HomeVom Mythos zum Logos I

 

Vom Neandertaler bis Platon

 

Siehe auch:   Ägyptische und mesopotamische Schöpfungsmythen und biblische Schöpfungsberichte

                        Indische und chinesische Schöpfungsmythen

                        Vom Mythos zum Logos II

 

ferner:             Materieauffassungen in Altertum und Renaissance

                        Ordnung, Vernunft und soziale Gerechtigkeit

 

 

dazu ein interessantes E-Book vom Historiker Dr. Alexander Schug zum Thema „Weltgeschichte“: http://www.readup.de/on/geschichte

 

 

Geschrieben März/ April 1973

 

 

 

Neandertaler und Homo sapiens:

Versuche, die Naturgeschehnisse zu erklären und zu beherrschen

 

Was den Menschen bereits seit der Steinzeit beschäftigen musste, war einerseits das Bemühen um individuelles und kollektives Überleben, anderseits die Erklärung der Naturgeschehnisse, von Fortpflanzung und Wachstum, Leben und Sterben, Rhythmus und Existenzkampf.

Wir wissen, dass schon der Neandertaler (140'000 bis 40'000 v. Chr.) seine Toten bestattet und ihnen Grabbeigaben (Privateigentum?) mitgegeben hat. Die Bestattung von Bärenschädeln dürfte mit kultischen Handlungen wie Opfern zusammengehangen haben, woraus manche Forscher auf einen Urmonotheismus schliessen. Damit müssen Vorstellungen von einem Jenseits und einem Weiterleben nach dem Tode, aber auch eines Göttlichen verbunden gewesen sein.

Auf Anzeichen dieses letzteren können wir freilich nur schliessen, und zwar indem wir die Lebensbedingungen dieser Zeiten und Stämme erforschen.

 

Unbestreitbar Ist, dass damals die durchschnittliche Lebensdauer sehr kurz und die Kindersterblichkeit sehr hoch war. Naturkatastrophen, Hungersnöte und Seuchen bildeten eine ständige Bedrohung, so dass einerseits die Gebärfähigkeit der Frau, anderseits das Vermögen des Mannes, sich gegen Tiere zu wehren und sie zu erlegen von vorrangiger Bedeutung waren. Daher betonen die ältesten Statuetten die Geschlechtsmerkmale der Frau und finden sich bei Gravierungen, Höhlenmalereien und Reliefs (50'000 bis 10'000 v. Chr.) so viele Tierdarstellungen.

 

Ersteres kann man als göttliche Verkörperung der Fruchtbarkeit betrachten, letzteres als Versuch, den "Geist" des Wildes zu fassen. Die natürlichen Umwelten, neben Pflanzen und ihren Produkten, die gesammelt wurden, vorwiegend die Tiere, bestimmten ja das Leben der Steinzeitmenschen. Bis zur "Erfindung" weittragender Waffen (Wurfspiess, Pfeil, Harpune) wurden die Tiere in Gehegen und Fallgruben gefangen oder mit Schleudern oder Wurfkeulen erlegt.

 

Das Feuer diente vorwiegend zum Braten von Fleisch, Erhitzen von Wasser und zur Erwärmung der Behausungen (Höhlen, Abris oder Hütten), da sich ein Waldbrand nur lohnte, wenn die Jäger über Wurfspeer und Pfeil verfügten (ab 20'000 v. Chr.). Doch auch dann war die Treibjagd noch ein gefährliches Unternehmen, weshalb es immer noch darauf ankam, die Geschicklichkeit und Kraft der Jäger zu stärken, die Sinne und Ahnungen zu schärfen und das Wild "günstig" zu stimmen.

Hiefür boten sich einerseits die Erzeugung von sinne- und kräftesteigernden Erregungszuständen der Jäger an, vorab in ekstatischen Tänzen, anderseits die Beschwörung der Tiere selbst, weniger durch realistische naturalistische Zeichnung als durch Darstellung ihres Wesens, eben ihres "Geistes". Die "Nachahmung" des Tieres - auch mit Masken in kultischen Tänzen - führt zur Einfühlung in seine Gewohnheiten und so zu seiner Beherrschung. Diese Einfühlung war wohl viel wichtiger als der Versuch, durch eingezeichnete Waffen und Wunden das Tier symbolisch zu töten oder durch die Wiedergabe sich paarender und trächtiger Tiere eine Art Vermehrungszauber zu bewirken, damit der Wildbestand nicht abnehme.

 

Ab 10 000 v. Chr.: Der Mensch wird sesshaft und entwickelt Mythen

 

Diese Toten-, Mutter- und Tierkulte, diese Verbindung von Lebenssicherung und Magie (Zauberer, Medizinmann), verbunden mit religiösen und künstlerischen Vorstellungen, haben auch in den sogenannten Hochkulturen (ab 3000 v. Chr.) Spuren hinterlassen. Da diese die Bilder-, Hieroglyphen- und Zeichenschrift "erfanden", in welchen die Kulte und Mythen festgehalten werden konnten, sind wir nicht mehr nur auf Funde von Werkzeugen, Wohnstätten, Gebeinen, Zeichnungen und Bildern angewiesen, deren Interpretation bis heute mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet ist.

 

Das Wort Mythen ist gefallen. Pierre Grimal, Professor an der Pariser Sorbonne, meint dazu: "Der Mythos erhebt gleich der Wissenschaft den Anspruch, die Welt zu erklären, ihre Phänomene verständlich zu machen. Gleich der Wissenschaft möchte er dem Menschen ein Mittel an die Hand geben, mit dem er, der Mensch, auf das Universum einwirken und es sich zu seinem geistigen und materiellen Besitz machen kann" (Pierre Grimal, 1967, 12f).

 

Dieses Bedürfnis kam auf, als der Mensch vor 10'000 Jahren zusehends sesshafter wurde. Zur Jagd auf Kleinwild, zum Vogelfang, Sammeln von Schnecken und Muscheln und zur Fischerei kamen nach und nach die Kultivierung von Pflanzen (Getreide) und die Domestikation von Tieren (Hund, Vieh) sowie Handel und Handwerk, Töpferei und Schmuck, Boote und Schlitten später Wagen.

Um 7000 v. Chr. finden sich bereits die ersten dörflichen Siedlungen mit Ziegelhäusern und Herdstellen.

Waren die sogenannten Pflanzerkulturen eher mutterrechtlich organisiert, so die nomadisierenden Hirtenkulturen eher vaterrechtlich. Die Organisation dieser Grossfamilien und die Absicherung der Herrschaftsverhältnisse (innerhalb der Familenverbände sowie der Hirten und später Reiter über die Pflanzer) erforderte ein Überdenken des Zusammenhangs Mensch-Götter-Kosmos.

 

Analogie und Legitimation waren wohl die Grundpfeiler der Mythen des Neolithikums (Jungsteinzeit). Die Wanderbauern, eine Verbindung von Pflanzern und Hirten, die nach Ausnutzung der Böden ihre dörflichen Siedlungen verlegen mussten, später aber wieder in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurückkehrten, stellten Götterhierarchien auf und die Herrscher konnten sich auf einen Himmelsgott berufen.

Analog dazu wurden die Siedlungen nach und nach mit Mauern abgesichert und damit zu befestigten Städten (Jericho, Çatal Hüjük, Hacilar, Lepensky Vir an der Donau), welche Sakralbauten aufwiesen. Dem entsprechen im Europa des 4. bis 2. Jahrtausends v. Chr. die Megalithen (Dolmen und Steinreihen, welch erstere bereits ein "Seelenloch" aufwiesen und letztere in Beziehung zur Sonne stehen).

 

Ab 3000 v. Chr.: Die Hochkulturen bilden Staaten

 

Der Beginn der Hochkulturen in den fruchtbaren Fluss-Niederungen schliesslich fällt mit der Bildung von Stadt-Staaten zusammen. Immer noch finden sich vielfältige Keramik, Tierfiguren, Mutteridole und Totenbestattung, daneben war seit 3500 v. Chr. Kupfer, seit 2500 v. Chr. Bronze und seit 1500 v. Chr. Eisen bekannt, ferner Gold, Silber, Edelsteine, Glas, das Rad und der Pflug.

 

Das heisst, die Beschäftigung mit dem Tier hielt an, was nicht nur die Menschendarstellungen, sondern auch diejenigen von Göttern mit Tierköpfen bezeugen. Männliche und weibliche Gottheiten, im Umkreis von Himmelserscheinungen und Naturkräften, Fruchtbarkeit und Tod sowie dem Weiterleben danach rivalisierten und verbanden sich miteinander, genaue Hierarchien (Familien, Gefolgschaften, Götterversammlungen) entsprechend der nun entstehenden arbeitsteiligen und nach Berufen und Ständen differenzierten Gesellschaft wurden ausgearbeitet.

 

Analog der Verwaltung der Staaten und der technischen Fertigkeiten wurde die Ordnung des Kosmos betrachtet. Das Weltbild war z. T. technomorph (z. B. Analogie zur Töpferscheibe), während die einzelnen Götter anthropomorph waren.

 

Dem Schutz des einzelnen durch den Staat entsprach der Schutz durch die Staatsreligion, die durch gemeinsame Sprache, Schrift und Kultur in ihren Grundzügen verhältnismässig einheitlich war. Das grossräumige Denken führte schliesslich auch zur Ausbildung von "Weltreichen" mit ausgeprägter Industrie und Landwirtschaft, mit Handel und Militär, Tradition, Kunst und Kult.

 

Der Hauptgott nun - der durchaus nur eine Lokal- oder Stadtgottheit sein konnte - existierte in den ersten fassbaren Mythen von Anfang an, ordnete die Welt und schuf die Wesen.

 

Die Lehre von Heliopolis: Dynamik der Entstehung

 

Die Lehre von Heliopolis in Unterägypten (2700 v. Chr.) hat etwa folgenden Gehalt: Am Anfang gab es nur ein unermessliches Chaos, das Nun, und man stellte es sich als Ozean oder formloses Magma vor, in dem sich aber die Möglichkeit des Lebens bereits barg.

Seit Urzeiten existierte in diesem Chaos ein bewusstes Prinzip, der Gott Atum, dessen Name "Der Ganze", "Der Vollständige" bedeutet, womit sein abstrakter und gewissermassen metaphysischer Charakter betont wird. Von diesem Gott leitet sich ein Göttergeschlecht her, dessen einzelne Generationen je einen Aspekt oder ein Element des Universums darstellen (Pierre Grimal 1967, 43f). Zuerst werden Luft und Feuchtigkeit, Himmel und Erde gezeugt usw.

 

Die Lehre von Hermopolis: vier Elemente

 

Die etwa gleichzeitig entstandene Lehre von Hermopolis ist abstrakter und schildert statt Episoden einer Entstehung des Universums die vier Elemente, welche die vier Aspekte oder Attribute des Chaos repräsentieren: Wasser und Unendlichkeit, Finsternis und Verborgenes (Nichts, Atem).

Diese vier Götter und ihre weiblichen Gegenbilder, auf der aus den Urgewässern auftauchenden "Insel der Flamme" erschienen, sind "die Väter und Mütter, die das Licht geschaffen haben". Sie erheben durch gemeinsames Handeln die Sonne zum Himmel, damit diese die weiteren Wesen des Kosmos schafft und belebt.

 

2000 Jahre vor den alten Griechen haben wir also, wenn den Interpretationen zu trauen Ist, die wichtigsten kosmogonischen "Elemente" bereits versammelt: Chaos oder Urmeer und bewusstes Prinzip sowie die zahlreichen Elemente in ihrem Mit- und Gegeneinander.

 

Die Lehre von Memphis: Schöpfung durch das Wort

 

In der Lehre von Memphis, erhalten in einer Aufzeichnung aus dem 8.Jahrhundert v. Chr., aber wohl nicht viel jünger als die beiden erwähnten, findet sich erstmals die Schöpfung der Welt durch das Wort. Der Gott von Memphis, Ptah, existiert im Nun, dem Urgewässer.

Einer der acht Aspekte seines göttlichen Wesens ist der Gott Ur; er vollendet sein Schöpfungswerk durch die beiden Fähigkeiten: Herz (als Sitz des Verstandes, der die Dinge begreift), und Zunge (als Organ des Befehls), die das schöpferische Wort ausspricht. Dieser Gott Ur-Atum gebiert durch den Gedanken seines Herzens und die Worte seines Mundes alle andern Götter und Lebewesen. Nachdem er auch die Kräfte, die Leben und Nahrung sichern, geschaffen hat, krönt er sein Werk durch die Prinzipien der Gerechtigkeit und des Rechts.

 

Die sind nur drei besonders profilierte Kosmogonien, die wohl nur in der Frühzeit in solcher Reinheit bestanden haben und später infolge Ähnlichkeiten und politischer Zwänge im Prozess des "religiösen Synkretismus" verschmolzen und sich in einen fast unlösbaren Knäuel von oft divergierenden Vorstellungen verwirrten.

 

Kurzlebiger Monotheismus

 

Erst Amenophis IV. begründete mit seinem Sonnenmonotheismus im 14. Jahrhundert v. .Chr. eine eigentliche Revolution. Er brach mit den traditionellen Kulten und versuchte den Aton, den mit der Sonnenscheibe identischen Gott, zum Qell allen Lebens und Lichtes, zur Verkörperung aller Tugenden und Fähigkeiten zu erklären. Unmittelbar und ohne Vermittlung mythologischer Wesen steht Aton mit seinen Geschöpfen in Verbindung, sorgt für deren Wohlergehen und vereinigt sowohl Ägypten und fremde Völker in seiner Liebe.

Da jedoch die Masse der Bevölkerung und vor allem die konservativen Kreise weiter an der Tradition festhielten, war dieser Lehre kein Durchbruch beschieden. Der Monotheismus konnte sich erst ein Jahrtausend später, im Volk der Israeliten, durchsetzen.

 

Mesopotamien: Der Mensch soll den Göttern zu Diensten sein

 

Mit Ausnahme dieses Monotheismus finden sich ganz ähnliche Mythen bei den Sumerern, Babyloniern und Hethitern. Auch hier besteht entweder die Auffassung, dass das Chaos, der Urab-Grund "abzu" sowie Himmel und Erde präexistent sind oder dass Götter diese Elemente errichteten oder schufen.

Zwei besondere Mythen jedoch sind die der kosmische Baum und das Urungeheuer. Ersterer verbindet die Erde mit dem Himmel als Pfahl, Baum, Mast, Tempel oder Band, nachdem beide aus dem Urmeer geboren worden sind und zwischen die sich, wie in Ägypten (und ähnlich in China), die Luft, der Atem oder der Wind gedrängt hat.

 

Im babylonischen Schöpfungsmythos gehen aus der Mischung von süssem und bitterem Wasser Götterpaare hervor, unter anderem Himmel und Erde sowie das Ungeheuer und der Demiurg. Ersteres repräsentiert die Kräfte des Chaos, das vom Repräsentanten der Ordnung in hartem Kampf besiegt, getötet und geteilt wurde und aus dessen oberer Hälfte der Himmel über dem Abgrund gespannt wurde.

Von grosser Bedeutung ist im Folgenden wie in vielen andern Mythen die Schöpfung durch das Wort und die Namengebung. Das Aussprechen und Bestimmen des Namens kommt einem Schöpfungsakte gleich.

 

Hatten sich die Ägypter mehr mit den Fragen nach dem Tod und dem Fortleben danach (vgl. den Legendenkreis um Orisis-Isis-Horus-Seth) beschäftigt, so wandten sich die Bewohner Mesopotamiens eher der Schöpfung des Menschen - also nicht nur der Götter und Könige - zu.

Der Mensch wurde von den Göttern geschaffen, um ihnen zu dienen und ihnen die mühseligen Arbeiten abzunehmen, die diese vorher selber ausüben mussten, damit sie, die Götter, nun das ihnen zukommende ewige Leben auch wirklich voll geniessen können. Als Substanz der Menschenschöpfung diente das Blut eines geopferten Gottes, wobei auch der Lehm eine gewisse Rolle spielt.

 

Weiterverbreitung bei Hethitern, Semiten und Israeliten

 

Die Hurriter vermittelten diese Vorstellungen den Hetithern, wobei ebenfalls mannigfache synkretistische Tendenzen am Werk waren. Von Bedeutung ist hier vor allem die "Gigantomachie", der vergebliche Kampf der alten Götter (Titanen) gegen die jungen Götter, welch letztere die alten entthronen und aus dem Himmel verjagen. Tausend Jahre oder mehr vor Hesiods "Théogonie" finden wir bereits diese uns durch die Griechen so bekannt gewordenen Vorstellungen.

 

Dass zahlreiche dieser Bilder und Legenden in die semitische Mythologie eingegangen sind ist verständlich. Manches findet sich sogar noch in den Schriften des Alten Testaments, man denke an die Schilderung der Erschaffung des Menschen, des Paradieses, des Turmbaus von Babel, an die Sintflut, die Könige und Weisen und die Kulte, Hymnen und Lobgesänge Zions auf Jahwe, der sich nun freilich gegen die andern Götter durchsetzen und behaupten muss. Zahlreiche Attribute Jahwes wurden von den semitischen Göttern El ("Der eigentliche Gott") und Baal übernommen (darum u. a. sein Name Elohim).

 

Die alten Griechen: Vom Mythos zum Logos

 

Die Griechen nun zeichnen sich dadurch aus, dass einerseits der "logos" den "mythos" auspolarisierte, anderseits nicht an die Mythen und Lebenden geglaubt werden musste. Für Ideen musste nicht gekämpft werden. Keine Göttersage wurde zum Dogma und Zweiflern aufgezwungen. Jedermann konnte und durfte die Sagen abwandeln für seine Zwecke - z. B. eine Komödie -, ja neue erfinden. Dies, weil der Mythos sich der Eingrenzung durch die Vernunft entzieht.

Platon hat sogar im "Gastmahl" einen neuen Mythos erdichtet, denjenigen von der Halbierung des ursprünglichen Menschen.

 

Diese gegenseitigen Verschränkungen von Mythos und Logos liegt daran, dass trotz der Versuche einer rationalen Erklärung der Zustände und Vorgänge der Welt mit Hilfe von einheitlichen Prinzipien immer wieder Phänomene auftauchen und Fragen sich stellen, die sich einer vernunftmässigen Betrachtung entziehen.

 

Die "ionische" Naturphilosophie

 

Das Auftauchen des logos verlegt man im allgemeinen ins 6. Jahrhundert v .Chr. Man spricht von der ionischen Naturphilosophie, obwohl neben den kleinasiatischen Küstenstädten auch diejenigen Unteritaliens eine bedeutsame Rolle spielten, Der erste "Weise", Thales von Milet, lehnte sich noch an den sumerischen und ägyptischen Schöpfungsmythos an wonach die Erde aus dem Wasser entstanden sei. Das Neue bei ihm und seinen Nachfolgern ist, dass er für diesen Prozess keinen Schöpfergott mehr annimmt und auch nicht mehr die Musen als Schutzherrinnen aller geistigen Tätigkeiten anruft. Die gesamte Materie erschien ihm als belebt (Hylolzoismus).

 

Seine Nachfolger Anaximander (unter dem Einfluss der Hesiodschen Theogonie), Anaximenes und Heraklit modifizierten diese Theorie und bauten sie weiter aus, wobei das Hauptgewicht auf der Erklärung der Vielheit der Dinge und Erscheinungen sowie ihrer Entstehung und Umwandlung lag. Es waren damit pluralistische und dynamische, ja vitalistische Systeme.

 

Parmenides: Das eine Sein

 

Diese dynamische und qualitative Betrachtungsweise wurde erstmals von Parmenides (470 v. Chr.) umgestossen, der das eine Sein postulierte und jede Verwandlung leugnete. Alle Veränderung gehört dem Bereich des blossen Scheins an. Das Seiende ist nicht-gegenwärtig, also der gewöhnlichen sinnlichen Erfahrbarkeit entrückt und nur mit dem Denken erfassbar. Da nur Gleiches Gleiches erkennt, sind erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt, Denken und Sein identisch.

Nur vom Sein, das alles unterschiedslos, ewig und körperhaft ausfüllt, lassen sich allgemeingültige Aussagen machen. Nur bezüglich des unveränderlichen Seins ist gewisse und wahre Erkenntnis möglich; die Erfahrung der Vielheit, Veränderlichkeit und Bewegung der Einzeldinge ist nur Täuschung und erzeugt blosses Meinen.

 

Leukipp und Demokrit: Atome mit verschiedenen geometrischen Formen

 

Damit aber doch sichere Erkenntnis von den Dingen möglich sei, stellten sich Leukipp und Demokrit die Welt als aus unendlich vielen Atomen aufgebaut vor, welche die Eigenschaften des Parmenideischen Seins bewahrten, galten sie doch als einheitlich, unentstanden, unveränderlich und nur denkbar. Ihre verschiedene geometrische Form erlaubte ihre Verbindung und Bewegung im leeren Raum.

 

Begründung von Dialog und Wissenschaft

 

Unverlierbares Gut der Griechen ist die Erörterung von Problemen im Dialog, in Rede und Gegenrede, unterstützt durch Argumente sowie Beweisverfahren einerseits auf dem Fundament der Logik, anderseits der Mathematik und Geometrie.

 

Die Griechen haben der Wissenschaft Programm, Methode und Ausdrucksweise geliefert. Alle Hauptprobleme, von denen die moderne Wissenschaft seit der Renaissance ihren Ausgang nahm, haben die Griechen bereits formuliert, wenn auch nicht gelöst: die Gesetze des Universums, die Natur des Himmels, des Irdischen und des Menschen sowie seiner Pflichten.

 

Wie wir bereits gesehen haben, beschäftigte diese Grundthematik freilich bereits die Sumerer. Es ist die uralte Frage nach Ursprung und Fortbestand, d. h. nach dem, woraus die Welt besteht, wie sie in ihrer Ordnung geregelt und wie sie entstanden ist. Zentrale Phänomene sind hierbei: das Feste und Sich-Bewegende, Unveränderliches und Veränderliches. Das Neue ist hierbei, dass die Griechen meinten, mit ihrer Betrachtungsweise diese einfach und konkret erklärt zu haben.

 

Pythagoras und seine Zahlenlehre

 

Beachtenswert ist ferner, wie ebenfalls bereits erwähnt wurde, die Verschränkung von Logos und Mythos oder von Mathematik und Mystik. Letzteres finden wir vor allem im Kreis der Pythagoreer. Etwa ein halbes Jahrhundert vor Parmenides hatte Pythagoras, wohl unter orientalischem und milesischem Einfluss, die Zahlen und ihre Verhältnisse als Schlüssel zum Verständnis des Universums postuliert und mit der Geometrie (regelmässige Körper) und Physik (Akustik) verbunden.

Doch der Triumph dauerte nicht lange, wurden doch in seiner Schule bald die irrationalen Zahlen entdeckt, also der Sachverhalt, dass es inkommensurable Strecken gibt. Das war der Grund zur anschliessenden Entwicklung der metrischen Geometrie.

Immerhin findet sich bei den Pythagoreern bereits die Auffassung, dass die Erde eine Kugel sei und sich mit Gegenerde, Sonne, Mond und Planeten um ein göttliches Zentralfeuer drehe.

 

Die Auffassung, der ganzen Welt lägen reine Zahlen zugrunde, führte rasch zu einer Zahlenmystik, insbesondere wurde die ewige Seele mit der Zahl 10 = 1 + 2 + 3 + 4 verknüpft. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zur Gründung einer Geheimgesellschaft in Verbindung mit orphischen Kulten. Die Lehre von der Reinigung der Seele in der Seelenwanderung wurde später in der Alchemie zur Reinigung von Metallen im Feuer.

 

Ohne Pythagoras sind weder Parmenides und Platon noch die Atomisten verstehbar.

 

Streit von Materialismus (Demokrit), Idealismus (Platon) und Realismus (Aristoteles)

 

Das seit Mitte des 5. Jahrhunderts bekannte Beweisverfahren der Deduktion aus Postulaten als Hilfsmittel zur Verallgemeinerung von Erfahrungen hat für die Mathematik weitreichende Bedeutung, wurde jedoch von Philosophen unzulässig missbraucht. Dasselbe geschah mit der Voraussetzung für die Beschäftigung mit physikalischen Grössen, nämlich die Rückführung dieser auf Mass (Einheit) und Zahl (Menge von Einheiten).

Seither streiten sich also, auf eine kurze Formel gebracht, Materialismus (Demokrit), Idealismus (Platon) und Realismus (Aristoteles). Diese Auseinandersetzung ist auch heute noch nicht zur Ruhe gekommen.

Der Vitalismus hatte dabei rasch ausgespielt, war doch die Atomistik Demokrits planlos, die Ideenlehre Platons streng deterministisch und hatte schon Empedokles, der ebenfalls an Parmenides anknüpft, einem Mechanismus gehuldigt, bei dem die Mischung und Trennung der Partikel der vier Elemente, bewirkt von zwei Kräften, dem Zufall unterworfen ist und keine Teleologie verfolgt. Als Illustration benützte er übrigens Beispiele aus der Technik.

 

Anaxagoras schliesslich gelangte, noch schärfer als Xenophanes, zu einer ersten Trennung von Materie und Geist. Erstere sei im Parmenideischen Sinne überall vorhanden und unbeweglich; erst der von ihr unabhängige planende Geist verursache die Scheidung der Teilchen, also Bewegung und damit Entstehen und Vergehen der Dinge.

 

Die Philosophie wendet sich dem Menschen zu

 

Mit dem Sophisten Protagoras wandte sich die Philosophie erstmals dem Menschen zu: "Der Mensch ist das Mass aller Dinge." Das könnte auch heissen, die Konventionen herrschten über das Wissen, was eine zwar pessimistische, aber wohl realistische Betrachtung der Lage darstellt.

 

Diese Auffassung bekämpfte Sokrates, der als Hauptziel des Menschen die Ausbildung der individuellen Tüchtigkeit und Tugend sah, die eine Folge des Wissens sein sollte, also nicht eine Meinung, sondern das Vertrauen auf die Intuition.

 

Platons abstrakte und ewige Begriffe hemmen die Weiterentwicklung der Wissenschaft

 

Platon übernahm - wie manche meinen zur Rechtfertigung seiner Vorstellungen vom idealen Staat - von Pythagoras und Parmenides den Begriff der absoluten, unveränderlichen, logischen und mathematischen Wahrheit. Das bildet die Grundlage für die Auffassung, dass den Wörtern (Universalien) eine von den einzelnen Dingen und Handlungen unabhängige und vor allem grössere Realität zukomme.

Diese abstrakten und ewigen Begriffe bestehen unabhängig von der sinnlichen Wahrnehmung und bilden das Reich der Ideen, das nur mit dem Auge der Seele geschaut werden kann.

Die höchsten Werke waren das Eine und Wahre (Parmenides), Gute (Sokrates) und Schöne (Platon). Auch die Zahlen und geometrischen Figuren haben von den Sinneseindrücken unabhängige Wahrheit.

In seiner Astrologie verfocht Platon den Gedanken, "die Planeten offenbarten ihren göttlichen Charakter durch die unwandelbare Regelmässigkeit ihrer vollkommenen und kreisförmigen Bewegungen, welche die unhörbare Sphärenharmonie hervorbrächten" (J. D. Bernal: Wissenschaft, 1970, 186). Damit wurde jede Veränderung aus dem Weltall verbannt.

 

Zusammen mit Aristoteles bewirkte er solcherart die Hemmung einer weiteren Entfaltung der Wissenschaft. Anders aber als Aristoteles, der der Beobachtung grosse Bedeutung zumass, befand er, in seiner Akademie solle nur das reine Wissen gelehrt werden, hauptsächlich Mathematik, Astronomie und Musik, da die Beobachtung der Natur ja nur Täuschungen und Unregelmässigkeiten aufdecke.

 

Die Mathematik wurde von Platon deswegen geschätzt, weil sie - als Aussagen über unveränderliche Sätze und abstrakte Sachverhalte - Mittlerin zwischen den reinen Ideen und ihren unvollkommenen Abbildern (Nachahmungen auf Grund mehr oder weniger Teilhabe) der sinnlich wahrnehmbaren Welt ist. Die Mathematik liegt für ihn nicht wie bei seinen Vorgängern in der Natur, ist also nicht in den Dingen enthalten und kann deshalb nicht an den Dingen erkannt und aus ihnen abstrahiert werden, sondern ist Hilfsmittel zur Erkenntnis der Ideen.

 




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