Ordnung, Vernunft und soziale Gerechtigkeit
Siehe auch: Bilder: A) Zur Mythologie (= Weltschöpfung und Gottesbilder) Menschen-, Staats- und Gesellschaftsbilder Der Kampf gegen Unwissenheit und Vorurteile
Ist unsere Erde ein "Tummelplatz von Leidenschaften" wie Schopenhauer meinte, ein Schlachtfeld von Neid, Laster und Gier? Da sprachen doch früher Dichter, Philosophen und Priester von einer vernünftigen oder göttlichen Weltordnung - von Platon bis Leibniz die schönste und vollkommenste, die beste aller möglichen. Bezog sich das auch auf die Gesellschaftsordnung?
Menschliche Unvollkommenheit
Schon der böotische Bauerndichter Hesiod unterschied in seiner "Theogonie" die göttliche von der menschlichen Wahrheit, ebenso wie Pythagoras und der wandernde Rhapsode Xenophanes die menschliche Unvollkommenheit sahen, die einzig den Schluss vom Sichtbaren auf das Unsichtbare, bei Demokrit auf die "in der Tiefe" verborgene Wahrheit zulässt. Dass die Menge taub sei für die Wahrheit, beklagte Heraklit und forderte dennoch oder gerade deswegen noch ausgeprägter als Pythagoras die Unterordnung des Menschen unter das Allgemeine (Gesetz, Schicksal). Auf die "trügerischen Meinungen der Sterblichen", die bestenfalls Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen können, wies auch Parmenides in seiner "Lehre des Scheins" hin, betonte aber, sie gehörten wesentlich zum Menschen. Das Denken, die Schau mit dem Geist allein gebe uns das eine, wahre Sein als das Ganze.
Am eindringlichsten die Relativität allen menschlichen Wahrnehmens und Vorstellens behaupteten (nach Xenophanes und Demokrit) die Sophisten - die es auch in China und Indien gab - als profilierteste Vertreter der Subjektivität der Sinneserkenntnis und des Wollens, gleichzeitig aber auch der Eigenständigkeit des Individuums. Hippias, Zeitgenosse Sokrates', stellte den Satz auf, das (menschliche) Gesetz sei der Tyrann des Menschen und setze mit Gewalt vieles Naturwidrige durch. Die jüngeren Sophisten um Hippias anerkannten bereits eine "natürliche" Gleichheit aller Menschen, auch der Barbaren und Sklaven. Gesetze und Rechte seien nur im Interesse derer, denen sie dienten, aufgestellt, und zwar entweder der Gewalthaber oder der "Masse der Schwachen", wir würden heute wohl sagen, der Mediokren. Die Abschaffung der Adelsvorrechte und der Sklaverei wurde verlangt, ebenso Gleichheit des Besitzes, der Erziehung sowie Kollektivwirtschaft für die freien Bürger. Das im 5. Jahrhundert vor Christus!
Schon vor Platon und Aristoteles wurde also ein Auseinanderklaffen von Wahrheit und Schein, korreliert mit Denken und Wahrnehmen respektive Erkenntniskraft und Wähnen, sowie ein Unterschied zwischen vernünftiger, göttlicher oder natürlicher Ordnung und den vergänglichen und veränderlichen Menschensatzungen festgestellt (vgl. auch Mat. 15 und Mark. 7).
Pflegten die Zyniker geradezu eine Verherrlichung des Naturzustands, so predigte umgekehrt Sokrates Selbstzucht, Besinnung und Selbsterkenntnis. Forderte und übte er den unbedingten Gehorsam gegenüber den Staatsgesetzen der Polis, so traten jene für die Aufhebung aller menschentrennenden Schranken der Stände, Geschlechter, Staaten und Nationalitäten ein, genauso wie in China Mo Ti für Menschenliebe und Abrüstung.
Platon lehnt sich gegen die herrschende Ordnung auf
Bei Platon wurde die Sache dann ideal. Höchste Idee ist diejenige des Guten und Einen. Sein Idealstaat als dreiständige Utopie verfolgt das höchste Glück aller durch die höchste Tugend: Gerechtigkeit (schon bei Anaxagoras und Konfuzius sowie den alten Ägyptern). Dieser Staat ist trotz seiner wirtschaftlichen, organisatorischen und militärischen Ausrichtung eine Erziehungsinstitution - wiederum auch bei Konfuzius - der menschlichen Gesellschaft zum höchsten sittlichen Ideal.
Platon kritisierte die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung scharf, die Aufspaltung in Arme und Reiche, den Mammonismus, das "Drohnen"- und Spekulantentum, den schwelgerischen Müssiggang der "goldenen Jugend", ja sogar den perikleischen Machtstaat. Den gegenwärtigen Zustand bezeichnete er bereits als "Krieg aller gegen alle". Reformen auf dem Boden des Bestehenden würden dürftige Notbehelfe bleiben und die Missstände nur verlängern. Eine radikale Umwälzung der Gemüter, eine gründliche Reinigungskur durch "Schneiden und Brennen" tue not.
So entwarf Platon in den "Gesetzen" den zweitbesten Staat, der mehr Aussicht auf Verwirklichung zu bieten schien als die "Politeia", mit mehr Demokratisierung, geringerer Trennung der Stände, Volksbildung aller Klassen, auch der weiblichen Jugend, sowie eine Bindung der Regierenden - ein Verein der Einsichtigsten und Bewährtesten - an strenge, jedoch fortzubildende Gesetze. Ein gemeinsames Besitzen und Bebauen des öffentlichen Grund und Bodens wäre, zusammen mit der Gemeinschaft der Frauen, Kinder und aller Habe vorderhand leider nicht zu erreichen, ein Ideal "vielleicht für Götter und Göttersöhne", von dem nicht auszumachen sei, "ob es irgendwo existiert oder dereinst kommen" werde.
Wenn auch Platon über die "goldene" Jugend wetterte, ist er doch der erste bedeutende Denker, der sich gegen die herrschende Ordnung auflehnte - und dabei stammte er aus dem Hochadel.
Aristoteles fordert das "naturgemässe" Leben
Gegen die Abschaffung des Privateigentums und der Sklaverei war Aristoteles, beides wäre "wider die Natur". Massstab seines Staates war nicht der ideale, sondern der Durchschnittsmensch, Schwerpunkt der wohlhabende Mittelstand, der zur Ausübung der Tugend (Tüchtigkeit) der Musse bedarf. Das zeigt deutlich, dass sich Aristoteles von der Ideenwelt wieder zum Realen, Sichtbaren gewandt hat. Der Staat, welcher sich - wie in China - auf Familie und Privateigentum aufbaut, muss nicht nur das physische Dasein sichern, sondern auch das sittliche Leben seiner Bürger, das Gut-Leben. Die aristotelische Zweiteilung des Menschengeschlechts in Hellenen und Barbaren wurde später vom alexandrinischen Geographen Erathostenes getadelt.
Das "naturgemässe" Leben - der Aristoteliker Dikaiarch von Messene sah die Entwicklung von Privateigentum als Abfall vom Naturgesetz an - taucht bei den Stoikern wieder auf, es heisst: der sich selbst bestimmenden Vernunft gemäss zu leben, und der Entschluss dazu erfolgt aus freier Wahl, entspricht einem ursprünglich in uns gelegten Naturtrieb, der nicht irren kann.
Da wird ein bisschen viel vermengt. Übung der Tugend, Freiheit von Leidenschaften (Apathie) sei oberstes Ziel. Ob letztere denn nicht gerade natürlich sind? Äussere Güter wie Ehre, Besitz, Gesundheit und selbst das Leben seien Adiaphora, also gleichgültig. Ähnliches findet sich im Buddhismus.
Hier steckt eben wie schon beiden Vorsokratikern die Auffassung dahinter, dass in der Natur vernünftige Kräfte, ausgestrahlt von der Urkraft Gottheit (Feuer oder Pneuma - heute würden wir wohl Energie sagen), wirksam seien. Die kosmische Ordnung besteht von Ewigkeit her (vgl. Parmenides, Aristoteles und der Inder Mahavira), und alles folgt gemäss dieser Urkraft mit Notwendigkeit, durch stoffliche Ursachen, auseinander.
Eine ewige Wiederkunft des Gleichen - in etwa parallel zur indischen Philosophie und später bei Nietzsche wieder auftauchend - findet in dieser besten aller Welten statt. Alle Menschen als Vernunftwesen sind einander von Natur verwandt. Da diese Vernunft nur eine ist, kann es nur ein Gesetz, ein Recht, einen Staat geben. Also sind alle Menschen Brüder. Sklaverei wird verworfen; der Bürger ist Kosmopolit in einem Weltstaat, in dem es keine Gerichtshöfe, Tempel, Gymnasien und Tauschmittel (Geld) mehr gibt (Zenon aus Kition).
Die naturrechtliche Theorie der Stoa fand dann in der positiven Rechtswissenschaft der Römer, allerdings mit Anerkennung der äusseren Güter, Aufnahme. Der bedeutendste Vermittler hiefür war Poseidonius; er wies in seiner Ursachenforschung (Aitiologie) die "Sympathie" als zusammenhaltende Kraft im Kosmos nach. Die bekanntesten römischen Stoiker waren Seneca, Epiktet .und Mark Aurel.
Frühe Theorien über Weltentstehung und Weltordnung
Halten wir hier kurz ein. Bei den Stoikern taucht das Urfeuer als regulierendes Prinzip auf. Was gab es denn sonst für Auffassungen über die weltordnenden Entitäten? Beginnen wir nochmals vorne und berücksichtigen auch die eng damit zusammenhängenden Theorien über die Welt-Entstehung.
Die Rechtfertigung dieses Unterfangens entnehmen wir der Feststellung des bekannten Verfassers einer "Grundlegung der Rechtswissenschaft", Walter Schönfeld, der schreibt, in aller frühen Philosophie handle es sich "um den Gedanken der Ordnung, der wahren und gerechten Ordnung, um Wahrheit und Gerechtigkeit mit einem Wort".
Seit Hesiod, den Orphikern und Anaximander besteht die mythische Weltentstehungslehre darin, dass - ähnlich wie im 3. Jahrtausend v. Chr. in den Epen Mesopotamiens - aus dem Chaos resp. Unbestimmten Gegensatzpaare wie Licht und Dunkel, Leicht und Schwer, Warm und Kalt, Feucht und Trocken hervorgingen; und diese Gegensätze bilden in ihrem Gegenlauf und ineinander Umschlagen (Enantiodromie) den unendlichen kosmischen Rhythmus.
Den Ursprung kann man aber auch - mit Vorbehalten - als einen einzigen "Stoff" sehen: Wasser (Thales), Luft (Anaximenes), Feuer (Heraklit) oder Erde (Xenophanes). Bei Empedokles werden alle vier durch die beiden Prinzipien der Mischung und Entmischung, Liebe und Streit (letzterer das Prinzip bei Heraklit) in Bewegung gehalten, die von jeher waren und ewig sein werden.
Demgegenüber unentstanden und unvergänglich war Parmenides das "Sein", das bei Anaxagoras aus unendlich vielen Dingen zusammengesetzt ist und vom ewigen "Nus" reguliert wird. Sind diese Dinge ins Unendliche verfliessende Momente - vielleicht den "Dharmas" bei Buddha vergleichbar -, so sind es bei Demokrit ungewordene, unvergängliche körperliche Atome von verschiedener Grösse, Gestalt, Anordnung und Lage, die nicht durch Zufall oder übernatürliche Mächte, sondern durch immanente Notwendigkeit gelenkt werden. Vergleichbares findet sich im indischen Vaischeschika-System.
Bei Platon hat der göttliche Weltbildner (Demiurg) die Welt als Abbild der Ideenwelt als die schönste, vollkommenste und einzig mögliche geschaffen, indem er zuerst als Vermittler zwischen der einen Idee und dem körperlichen Teilbaren des Raumes die Weltseele schuf, welche ihrerseits auf Grund harmonischer Verhältniszahlen den Kosmos und nach mathematischen Gesetzen die Elemente entstehen liess.
Beim mehr real denkenden Aristoteles sind Raum und Zeit ohne Anfang und Ende, und es muss ein selbst unbeweglicher Beweger, der göttliche Geist (Nus), ein unveränderliches Vernunftwesen, den Anstoss des Entwicklungsprozesses vom Möglichen zum Wirklichen bilden.
Zwei entgegengesetzte Auffassungen
Zwei verschiedene letzte Ordnungs- und Beweggründe haben wir also festzuhalten: einerseits das mechanistische Prinzip (bei Pythagoras "Harmonie und Zahl"; ferner bei Empedokles und noch ausgeprägter bei Demokrit und Platon), anderseits das "Eine", sei es nun in Form und Art des "einen Gottes" (Xenophanes), des "Feuers" und "durchwaltenden Logos" (Heraklit), des "Nus" (Anaxagoras; Aristoteles' "Unbewegter erster Beweger", Sokrates' "Daimonion") oder des "Seins" (Parmenides, Platon).
Genauso wie der Streit fortdauert, ob es eine Welt oder unzählige Welten gebe, ob die Welt unentstanden und damit ewig, oder in einem Akt geschaffen worden und seither evolvierend oder alternd, oder ob sie gar in ständiger Neuschöpfung begriffen sei, ebenso sind auch diese zwei verschiedenen Betrachtungsweisen bis heute nicht überwunden.
Sie finden sich auch in den ostasiatischen Philosophien oder besser Religionen. In der indischen Rigveda beispielsweise wird aus dem Dunkel durch der "Glutpein Kraft" - ähnlich also wie Heraklit - das Eine geboren, aus dem als der Erkenntnis "Samenkorn" die Liebe - vergleichbar Hesiods und Aristoteles' "eros" - hervorging. In den Upanischaden wurde dann das Brahman als schöpferisches Weltprinzip aufgestellt, aus dem alles hervorgegangen ist und in dem alles ruht. Brahman im Einzelwesen als Selbst erkannt, heisst Atman (Seele). Bei Buddha regelt das "Weltgesetz" - kein Gott! - Entstehen und Vergehen der Dharmas nach strenger Notwendigkeit. (Erst Jahrhunderte später wurde Buddha selbst zum "Gott" erhoben.) In der Yoga-Metaphysik tauchte erstmals ein Gott auf, der mehr ist als nur Nationalgott (Indra, Shiva, Vishnu).
In China wurde der "erhabene Himmel" auch von Konfuzius verehrt. Bedeutsamer aber ist das Tao, der Urgrund der Welt und das Gesetz aller Gesetze. Im nachkonfuzianischen Buch "Tschung Yung" tauchte dann die "Harmonie" als universales Gesetz auf. Die Lehre vom "Yang und Yin" des konfuzianischen "Buchs der Wandlung" wurde erst viel später zentral.
Im alten Ägypten hiess die Weltordnung "Maat", personifiziert als Tochter des Sonnengottes (Re). Der alldurchwaltende Atum oder Ptah wurde 1400 v. Chr. vom einen Schöpfergott Aton abgelöst. Der persische Schöpfergott und Regent schliesslich ist Ahura-Mazda, der ständig gegen Ahriman kämpfen muss.
Die Idee der sozialen Gerechtigkeit
Kehren wir nach diesem Exkurs wieder zum "irdischen" Weltlauf zurück.
Selbstverständlich taucht die Idee der sozialen Gerechtigkeit, die nicht unbedingt Gleichheit beinhalten muss, nicht erst bei den Sophisten auf. Dass sie mit religiösen Vorstellungen verbunden war, ändert nichts an ihrem grundsätzlichen Gehalt.
Am Nil und im Zweistromland
Die ersten Hochkulturen am Nil und im Zweistromland wiesen eine sehr differenzierte, arbeitsteilige Gesellschaft mit ständischer Gliederung und zentralisierter Verwaltung und Planung auf. An der Spitze stand der Priesterkönig oder "Sohn Gottes", der meist gegen Feudalherren zu kämpfen hatte. Rechtssicherheit durch Gerichte wurde bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. gewährleistet. Um 1800/ 1700 v. Chr. finden wir die ersten schriftlichen Zeugnisse der "Lehre des Amenemhet" und des "Codex Hammurabi", erstere unter dem Gesichtspunkt der seit 2800 v. Chr. wirksamen "sittlichen Ordnung" und Gerechtigkeit (Maat), letzterer mit recht drakonischen Massnahmen, die von späteren assyrischen Herrschern noch verschärft wurden. Um 1200 v. Chr. bildete sich in Palästina der "Zwölfstämmeverband"; der Pentateuch wurde um 450 v. Chr. massgebliches Gesetz.
Griechenland
Im griechischen Raum entwickelte sich die Staatsform von den Stadtstaaten langsam zur Demokratie, nachdem um 700/ 600 v. Chr. die ersten Gesetze (Lykurg, Drakon, Solon) aufgezeichnet wurden. Der Reform des Kleisthenes (509 v. Chr.) war allerdings nur eine kurze Blüte beschieden: Unter Perikles war Athen "dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit aber die Monarchie eines einzelnen Mannes" (Thukydides); dann folgten Oligarchien. Dass Alexander der Grosse ein Demokrat gewesen sei, wird man wohl kaum annehmen können - das tut man ja auch nicht von Tiglatpileser, Assurbanipal, Xerxes, Hamilkar, Scipio und Caesar. Nachher stritten sich die Diadochen.
Rom
In Italien verlief die Entwicklung ähnlich: Der Königszeit folgte die Republik (5/4. Jh. v. Chr.). Unter dem Einfluss der solonischen Gesetze in Griechenland (594 v. Chr.) wurde um 450 v. Chr. das "Zwölftafelgesetz" aufgezeichnet. Der weitreichende Einfluss des römischen Jus civile, Jus gentium und Jus privatum bis in unsere Tage ist bekannt. Seltsamerweise bringt man sie wenig mit der Demokratie nach griechischem Muster in Zusammenhang; erst heute spricht man von einer republikanischen Demokratie oder einer "Demokratischen Republik".
Indien und China
In Indien beginnen die Aufzeichnungen von heiligen Texten um 1000 v. Chr. (Rigveda). Die Kriegerkaste, welche die Stammesstaaten leitete, wurde von der Priesterkaste (Brahmanen) abgelöst. Das erste indische Grossreich wurde erst um 250 v. Chr. durch den "Friedensherrscher" Ashoka errichtet, zerfiel aber nach seinem Tod rasch.
In China unternahm die erste Aufzeichnung von Texten, die bis ins 3. Jahrtausend zurückreichen, der Justizminister Konfuzius (500 v. Chr.; u. a. das "Buch der Urkunden", erläuterte Gesetzeserlasse aus 2000 Jahren). Die einander ablösenden Städtedynastien Shang und Chou wurden erst 221 v. Chr. von Cheng in einem zentralisierten Beamtenstaat vereinigt (Bücherverbrennung und Bau der Grossen Mauer; dann "Seidenstrasse" und Erfindung des Papiers, Mahayana-Buddhismus).
Vernunft und Erkenntnis entspringen bei den alten Ägyptern wie Indern und Chinesen dem Herzen. Im Brahmanismus führte nur das richtige Ritual zum Wissen; Versenkung in das Selbst erweist, dass Atman in uns nichts anderes als Brahman ist. Die Vielheit der sichtbaren Erscheinungen ist nur Illusion; im Geist aber ist alles eins. Dabei eröffnet sich die Wahrheit nicht der Vernunft, sondern dem Nicht-Tun, der asketischen Sammlung, Selbstentäusserung und -einsicht (Meditation) als Erleuchtung und Erlösung. Diese Lehre vom Atman wurde im Materialismus der Charvakas - deren Lust-Lehre Ähnlichkeit mit derjenigen der Kyrenaiker aufweist - aber als Täuschung abgelehnt.
Viel weniger weltflüchtig, also dem praktischen Leben zugewandt, waren die Chinesen. Die Sittenlehren des Konfuzius und Laotse sind dennoch den indischen vergleichbar; statt Askese wird Einfachheit verlangt und Unterordnung unter das Weltgesetz des Tao, mit dem man auch in Selbstentäusserung eins werden kann.
Ausgeprägte Erkenntnislehren finden wir allerdings weder in Indien noch in China, abgesehen von der indischen Nyaya-Logik und der Dialektik Nagarjunas (125 n. Chr.) sowie dem chinesischen Neu-Mohismus und Wan Tschung (1. Jh. n. Chr.). Eine Vernunftlehre schliesslich lieferte der Chinese Tschu Hsi im 12. Jahrhundert.
Die Epikuräer frönen dem "Glück im Winkel"
Dass die Vernunft ganz aus der sinnlichen Wahrnehmung erwachse und von ihr bedingt sei, postulierten erstmals - schärfer noch als die Sophisten und Stoiker, welch letztere noch "natürliche Vorannahmen", also einen apriorischen Faktor, den "logos spermatikos", beizogen - die Epikuräer. Der Augenschein allein führt zur unmittelbaren Evidenz. Im Gegensatz zur Stoa und zu Heraklit wie auch zum Taoismus fehlt bei Epikur nun aber der Pflichtgedanke, die Unterordnung des einzelnen unter das Allgemeine. Der Staat hat einzig die Gesellschaft gegen das Unrecht zu sichern, von dem (wie auch schon in der Auffassung Heraklits) die "grosse Masse" nur durch Strafen zurückgehalten werden kann. Am besten hält man sich von der Politik fern und lebt im Verborgenen, frönt dem "Glück im Winkel" - ganz ähnlich wie bei Laotse. Freundschaft ist"was zählt; gegenüber den Sklaven soll man Milde, überhaupt allen Menschen gegenüber Wohlwollen walten lassen. Ansätze des Toleranzgedankens lassen sich damit bei Stoikern und Epikuräern finden. Der grösste römische Epikuräer war Lukrez.
Die übrigen Richtungen wurden den Römern von Cicero übermittelt; diese Verschmelzung heisst Eklektizismus. Unter anderen hatte ihm schon der Mediziner Galen gehuldigt. Die auf Demokrit zurückgehende Seelenruhe (Ataraxie) im obigen Sinn, wie auch die Atomlehre verfochten neben den Epikuräern die Skeptiker, die gegen jeglichen Dogmatismus angingen und als Vorläufer des modernen Positivismus anzusehen sind. Ihr Gedankengut - dem übrigens vorwiegend Ärzte nachlebten - wurde den Römern von Änesidemus vorgetragen und blühte im skeptischen Empirismus von Sextus Empiricus (200 n. Chr.) nochmals auf.
Skepsis
Skepsis besteht im Zweifeln und im Zurückhalten des Urteils. Wir können bestenfalls bei allem sagen: "Es scheint mir so." Damit sind wir wieder bei der Wahrscheinlichkeit angelangt, die (wie schon bei den Sophisten, im Gegensatz zu Platon) besagt, dass es auch keine absoluten ethischen Normen, sittlichen Werte, gebe.
Es lässt sich mit Fug fragen: Sind wir denn nicht über die alten Griechen hinausgelangt? Dieselben Streufragen beschäftigen uns doch bis zur Stunde; wenig neue sind hinzugekommen. Aus erkenntnistheoretischen Erwägungen wurden seit Heraklit die Wissenden von der Menge der Tauben und Schlafenden oder Vielwisser geschieden. Bei Platon und Aristoteles trägt die Entartung der gemässigten Volksherrschaft (Politeia), die Pöbelherrschaft, ausgerechnet den Namen Demokratie ... Nur die Vernunft oder das Denken (Schau des Geistes oder "seherisches Ahnen" bei Platon) erkenne das Sein des Seienden (bei den Vorsokratikern eher körperlich, bei Platon ideell) als notwendig und wesenhaft; die Sinne spiegelten uns demgegenüber nur die Vielheit, Veränderung und Ungleichheit der Dinge vor (Eleaten, indischer Brahmanismus und Vedanta). Gleichwohl sind die menschliche Denkart wie das All aus beiden "Elementen" gemischt, aus der dunklen Masse ("Sterbliche", "Erde') und dem hellen Licht ("Geist", "allwissender Gott"): Alles hat an allem Teil (vgl. auch die indische und chinesische Philosophie).
Weshalb gibt es denn eine Kluft zwischen den nur relativ gültigen und wandelbaren Satzungen und Meinungen der Menschen und dem göttlichen oder vernünftigen Weltgesetz? Mit Ausnahme der Charvakas in Indien, der Zyniker, Stoiker und Epikuräer ist man sich zwar einig, dass einzig Gedankendinge wahr seien, vollkommene Erkenntnis jedoch nur der Gottheit zukomme. "Wir Menschen wissen in Wahrheit nichts" zieht sich von Demokrit über die Sophisten zum ironisierenden Sokrates und den Skeptikern und findet sich auch bei Konfuzius, Laotse und Mo Ti. Dennoch gibt es eine geistige Gemeinschaft der Menschen über Volks- und Staatsgrenzen hinaus (Sophisten und Zyniker), und wir können durch Suchen (Xenophanes und die Skeptiker), auf dem Weg des hinführenden induktiven Verfahrens, Wahrheit finden (Sokrates und Aristoteles - gegenüber Platon, wo das Streben nach dem Wertwissen und der Idee den Kernpunkt bildet). Ferner sollen Einsicht und Besinnung die Leidenschaften und Begierden bändigen.
Noch hat sich das Irreale aber nicht "konkretisiert", der Irrtum gewiss, das Übel, die Schlechtigkeit und der "Aberglaube" auch.
Menschliche Schwächen hat freilich Theophrast in seinen "Charakteren" geschildert, die Verderbnis der Zeit haben die Römer Varro, Demetrios, Demonax, Dion Chrysostomos und Lukian beklagt, doch die Ursachen konnten nicht eruiert werden - "Abwesenheit des Guten", "Abfall von der Vollkommenheit" oder Verhaftung an "die Materie" waren nur tastende Erklärungsversuche. Die Römer beschränkten sich lieber auf praktische Vorschläge zur Daseinsgestaltung unter dem Banner "ordo et virtus" wie: Landleben, Arbeit, Mässigkeit, Keuschheit, überhaupt grösste Einfachheit des Lebens (Musonius) oder gar Enthaltung von Fleisch und Wein, leinene Kleidung und Gütergemeinschaft (Neupythagoräer). Sozial-reformerische Vorschläge zur Behebung des Elends der Grosstadtbevölkerung fehlten nicht.
Philon von Alexandria
Abkehr von, Unterdrückung oder gar Ausrottung der Sinnlichkeit rückten also mit der Zeitwende ins Zentrum, gleichlaufend damit auch mystische, dualistische (reiner Geist gegen Materie wie schon bei Zoroaster und dem indischen Sankhya-System) Tendenzen (Plutarch, Mark Aurel), vor allem angeregt durch Philon von Alexandria, der jüdische Bildung und griechische Philosophie, vorab den pythagorisierenden Platonismus, in einzigartiger Weise verschmolz und vor allem das über die letzten drei Jahrhunderte - ausser bei Lukrez - schlummernde Problem der Weltentstehung wieder in den Vordergrund rückte. Nach ihm muss der Mensch den einen, erhabenen Gott über den "Logos" (das Schöpfer-Wort) zu erkennen versuchen und ihm nacheifern, um ihm durch den Sieg des Geistes über das Fleisch ähnlich zu werden. Alle Weisheit stammt aus dem Glauben. Höchste Seligkeit ist die Schau Gottes, das Aufgehen in Gott: die Ekstase. (Das hat eine Parallele im chinesischen Taoismus und im indischen Yoga.)
Dahinter verbirgt sich eine Fortschrittsvorstellung, gepaart mit sittlichen Anschauungen wie: Idee der Menschheit, des Weltbürgertums und eines sozialen Staates. Als Wegbereiter der christlichen Mystik und des Neuplatonismus hat er allerdings die Ideenlehre wie die alttestamentarische Frömmigkeit umgebogen.
Seine Stufung der Wesen und Geister wurde von Plotin, Jamblichos und Proklos zu geradezu phantastischen Hofstaaten und Labyrinthen ausgebaut. Man könnte sagen, mit Philons und erst recht Plotins "Übervernünftigem" - dem Ur-Einen und Ur-Ersten - habe das Irrationale erstmals triumphal Einzug gehalten, war doch das Un-vernünftige früher einfach das Irdische, Menschliche und damit Fehlbare.
Dies Irrationale hat natürlich eine bedeutsame Parallele in den "unerforschlichen Ratschlüssen" des alttestamentarischen Gottes, der überdies die unablässigen Sollensforderungen (von Übung der Tugend oder Erfüllung des Mosaischen Gesetzes bis strengster Askese beim Inder Mahavira und auch bei Pythagoras) durch einen irrationalen Akt der Gnade (für die Philosophie: bereits bei Platon und v. a. Philon) durchbrechen kann.
Die Botschaft Christi
Jesus betont dann, dass gerade die Einfältigen, Ausgestossenen besonders begabt für Gnade sind. Und die christliche, erbarmende Liebe - im Gegensatz zum Hesiodschen kosmogonischen und Platonischen pädagogischen Eros - ist auch kaum als etwas Vernunftmässiges zu bezeichnen.
Das ist vermutlich der Hauptunterschied zwischen Griechentum und Christentum: Hie Lenkung von Welt und Mensch durch immanente Vernunft und Einspannung unter das Sollen, da Jenseitigkeit, Transzendenz (in Ansätzen allerdings auch bei Xenophanes, Antiphon und Aristoteles sowie den platonisierenden Neupythagoräern) und Gnade.
Das Vertrauen auf die natürliche und freie sittliche Vernunft bei den Griechen rührt von der Auffassung her, dass der Mensch allein über sie verfügt, als Auszeichnendes gegenüber der Tierwelt, mit der er die Sinnesvermögen und Sinnlichkeit teilt. Da die Vernunft aber bis heute oft versagt hat, sprechen wir vorsichtiger vom Menschen als einem vernunft-begabten Lebewesen, das eben mit seiner Begabung schlecht zu Rande kommt. So schlecht, dass Madame de Maintenon, die geheime Gattin Ludwig XIV. schrieb: "Nichts ist unvernünftiger, als von den Kindern zu verlangen, vernünftig zu sein." Kann man in diesem Satz das Wort Kinder durch Menschen ersetzen?
Mag auch bei Platon die Verbindung von Erkenntnistheorie und Staatslehre am ausgeprägtesten sein, sie zieht sich von den Anfängen der griechischen Philosophie bis in die Gegenwart. Die "Elite-Ideologie", dass nämlich die "Wägsten und Besten" den Staat lenken und die Gesetze das Fussvolk vor Übeltaten bewahren - abschrecken wie sichern - sollen, lässt sich bis auf den heutigen Tag verfolgen.
Die Botschaft Christi nun richtet sich aber an alle Menschen, bedarf zu ihrer Begründung weder eines methodischen Denkens, noch einer besonderen Bildung. Das kam erst in der Patristik und wurde völlig systematisiert in der Scholastik. Damit einher ging die dem Neuplatonismus verwandte, sich an das religiöse Fühlen und Schauen wendende Spekulation, die ihren Höhepunkt in der Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts erreichte. Diese wiederum wurde auf dem intellektuellen Gebiet durch die Zuwendung zum wissenschaftlichen Forschen und Erkennen in der Renaissance ausbalanciert.
Gnostiker und Kirchenväter
Die Gnostiker - obzwar keine einheitliche Gruppe - des 2. Jahrhunderts n. Chr. wurden bald von ihren kirchlichen Gegnern des Kommunismus beschuldigt. Sie verfochten die Askese, setzten das Geistig-Unendliche dem Sinnlich-Beschränkten entgegen und sahen in Christus das vom alttestamentarischen, neidischen Schöpfergott erlösende Prinzip. Die Spaltung "böser Judengott/ guter Jesus" wurde vom Perser Mani in Anlehnung an die Lehre Zarathustras zum Zweikampf von Gut und Böse, Licht und Finsternis im Kosmos wie im einzelnen Menschen ausformuliert. Was am Menschen der Stoffwelt angehört ist böse und ungöttlich. Strengste Enthaltung von all diesem "Unreinen" gilt als Merkmal der "Auserwählten".
Das kirchliche Christentum wurde von den Apologeten verteidigt. Die ersten Kirchenväter des 2. Jahrhunderts nahmen die Vernunft wieder in die Offenbarungsreligion hinein: In Christus als der menschgewordenen Vernunft Gottes offenbart sich die volle Wahrheit. Alle weltliche Wissenschaft und Bildung ist vor Gott Torheit, meinte Tertullian. Weil der Mensch aus eigener Kraft unfähig ist, die Wahrheit, das Wesen Gottes und seine eigene, über das Diesseits hinausreichende Bestimmung zu erkennen, bedarf er der göttlichen Offenbarung. Diese aber ist nicht über-vernünftig, sondern geradezu wider-vernünftig. Deshalb: credo, quia absurdum.
Wissenschaft (Philosophie) und Religion wieder in Einklang zu bringen versuchten dann die Kirchenväter in Alexandria. Bei Clemens geschah das auf recht paradoxe Weise: Einsicht erwächst aus "Vorausnahmen" des Glaubens, aber die Vernunft muss dem Glauben den Weg bereiten. Origenes' System, in dem sogar der Teufel erlöst und in Wesenseinheit mit Gott zurückgebracht wird, und das Ehe, Kriegsdienst und Staatsämter für den wahren Christen ablehnt, wurde aber 300 Jahre später von demselben Kaiser, der auch die letzte Philosophenschule in Athen (529) aufhob, nämlich Justinian, verdammt.
Damit wurde das Christentum endgültig dogmatisiert, die Philosophie zur Magd der Theologie herabgewürdigt und die Kirche eine politische Macht, die übrigens den "Kapitalismus" der civitas terrena, des Reichs des Hochmuts und der irdischen Herrschsucht scharf verurteilte und Johannes Chrysostomos zur Forderung des Sozialismus, bei Augustin des "Gottesstaats", wo das Gute über das Böse siegt, geführt hatte. Augustin sagte: "Keiner ist von Natur aus Sklave eines Menschen oder einer Sünde" (vgl. demgegenüber 1.Kor. 7,20ff), und: "Im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit ... Gott ist die Wahrheit."
Scholastik: Der Siegeszug der Vernunft
Die Vernunft liess nun die Theologie nicht mehr aus ihren Klauen. "Credo ut intelligas" zieht sich von Augustin durch den sog. Universalienstreit bis zu Abälard, der diese Forderung dann umdrehte: Erst wissen, dann glauben. Er vertrat auch in seiner auf Gewissen und Selbsterkenntnis beruhenden Gesinnungs-Ethik die Ansicht: Das Gute liegt nicht im "Werk", sondern in der subjektiven Absicht, in der "intentio animi", mit der es getan wird; sündig ist, wer gegen sein Gewissen handelt. Älter als alle übernatürliche Offenbarung ist das natürliche Sittengesetz der Humanität, das für alle Menschen gleich und verbindlich ist - obwohl es nach Abälard eigentlich nur eine Meinung, also relativ ist. Johannes von Salisbury leistete in seinem "Policraticus" eine Art erste mittelalterliche Gesellschaftswissenschaft, in der er u. a. das Recht zu Revolution und Tyrannenmord verfocht. "Freier Liebe" huldigten die Amalrikaner, und von Joachim von Fiore übernahmen zahlreiche Sekten (Waldenser, die ersten Kriegsdienstverweigerer der Geschichte; Katharer) das soziale Ideal des gemeinsamen Besitzes aller Erdengüter, basierend auf dem Glauben an den Fortschritt bis zu einem neuen Paradies.
Während China zur Zeit der Tang- (600-750) und Sung-Dynastien (1100-1200) wirtschaftliche und kulturelle Blüten erlebte und die jüdische Philosophie sich zu entfalten begann, gelangte, getragen vom Islam, auf dem Umweg über Syrien, Persien, Palästina und Spanien der Aristotelismus - trotz Verboten im 13. Jahrhundert - wieder in die bisher neuplatonisch und mystisch ausgebaute Theologie. Der Rationalismus hielt in den "Universitäten" endgültig Einzug - im übrigen aber auch der Minnesang und die Inquisition.
Albert der Grosse versuchte, natürliche oder philosophische Erkenntnis mit theologischer so harmonisch zu verbinden, dass eine grosse Ordnung alles verknüpft, desgleichen Thomas von Aquin, bei dem das sittliche Ziel des Menschen in der Entwicklung seiner vernünftigen Natur - wieder dieser befremdende Gedanke - besteht. Wie Natur und Vernunft auf Gott hingeordnet sind, so der Mensch als zoon politikon durch die Natur auf Geselligkeit und Verbindung in Familie, Gemeinde und Staat. Weil der Staat also naturgewollt ist, ist er auch von Gott gewollt, der Gehorsam ihm gegenüber daher Gewissenspflicht. Die Monarchie ist die beste und nützlichste Staatsform. Hörigkeit und Leibeigenschaft hält Thomas von Aquin für ein ebenso natürliches und unantastbares soziales Erzeugnis wie Aristoteles die Sklaverei: Geburt und Besitz geben das Einteilungsprinzip der Staats- und Gemeinschaftsordnung ab.
Aus Kreisen der Franziskaner (z B. der an Platon orientierte Bonaventura) erwuchs dem Dominikaner Thomas die grösste Gegnerschaft. Johannes Duns Scotus riss den Graben zwischen Glauben und Wissen noch weiter auf. Nur stellte er das Primat des Willens vor dem Intellekt auf und rückte das Individuum (principium individuationis) wieder ins Zentrum, das nach Augustin und Boethius mehr und mehr im Universalismus untergegangen und erst bei Abälard wieder hervorgekommen war. Meister Eckhart schliesslich formulierte: "Es ist besser, einem Hungrigen Speise zu reichen, als sich derweilen in innerer Betrachtung zu ergehen."
Die vielfältigen Vorurteile (Idole) der Menschen zu durchbrechen, schrieb sich Roger Bacon - geboren zur Zeit der "Magna Charta libertatum" - aufs Panier. Es gibt einen doppelten Weg der Erkenntnis: durch Vernunftbeweis oder durch Erfahrung (Studium an der Quelle). Grundlage von Philosophie und Wissenschaft ist die Mathematik, die vollkommenste Wissenschaft die des Experiments. Doch auch bei Bacon steht die Theologie über der Philosophie, die Heilige Schrift über allem Erfahrungswissen.
Empirie gegen Theologie
Immerhin ist damit, fortgeführt durch Wilhelm von Ockham - der in seinem Nominalismus die Trennung von unbegründeten Glaubenswahrheiten, die göttliche Willensakte sind, und von Erkenntniswissen auf die Spitze trieb - und Cusanus, die Empirie ins Blickfeld gerückt, die dann mit den Natur(gesetz)beobachtern Leonardo, Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton zum endgültigen Durchbruch gelangte. Die philosophische Fundamentierung lieferten die Rationalisten Descartes, Hobbes, Spinoza und Leibniz sowie die englischen Sensualisten.
Damit begann sich die Philosophie wieder aus der Abhängigkeit der Theologie zu befreien. Glauben und Wissen bleiben in Frontstellung. Gegenströmungen waren die "Devotion moderna", der Paracelsismus, die deutsche Mystik und der Utopismus des 16. und 17. Jahrhunderts, denn es war ja schon in der Scholastik zu Tage getreten: Je grösser die Vernunftbetonung, umso gerissener schleicht sich an allen Enden das Irrationale wieder ein.
Mit dem italienischen Humanismus - der eine Parallele in der chinesischen Ming-Zeit hat - trat das Individuum mit seinen Leiden und Freuden in den Mittelpunkt des Interesses, und die Selbständigkeit der Frau wurde anerkannt. Statt der patristischen und scholastischen Kluft von Gläubigen und Ungläubigen machte sich nun der Graben zwischen den Gebildeten und Ungebildeten bemerkbar, den wir schon bei den alten Griechen feststellen konnten. Dennoch wird Mitmenschlichkeit gepredigt. Göttliche Botschaft und bürgerliche Gesellschaft sind aufeinander bezogen, so wie Getrostheit des Glaubens und Klarheit der Erkenntnis.
Unter dem Band des "Wortes" vereinen sich Nächstenliebe und Ordnung der Gemeinschaft. Nach Pico della Mirandola sollte die wahre Philosophie Friede zwischen der Natur und der Heiligen Schrift stiften und eine Menschheitskirche aufbauen. Auch bei Luther sind Gott und sein Wort nicht an die Grenzen des Abendlandes gebunden. Die Gemeinschaft der einen Kirche reicht bis ans Ende der Welt. Luther hat die Philosophie nicht abgelehnt, sondern nur ihre Selbstrechtfertigung des Menschen kraft Vernunft und Willensfreiheit. Er verficht die "Rechtfertigung allein aus dem Glauben". In Melanchthon und Zwingli gingen Antike und Christentum ein neues Bündnis ein. Calvin schliesslich forderte die Einbeziehung aller Berufe, aller politischen und wirtschaftlichen Arbeitszweige in die heilige Gemeinde, den Gottesstaat unter der unumschränkten Majestät Gottes.
Mit Montaignes Frage "Que sais-je?" drang der Zweifel erneut ein. Dogmen und eine autoritäre Kultur gilt es genau zu prüfen. "Ich wende mich gerade dem zu, der mir widerspricht und mich so belehrt." Diese Einsicht in das eigene Nichtwissen wird auch von Pierre Chan, der die "moralische Gebrechlichkeit" des Menschen beklagte, und Francisco Sanchez gefordert.
Theorien über den Staat
Der erste, der die Theorie vom Staatsvertrag aufsetzte, war der Jesuit Suarez: Der Staat beruht auf dem consensus der Familien und ist Demokratie, die aber nicht der Willkür wechselnder Minderheiten ausgeliefert sein darf. Demgegenüber rechtfertigte Machiavelli den Tyrannen, der einzig das bedrohte Italien gegen Spanier und Franzosen retten kann. Deshalb sind auch "grausame Mittel" um einer berechtigten Sache willen nicht zu verurteilen. Dieser erste Theoretiker der Macht glaubte angesichts der offenbaren Schlechtigkeit der Menschen an den erzieherischen Auftrag des Staates als einer göttlichen Neuordnung.
Der Lordkanzler Thomas Morus verfocht demgegenüber trotz seines Aristokratismus soziale Devisen wie Aufhebung des Privateigentums, gesunde Organisation der Arbeit, Gleichheit der Bildungschancen, Lösung der Frauenfrage und des Übervölkerungsproblems. Dies im Jahre 1516. Sklaven allerdings soll es noch geben; sie sollen die niedrigsten Arbeiten verrichten und sich aus Verbrechern und Kriegsgefangenen rekrutieren.
Jean Bodin verfocht wiederum das Recht der absoluten Monarchie und der Souveränität des Fürsten, was sogleich von den sog. Monarchomanen in Abrede gestellt wurde, die zum Widerstand gegen die herrschende Gewalt aufriefen. Heinrich IV. wurde denn auch ermordet, Jakob I. hingerichtet.
Zum einzigen Vertreter der Souveränität erhob schliesslich der Calvinist Johannes Althusius das Volk. Im "Gesellschaftsvertrag" ist das Volk als politische wie religiöse Gemeinde der Inhaber des Majestätsrechts. Sein "Naturrecht wurde dann von Hugo Grotius aus den konfessionellen Schranken gehoben. Ein natürliches Rechtsgefühl ist dem Menschen gleichsam ins Herz geschrieben. Gemäss Völkerrecht ist der Krieg zwischen Staaten nach den Grundsätzen der Humanität zu führen und nur dann gerecht, wenn natürliches oder göttliches Recht (z. B. in den Geboten der Bergpredigt) verletzt wird.
Den Menschen zum zentralen Forschungsgegenstand erhob Francis Bacon. Mit der Macht des Wissens soll der Mensch die Herrschaft über die Natur gewinnen. Wie sein Namensvetter Roger Bacon 350 früher setzt er hiefür die Befreiung von den Vorurteilen des Verstandes und der Sinne voraus. Die Idole sind die Quellen der menschlichen Irrtümer. In seinem "Nova Atlantis" sah Bacon fast alle technischen Errungenschaften unserer Zeit voraus.
Epikurs Ethik und Demokrits Atomlehre leben ein letztes Mal bei Gassendi auf, letztere wurde vom "skeptischen Chemiker" Robert Boyle in die Korpuskularphilosophie aufgenommen.
John Locke, der Begründer der empirischen Psychologie und des politischen Liberalismus, ist bekannt als Verteidiger der "glorreichen Revolution" von 1688. Die Staatsgewalt entspringt freier gegenseitiger Übereinkunft; der Staat hat persönliche Freiheit und Eigentum zu sichern und zu schützen. Dazu bedarf es einer Trennung der gesetzgebenden und der ausübenden Gewalt.
Fand es Graf von Shaftesbury unnatürlich, durch Neid, Bosheit und Trotz auf die Zerstörung der geselligen Ordnung auszugehen, so verteidigte umgekehrt Bernard de Mandeville in satirischer Form den paradoxen Satz, dass Macht und Blüte eines Gemeinwesens nicht auf der Tugend, sondern auf den lasterhaften Neigungen der einzelnen (Eitelkeit, Ehrgeiz, Heuchelei, Betrug, Schwelgerei, Wollust) beruhten. Grösse und Rechtschaffenheit verbinden zu wollen sei ein eitler Traum. Egoistische Interessen trieben den Menschen zur Arbeit, zum gesellschaftlichen Leben und damit zur Kultur. Bei allgemeiner Zufriedenheit würde alle Kultur stagnieren. Die "Tugenden" seien von ehrgeizigen Politikern erfunden, um die Massen zu beherrschen. Kultur und Staat seien überhaupt nur für die bevorzugten Klassen und fänden auf dem Rücken der Armen und Beschränkten statt.
Pessimistisch gaben sich auch die französischen Moralisten. La Rochefoucauld deckte in der Selbstliebe und -sucht das bewegende Prinzip aller menschlichen Handlungen auf, De Vauvenargues glaubte nicht an eine Lenkung der Leidenschaften durch die Vernunft, und Chamfort sah sogar die Wohltäter ihre Eigenliebe nur dürftig verhüllen.
Bei David Hume wiederum ist das Recht durch stillschweigende Übereinkunft entstanden, das die Güter, ohne welche die Gesellschaft nicht bestehen kann - Eigentum und Einhaltung der Versprechen -, schützt. Adam Smith schliesslich begründete auf dem natürlichen Erwerbstrieb des einzelnen seine Nationalökonomie. Arbeit und Sparsamkeit sind die Quelle des Reichtums. Der Staat soll die Wirtschaft, in der sich alles nach Angebot und Nachfrage regelt, frei lassen. Das ist die Theorie des "laissez faire".
Die englischen, französischen und deutschen Aufklärer bauten auf das Licht der Vernunft, allerdings in eher praktischer Hinsicht. Gemildert wurde diese Vernunftgläubigkeit in der Strömung des "gesunden Menschenverstandes" v. a. in Schottland und Deutschland, wo, anknüpfend an den Napolitaner Vico, immer mehr die Sprache ins Zentrum des Interesses rückte (J. G. Hamann, J. G. Herder). Die "Enzyklopädie" versammelte erstmals eine Unzahl nützlicher Kenntnisse, verfocht die freigeistige Weltanschauung und untergrub vor allem die kirchlichen Autoritäten.
Der eigentliche Lehrer der französischen Revolution, Rousseau, setzte nun aber der Welt des Verstandes, der Äusserlichkeit und Konvention eine des Gefühls (vgl. Shaftesbury), der Innerlichkeit, der Persönlichkeit, der Natur gegenüber. Die Ungleichheit der Menschen entspringt der Entstehung des Eigentums; also muss durch Erziehung und dementsprechende Staatseinrichtungen der ursprüngliche, gute und egalitäre Naturzustand wieder hergestellt werden. "Mr. Natural" muss gegenüber dem "homme artificiel" verteidigt werden. Für die Volkssouveränität gibt es kein anderes Gesetz als den Gemeinwillen, der auf das Wohl des Ganzen gerichtet ist.
Rousseau hat sich zwar gegen jeden gewaltsamen Umsturz ausgesprochen, doch die Schlagworte "liberté, égalité, fraternité" sind von ihm übernommen und die französische Verfassung 1793 nach dem Muster seines "contrat social" entworfen worden.
Die Physiokraten traten für das unbeschränkte Recht des einzelnen auf Besitz und Erwerb ein. Sie forderten für den Handel volle Freiheit ("laissez faire, laissez aller"), dagegen staatliche Förderung der Landwirtschaft, da deren Erzeugnisse die Quellen des nationalen Reichtums sind. Der Marquis de Condorcet meinte, die natürlichen Ungleichheiten von Talent und Besitz könnten durch angemessene Gesetze und eine Bildungsreform (Beseitigung der Klassenunterschiede) verringert werden. Abbé Morelly schliesslich erkannte das Privateigentum und die in ihm begründete Habsucht als Wurzel aller Laster. Obgleich er eine vollkommne Gütergemeinschaft ablehnt, kann man ihn als philosophischen Begründer des Kommunismus betrachten: Der Bürger soll je nach Alter, Kräften und Gaben zum gemeinsamen Nutzen beitragen und auf Kosten der Gemeinschaft unterhalten und beschäftigt werden. Er nahm sogar Mao-Tse-Tung vorweg, wenn er forderte, dass auch wissenschaftliche Berufe vom 20. bis 25. Altersjahr in der Landwirtschaft eingesetzt werden sollten.
Woher kommt der Irrtum?
Selbstverständlich hatten sich die Rationalisten auch mit der Frage des Irrtums befasst. Bei Descartes noch hat Gott dem sich selbst gewissen Ich die Möglichkeit offen gelassen, sich von ihm abzuwenden und dem Irrtum zu verfallen. Irrtum und Sünde beruhen auf dem Übergewicht des Willens über den Verstand, des Willens, der sich gegen seine eigentliche Möglichkeit sperrt. Bei Malebranche sind die Sinne der Quell vielfältiger Irrtümer, denen sogar der Verstand erliegen kann. Pascal unterschied die Logik des Verstandes, welche in der Mathematik alles auf bekannte Wahrheiten zurückzuführen vermag, und die Logik des Herzens, welche Freude und Glücksbegehren Einlass bietet. Das Herz hat seine eigene Ordnung und ist offen für das Unmittelbare, das sich der vernünftigen Vermittlung verweigert.
Bei Hobbes entspringen die falschen Meinungen der Unkenntnis der natürlichen Ursachen. Ein Staatsvertrag ist deshalb nötig, weil sonst in dem unsicheren Naturzustand Gewalt mit Gewalt vergolten wird. Der stoische Selbsterhaltungstrieb muss also zur vernünftigen Selbstbeschränkung werden. Der Staatssouverän, der Herrscher im Namen des Gesetzes, dessen Vollzieher er ist, muss unbeschränkte Macht erhalten, damit er dem schon von Platon aufgedeckten "Krieg aller gegen alle" Einhalt gebieten kann.
Hobbes Verkettung von Religion und Staat wurde von Spinoza eifrig bekämpft. Seine "Ethik nach geometrischer Methode" zeigt, wie die Vernunft den Menschen zur Einsicht bringen kann. Vernunft ist das innerste Wesen der Dinge. Nach ihrer Leitung handeln, bewahrt den Menschen von der Knechtung durch die Affekte und führt zum höchsten Glück, der altgriechischen Seelenruhe. Sie wird vom Staat geschützt, der wie bei Hobbes eine starke Gewalt ausüben muss.
Leibniz sah im Bösen wieder einen Abfall, eine Privation. Noch mehr nahm Kant die Grundtendenzen der "alten Metaphysik" wieder auf. Über die Frage, wie reine Mathematik und Naturwissenschaften überhaupt möglich seien, gelangte er zur Frage: "Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?" Nahmen die Empiristen an, unsere Erkenntnis habe sich nach den Gegenständen zu richten, so will er zeigen, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis, der apriorischen Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens richten müssen. Analog dazu gibt es auch ein eingeborenes Sittengesetz, dem gemäss wir uns verhalten müssen, ohne Rücksicht auf Erfahrung. Das Gewissen, der kategorische Imperativ, ist apriorisch und allgemeingesetzlich. Kant verficht damit einen ethischen Rigorismus. "Die Vernunft ist für sich selbst praktisch", die Moral hat es mit inneren Pflichten zu tun; demgegenüber ist der Staat wie das Recht eine äussere Institution, die mit Zwang zu sorgen hat, dass niemand den andern willkürlich verletzt.
Philosophie des 19. Jahrhunderts
Fichtes subjektiver und Schellings objektiver Idealismus erweiterten und korrigierten die Kantschen Lehren, und Hegel stellte seinen absoluten Idealismus auf, der mit seinem mächtigen System einen ungeheuren Nachhall erzeugte. Im Marxismus und Historismus und in der kulturmorphologischen Betrachtungsweise wirkt es bis in unsere Tage. î Hegel und Kant wurden von Schopenhauer aufs heftigste attackiert. Hineingeworfen in ein bedrohliche Welt, bleibt dem Menschen nur Pessimismus. Die Verneinung des Willens muss auch eine Verneinung der Welt sein. Nach buddhistischer Weise bleibt nur das Zurücksinken ins All-Eine, ins Nirwana, bis zur völligen Aufgabe des Ichbewusstseins.
Kierkegaard hingegen wünscht die Entscheidung des eigenen Ichs; nicht Theorie, sondern Tat. Daraus ergibt sich die Forderung des Existierens und eines neuen Christentums. Dialektische Theologie und Existenzphilosophie verdanken ihm manches.
Wie Marx und Kierkegaard konstatiert auch Nietzsche den Verfall der bürgerlich-christlichen Welt. In seiner "Umwertung aller Werte" predigt er die Moral des Lebens, des Willens zur Macht, und zwar zur Macht der Vornehmen, der Elite. Alle andere Moral ist solche der Zukurzgekommenen, Sklavenaufstand aus Ressentiment. Nur die Schwachen haben Liebe, Güte, Mitleid zu Werten erhoben und die Starken schlecht gemacht. Eine Philosophie mit gewaltigem Anspruch und deshalb auch Anlass zu wilden Verzerrungen.
Im 19. Jahrhundert hat sich die Philosophie immer mehr zersplittert: Comte entwickelte den Positivismus, John Stuart Mill führte den Empirismus fort, Herbert Spencer formuliert den Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken, und William James (USA) legte sich auf den Pragmatismus fest.
Philosophie des 20. Jahrhunderts
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Vielfalt noch unübersehbarer: Lebensphilosophie, Phänomenologie, Ontologie und Existenzphilosophie sind die Hauptströmungen, als deren Widerpart der logische Positivismus sich immer machtvoller entfaltete. Die Probleme der Philosophie seien nur Scheinprobleme, meint letztere Richtung. Gott hat für sie endgültig abgedankt. "Gott ist tot" diagnostizierten der Menschenwelt schon Hegel und Nietzsche. Doch schon Hegel fand, es liege im Wesen Gottes zu sterben und wieder lebendig zu werden. So taucht denn der Gottesbegriff, ausser im dialektischen Materialismus von Marx bis Stalin und Mao, noch bei Max Scheler, Nikolaj Berdjajew, George Santayana, Ortega y Gasset, Maurice Blondel und Gabriel Marcel sowie in der Neuscholastik auf.
Die Wurzeln der heutigen politischen Strömungen
Die Wurzeln der heute in der ganzen Welt bestimmenden politischen Strömungen Liberalismus und Sozialismus reichen ins 17. Jahrhundert (Milton, Locke - später Adam Smith und die Physiokraten) resp. 18. Jahrhundert (Morelly, G. B. de Mably) zurück. Wenn man will, kann man sogar bis zur Aufklärung resp. auf die sozial-utopistischen Theorien der Renaissance (Th. Morus) zurückgehen.
Gilt das auch vom Konservativismus? Sieht man einmal von der Dogmatik des Christentums der früheren Jahrhunderte ab, so kann man den Konservativismus auch bis auf Edmund Burke (1790), die Romantiker (z. B. Novalis,1799) und Adam Müller (1809) zurückverfolgen. Sein bedeutendster Theoretiker war F. J. Stahl mit seiner "Christlichen Rechts- und Staatslehre" (1833/37).
Wie steht es nun noch mit den "Bürgerlichen"? Das Bürgertum lässt sich bis etwa ins zehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Renaissance, die "Glorreiche Revolution" der englischen Puritaner, französische Aufklärung und Biedermeier, Spiessertum und "Belle Epoque" sind die wichtigsten Etappen bis zu seinem Zerfall im Ersten Weltkrieg.
Alles schon dagewesen?
Auf diesen wenigen Seiten konnten selbstverständlich nur Bruchstücke aus dem abendländischen Gedankengut von zweieinhalb Jahrtausenden herausgepickt werden; die orientalische Welt kam wenig zum Zuge. Das Vorgetragene reicht aber aus, dass wir uns heute fragen, ob es denn noch etwas Neues zu denken gebe. Ist nicht alles schon gesagt worden, was sich sagen lässt? - eine Frage, die schon Descartes beschäftigte.
Eine Abklärung erforderte vorerst einmal das Studium der vielbändigen Philosophie- und Weltanschauungsgeschichten sowie der oft ebenfalls mehrbändigen Einzeluntersuchungen über die Ethik und Staatslehre, das Übel, den Irrtum und das Irrationale. Zum zweiten müsste nachgeprüft werden, in wieweit überhaupt diesen Ideen und Spekulationen über Sein und Sollen nachgelebt, was denn als Moral tatsächlich praktiziert wurde. Es ist doch schon sehr fraglich ob, wie Hegel meinte, "alles Vernünftige wirklich, alles Wirkliche vernünftig" sei. Möglicherweise hat da Flaubert kurze Zeit später klarer gesehen, als er in seinen "Erinnerungen eines Toren" schrieb: "Wahnsinn ist der Zweifel der Vernunft; vielleicht beweist das die Vernunft selbst."
Nun, die erwähnte Abklärung ist ein ebenso gewaltiges wie abschreckendes und wohl erschütterndes Unternehmen. Doch ohne diese Kenntnisse ist ein kompetentes Mitreden im heute überbordenden Streit der Meinungen und Vorurteile über "Ordnung, Vernunft und soziale Gerechtigkeit" nicht möglich. Müssen wir deshalb verzweifeln und uns mit der Versicherung von Gelehrten, die es wissen müssen, begnügen, alles sei schon dagewesen? Könnten wir nicht auf einen schöpferischen Genius in uns vertrauen, der uns neue Erkenntnisse zu geben vermöchte? Irgendwie sitzen wir in einer Zwickmühle: Wir beklagen die Platitüden von Forschern und Politikern und sehen gleichzeitig, dass wir an der heutigen Welt mitarbeiten müssen, uns tatkräftig einsetzen. Aber wir wissen ja nichts Besseres, nur dass es besser werden sollte, dass manches einer Änderung bedürfte.
Was hilft es, gewagte Systeme und Theorien zu entwerfen, um nachher vielleicht festzustellen, dass sie so neu nicht sind, Lösungen vorzuschlagen, deren Realisierung noch nie gelungen ist. 7000 wissenschaftliche Publikationen erscheinen heute pro Tag. Da wird also geforscht und geforscht und geforscht, und was kommt dabei heraus: eine Gestaltung der Gegenwart, oder gar der Zukunft Dennoch weben diese Forschungsergebnisse an unserer Welt und unserm Weltbild, beeinflussen unser Leben und Denken auch im Alltag.
Könnte dies nicht ein Hinweis darauf sein, dass es "trotzdem" angezeigt ist, auch an seinem Plätzchen das Seine dazu beizutragen, unermüdlich und unbeirrt an der Welt teilzuhaben und die Welt an den eigenen Gedanken und Forschungen teilhaben zu lassen? Dies auf die Gefahr hin, dass eben recht wenig wirklich original ist, dass aber im Suchen und im Miteinandersprechen - heute Kommunikation genannt - die einzige Möglichkeit des aktuellen Existierens liegt. Anregungen vermitteln, mehr kann von einer Schrift oder einer Diskussion nicht verlangt werden. Tapferkeit also in der Bescheidung, im Wissen um die eigene Beschränktheit.
Wohlan denn, so soll es sein.
(geschrieben im Oktober 1971)
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