Home Problemlösen in der Sackgasse

 

Eine historische Skizze, Herbst 1986

 

Inhalt

Empirische Forschungen seit 1850

Seit 1900 vielfältige Forschung

Neue Ansätze in den „roaring twenties“ und in den 1930er Jahren

Seit 1500: Suche nach allgemeinen Lösungsmethoden, Denk- und Arbeitstechniken

Seit 1900: Lerntechnik, Efficiency, „produktives Denken“

Nach 1945: „Kreativität“ und „Informationsverarbeitung“

Kritik an diesem engen Ansatz

 

 

 

Nach dreissig Jahren Kreativitätsforschung (1950-80) musste man ihre Bemühungen als gescheitert erklären. Für die langsamer fortschreitende Erforschung des Problemlösens gilt ähnliches. Grund: Verlust der älteren Erkenntnisse.

 

Seit dem grössten Experiment in der deutschen Psychologiegeschichte, der Lohhausen-Studie, die in den Jahren 1975-78 durchgeführt und hernach ausgewertet wurde (Schlussbericht 1983, siehe SHZ 11.4.1985) ist es in der Problemlösungslandschaft merklich stiller geworden. Über die verschiedenen Nachgeplänkel und andere, kleinere Untersuchungen mit Computer-Simulationen berichtete 1986 Joachim Funke unter dem Titel "Komplexes Problemlösen" (Berlin: Springer-Verlag).

 

Dass die grossen Würfe in jüngerer Zeit fehlen, zeigt sich deutlich in der neuesten Literatur, die sich vorwiegend in willkürlichen Sammlungen und Zusammenstellungen unterschiedlicher Ansätze und Forschungsergebnisse erschöpft. Am brauchbarsten sind hierbei

  • Walter Hussy: "Denkpsychologie" (2 Bände, Urban-Taschenbuch 1984 und 1986) und
  • Sylvia Brander, Ain Kompa, Ulf Peltzer: "Denken und Problemlösen" (Opladen: Westdeutscher Verlag 1985),

 

 

Empirische Forschungen seit 1850

 

Literatur siehe:

Philosophie des Denkens (ab 1480), Denkpsychologie (1901), Problemlösen (1907/25) und Kognitive Psychologie (1956/67)

Kreativität/ Schöpferkraft/ Phantasie (1838-2004)

 

 

Wenig bekannt ist, dass der erste Schub mehr oder weniger empirischer Untersuchungen über

·        Innovation, Entdeckung und Erfindung

·        Genie und Begabung

·        Phantasie und Kreativität

·        Sprache, Denken und Vorstellen

·        Gedächtnis und Lernen

·        Intelligenz

·        Logik, Frage, Problem

·        Begriffs- und Hypothesenbildung

·        Zeichen und Symbole

bereits um die Mitte des letzten Jahrhunderts einsetzten.

 

1854 veröffentlichte der irische Mathematiker George Boole seine "Untersuchung über die Gesetze des Denkens"; ein Jahr später beschrieb der schottische Psychologe Alexander Bain das Versuch-und-Irrtums-Prinzip. Der Begründer der experimentellen Gehirnphysiologie, der Franzose Pierre Flourens befasste sich in den 1850er Jahren mit Gehirn und Intelligenz bei Mensch und Tier, und der Russe I. M. Setschenow beschrieb 1863 "Reflexe des Gehirns". Noch recht spekulativ waren "Gehirn und Geist" von Theodor Piderit (1863) und "Le cerveau et la pensée" von Paul Janet (1867).

 

Legendär wurde die umstrittene These von Cesare Lombroso: "Genio e follia" (1864). Damals begann ein Vetter von Charles Darwin, der ungemein vielseitige und anregende Francis Galton mit seinen Untersuchungen über "Genie und Vererbung" (1869). Ihm sind auch die ersten Fragebogen, Tests und Korrelationsstatistiken zu verdanken. Er begründete auch die Zwillingsforschung, die differentielle Psychologie und die Eugenik.

Sherlock Holmes begann 1887 seine ersten Fälle zu lösen.

 

Der Philosoph Richard Avenarius, der seit 1877 an der Universität Zürich lehrte, propagierte die Denkökonomie (1876), entwickelte eine Art Systemtheorie und sah "Problematisation" und "Deproblematisation" als Momente des Erkennens an (1890).

Der Gedanke der Mechanisierung und Ökonomisierung lag seit etwa 1840 in der Luft. Hermann Lotze wandte ihn seit 1844 auf die Psychologie an und bereitete damit die Trennung von Kopf- und Handarbeit sowie von ausführender und leitender Arbeit vor Siegfried Jaeger, Irmingard Staeuble: Die gesellschaftliche Genese der Psychologie, 1978). Gustav Theodor Fechner, der 1850 die Psychophysik begründete, entwickelte 1879 eine „Ökonomie der Verausgabung des Bewusstseins".

Der Physiker Ernst Mach popularisierte gleichzeitig das Konzept von Avenarius in der Physik.

 

 

Seit 1900 vielfältige Forschung

 

In den 80er Jahren, also vor gut 100 Jahren, intensivierte sich die Forschung in der mächtig aufblühenden "New Psychology" und erreichte um 1900 erste Höhepunkte. Bemerkenswerte Beiträge lieferten insbesondere:

  • der Assoziationismus (Wilhelm Wundt) und der Strukturalismus (Edward Bradford Titchener)

·        die Würzburger Schule der Denk- und Willenspsychologie

·        die Gestaltpsychologie

·        die Psychodiagnostik, differentielle oder Testpsychologie samt Intelligenzforschung

·        Arbeitspsychologie und Psychotechnik samt experimenteller Pädagogik

·        Lernpsychologie, Reflexologie und Behaviorismus.

 

Aber auch Physiker wie Ernst Mach und Wilhelm Ostwald, Henri Poincaré und Pierre Duhem oder Philosophen wie John Dewey, Henri Bergson, Wilhelm Dilthey, Hans Vaihinger und Edmund Husserl steuerten manche Erkenntnisse zum schöpferischen und problemlösenden Verhalten des Menschen bei.

 

Während die französische Psychologie ihre Untersuchungen eher physiologisch abstützte (z. B. Théodule Ribot: "L'imagination créatrice", 1900), versuchten deutsche Psychiater in der Tradition Lombrosos alle Genies als krankhaft zu diagnostizieren. Die eben von Sigmund Freud entwickelte Psychoanalyse dagegen wollte in der Psychobiographie berühmter Künstler und Gelehrter, Religionsstifter und Politiker prägende Einflüsse der frühen Kindheit ausfindig machen. Die Soziologen legten dagegen die Akzente auf das gesellschaftliche Umfeld.

Lange vor den ebenfalls legendären "Intelligenzprüfungen an Menschenaffen", die Wolfgang Köhler 1914 und 1916 auf Teneriffa durchführte, lag also bereits eine Fülle von Ansätzen, Ansichten und Anregungen vor, die heute noch, meist ohne Herkunftsangabe, in den Köpfen der Gelehrten und Laien herumspukt.

Karl Bühler beschrieb 1922 das Aha-Erlebnis.

 

Grundlegend wurde das aus der Würzburger Schule herausgewachsene Werk von Otto Selz "Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs", in zwei Bänden (1913 und 1922) von insgesamt 1000 Seiten erschienen. Eine Kurzfassung auf 31 Seiten bot 1924 "Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit" (Nachdruck 1981 in „Leben und Werk von Otto Selz“).

 

 

Neue Ansätze in den „roaring twenties“ und in den 1930er Jahren

 

In den "roaring twenties" zeigte sich in den USA bereits ein erster Kreativitätsfimmel (z. B. "creative art", "reading", "teaching", verbunden auch mit "imagination"), der sich in den 30er Jahren fortsetzte und von zahlreichen Studien über "problem solving" und einigen über "intuition" begleitet wurde.

Daneben liefen Untersuchungen über Erfindungen und Innovationen sowie ihre Ausbreitung, die Diffusion von Neuerungen, auf Deutsch oft auch "technischer Fortschritt" genannt.

 

Im deutschen Sprachbereich wurden diese Ansätze erst in den 1950er Jahren unter dem Titel "das Schöpferische" aufgenommen. Die Begriffe Kreativität und Innovation tauchen erst 1966 im Deutschen auf.

 

Immerhin haben in den 20er und 30er Jahren auch die Schweizer Edouard Claparède ("funktionelle" Psychologie), Jean Piaget und Richard Meili einiges zur Erforschung des Denkens beigetragen.

 

Weiter bedeutsam in den 30er Jahren waren Frederick Charles Bartlett mit "Remembering" (1932) und Edward Chace Tolman mit "Purposive Behavior in Animals und Men" (1932).

 

1935 fasste Narziss Ach seine jahrzehntelangen Forschungen über "determinierende Tendenzen" in seiner "Analyse des Willens" zusammen, Kurt Koffka die "Principles of Gestalt Psychology", und Kurt Lewin entwickelte seine dynamische Persönlichkeitstheorie und Feldtheorie. Mit seinem im Todesjahr 1934 erschienenen Buch "Denken und Sprechen" begründete L. S. Wygotski die russische "kulturhistorische Schule".

 

Wichtig waren damals auch der Operationalismus (Percy W. Bridgman 1927; Hugo Dingler 1938), die "unity of science"-Bewegung und Karl Raimund Poppers "Logik der Forschung" (1934).

 

Der Verhaltensphysiologe Erich von Holst entdeckte (1936) auch im Nervensystem neben Reflexen und Reaktionen eigenständige Aktivitäten, Aktionsbereitschaften, vergleichbar den Stimmungen.

 

 

Seit 1500: Suche nach allgemeinen Lösungsmethoden, Denk- und Arbeitstechniken

 

Literatur siehe:

Erfolgstraining / Lebenskunst - Überzeugen / Sich Durchsetzen / Selbstbehauptungstraining (1600-2001)

Praktische Tips für Manager (1798-2007)

 

 

Der Wunsch nach allgemeinen Lösungsmethoden, nach Denk- und Arbeitstechniken ist uralt.

siehe: Erfolgshandbücher und Ratgeber (2400 v. Chr. – 1900)

 

Rudolph Agricola versuchte ihn 1523 mit seinem Werk "De inventione dialectia", Petrus Ramus 1543 mit seinem Buch "Institutiones dialecticae" zu erfüllen. Seit damals, besonders seit 1600 befasste man sich zunehmend intensiver mit Methoden und Experimenten, Projektemachen, Innovationen und Modellen. Der Geistliche Simon Sturtevant schrieb darüber 1612 eine "Heuretika", eine Erfindungslehre.

 

1779 verfasste der Zürcher Gelehrte Johan Jakob Breitinger für die Realschulen eine "Catechetische Anweisung zu den Anfangsgründen des richtigen Denkens". Der Mathematiker, Logiker und Philosoph Bernard Bolzano legte 1837 in seiner "Wissenschaftslehre" eine "Erfindungskunst" vor, und seit mehr als 150 Jahren (1830) reisst die angelsächsische Kette der "How to"-Bücher nicht mehr ab.

  • "How to be personally efficient in business" erlebte 1915 bereits die 10. Auflage,
  • "How to think your way out of your problems to success" erschien 1934,
  • "How to Solve It", von George Polya in Zürich seit 1917 entwickelt, erschien 1945 (dt.: „Schule des Denkens“, 1949),
  • „How to Think Up“ von Alex F. Osborn, 1942,
  • "How to Get Ideas" von Robert Platt Crawford 1948,
  • "How to Think Creatively" von Eliot Dole Hutchinson 1949.

 

 

Seit 1900: Lerntechnik, Efficiency, „produktives Denken“

 

1912 hatte Harrington Emerson "The Twelve Principles of Efficiency" vorgelegt. Der Efficiency-craze setzte ein.

Sowohl in den USA als auch in Europa hatten schon vor der Jahrhundertwende einmal mehr Bemühungen um die Reform des Schulwesens eingesetzt. Aus der experimentellen Pädagogik gingen zahlreiche Anweisungen hervor. Gerade als Ernst Meumann Professor an der Universität Zürich war, publizierte er "Über Ökonomie und Technik des Lernens" (1903), das später erweitert wurde und bis 1920 fünf Auflagen erlebte (Nachdruck 1967).

 

Eine Fülle praktischer Hinweise trat nach dem Ersten Weltkrieg auf, z. B.

Gustav Schmaltz: Die Methoden des Ordnens. Dissertation 1920.

Paul Feldkeller: Logik für Kaufleute. 1921.

Karl Otto Erdmann: Die Kunst, recht zu behalten. 1923, 9. Auf. 1982.

Gustav Grossmann: Sich selbst rationalisieren. 1927, 28. Aufl. 1993.

August Ludovici: Denkfibel. 1927, 5. Aufl. 1937.

Paul Wallfisch-Roulin: Entscheidungstechnik. 1929.

 

Aber schon 1931 meinte die Zürcherin Vera Strasser, sie müsse vor den Gefahren der Denkmethoden warnen.

 

Dauerhafte Bestseller wurden von Friedrich Copei "Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess" (1930; 9. Aufl. 1969) sowie die "Techniken" des wissenschaftlichen Arbeitens von Johannes Erich Heyde (1930; 10. Aufl. 1970) und Horst Kliemann (1934; Neuauflage 1943).

 

Die pionierhaften Untersuchungen über das Problemlösen in den 1930er Jahren wuchsen aus der Gestaltpsychologie heraus, blieben aber lange ohne grosses Echo: z. B. Norman R. F. Maiers Zeitschriftenartikel (1930-33), Karl Dunckers (1935) und Max Wertheimers (posthum 1945) Bücher über produktives Denken. Die darin enthaltenen Aufgaben werden aber heute noch gerne verwendet, z. B. neun Punkte durch vier gerade Linien zu verbinden oder zwei von der Decke hängende Seile zu verknüpfen (Maier), einen Tumor zu bestrahlen oder eine Kerze an. der Wand zu befestigen (Duncker).

Der spätere Begründer der neueren Wirtschaftspsychologie, George Katona, führte 1940 Aufgaben mit Streichhölzern ein.

 

Erst Ende der 50er Jahre benützte man im Deutschen für das produktive Denken die Bezeichnung "Problemlösen" (Werner Hartkopf 1958, Fritz Süllwold 1959).

 

 

Nach 1945: „Kreativität“ und „Informationsverarbeitung“

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand vorerst anderes auf dem Plan: einerseits Kreativität (Alex F. Osborn, 1948; Eliot Dole Hutchinson, 1949; Joy Paul Guilford 1950; Robert Platt Crawford, 1954) und Innovationsforschung, anderseits Operations Research, Kybernetik, Systemdenken, Informationstheorie und Massenkommunikationsforschung, Modell- und Entscheidungstheorie.

Die Denkpsychologie schwamm längere Zeit ziellos daneben her, bis sie in der zweiten Hälfte der 50er Jahre den rettenden Anker erspähte: Denken als "Informationsverarbeitung". Das bedeutete freilich eine drastische Einschränkung. Sowohl die Ergebnisse der Gestaltpsychologie, der verstehenden Psychologie, der Phänomenologie und Tiefenpsychologie, aber auch der Entwicklungs- und Sozialpsychologie gerieten bald unters Eis, ferner etwa die Bedeutung der Erwartung (Tolman und Lewin), der Übersprungshandlung, des Transfers (Übungsübertragung), der Nachahmung und des "divergierenden" Denkens.

 

Wortführer waren zwei Gruppen:

1. in Richtung Artificial Intelligence führten Herbert A. Simon (Nobelpreisträger 1978), J. C. Shaw und Allen Newell (z. B. "The logic theory machine", 1956). Daraus resultierten umfangreiche Computersimulationen.

2. in Richtung Handlungstheorie führten George A. Miller, Eugene Galanter und Karl H. Pribram (z. B. "Plans and the Structure of Behavior", 1960). Vor allem die Arbeitswissenschaft stürzte sich in den 70er Jahren auf diesen Ansatz.

 

Die ganze Breite der Sichtweise von Problemen ging also flöten. Nichts mehr von Lücken oder Gleichgewichtsstörungen, Pfuscherei oder Orientierungslosigkeit, Unruhe oder Spannung, Verstehen oder Einsicht.

 

Eines der Gegengewichte bot allerdings die aus der Gruppendynamik hervorgegangene Organisationsentwicklung (z. B. Warren G. Bennis, Kenneth D. Benne, Robert Chin: „The Planning of Change“, 1961; dt.: „Änderung des Sozialverhaltens“, 1975).

 

In der neuen Betrachtungsweise besteht ein Problem nur noch aus der dreistelligen Relation:

  • Ausgangszustand
  • Operatoren (oder Transformationen, Umformungsregeln)
  • Endzustand

(Fritz Süllwold 1959; Walter Ralph Reitman 1964/65; Friedhelm Klix 1967/1971; Dietrich Dörner 1976). Schon die Einhelligkeit der Annahme bei unzähligen Forschern wie Popularisatoren müsste stutzig machen.

Friedhelm Klix führte 1963 den "Turm von Hanoi" ein.

 

 

Kritik an diesem engen Ansatz

 

Kritik an diesem engen Ansatz wurde denn auch bereits in den 70er Jahren von der "Kritischen Psychologie" (Klaus Holzkamp 1973, Rainer Seidel 1976) geübt:

  • Die Entstehung von Problemen bleibt unberücksichtigt (dabei kann ihre Beachtung Hinweise auf die Lösung enthalten).
  • Er ist nur für Probleme mit gut definiertem Endzustand brauchbar (well-defined problems)
    (die meisten alltäglichen Probleme haben aber keinen solchen).
  • Ging die Gestaltpsychologie eher von einem sichtbaren Objekt und dessen vorhandenen oder fehlenden Qualitäten aus, so abstrahiert der Informationsverarbeitungsansatz weitgehend vom Objekt und seinen Besonderheiten.
  • Die Mitwirkungen von Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Gefühl und Persönlichkeit einerseits, Situation und Umgebung anderseits sind weitgehend ungeklärt.

 

Was dahinter steckt, hat Abraham Maslow schon 1954 herausgeschält: Die Forscher suchen sich ihre Untersuchungsgebiete nach den ihnen verfügbaren Methoden aus, statt umgekehrt zu fragen, welche Probleme im realen Leben auftreten und dann die hiefür geeigneten Untersuchungsmethoden zu entwickeln.

 


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