, die causa efficiens) können wir Absicht nennen. Das "Werk" (z. B. das Haus) ist wertvoller; es hat mehr den Charakter, ein "Gut" (agathon) zu sein.

 

Aristoteles gibt Beispiele solcher Werk-Ziele: "Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, der Schiffsbaukunst das Schiff, das Ziel der Kriegskunst: Sieg, der Wirtschaftsführung: Wohlstand" (NE, 5; vgl. 14).

Es gibt aber noch höhere Ziele. Das oberste Gut finden wir in der "politike", und zwar insofern diese eine praktische Kunst, also Staatskunst ist, als auch sofern sie wissenschaftliche Untersuchung, nämlich Ethik, ist. "Da sie es … ist, die sich der übrigen praktischen Künste als Mittel bedient und dazu noch gesetzgeberisch bestimmt, was zu tun und was zu lassen sei, so umfasst ihr Endziel die Ziele aller anderen, und dieses ihr Ziel ist daher für den Menschen das oberste Gut" (NE, 6). Man nennt es "Glück" (eudaimonia). Es kann in drei Lebensformen (NE, 9-10; 288) gesucht werden:

  • Die besonders grobschlächtigen Naturen finden ihr Genügen an dem Leben des Genusses. Damit bekunden sie, nach Aristoteles, "ganz und gar ihren knechtischen Sinn, da sie sich ein animalisches Dasein aussuchen".
  • Edle und aktive Naturen entscheiden sich für ein Leben im Dienste der Gemeinschaft (polis).
  • Die höchste Lebensform ist die Hingabe an die Philosophie: "Am lustvollsten aber unter den Formen hochwertiger Tätigkeit ist … das lebendige Wirken des philosophischen Geistes."

 

Die den drei Stufen zugehörigen Güter, nämlich Lust, Ehre und Einsicht, wählen wir sowohl um ihrer selbst willen als auch weil wir annehmen, dass sie uns zum Glück führen.

Und was ist dieses Glück? "Ein Tätigsein der Seele (energeia) im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit (arete; Tugend)" (NE, 17, 23, 29, usw.; 287). Glück ist nicht etwa ein Zustand der Ruhe, sondern Aktivität "gemäss" der Tugend, unter Verwendung einiger "äusserer Güter", wie Geld und Werkzeuge, aber auch Freunde und politischen Einfluss, "edle Geburt, prächtige Kinder, Schönheit" (NE, 22), kurz: die Gunst der äusseren Umstände.

 

Die Tugend aber wird von Aristoteles vorausgesetzt. Er fragt nicht, wie wir dazu kommen; seine ganze Ethik gilt nur den Fragen: Wo zeigt sie sich? und: Wie, in welchem Sinn ist sie eine Mitte, nämlich zwischen Zuviel und Zuwenig? Was die "richtige Mitte" ist, sagt uns die richtige Planung, welche sich aus dem "Mit-sich-zu-Rate-gehen" ergibt.

 

Nach 1900: Freud über Triebe und Treibverzicht

 

Aristoteles Thesen haben trotz vieler Umdeutungen und Verstümmelungen über die Jahrhunderte gewirkt - bis heute, auch wenn es uns nicht mehr bewusst ist. So kann man etwa Sigmund Freuds "Psychoanalyse" mit aristotelischen Begriffen beschreiben:

  • Triebobjekt = causa materialis;
  • Trieb und Triebaktion = causa efficiens;
  • Wunsch = causa formalis;
  • Triebbefriedigung = causa finalis.

Das legendäre "Triebziel" ist das "reine Tätig-sein" als Lustgewinn. Die Sublimierung bedeutet eine Verschiebung dieses Triebziels auf höher gewertete Tätigkeiten, z. B. ein Werk schaffen.

 

Der Verzicht auf Triebbefriedigungen kennzeichnet die Kultur.

Nach Freud muss er keineswegs in der Verdrängung von sexuellen und aggressiven Impulsen bestehen - obwohl das meist der Fall war. Es gibt andere Möglichkeiten: neben der Sublimierung die Frustration und das "rationale Urteil", die von der Angst befreite Moral. Wie alles hätte auch der verstandesmässige Verzicht mit dem aristotelischen Mass zu erfolgen. "Nur ein bestimmter Betrag Triebenergie kann sublimiert werden, nur eine bestimmte Menge Frustration ertragen werden", schreibt Richard Wollheim gegen Ende seiner klaren Freud-Biographie (1971).

 

Was bringt der gemässigte Triebverzicht? Einen Gewinn an Sicherheit, insbesondere Verminderung von Schmerz und Leid.

 

Vor über 4000 Jahren: Die Schwachen und Armen schützen

 

All dies wird schon am Anfang der fünftausendjährigen Geschichte der "Hochkulturen" deutlich.

Eindrückliche Zeugnisse liefern etwa die Staatslenker und Feldherren im alten Mesopotamien, die sich vor über 4000 Jahren immer wieder brüsteten, sie hätten Gesetz und Ordnung im Lande aufrechterhalten, die Schwachen vor den Starken, die Armen vor den Reichen geschützt und Unrecht und Zwang ausgerottet.

Im 24. Jahrhundert v. Chr. stellte der lagaschitische Fürst Urukagina voller Stolz fest, "er habe den vielgeplagten Bürgern Gerechtigkeit und Freiheit gebracht, die allgegenwärtigen und blutsaugerischen Beamten verjagt, dem Unrecht und der Ausbeutung ein Ende gesetzt, die Witwen und Waisen beschützt" (S. N. Kramer).

 

Ähnliches verlautet von den Pharaonen und Wesiren in Ägypten.

 

Seit 4400 Jahren: Weisheitslehren im nahen und fernen Osten

 

Siehe auch:    Wichtige ethische Gebote

 

Ebenso erstaunlich sind die Weisheitslehren, die aus dieser Zeit erhalten sind, Lebenserfahrungen in Sprichwörter, Erzählungen oder Streitgespräche gefasst, aber auch Anleitungen für das rechte Handeln. Zusammenstellungen aus Mesopotamien bieten S. N. Kramer (1956), E. I. Gordon (1959) und W. G. Lambert (1960), aus Ägypten Freiherr von Bissing (1955) und Emma Brunner-Traut (1985).

 

Die ägyptischen Weisheiten lassen sich nach J. H. Breasted (1933) zu vier einfachen, aber umfassenden Geboten zusammenfassen:

1. Ehre deine Eltern.

2. Sei achtsam.

3. Handle und wandle recht und gerecht.

4. Sei nicht habgierig.

 

In der ältesten vollständig erhaltenen Lebenslehre - von Ptahhotep, ca. 2400 v. Chr. - heisst es unter anderem:

"Wenn du ein Mann in leitender Stellung bist, der die Lebensverhältnisse für viele zu regeln hat, dann bemühe dich jeweils um gewissenhafte Behandlung, so dass dein Verhalten ohne Tadel ist ... Gemeinheit rafft zwar Schätze zusammen, aber noch nie ist das Unrecht ans Ziel gelangt."

 

Vieles an solch unvergänglicher Lebensweisheit hat sich später in den heiligen Schriften der Juden und Christen niedergeschlagen.

Ebensolche Anstösse zur Besinnung bieten auch heute noch die indischen Veden und Upanischaden, die Werke in der Nachfolge Mahavira und Buddha sowie die grossen Werke der chinesischen Weisen Konfutse und Laotse, Mo Tse (Mo Ti) und ihrer Schüler. (Manches davon ist bei Diederichs und Reclam erhältlich.)

 

Erst in der "Aufklärung" - also im 18. Jahrhundert - wurde die chinesische Geisteswelt von den Europäern (z. B. Leibniz) entdeckt, im 19. Jahrhundert die indische (z. B. von Schlegel und Schopenhauer).

Den bis heute anhaltenden populären Boom von östlicher Weisheit leiteten Madame Blavatsky und Oberst Olcott 1875 mit der Gründung der Theosophischen Gesellschaft ein.

 

1913: Ludwig Klages beklagt die Vernichtung des Lebens und die Selbstzersetzung des Menschentums

 

Hat alles nichts gefruchtet?

"Dieselben Schienenstränge, Telegraphendrähte, Starkstromleitungen durchschneiden mit roher Geradlinigkeit Wald und Bergprofile, sei es hier, sei es in Indien, Ägypten, Australien, Amerika; die gleichen grauen vielstöckigen Mietskasernen reihen sich einförmig aneinander ...; bei uns wie anderswo werden die Gefilde 'verkoppelt', d. h. in rechteckige und quadratische Stücke zerschnitten, Gräben zugeschüttet, blühende Hecken rasiert, schilfumstandene Weiher ausgetrocknet; ... aus den Flussläufen … macht man schnurgerade Kanäle; ... Wälder von Schloten steigen an ihren Ufern empor, und die giftigen Abwässer der Fabriken verjauchen das lautere Nass der Erde" (10).

 

Dies schrieb der Psychologe und Philosoph Ludwig Klages 1913. Als scharfsinniger Beobachter des menschlichen Treibens erkannte er schon damals die Vernichtung des Lebens und die Selbstzersetzung des Menschentums. Wer seinen Aufsatz "Mensch und Erde" heute liest, dem läuft es kalt den Rücken hinunter.

 

"Vertilgte Tier- und Pflanzenarten erneuern sich nicht, die heimliche Herzenswärme der Menschheit ist aufgetrunken ..., und es bleibt ein mürrischkalter Arbeitstag, mit dem falschen Flitter lärmender 'Vergnügungen' angetan" (14), stellte Klages fest.

 

Der bekannte Arbeits- und Betriebspsychologe Eberhard Ulich an der ETH Zürich kommt heute zu einem ebenso betrüblichen Fazit: "Phantasielose Menschen produzieren für phantasielose Menschen."

 

Seit 1500: Individualismus und Machtgelüste

 

Ursache dafür sind Individualismus und Machtgelüste, Wissenschaft und Fortschrittsidee. Um das Jahr 1000 zaghaft einsetzend, haben sie Ende der Renaissance Fuss gefasst.

Ihre Begründer werden zu den "Humanisten" gezählt. Thomas Morus entwarf 1516 die erste "Utopie", Machiavelli gab seinem "Fürsten" (1513/32) bedenkliche Ratschläge, wie er im politischen "catch as catch can" (so Hans Freyer) bestehen kann, z. B. eine Technik des Wohltuns ebenso wie eine der Grausamkeit, der Heuchelei und des Wortbruchs. François Rabelais stellte sein Wunschbild, die Abtei "Thelema", unter die Ordensregel: "Tu, was dir gefällt!" (1534).

Neue Impulse erfuhren Wirtschaft (z. B. Börse) und Politik (z. B. Armenfürsorge), Bau- und Bergwerktechnik, Pädagogik und Psychologie, Medizin und Botanik, Geschichtsschreibung und Methodologie.

 

Den Tenor der Zeit brachte der Logiker Petrus Ramus auf die Formel: "Alles, was Aristoteles gesagt hat, ist falsch" (1536). Der Venezianer Niccolò Tartaglia begründete die empirische Wissenschaft und wissenschaftliche Kriegstechnik mit der kalkulatorischen Mathematik im Werk "Nova Scientia" (1537), und Kopernikus revolutionierte das astronomische Weltbild (1512/43). Bernardino Telesio (1565/86) griff auf die stoische Lehre von der Selbsterhaltungstendenz alles Lebendigen zurück und entwickelte eine mechanistische Natur- und Seelenlehre.

Die reichen und exotischen Schätze, welche die Schiffe aus den eben erst entdeckten Kontinenten und Inseln brachten, veränderten den Alltag und das Wirtschaftsleben.

 

Den schrankenlosen Anspruch auf "Freiheit der Forschung" erhob bald nach 1600 Galileo Galilei, und den Fortschrittsgedanken brachte der erste grosse Theoretiker der neuzeitlichen Wissenschaft, Francis Bacon, auf den Punkt: "Das wahre und gesetzmässige Ziel der Wissenschaft ist es, das menschliche Leben durch neue Entdeckungen und Kräfte zu bereichern" (1620).

 

Wir haben heute von der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruchstimmung, welche die Barockzeit - das 17. Jahrhundert - erfüllte, kaum noch einen Schimmer. Friedrich Wagners flammender Bericht in "Die Wissenschaft und die gefährdete Welt" (1964) fand wenig Beachtung.

 

Der Aufschwung der "freien Vernunft", des "Rationalen" zerstörte um 1650 das christliche Weltbild, das vorher in Reformation und Gegenreformation noch eine letzte Stärkung und Festigung erfahren hatte. So waren es denn ausgerechnet Geistliche, welche die Programme der wissenschaftlichen Royal Society formulierten: Bischof Thomas Sprat mit der "Mehrung menschlicher Macht" (1667) und Joseph Glanvill mit "Plus ultra" (1668) - darüber hinaus oder: immer mehr.

 

Seit 1650: Die neuen Ziele sind blosse Hilfsmittel oder Zwischenziele

 

Diese Ziele beflügelten Forscher, Techniker und wirtschaftlich orientierte "Projektemacher" bis heute. Aber was sind es für Ziele? Nach Aristoteles: blosse Hilfsmittel, Werkzeuge.

Ein erstes Mal wurde das schon in der Aufklärung erkannt; daher entfaltete sich damals eine reichhaltige Diskussion über das Glück, und Voltaire goss seinen Spott über die kleinen Gernegrosse, Weltmänner, Fanatiker und Optimisten aus. Doch just um 1760 setzte die "industrielle Revolution" ein, und das Nutzendenken gewann bald wieder Oberhand. Nach Adam Smith (1776) beabsichtigt die Politische Ökonomie (= Wirtschaftswissenschaft), "Volk und Herrscher reicher zu machen", nach dem Fortschrittsideologen Condorcet (1793) hat die "Sozialtechnik" die "égalité de fait" zum Ziel, die Gleichstellung aller durch den "Fortschritt der Zivilisation, des Unterrichts und der Industrie".

 

Ausgerechnet der als Utilitarist verschriene Jeremy Bentham (1780/89) dagegen wollte ein System aufbauen helfen, "dessen Ziel es ist, das Gebäude der Glückseligkeit durch Vernunft und Recht zu errichten". Wie staunenswert dieser Ansatz ist, zeigt erst zwei volle Jahrhunderte später die erhellende Analyse von Ross Harrison (1983): Bentham stellte auf die Realität und Psychologie des menschlichen Verhaltens ab. Dennoch hatten seine Ideen einen Nachteil, der zum Scheitern führte: Sie waren zu „vernünftig".

 

Der Mensch ist sich offenbar weder über seine eigenen Interessen recht im klaren, noch versteht er es, die richtigen Massnahmen zu treffen, damit sie wenigstens annähernd erfüllt werden.

 

Das Unvermögen des Menschen, seine Vorteile zu wahren, könnte vom Verlust der aristotelischen Unterscheidungen und Einsichten herrühren. Zwei dieser Einsichten lauten:

  • "Das eigene Wohl ist kaum denkbar ohne geordnete Führung des Hauswesens (Ökonomie) und des Gemeinwesens" (NE, 165).
  • "Das Leben des Geldmenschen hat etwas Forciertes an sich, und der Reichtum ist gewiss nicht das gesuchte oberste Gut. Er ist nur ein Nutzwert: Mittel für andere Zwecke" (NE, 10).

 

Die Einsicht in die ausserordentliche Dynamik und das vielfältige Ineinandergreifen von Absichten, Zielen und Mitteln, Überlegen und Planen ist uns heute abhanden gekommen.

 

Es ist nicht so, dass uns heute die Ziele völlig fehlten. Aber entweder fehlt uns die beharrliche Absicht und der hartnäckige Einsatz, sie zu erreichen, oder es sind nur Zwischenziele - Zweckdienliches, wenn wir den Zweck kennen würden.

 

Betrachten wir als Beispiel ein Ziel, das im modernen Sinne präzis nach Bereich, Betrag und Termin definiert ist: die Schadstoffbelastung der Luft, wie sie 1950 (oder 1960?) bestanden hat. Haben wir wirklich die Absicht, sie bis 1995 zu erreichen, und tun wir alles, was dazu nötig ist? Und ist das nicht nur ein winziges Zwischenziel, ein Instrument zur Hebung der "Lebensqualität", das mit unzähligen anderen verbunden werden müsste?

 

Wir haben unzählige Absichten ohne klare Ziele

 

Unser Sinnen und Trachten richtet sich häufiger auf die Beschaffung und Bereitstellung der Mittel, statt auf die Diskussion und Erhellung der Zwecke. Wer etwa eine morphologische Matrix zu den drei Fragen "Gewinn - auf wessen Kosten, für wen und wofür?" aufstellt, wird bei ehrlichem Vorgehen bald stutzig.

Dass Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Rentabilität gar nicht so leicht zu bestimmen sind, ist bekannt. Schlecht definiert sind auch: Wertschöpfung und Ertragskraft, Effektivität und Effizienz. Stärken und Schwächen, Reserven und Lücken, Chancen und Gefährdungen wären schon eher ausfindig zu machen - wenn Blindheit und Bequemlichkeit überwunden würden.

 

Sollwerte, wie Jahresumsatz oder Marktanteil sind leicht anzugeben, aber sie beflügeln nicht. Das tun nur Absichten und Ziele. Blosse Absichten aber ermangeln eines Massstabes, mit dem man beurteilen kann, wie erfolgreich das Bemühen ist. Nur an einem Ziel kann man bemessen, ob man ihm näher gekommen ist. Und mit dem Ziel vor Augen lassen sich Kräfte und Mittel mobilisieren, die über das reine Tätig-sein hinausführen. Leben ist nicht nur eine Betätigung, sondern Mobilisierung, nach Aristoteles in der scholastischen Formel: Aktualisierung der Potenz.

 

Wir haben unzählige Absichten ohne klare Ziele, z. B. Wachstum und Expansion, Diversifikation und Technologie-Management, Flexibilität und Kooperation, Rationalisierung und Wettbewerbsfähigkeit. Wer weiss genau, was überhaupt wofür die Voraussetzung ist, was wovon abhängt, und wie und warum?

 

Vielfach ist blosses Tätig-sein wichtiger als das Werk, z. B. Bauen um des Bauen willen, Produzieren um jeden Preis, Verwalten statt Regieren, Symptombekämpfung statt Wurzelbehandlung.

Im Privaten lautet der Trend: Konsumieren, Sich-unterhalten-lassen, Nervenkitzel, "Erleben", Bewegung, Geschwindigkeit.

 

Unter der drückenden Last selbstverschuldeter Sachzwänge sind wir wahre Selbstzweckvirtuosen geworden. Ob sich die Begründer der Efficiency-Bewegung vor 100 Jahren bewusst waren, dass ihre Bemühungen nur der aristotelischen "causa efficiens" galten? Der "mündige" Mensch, sowohl als Arbeiter wie als Leiter, hatte ausgespielt. "Bisher stand die 'Persönlichkeit' an erster Stelle, in Zukunft wird die Organisation und das System an erste Stelle treten" verkündete F. W. Taylor 1911.

 

Die volle Verwirklichung der Möglichkeiten

 

Auch heute noch sind manche der Ansicht, das Heil komme aus dem gelobten Land, den USA. Doch "Unternehmenskultur" und "Wirtschaftsethik" stammen nicht von dort. Wenn wir heute dazu ernsthafte Schritte unternehmen möchten, dann müssten wir Aristoteles demokratisieren, die abendländische Geistesgeschichte bedenken und durch östliche Weisheit ergänzen.

 

Im Banne der Futurologie hat Robert Jungk vor 20 Jahren "mögliche und wünschbare Zukünfte" unterschieden [1964ff]. Eine bald darauf in der Bundesrepublik gestartete Umfrage über Ziele, das ehrgeizige "Zielfindungsexperiment" (ZIELFEX; 1970-79) von H. H. Koelle, verlief im Sande. Es war zu früh.

Im Rahmen der "Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung" und später der "Stiftung für Humanwissenschaftliche Grundlagenforschung" plagten sich ebenfalls mehrere Arbeitsgruppen mit individuellen und gesellschaftlichen Zielsetzungen herum. Walter Bodmer hat in einigen Schriften auszugsweise Ergebnisse vorgelegt. 1980 unterschied er (a) Ziele der Führungseliten und (b) Ziele aller, und er meinte:

 

(a) "Viele Träger und Befürworter einer Ordnungspolitik streben wohl nicht zuletzt danach, Vorteile bezüglich Besitz, Macht und Sozialprestige zu erwerben, zu erweitern und zu erhalten" (2).

 (b) "Ziele, welche im Interesse aller oder doch der meisten Angehörigen der Lebensgemeinschaft stehen ... sind heute in der Regel: der allgemeine Wohlstand, die Wohlfahrt, die Sicherheit, die Gestaltungsfreiheit aller" (2).

 

Das sind freilich die bekannten Hilfsmittel und Absichten, nicht Ziele, genauso wie Überleben, Entwicklung oder Entfaltung und Erfolg des Handelns resp. Anpassung.

 

Erst jüngst kam Aristoteles wieder unvermutet zu Ehren, hatte dieser doch gesucht, "was nur dem Menschen eigentümlich ist", also was er nicht mit Pflanzen, "Pferd, Rind und jeglichem Lebewesen" teilt.

Wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, postulierte Walter Bodmer 1985 als "höchstes gemeinsames Ziel menschlichen Verhaltens, als überindividuellen Sinn":

  • "die volle Verwirklichung der Möglichkeiten, die unsere Art von allen anderen Lebewesen unterscheiden" (4).

 

Auf Grund umfassender Kenntnis der biologischen und verhaltenswissenschaftlichen Literatur kommt Bodmer zu sieben spezifisch menschlichen Möglichkeiten, die zu verwirklichen sind (siehe: Werbe-Morpho-Logisches, Teil 1, Abb. VIII.2: „Unterschiede Tier – Mensch“).

 

Was kann das etwas konkreter bedeuten? Wie können wir heute das Wertvollste aus der Iangen abendländischen und östlichen Tradition retten und gleichzeitig Ziele und Absichten sauber auseinanderhalten?

 

Vier unterschiedliche Ziele, die der Mensch anstreben kann

 

Betrachtet man den Menschen als biologisches, personales, soziales und kulturelles Wesen, so ergeben sich daraus vier unterschiedliche Ziele, die er anstreben kann und je nach Höhe der Einsicht in den "Sinn" auch muss:

 

4. Wie steht es mit dem Menschen als biologisches Wesen? Da ist das Ziel: Leben. Es ist nicht die Absicht.
Der Berner Universalgelehrte Albrecht von Haller kennzeichnete schon vor bald 250 Jahren das Leben mit "Irritabilität" (Reizbarkeit) und Sensibilität (Empfindung).
Heute fassen wir Leben als "offenes System im Fliessgleichgewicht" mit

·           Stoff- und Energiewechsel

·           Formwechsel (Entwicklung), Wachstum, Bewegung

·           Reizbarkeit

·           autonomer Tätigkeit (Regulationsfähigkeit) sowie

·           Vermehrung (Fortpflanzung).

Schon das Verhalten einfachster Lebewesen, z. B. des einzelligen Pantoffeltierchens, ist nicht nur "automatisch", sondern eine Reaktion auf äussere Reize (anderes Milieu, Hindernisse, Angreifer) und innere "Stimmungen" (wechselnde physiologische Zustände). Ändert sich die zuträgliche Umgebung zu stark, ist eine Anpassung vonnöten, sei es durch innere oder äussere Verhärtung, durch Ortswechsel und Flucht oder aber durch eigene, aktive Ein- und Angriffe.
Leben heisst demnach für Tiere und Menschen: wachsam aufnehmen, verarbeiten, speichern und abgeben, reagieren und aktiv sein können; es bedeutet nicht: in den Tag hineinleben, vegetieren.

 

2. Für den Menschen als personales Wesen hat der in Zürich und Küsnacht wirkende Psychiater C. G. Jung in den 20er Jahren das Ziel genannt: das Selbst.
Das Selbst ist der ganze Mensch. Die Absicht. heisst Selbstverwirklichung (Individuation). Der Weg geht über die Entdeckung, Anerkennung und Handhabung der gegengeschlechtlichen (anima resp. animus) und der dunklen Seiten (Schatten) in uns sowie über die Entwicklung einer elastischen und durchlässigen Persona (Hülle,  "Maske" oder Einstellung gegenüber der Umwelt).
Das Ziel ist nicht erreichbar, aber wir können es vor Augen haben. Es richtet unser Überlegen und Handeln aus.

 

3. Was wäre das Ziel des Menschen als soziales Wesen? Die Gemeinschaft. Als Bild hiefür können wir uns ein vergrössertes "Selbst" denken. Es umfasst die ganze Menschheit mit ihren zwei Geschlechtern und ihren Schattenseiten. Die Absicht wäre: Gemeinschaft zu verwirklichen, der Weg dazu: Auseinandersetzung und Zusammenarbeit.
Wie sagte Goethe: "Die Menschheit zusammen ist erst der wahre Mensch, und der einzelne kann nur froh und glücklich sein, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen."

 

4. Gibt es noch ein höheres Ziel? Ja. Für den Menschen als Kulturwesen ist es die Schöpfung. Was heisst: Die Schöpfung verwirklichen?
Auch hier ginge es darum, die Polarität zwischen Natur und Kultur (Wirtschaft, Technik, Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, usw.) sowie die zerstörerischen Seiten beider zu erkennen, zu ertragen und zu gestalten. Gerd Klaus-Kaltenbrunner hat 1976 einen kleinen Sammelband dazu unter dem Titel "Überleben und Ethik" (Herderbücherei "Initiative" Nr. 10) herausgegeben und erhellend eingeleitet.
Für Aristoteles war das Ziel "allen Entstehens und aller Bewegung" das Gut. Das allerhöchste Ziel und damit Gut ist Gott. Er ist Leben und Ewigkeit, und "von solchem Prinzip also ist der Himmel und die Natur abhängig" (Metaphysik XII, 7). Dergestalt durch das Gute und Beste (ariston) erfüllt, ist die Natur so wohl geordnet wie ein Haushalt (oikia), ein Ganzes (holon).
- Wie viele andere wurde auch Aristoteles wegen "Gottlosigkeit" angeklagt.

 

Daraus ergeben sich vier Fragen

 

Ist das nicht alles blauäugig? Nein, denn Ziele geben unseren Bemühungen eine Richtung, auch wenn wir sie nie erreichen oder nicht erreichen können. Ferner sind sie Richtschnur, Massstab. Wir können das, was wir tun, daran bemessen.

 

Vier Fragen, die sich daraus an all unser Tun ergeben, lauten:

  • Bereichert es das Leben tatsächlich?
  • Entspricht es der Menschenwürde?
  • Dient es dem Gemeinwohl?
  • Steht es in Einklang mit der Schöpfung?

 

Diese Fragen klingen hart. Sie werden selten in solcher Schärfe gestellt. "Steht Autofahren in Einklang mit der Schöpfung?" Das klingt absurd. Sich diese Frage stellen, bedeutet aber zumindest, sich Rechenschaft darüber abzugeben, was wir überhaupt tun und darüber nachzudenken, was Leben, Mensch, Gemeinschaft, Schöpfung bedeuten könnten. Das kann Folgen haben. Nicht völliger Verzicht, aber Mässigung, das Finden der "richtigen Mitte".

 

Solon (um 700 v. Chr.) habe wohl die richtige Vorstellung von einem glücklichen Menschen gegeben, meinte Aristoteles (NE, 294), "indem er als glücklich den ansprach, der in massvoller Weise mit äusseren Gütern versehen dennoch das nach seiner Anschauung Edelste getan und ein besonnenes Leben geführt habe. Denn es ist möglich, mit mässigem Besitz das zu tun, was sich gehört."

 

 

 

Legenden zu den Bildern

 

Der griechische Philosoph Aristoteles um 330 v. Chr.: "Natürlich können wir weder Rind noch Pferd, noch sonst ein Tier als 'glücklich' bezeichnen, denn keines kann Anteil bekommen an einem Tätigsein, wie wir es beschrieben haben" (NE, 23).

Glück ist die "Tätigkeit der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit".

 

Francis Bacon (1561-1626), Herold der neuen Zeit und Theoretiker des Fortschritts. Sein Programm "Magna Instauratio imperii humani in naturam" (seit 1605) bedeutet: Der durch den Sündenfall um seine Macht über die Natur gebrachte Mensch soll jetzt seine Herrschaft über die Natur zurückgewinnen. "Wissen ist Macht."

- Heute noch lesbar sind seine "Essays" (bei Reclam).

 

Der in Zürich und Küsnacht wirkende Psychiater Carl Gustav Jung (1875-1961) entdeckte in den 20er Jahren durch die Beschäftigung mit der antiken und mittelalterlichen Geistesgeschichte - insbesondere auch Religion, Geheimlehren und Alchemie - sowie mit dem chinesischen Taoismus den Individuationsprozess, die "Selbstverwirklichung" und ihr Ziel: das Selbst. Symbol der Mitte, des Ziels und des Selbst sind die Mandalas, die nicht nur über den ganzen Osten (besonders: im Lamaismus und tantrischen Yoga) verbreitet, sondern auch im christlichen Mittelalter reichlich bezeugt sind.

 

Die höchsten Ziele des Menschen als biologisches, personales, soziales und kulturelles Wesen: schwergewichtige Begriffe aus der abendländischen und östlichen Geistesgeschichte zum Nachdenken für mündige Menschen.

 

Anmerkung

 

Karl Steinbuch: Zur Systemanalyse des technischen Fortschritts. In Karl Steinbuch (Hrsg.): Systems 69. Internationales Symposium über Zukunftsfragen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1970, 19.

[Bereits 1968 hatte Steinbuch in seiner Analyse „Falsch programmiert“ (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt; Taschenbuchausgabe München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1969, Seite 171) deutlich formuliert:

„Eine wichtige Aufgabe ist es, den Menschen Hoffnung auf die Zukunft zu geben. Das ‚Prinzip Hoffnung’ ist eine psychische Notwendigkeit, keine weltfremde Illusion … Den Menschen Hoffnung zu geben, ist eine politische Aufgabe ersten Ranges. Resignation ist weder ein Zeichen politischer Fähigkeit noch ein Zeichen grosser Weisheit.“]

 

Literatur

 

Leon Battista Alberti: Trattato del governo della famiglia;
dt.: Über das Hauswesen.
Zürich: Artemis & Winkler 1962; München: dtv klassik Nr. 2180, 1986 (Bücher 1-3 1434, Buch 4 1441 entstanden).

Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeier. Stuttgart: Reclam 1969 (= NE).

Walter Bodmer Strebungen des wirtschaftenden Menschen. Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 36. Jg., Nr. 12. Zürich: Wirtschaftsförderung, Dezember 1980.

Walter Bodmer: Gesellschaftliche Zielsetzung. Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 41. Jg., Nr. 11/12. Zürich: Wirtschaftsförderung, November/ Dezember 1985.

Ross Harrison: Bentham. London: Routledge & Kegan Paul 1983; Nachdrucke 1999 und 2002.

Robert Jungk et al. (Hrsg.): Modelle für eine neue Welt. 14 Bde, München Desch: 1964-71.

Ludwig Klages: Mensch und Erde (1913). In: Mensch und Erde. München: Georg Müller 1920; 7. Aufl. Stuttgart: Kröner 1973, 1-25 (zit.);
ferner zusammen mit dem Aufsatz „Bewusstsein und Leben“ (1915) in „Der Mensch und das Leben“, 1937; 3. Aufl. Bonn: Bouvier 1986; mit einem kurzen Vorwort von Prof. Dr. Bernhard Grzimek, Bonn: Bouvier 1980; erneut 1990.

Johann Heinrich Lambert: Drei Abhandlungen zum Systembegriff (1787, 1782). Entnommen aus derselbe: Logische und philosophische Abhandlungen. Hrsg. von Johann Bernoulli, Bd. 1, Berlin, Dessau 1782, 510-517; Bd. 2, Berlin, Leipzig 1787, 169-170, 385-413;
Nachdruck in Alwin Diemer (Hrsg.): System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation. Meisenheim: Hain 1968, 161-177;
Nachdruck in Frank Händle, Stefan Jensen (Hrsg.): Systemtheorie und Systemtechnik. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1974, 87-103.

Friedrich Wagner: Die Wissenschaft und die gefährdete Welt. München: C. H. Beck 1964; 2. Aufl. 1969; 3. Aufl. Warendorf: J. Hoof 2004;
gekürzte Fassung: Weg und Abweg der Naturwissenschaft. München: C. H. Beck 1970; Stuttgart: Klett-Cotta 1978.

Richard Wollheim: Sigmund Freud. London: Collins 1971;
dt.: Sigmund Freud.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1972.

 



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