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                     Von guten und schlechten Problemlösern

 

Zu Dietrich Dörner, Heinz W. Kreuzig, Franz Reither, Thea Stäudel (Ed.): Lohhausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Bern: Huber 1983.

 

Siehe auch:    Dietrich Dörner: Die Logik des Misslingens. Reinbek: Rowohlt 1989; 15. Aufl. 2002; erweiterte Neuausgabe Reinbek: Rowohlt Taschenbuchverlag 2003; 4. Aufl. 2005.

Dietrich Dörner: Zwölf Jahre danach: Lohhausen im Rückblick. In: Lohhausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1983. Bern: Huber 1994.

 

Mit drei Tabellen am Schluss

 

siehe ferner: Theoretisches Schema des Problemlösungsablaufes

                       Wovon handelt die heutige Psychologie?

 

 

Brisante Ergebnisse für Unternehmer und Politiker wie für Personalchefs und Ausbilder enthält ein 450seitiger Forschungsbericht über Systemdenken.

 

Wichtige Erkenntnisse sind: Die Lösung komplexer Probleme hängt nicht mit Intelligenz und Kreativität zusammen, dafür mit Selbstreflexion und Selbstsicherheit. Und: Gefühle beeinflussen die Problemlösung mehr als wir es wahrhaben wollen. Training hilft nichts.

 

Bürgermeister für zehn Jahre

 

Der Forschungsbericht schildert eines der aufwendigsten psychologischen Experimente der Geschichte. Es wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt und in den Jahren 1975 bis 1978 an der Universität Giessen durchgeführt. Die Auswertung dauerte weitere drei Jahre.

 

Im Unterschied zu herkömmlichen Denksportaufgaben - bei welchen klare Ziele gesetzt werden, die Lage bekannt und übersichtlich ist und die Objekte keine Eigenaktivität aufweisen - hatten 48 Personen am Computer ein höchst komplexes Problem zu lösen: Sie sollten zehn Jahre lang in einer simulierten hessischen Kleinstadt als Bürgermeister amtieren.

Das Computermodell bestand aus etwa 2000 Variablen, die in vielfältiger Weise miteinander verknüpft waren. Weit über eine Million Eingriffe waren in acht Sitzungen möglich. In jeder Sitzung hatten die Versuchspersonen zwei Stunden Zeit, sich Massnahmen zu überlegen und Entscheidungen zu treffen. Bei der nächsten Sitzung wurden sie über die Effekte informiert; sie konnten dem Versuchsleiter auch beliebige Fragen stellen. Sie wurden aufgefordert, möglichst viel „laut“ zu denken. Das wurde mit Tonband und schriftlich protokolliert. Dazu notierte der Versuchsleiter auch seine eigenen Beobachtungen und Kommentare. Während und nach dem Hauptversuch mussten sich die Versuchspersonen ferner zahlreichen psychologischen Tests unterziehen.

 

Ökonomischer Erfolg bei massiver Ausgabensteigerung

 

Was ergab sich nach der zehnjährigen „Regierungszeit" der 48 Personen? Ingesamt gesehen stellte sich - bei einer Zunahme der Einwohner um 15 Prozent - ein ökonomischer Erfolg, aber ein sozialer Misserfolg heraus.

Im einzelnen: Es ergab sich eine „Werterhöhung" der Stadt um 27 Prozent und eine Produktivitätssteigerung um fast 20 Prozent. Der Lebensstandard stieg um 34 Prozent, freilich stiegen auch die Ausgaben: für Lebensmittel um 51, für Gebrauchsgüter um 45, für Energie um 54 und für die Entsorgung um 40 Prozent.

Die Ausgaben stiegen also wesentlich stärker als die Einnahmen. Letztere wurden zudem immer mehr für laufende Kosten festgelegt (74 Prozent gegenüber anfänglich 60 Prozent).

 

Kehrseite des Erfolgs waren die Verdoppelung der anfänglichen Arbeitslosenrate (absolut +146 Prozent) und ein Anstieg der Wohnungssuchenden von 11 auf 17 Prozent (absolut +74 Prozent) trotz Wohnungsbau (+25 Prozent).

Die Zufriedenheit der Einwohner sank fast gleichmässig.

 

Auch gute Problemlöser weit vom Optimum entfernt

 

Die Ergebnisse der einzelnen Versuchspersonen wurden anhand von 17 respektive zwei kritischen Variablen auf ihre „Güte" beurteilt, ferner durch die fünf Versuchsleiter, 20 „naive" Beurteiler und die Versuchspersonen selber. Alle Beurteilungen stimmten hochgradig überein (0,58 bis 0,88).

Daher lässt sich mit gutem Gewissen eine Gruppe von guten und eine von schlechten Problemlösern unterscheiden. Aufgrund psychologischer Tests liessen sich diese beiden Gruppen nicht bestimmen, wohl aber waren die Versuchsleiter schon nach der ersten Sitzung dazu in der Lage.

 

Gute Problemlöser brachten das Gemeinwesen zum Florieren - allerdings mit erheblicher Steigerung der Ausgaben für Energie und Entsorgung.

Schlechte Problemlöser trieben die Stadt und Fabrik in enorme Verschuldung.

Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot konnten beide Gruppen nicht beheben. Immerhin ist deren Anstieg bei den guten Problemlösern geringer.

 

Dass auch die Ergebnisse der guten Versuchspersonen weit unter den Möglichkeiten lagen, welche bei bester Kenntnis des „Systems" erzielt werden könnten, zeigten die fünf Versuchsleiter, welche dieselbe Aufgabe durchspielten. Sie steigerten das Gesamtkapital der Kommune um 550, das Fabrikkapital um zirka 1500, die Produktion um 300 und den Verkauf um 250 Prozent. Ferner konnten sie die Einwohnerzahl fast stabil halten (+5 Prozent) und die sozialen Probleme nahezu zum Verschwinden bringen (25 Arbeitslose, 50 wohnungssuchende Familien). Der Zufriedenheitsindex stieg um mehr als drei Indexpunkte.

 

Input - Output beobachten

 

Der Unterschied zwischen guten und schlechten Problemlösern ist schon beachtlich. Noch viel grösser ist er aber zwischen beiden Gruppen und den Kennern des komplexen Systems, vor allem, was das Gesamtkapital, die Produktion und den Sozialbereich betrifft.

Das deutet, wie auch viele andere Beobachtungen, auf eine ausserordentlich wichtige Voraussetzung für Erfolg hin: und zwar nicht auf die Kenntnis der inneren Struktur, sondern vielmehr auf die Kenntnis der Input-Output-Struktur, die man durch die Beobachtung des Verhaltens anderer Personen und dessen Folgen erwerben kann.

 

Konsistenz der Entscheidungen und Selbstreflexion

 

Weitere wichtige Faktoren ergeben sich aus dem Vergleich von guten mit schlechten Problemlösern. Gute zeigen folgendes Verhalten:

  • sie treffen mehr Entscheidungen (8 am Anfang, 18 ab Versuchsmitte; gegenüber 4 bis 7),
  • sie gehen mehreren Absichten nach und treffen mehr Entscheidungen pro Absicht,
  • sie kümmern sich stärker und früher um die Sicherung der ökonomischen Basis als zum Beispiel um den Bereich Freizeit,
  • ihre Entscheidungen sind stabiler, weniger sprunghaft und weniger auf den Augenblick bezogen (ad hoc),
  • sie überprüfen eher ihre Hypothesen durch Nachfragen und fragen häufiger nach Ursachen,
  • sie festigen durch Wiederholungen (rehearsal) ihr Gedächtnis,
  • sie gehen eher planmässig, nach einem Konzept vor,
  • sie üben mehr Selbstreflexion, das heisst sie suchen durch Rückblicke auf Schwierigkeiten und Misserfolge nach Verbesserungsmöglichkeiten.

 

Schwerpunkte setzen dank „innerem Bild"

 

Daraus kann man drei zentrale Aussagen ableiten:

 

1. Gute Problemlöser erkennen relevante Problembereiche schneller, konzentrieren sich darauf und versuchen, sie zu beeinflussen. Nach solchermassen gelungenen Problemlösungen wechseln sie auf ein differenziertes Vorgehen einer breitgefächerten Themenbehandlung über.

 

2. Gute Problemlöser versuchen, sich ein „inneres Abbild" des Systems in ihrem Gedächtnis aufzubauen und es laufend zu überprüfen. Das geschieht schneller und nachhaltiger, bewusster und aktiver als bei schlechten Problemlösern. Diese verzichten sogar bei zunehmenden Schwierigkeiten darauf und nehmen zu „Notfallreaktionen" Zuflucht: Resignation, Flucht in irrelevante Aufgaben, Holzhammermethoden.

 

3. Gute Problemlöser gehen sachlicher und konsequenter vor, informieren sich besser und versuchen dauernd, ihre Erfahrungen zu speichern und daraus zu lernen.

 

Nicht Kreativität, sondern Selbstsicherheit

 

Was steckt hinter all diesen Unterschieden? Weder Intelligenz noch Kreativität, noch Motivation! Auch nicht Geschlecht oder Beruf, Einstellungen oder Werthaltungen, Vorkenntnisse oder Training in Denksport oder Systemdenken.

 

Das einzige, was gute von schlechten Problemlösern unterscheidet, betrifft nicht den Verstandes-, sondern den Gefühlsbereich. Der gute Problemlöser ist selbstsicher; er fühlt sich kompetent.

 

Der Unterschied liegt also in verschiedenen emotionalen Reaktionen auf Schwierigkeiten und Anforderungen des Problems. Während gute Problemlöser in schwierigen Situationen Ruhe bewahren und versuchen, die Ursachen dafür respektive die ihrer eigenen Unfähigkeit zu bewältigen, zu ergründen, geraten schlechte Problemlöser in Angst vor Misserfolg und damit in Stress, was ein zerfahrenes, desorganisiertes Verhalten erzeugt. Die völlig Erfolglosen reden viel, tun aber wenig Sinnvolles.

 

Dabei sind zwei Arten von Selbstsicherheit zu unterscheiden. Es gibt Menschen, die sich um so selbstsicherer beschreiben, je mehr Einfälle sie produzieren. Kreativität erzeugt damit eine Pseudoselbstsicherheit. Doch diese trägt nichts zu Problemlösungen bei. Die dafür erforderliche Selbstsicherheit besteht vielmehr in einem „optimistisch-realistischen, selbstkritischen Zutrauen in die eigene Handlungsfähigkeit für wesentliche Lebensbereiche".

 

Kompetenz = Steuerbarkeit des eigenen Denkens

 

Kompetenz eröffnet die Chance, sein eigenes Denken steuern zu können. Und das bedeutet vor allem: geistig Umschalten zwischen Neugier und Konzentration, je nach betrachteten Objekten oder Problembereichen.

Neugier bringt Informationen, welche hernach in neue Zusammenhänge gebracht werden müssen. Das darf aber nicht in eine Fixierung auf das Objekt oder allzu detaillierte Analysen hinauslaufen, sondern muss von erneuter „Exploration" und damit Erweiterung und Modifizierung der Zusammenhänge abgelöst werden.

 

Daraus ergibt sich eine grössere Anzahl „abstrakter Schemata", die für Problemlösungen verfügbar sind. Der Erwerb von solchen ist ein lebenslanger Lernprozess und daher weder durch kurze Strategie- noch Taktik-Trainingsprogramme zu erzielen.

 

 

 

Übersicht

Problemlöser

 

Anfangs-

betrag

schlechte

gute

Kenner

1. Bewältigung wirtschaftlicher Probleme

 

 

 

 

Gesamtkapital der Kommune

22 Mio.

- 170%

+ 100%

+ 550%

Fabrikkapital

4 Mio.

- 2000%

± 0 %

+ 1500%

Fabrikeinnahmen

10 Mio.

- 30%

+ 90%

-

Verkaufszahlen

200

- 70%

+ 90%

+ 250%

Energiekosten

2,4 Mio.

+ 25%

+ 75%

-

Entsorgungskosten

2,5 Mio.

± 0 %

+ 50%

-

2. Bewältigung sozialer Probleme

 

 

 

 

Arbeitslosenquote

2,1%

6,2%

3,6%

0,7%

Vermehrung der Wohnungen

650

+ 11%

+31%

-

Wohnungssuchende

11%

19%

15%

1,4%

Zufriedenheitsindex

5

- 0.85

- 0.4

+ 3.2

 

 

 

Kennzeichen guter Problemlöser

 

P  positive Einstellung, probieren, planmässiges Vorgehen

O  Offenheit, Optimismus

S  Systemdenken, Selbstreflexion, Selbstsicherheit, Stabilität

I  Informationsbeschaffung, intensive Suche, Interesse

T  Tatkraft, Taktik

I  innere Abbilder, Integration, Input-Output beobachten

V  Vertrauen, Vorsicht, Verantwortung

 

 

 

 

Kennzeichen der Lohhausen-Studie für

schlechte Problemlöser

gute Problemlöser

 

 

 

 

• wenig Entscheidungen

• mehr Entscheidungen

 

• weniger Absichten und weniger Entscheidungen pro Absicht

• verfolgen mehr Absichten nachhaltiger und multidimensionaler

 

 

 

 

• trotz Beschäftigung mit wichtigen Themen nicht genug Entscheidungen

• mehr Massnahmen pro behan deltem Thema

 

• erkennen zentrale Probleme später und reagieren heftig darauf

• erkennen und steuern zentrale Probleme früher und können sich später anderen Bereichen zuwenden

 

• kümmern sich zuerst um sekundäre Bereiche (Freizeit)

• kümmern sich früher und stärker um ökonomische Basis

 

• Teilziele haben unklare Beziehung zum Generalziel

• bessere Zielanalyse und -hierarchisierung

 

• aussenorientiert, d. h. leicht durch Umstände zu beeinflussen

• differenzieren klar in „Figur" und „Grund"

 

• augenblicksorientiert, Ad-hoc-Entscheidungen

• hohe Konsistenz des Entscheidungsverhaltens, fällen gebündelte Entscheidungen

 

• lassen sich von Einfällen leiten

• gehen planmässiger vor

 

• situationsabhängig

• zielorientiert

 

• lageorientiert

• handlungsorientiert

 

• ergebnisorientiert

• folgeorientiert

 

• impulsiv

• reflexiv

 

• geraten in thematisches Vagabun dieren, springen von Absicht zu Absicht

• bleiben bei den wichtigen Sachen und behalten Richtung des Handelns bei

 

• legen Massnahmen rascher fest und lassen Themen schneller fallen

• gründlichere und differenziertere Behandlung der Themen

 

• fragen eher nach Informationen zur allgemeinen Orientierung

• überprüfen ihre Hypothesen durch Nachfragen, insbesondere nach Ursachen

 

• erinnern sich und wiederholen weniger

• bauen Gedächtnis auf

 

• verlieren sich in Details und geraten daher unter Zeitdruck

• verwenden viel mehr und umfangreichere Tabellen

 

• verlieren bei Schwierigkeiten das Vertrauen in ihr Gedächtnismodell

• bauen „inneres Abbild" auf und modifizieren es

 

• tendieren zu „automatisierten" Reaktionen, stereotypen Verhaltensweise

• versuchen, zu lernen und eigenes Verhalten kritisch zu betrachten

 

• neigen bei Misserfolg eher zu unangepassten Stressreaktionen: Abschiebender Verantwortung, Radikalkuren, Untätigkeit, Redseligkeit, Resignation, Abwendung

• gehen gezielter mit ihrem Denken um (Steuerung, Selbstreflexion), suchen nach Verbesserungsmöglichkeiten

 

• sind emotional labiler

• sind weniger neurotisch

 

• sind unsicher, ängstlicher

• sind selbstsicherer und weniger leicht zu entmutigen

 

• setzen sich nicht gerne neuen Umgebungen aus

• neigen zu Exploration, sind eher extravertiert

 

• brauchen weniger abstrakte Wörter

• verfügen über mehr abstrakte Begriffe (-heit, -ion, usw.)

 

• sind geschwätzig

• fassen sich kurz

 

• führen Misserfolge häufiger auf Wissen, Fähigkeiten, Werte zurück

• führen Erfolge eher auf genaue Problemgewichtung, Hintergrund und Nebenwirkungsanalyse, Dosierung von Massnahmen zurück

 

• äussern sich negativ zur „Kirche", befürworten Kirchenaustritt, betonen aber oder suchen nach Werten und Halt für sich und andere

• fordern (politisch), sozialen und emotionalen Bedürfnissen der Gesellschaft solle Rechnung getragen werden

 

 

 

(geschrieben im August 1984;

erschienen in: Erfolgs- und Karrierehandbuch, Heft 8, 1986, 609-615;

sowie unter dem Titel „Wer hat Angst vor ‚Lohhausen’“ in der Schweizerischen Handelszeitung, 11. April 1985, S. 11)

 



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