HomeIndische und chinesische Schöpfungsmythen

 

Siehe auch:   Ägyptische und mesopotamische Schöpfungsmythen und biblische Schöpfungsberichte

                        Vom Mythos zum Logos I

                        Vom Mythos zum Logos II

 

 

Auszug aus Notizen vom März/ April 1973

 

 

Die philosophische Besinnung hebt an mit der Frage nach dem Anfang oder Ursprung. So auch in den Veden (1500-1000 v. Chr.) und den Handbüchern der altindischen Priester sowie in den von Konfuzius gesammelten Überlieferungen des chinesischen Kulturkreises (nach sagenhaften Angaben seit 3000 v. Chr.).

 

Veden: Alles ging aus dem "Einen" und der "Liebe" hervor

 

In den Hymnen des indischen Rigveda, des ältesten Veda, steht am Anfang "das Eine", das durch "der Glutpein Kraft" aus dem Dunkel geboren wurde, in welchem es "windlos in Ursprünglichkeit" gehaucht hatte.

 

"Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden

Als der Erkenntnis Samenkorn, die Liebe; -

Des Daseins Wurzelung Im Nichtsein fanden

Die Weisen, forschend, in des Herzens Triebe.

 

Als quer hindurch sie ihre Messschnur legten,

Was war da unterhalb, und was war oben? -

Keimträger waren, Kräfte, die sich regten,

Selbstsetzung unten, Angespanntheit droben.

 

Doch, wem ist auszuforschen es gelungen,

Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?

Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!

Wer sagt es also, wo sie hergekommen? -"

(frei übertragen von Paul Deussen [1])

 

Brahmanismus: viele Götter sowie Atman = Brahman

 

Mit der Entstehung des Kastenwesens erhielt der Priesterstand der Brahmanen eine bevorzugte Stellung, er löste die Vorherrschaft des Kriegerstandes ab. Die Brahmanen wurden zur geistigen Macht, besassen das Monopol zur höheren Erziehung und erreichten, dass sie bei allen öffentlichen und privaten Handlungen dabei waren.

Da alles Gedeihen vom Willen der zahlreichen Götter (als welche die Naturkräfte und -erscheinungen, aber auch sittliche Begriffe, wie Wahrheit und Vertrag, angesehen wurden) abhing, musste der richtige Verkehr mit ihnen durch die sorgsame Handhabe von Ritual, Gebet, Beschwörung und Opfer vollzogen werden.

 

Das ist die Zeit der "Opfermystik" (1000-750 v. Chr.), in welcher zahlreiche Brahmana-Texte Anwendung fanden. Die darin bereits auftauchenden Begriffe Brahman und Atman wurden dann in den "Upanischaden" (800-500 v. Chr.), den Geheimlehren oder nur für Eingeweihte bestimmten Unterweisungen zu zentralen Angelpunkten der indischen Religion (oder Philosophie) neben dem Gedanken von der Seelenwanderung und Erlösung.

 

Das "Eine", der "Urgrund" wird nun näher bestimmt als Brahman, das schöpferische Weltprinzip oder die Weltseele. Atman ist dagegen der Kern des menschlichen Selbst, sein Wesen, sein Ich oder seine Seele.

 

Upanischaden: Welterkenntnis ist Selbstverwirklichung

 

In den Upanischaden wird festgelegt, dass beide eins sind: Das Weltall ist Brahman, Brahman aber ist Atman in uns.

 

In der Versenkung des einzelnen in sein eigenes Innerstes erkennt der Mensch das Wesen der Welt. Daher ist alles Äusserliche, die Vielheit der Dinge und Vorgänge nur Schein oder gar Täuschung (Maja).

Um Zugang zum Selbst zu erhalten muss der Mensch sich von der Aussenwelt abwenden, auf Sinnenlust und Erfolg verzichten, kurz Askese üben.

Je nach Bewährung (karma) in diesem Streben wird der Mensch nach seinem leiblichen Tod auf höherer oder niederer Stufe wiedergeboren. Hat er schliesslich das höchste Wissen erlangt, wird er Brahman und ist damit erlöst (moksa). Welterkenntnis ist zugleich Selbstverwirklichung. Dabei geht jedoch die individuelle Existenz in der grossen Weltseele auf.

 

Ab 500 v. Chr.: nicht-orthodoxe System und klassische Jasager

 

Um 500 v. Chr. spaltete sich dieses verhältnismässig geschlossene Weltbild auf. Einerseits traten Buddha und Vardhamana Mahavira (oder Jina) als Religionsstifter auf, deren Auffassungen zusammen mit dem Materialismus und Hedonismus der Charvakas als nicht-orthodoxe Systeme, als Leugnung der Autorität der Veden betrachtet wurden, anderseits entwickelten sich die sechs klassischen Systeme der "Jasager", welche auf dem Boden der vedisch-hinduistischen Religion stehen, und von denen das "Yoga" am bekanntesten wurde. Letztere sind zum Teil pluralistische Metaphysiken, zum Teil aber auch dualistische (Shankya: Natur und Geist, prakriti und purusa) und monistische (Vedanta: Brahman und Atmen sind eins).

 

Buddha legte vor allem Gewicht auf das Leben als Leiden (als Folge der Begierde) und die Befreiung von der Wiedergeburt durch Selbstvervollkommnung auf dem "achtgliedrigen Pfad", der den Glauben ins Nirvana eingehen lässt, während Mahavira das Leiden als Folge der Verbindung von Geist oder belebten Einzelseelen (jivas) und unbelebter Materie (ajiva) sieht, das nur durch strenge Bussübungen überwunden werden kann: Die Seele muss sich von der Bindung an Stoffliches lösen.

Die indischen Nationalepen "Mahabharata" mit der berühmten Bhagavadgita sowie das "Ramayana" entstanden in der Zeit von 400 v. Chr. bis 400 n. Chr.

 

Um die Zeitwende drang der Buddhismus nach China vor, um 550 n. Chr. nach Japan, wo er den Shintoismus verdrängte (Zen-Buddhismus).

 

China: Yang und Yin sowie Tao und sittlicher Ernst

 

Stehen in den von Konfuzius zusammengestellten Büchern (z. B. I King, Schi-King und Schu-King aus dem 3. Jahrtausend v. Chr.?) die Lehren von Yang (männlich; Licht, Bewegung, Leben) und Yin (weiblich; Dunkelheit, Ruhe, Materie) sowie von "Mass und Mitte" mit den fünf Tugenden im Vordergrund, so im "Tao-te King" des Laotse diejenige vom Tao und bei Mo Tse (Me Ti) diejenige von der praktischen Nützlichkeit.

 

Ähnlich dem indischen Brahman - vielleicht liegt gar eine gegenseitige Beeinflussung vor - ist das chinesische Tao der unfassliche Urgrund der Welt. Es ist allerdings unnennbar, verborgen, kurz: das "Absolute". Es ist auch weniger Schöpfungsprinzip und Weltseele als Gesetz und Mass.

Der Mensch kann auch nicht ganz in es eingehen, jedoch seiner innewerden, wenn er sein Walten in der Natur erfühlt und es zum Richtmass seines Lebens macht. Konfuzius, Laotse und Mo Tse lehren deshalb auch nicht Weltflucht oder Askese, sondern Selbsterziehung, sittlichen Ernst und Nächstenliebe, Einfachheit und Naturbeobachtung respektive Förderung der allgemeinen Wohlfahrt.

 

Viel mehr als die indische Ethik ist die chinesische Sozialphilosophie, ja Staatslehre. Sie ist mehr auf Harmonie aus als auf Erlösung, mehr dualistisch als extrem-einseitig, mehr weltlich als weltabgekehrt, kurz: praktischer Humanismus in Selbstgenügsamkeit.

 

Viele Präzisierungen wären nötig

 

Da sind sehr allgemein gehaltene Angaben. Selbstverständlich könnte man die indischen und chinesischen Lehren und Systeme viel ausführlicher und genauer darstellen und etwa die Bedeutung

  • von Atman und Brahman, Maya und Vidya (wahres Wissen),
  • der vier Elemente bei den Charvakas,
  • von Geist und Materie im Jainismus,
  • der Dharmas, des zwölfgliedrigen "Rads des Lebens" und des Nirwana bei Buddha,
  • der "achtfachen Verneinung des Werdens" bei Nagarjuja,
  • der Atomlehre des Vaischeschika- und Nyaya-Systems,
  • der 25 Wesenheiten oder Prinzipien des Shankya- und Yoga-Systems sowie
  • des Tao und der Gerechtigkeit bei Laotse, Yang Tschu und Tschuang Tse,
  • der guten oder schlechten Natur des Menschen bei Meng Tse (Mencius; Schüler von Konfuzius) und Hsün Tse,
  • der Harmonie im Tschung Yung (verfasst von einem Enkel von Konfuzius)

analysieren.

 

Doch besteht hier die Gefahr, Gedanken, Begriffe und Sachverhalte unzulässig zurecht zu biegen und zu vermengen. Vor allem mit den Bezeichnungen Prinzip, Gesetz, Sein, All, Element, Ding, Leben, Seele, Geist, Materie, Erkenntnis, Weisheit, Sitte, Ordnung usw. dürften Schwierigkeiten auftreten.

 

Immerhin zeigt sich schon hier die vielfältige Verknüpfung der Kosmologie mit Erkenntnistheorie wie Lebenspraxis, der Individualethik mit Gesellschaftslehre, der Religion mit Geschichtsauffassung.

 

 

Anmerkung

 

1 Freilich ist gerade dieses Gedicht eines der jüngsten des Rigveda;
vgl. Paul Thieme: Gedichte aus dem Rig-Veda. Stuttgart: Reclam 1964, 4.
Bei Thieme lautet die wörtliche Übersetzung des Sanskrit-Textes (S. 65-68) ganz anders, und auch die Interpretation ist anders.

 

 

Literatur

 

Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1950, als Knaur Taschenbuch 1963.

 

Später hinzugefügt:

 

Siehe auch:                Literatur: Psychologie im Fernen Osten

                                    Literatur: Mythologie - mythology/ myths

 

Edward Conze: Buddhism. Its Essence and Development. New York: Philosophical Library/ Oxford: Bruno Cassirer 1951, 2. ed. 1953; zahlreiche Aufl. bis Birmingham: Windhorse 2001;
dt.: Der Buddhismus.
Stuttgart: Kohlhammer 1953; 10. Aufl. 1995;
Kurzausgabe Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.

Die Religionen der Menschheit. Stuttgart: Kohlhammer;
Bd. 11 und 12: Jan Gonda: Die Religionen Indiens I und II, 1960-63;
Bd. 13: André Bareau: Die Religionen Indiens III. 1964;
Bd. 21: Werner Eichhorn: Die Religionen Chinas. 1963;
Bd. 24: Günter Mayer (Hrsg.): Der Buddhismus.

Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie. Stuttgart: Klett 1976.

Hans Wolfgang Schumann: Buddhismus. Stifter, Schulen und Systeme. Olten: Walter 1976; Neuausgabe München: Diederichs 1993; mehrere Aufl. bis München: Hugendubel 2001.

Barbara C. Sproul: Primal myths. Creation mythos around the world. San Francisco: Harper & Row 1979; London: Rider 1980; New York: HarperCollins 1991;
dt Teilausgabe: Schöpfungsmythen der östlichen Welt. München: Diederichs 1993.

Ram Adhar Mall: Indische Schöpfungsmythen. Eine Einführung. Bonn: Bouvier 1982.

Hans Wilhelm Haussig (Hrsg.): Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart: Klett-Cotta;
Bd. 5: Götter und Mythen des indischen Subkontinents. 1984;
Bd. 6: Götter und Mythen Ostasiens. 1994.

Ernst Schwarz (Hrsg.): Der Trank der Unsterblichkeit. Chinesische Schöpfungsmythen und Volksmärchen. München: Kösel 1997.

Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen. Frankfurt am Main: Peter Lang 1998.

 



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