Materieauffassungen in Altertum und Renaissance
Stichworte, Mai 1997
siehe bereits: Rehabilitation der alten Griechen (1972)
Altertum: vom Leben aller Dinge zu den elementaren Partikeln und dem planenden Geist
Für die Alten Ägypter "war das ganze Universum eine lebendige Einheit; selbst solche Teile der stofflichen Welt, die wir für unbelebt zu halten gewohnt sind, Steine, Mineralien, Wasser, Feuer, Luft usw., waren nicht von dem allgemeinen Leben ausgeschlossen, an dem Männer und Frauen, Säugetiere, Fische, Vögel, Insekten, Pflanzen und selbst die Götter Anteil hatten. In Übereinstimmung mit anderen Völkern der Antike konnten sich die Alten Ägypter kein Ding vorstellen, das nicht zumindest ein wenig Leben hatte" (J. M. Plumley 1977, 19).
Das gilt auch noch für die frühen Alten Griechen. Der Wissenschaftshistoriker Fritz Krafft meint: "Natürlich haben die Griechen genau wie alle anderen Völker ursprünglich die einzelnen Dinge, mit denen sie zu tun hatten und von denen sie abhängig waren, als Dämonen und Götter angesehen, die anthropomorph gedeutet wurden. Der menschliche Intellekt ist nun einmal so angelegt, dass er erst einmal alles aus sich heraus und nach dem, was er an sich erkennt, beurteilt und deutet. Das gilt im besonderen Masse von Vorgängen und Prozessen in der Natur, die gleichsam lebendig vor sich gehen ... Aber nicht nur Tiere und Pflanzen gelten als lebend und damit als von Dämonen besesssen, sondern auch Flüsse und Berge, das Meer, die Winde und Wolken; denn all diese bewegen sich oder etwas oder sie scheiden etwas aus und tun damit das, was als Leben gilt. In allen Sprachen hat sich eine solche anthropomorphe Deutungsstufe der Natur als Dämonen und Götter noch in bestimmten Metaphern erhalten. So sprechen auch wir noch davon, dass ein Fels in der Brandung steht, dass ein Berg sich erhebt, dass der Regen fällt, usw." (Fritz Krafft 1971, 42f).
Von dieser Auffassung haben sich die Griechen in rund zweihundert Jahren rasch gelöst.
Ausserordentlich liebevoll und detailliert schildert Fritz Krafft den Weg von Anaximanders Schuld-und-Sühne-Lehre (100-102) und Empedokles' vier Arten von Partikeln, die den vier "Naturstoffen" Erde, Wasser, Luft und Feuer entsprechen und von Liebe und Streit gemischt resp. getrennt werden (250-257) über den planenden und scheidenden Geist (nus) bei Anaxagoras (272-275) und Leukipps Atomtheorie (281-292) bis zu Platons Versuch, die fünf regulären Polyeder ins Spiel zu bringen (336).
Im einzelnen
Anaximander
Eine wichtige Etappe auf diem Weg bietet Anaximander (ca. 550 v. Chr.): Er stellt sich vor, dass alle Dinge untereinander im Streit liegen wie die Menschen vor Gericht. Was einer der Streitenden zuviel vom anderen genommen hat, wird ihm unweigerlich wieder entzogen und dem gegeben, der zu wenig erhielt. 'Recht' (dike) ist also ein immanent in dem Geschehen selbst sich vollziehender Ausgleich, und zwar ein unentrinnbarer.
Noch etwas konkreter: Jedes entstehende Ding macht sich dadurch schuldig, dass es an die Stelle eines anderen und aus einem anderen entsteht. Es macht damit einen Übergriff auf eine andere Sphäre. Das ist 'Hybris' und muss gesühnt werden. Ganz einfach, indem das ausgleichende Recht das Ding untergehen lässt, worauf wieder ein neues Ding entsteht, und so fort und fort. Die wunderschöne und vielzitierte Behauptung von Anaximander lautet: "Woraus aber den seienden Dingen ihr Entstehen ist, dorthinein müsse auch ihr Untergang sein nach der Schuldigkeit; denn es muss eines dem anderen Strafe und Busse bezahlen für ihr unrechtes Tun nach der Anordnung der Zeit" (100-102).
Empedokles
Einen Schritt weiter ging nun Empedokles mit seiner Elementenlehre. Er nahm "vier verschiedene Arten von qualitativ und strukturell gleichen, quantitativ aber nicht von vornherein bestimmten Partikeln an, den vier 'Naturstoffen' Erde, Wasser, Luft und Feuer entsprechend, denen er noch die alten mythischen Namen von Gottheiten beilegte" (250). Aus diesen ungewordenen und deshalb auch unveränderlichen Partikeln sollen sich alle in der Natur vorkommenden Stoffe zusammensetzen, und zwar als rein mechanische Mischung, genauso wie ein Maler seine Farben mischt.
Bei dieser Auffassung gibt es kein Entstehen und Vergehen, keinen Tod und keine Geburt (254). Wie kommt es aber einerseits zu Dauerhaftigkeit und anderseits doch zur Dynamik? Dafür hat Empedokles eine Porenlehre und eine Lehre von den Ausflüssen entwickelt. Die einzelnen winzigkleinen Partikel bilden oder haben Poren, die wie Nut und entsprechende Aussparung ineinander passen oder nicht. Passen sie nicht, ist der Zwischenraum mit einer feineren Substanz erfüllt. Zumindest ein Teil dieser Füllung sind die von allen Körpern und Partikeln ausgehenden Ausströmungen (Effluvia). So beruht etwa jede Sinneswahrnehmung nach Empedokles auf solchen in die verschiedenen Sinnesorgane eindringenden und von dem gleichartigen Stoff in ihnen und im Blut wahrgenommenen Ausflüssen beruhen. Was steckt nun als bewegende Macht dahinter? Es sind die beiden kosmischen Mächte "Liebe" und "Streit". Sie sind überall und jederzeit wirksam, einmal überwiegt die "Liebe", einmal der "Streit", und auf ihrer wechselweisen Wirkung beruht die Mischung und Trennung der Partikel, mithin das Geschehen in der Natur (257).
Anaxagoras
Nicht einverstanden damit war Anaxagoras. Erstens bestehen nach ihm gerade umgekehrt die "Elemente" aus einer Mischung aller Grundstoffe. In allem ist alles enthalten, jeder Stoff ist eine Mischung aus allen Stoffen; sie erscheinen uns nur als diejenigen Stoffe, von denen in ihrer Mischung ein grösserer Anteil vorhanden ist. Im Gold überwiegen die Goldteilchen, im Fleisch die Fleischteilchen, usw. (272). Zweitens ist Anaxagoras nicht mit den beiden Kräften der Mischung und Entmischung einverstanden. Wenn es "Liebe" und "Streit" wären, dann wäre letztlich alles Zufall. An dessen Stelle setzt nun Anaxagoras den planenden Geist. Seine Tätigkeit ist das Erkennen durch Unterscheiden (krinein). Der 'kritische', also scheidenden, sondernde Geist (nus) griff einst in die ursprünglich vollkommene Mischung aller Stoffe ein, verursachte einen kleinen Wirbel, der seinerseits die benachbarten Stoffe an sich riss und sich immer weiter ausdehnte und zu immer umfassenderer Aussonderung der einzelnen Stoffe führte (274).
Damit wiederum konnten sich Sokrates, Platon und Aristoteles nicht anfreunden. Sie meinten, Anaxagoras sei auf dem Weg zum Weltverständnis zu früh stehengeblieben. Der Weltgeist gebe ja nur den Anstoss zur Schöpfung der Welt, lasse diese aber nachher ohne seine weiter Einwirkung ablaufen wie eine Maschine.(275) Wir werden dieser Auseinandersetzung 2000 Jahre später wieder begegnen. Doch zuerst noch zu zwei weiteren Auffassungen über die Materie.
Leukipp
Leukipp verwarf die Idee seines Lehrers von der bis ins Unendliche möglichen Teilbarkeit eines Körpers - vielleicht weil dann in letzter Konsequenz alle sichtbaren Dinge ausschliesslich aus aneinanderstossenden Hohlräumen bestehen würden. Also postulierte Leukipp die Atome, weit unter der Grenze der Sichtbarkeit liegende materielle Teilchen, unzerteilbar, unveränderlich und ohne Hohlräume. Aus der Verbindung solcher Atome entstehen und wachsen alle Dinge, aus ihrer Trennung ergibt sich das Schwinden und Vergehen der Dinge. Diese Atome müssen nun nicht mehr aus mehreren Grundstoffen bestehen, sondern sie unterscheiden sich nur durch dreierlei:
Wie kommt es nun zu Bewegung und Veränderung der Dinge? Leukipp postuliert: Die Atome sind von vornherein bewegt! Wenn alle Atome bewegt sind, dann stossen sie zusammen. Leukipp meint: "Die einen prallen voneinander ab, hierhin und dorthin, wie es sich gerade trifft, andere dagegen verflechten sich miteinander infolge der Symmetrie [Zugemessenheit] ihrer Formen, ihrer Grösse, ihrer Lage und Anordnung und bleiben zusammen. Auf diese Weise erfolgt die Entstehung der zusammengesetzten Körper" (288). Dass manche Atome noch Haken und Ösen haben (292), anderseits viele Atome sich gar nicht zu Körpern vereinen, sondern stets in ungebundener, selbständiger Bewegung bleiben, kommt dazu. Nicht erklären konnte Leukipp, wieso sich bei der unendlichen Vielfalt der unveränderlichen Atome diese sich immer wieder zu denselben Arten von Lebewesen oder Gestirnen oder zu denselben gemischten Stoffen wie Wasser, Luft, Sand und Feuer zusammensetzen (291).
Epikur
Epikur versuchte dies später in seiner Naturlehre nachzuliefern. Er lehnt Leukipps Behauptung ab, es gebe unbegrenzt viele Grössen und unendliche Formenvielfalt der Atome: "Die Formen der Atome sind zwar unfassbar zahlreich - wie die Mannigfaltigkeit der sichtbaren Welt - jedoch nicht unendlich an Zahl. Es gibt weder hakenförmige noch dreizackförmige noch ringförmige; denn diese Formen sind leicht zerbrechlich, während die Atome unveränderlich und deshalb unzerbrechlich sind" (292). Das ist deutlich gegen Leukipp gerichtet, hilft aber auch nicht weiter.
Platon
Dass Platon eine Mathematisierung der Naturwissenschaft vorantrieb, ist bekannt. Er wies den Partikeln der vier Grundstoffe des Empedokles vier reguläre Polyeder als Körper oder Form zugrunde, und zwar
Der fünfte reguläre Körper passt da nicht dazu.
Renaissance: Aufarbeitung der Antike
Während der nächsten 1500 Jahre passierte bezüglich der Materieauffassung - ausser im arabischen Raum - wenig. Um 1200 setzte zweierlei ein:
Erst nach der Hochblüte der Renaissance begann sich die Welt aus den Fängen der Antike zu lösen. Einer der ersten Gelehrten, die dem Aristotelismus weitgehend entsagten, war Bernardino Telesio in seinem Werk "De natura rerum" (1565; vollständig 1586). Für die Naturerklärung verwirft er alle damals gerade im Schwange befindlichen astrologischen und magischen Einflüsse und vertritt wieder einen mechanischen Grundgedanken, der alle qualitativen Unterschiede auf die Bewegung zurückführt. Die gegensätzlichen Prinzipien von Wärme und Kälte rufen durch Ausdehnung und Zusammenziehung die Mannigfaltigkeit der Gestaltung und des Geschehens hervor.
Das klingt ein bisschen nach Stoa, und das stimmt. Es ist fast paradox, in dem Masse als Platon und Aristoteles in den Hintergrund traten, wurden Stoa und Epikuräer wiederentdeckt, z. B. durch den erwähnten Telesio resp. durch Giordano Bruno.
Literatur
Fritz Krafft: Geschichte der Naturwissenschaft. Bd. I. Freiburg: Rombach 1971. J. M. Plumley: Die Alten
Ägypter. In Carmen Blacker, Michael Loewe (Hrsg.): Weltformeln der Frühzeit. Diederichs 1977
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