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Inhalt

Ludwig Hohl 65

Text für eine Depeschenmeldung 1969

dazu:

35 Jahre zu spät (1973)

zu „Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren“ (1973)

Antwort von Dr. Siegfried Unseld

und

Ludwig Hohl im Verlag Suhrkamp, Frankfurt am Main

Ferner weitere Publikationen über Ludwig Hohl

 

 

siehe auch – separat - drei Berichte zu seinem 70. Geburtstag am 9. April 1974:

Ludwig Hohl: Kontraste

Ludwig Hohl: Dichter und Mensch

Die Bergfahrt des Ludwig Hohl

 

und schliesslich

Eine Chronik des zunehmenden Grauens

Zu Ludwig Hohls „Bergfahrt“ (1975)

 

 

Nachlassinventare:

http://ead.nb.admin.ch/html/hohl.html

 

http://ead.nb.admin.ch/html/hohl_D-03.html

http://ead.nb.admin.ch/html/hohl_D-06.html

 

 

Ein Rundschreiben über Aktivitäten im Umkreis von Ludwig Hohl wird betreut von

Martin Raaflaub

martin.raaflaub@unilu.ch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Luzern und

Begünstigter des SNF-Forschungsprojekts

"Ludwig Hohls (1904-1980) Philosophie in den 'Notizen'"

Er betreut auch die Stiftung, die eine ausserordentlich reichhaltige Website bietet: http://www.ludwighohl.ch/

 

 

 

Ludwig Hohl 65

 

In Genf feiert am 9. April der Dichter und Philosoph Ludwig Hohl seinen 65. Geburtstag. Er wurde 1904 in Netstal (GL) geboren und lebte von 1924 bis 1936 ausserhalb der Schweiz, die letzen drei Jahre davon in Holland, “in der grössten geistigen Einöde“, wie er diese prüfungsvollen Jahre selbst kennzeichnet. Dennoch schrieb er hier sein Hauptwerk, die zweibändigen „Notizen“ (erschienen 1944/54).

Seit 1937 lebt er in den bescheidensten Verhältnissen in Genf. Seine weiteren Schriften, z. T. im Selbstverlag erschienen, sind

  • "Nuancen und Details“ (1939 [I, II]; 1942 [III]; Neuauflage 1964)
  • der Erzählband „Nächtlicher Weg'' (1943)
  • die zwei Erzählungen „Vernunft und Güte (1956) und „Polykrates“ (1961),
  • „Wirklichkeiten" (1963) und
  • „Dass fast alles anders ist" (1967).

 

Hohl schreibt keine gesammelten Aphorismen, sondern sorgfältig und prägnant formulierte und ausgewählte Gedanken und Geschichten, bittere Wahrheiten, die einen Zusammenhang haben und in einem streng ausgearbeiteten thematischen Aufbau – „Struktur“ aber nicht System – stehen. Seine Werke, voll bissigen und of gruseligen, aber immer feinen Humors und von scharfsichtiger und geistvoller Beobachtungsgabe gezeichnet, sind auf ein lebenslanges Wachstum angelegt, das im Leser Fortsetzung und Erweiterung finden soll.

 

Ein Grossteil seiner Aufzeichnungen ist bisher ungedruckt. „Das sind Spuren nur von endlosen Stoffen“. Erstaunlich ist die äusserst geringe Resonanz, die seine nur von wenigen gekauften Bücher gefunden haben.

 

An SDA (Schweizerische Depeschenagentur), 1.4.1969,

ähnlich im April 1974 und im April 1979.

 

 

 

35 Jahre zu spät

 

Erschienen unter dem Titel: Eine streng aufgebaute Komposition – Zum Erscheinen eines Teilstücks der „Notizen“ von Ludwig Hohl.

Tages-Anzeiger, Zürich, 22.1.1973

 

 

Es ist nicht ersichtlich, was Dr. Siegfried Unseld, den Leiter des Suhrkamp-Verlags, der sich nun des Oeuvres von Ludwig Hohl angenommen hat, dazu bewog, aus den 12 Teilen dessen Hauptwerks "Die Notizen" ausgerechnet den zweiten – „Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren" in der Bibliothek Suhrkamp (Frankfurt am Main) einer hoffentlich ständig zahlreicher werdenden Leserschaft vorzustellen.

Nur weil es der längste Teil ist? (* siehe unten: Leserbrief)

Eher empfohlen hätte sich beispielsweise der sehr persönliche Teil "Apotheker". Doch dieser trägt in Klammern den Untertitel: "Von Narren, Redaktionen, Hund, Sonn- und Feiertagen, Dummheit, Hässlichkeit, Faulheit." Solches konnte man dem "Bürger" vielleicht noch nicht "zumuten". Er hätte schockiert sein können und sich selbst im Apotheker karikiert gefunden haben ...

 

Ludwig Hohl ist wohl der bekannteste Unbekannte. Ein Grosser der Schweizer Literatur, der manche seiner Bücher im Selbstverlag, oder wie es auf französisch heisst "chez l'auteur", herausgeben musste und dem weder der Artemis Verlag mit der Publikation der "Notizen" (1944/54), noch der Tschudy-Verlag mit derjenigen von "Vernunft und Güte" (1956) und "Wirklichkeiten" (1963), noch der Walter-Verlag mit derjenigen von "Nuancen und Details" (1964) und "Dass fast alles anders ist" (1967) auf die Beine zu helfen vermochten.

 

Das äusserst entbehrungsreiche Leben des bald 69jährigen ist schnell erzählt: Geboren 1904 in Netstal (Glarus), Schulen im Thurgau, 1924 nach Paris, Wien 1930, Holland 1931 bis 1937, seither in Genf, wo er seit Jahrzehnten in einem Keller wohnt.

 

Seine reiche Ernte erschien, wenn sich überhaupt ein Verleger fand, in Bruchstücken. So ist der "eigentliche, zu gleicher Zeit entstandene und abgeschlossene" dritte Teil von "Nuancen und Details" 1939 "nur aus ökonomischen Gründen in das genannte Buch nicht aufgenommen worden".

Ebenso zerfallen die "Notizen" nicht in zwei Bände. Sie bilden vielmehr "vor allen andern Dingen eine Einheit", und Hohl durfte zehn Jahre prozessieren, bis der Artemis-Verlag geruhte, den sogenannten „zweiten Band" auch zu drucken.

Wie wenig Resonanz Hohls Werk fand, lässt sich daraus ersehen, dass das Notizen-Exemplar des Rezensenten noch lange nach Öl und Moder roch, nachdem es ein Suchhändler aus den Verliessen seines Lagers "helvetischer Restposten" heraufgeholt hatte.

 

Hohl musste 67 Jahre alt werden bis, nach vorbereitendem Briefwechsel, Dr. Unseld im Frühling 1971 in seine Arbeitshöhle unweit der Jonction hinabstieg und versprach, das Gesamtwerk unter seine Fittiche zu nehmen. Tatsächlich erschien dann bald in der Bibliothek Suhrkamp der "Nächtliche Weg" (1943) mit neun Erzählungen aus den dreissiger Jahren. Aus dieser Zeit stammen auch die "Nuancen und Details" und die weit über 1000 Seiten der Notizen, "entstanden in den drei Jahren vom 1934 bis 1936, während deren ich in Holland in der grössten geistigen Einöde lebte".

 

Diese Echolosigkeit und Einsamkeit wurde erst 1969 durchbrochen, indem Studio Bern (Eduard Klopfenstein) und die "Revue de Belles-Lettres" sich für Hohl einsetzten. Letztere in einer Sondernummer mit Beiträgen von Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Kurt Marti, François Bondy, Manfred Gsteiger, Otto F. Walter, Peter Bichsel und Jörg Steiner sowie den treuen Übersetzern Walter Weideli und Rainer Michael Mason. Auch zwei Dissertationen gibt es unterdessen über Hohl.

Dem wahrlich späten "Erfolg" sollte also nichts mehr im Wege stehen, zumal Suhrkamp dieses Jahr nun als Band I der Gesamtausgabe das erst jetzt endgültig fertiggestellte, sozusagen legendäre Werk "Von den hereinbrechenden Rändern" herausbringen will. Als Folgebände sollen dann eine Neuauflage der "Notizen" sowie alle bisher gedruckten wie auch die zahlreichen ungedruckten Arbeiten erscheinen.

 

Der Wille zur Grösse

 

„ Ich stellte mir vor ...", so beginnt der 19. der 333 Gedanken oder .Beobachtungen - nicht: Aphorismen! - des vorliegenden Bändchens. Gantenbein Mitte der dreissiger Jahre? Warum nicht, trägt doch diese Nummer 19 die Überschrift "Veränderung des Bewusstseins" und endet mit dem Satz: "Denn wo man etwas denken kann, da bietet sich früher oder später ein Weg."

Schlicht ausgedrückt, geht es Hohl um die Frage aller Fragen: Was ist der Sinn des Lebens, wer bin ich, wo ist mein Ort, welches ist mein Weg? Was Hohl zu dieser Frage beibringt, ist in unheimlicher Präzision ausgefeilt. Jeder zweite Satz reizt zum Zitieren. Das sind Juwelen von verhaltener Feuerkraft, wie etwa:

"Eine grosse Idee ist in erster Linie eine Fackel, die weithin leuchtet, beleuchtet, auch die ihrem Ort entgegengesetzten Gebiete" (73,vgl. 301).

Oder: Die Freudschen Psychoanalytiker "gleichen Leuten, die mit geschwungenen Äxten irgendwelchen Passanten nachrennen, die ihnen nichts getan haben und von denen sie nichts zu erwarten haben“ (74).

 

Zur Bewältigung des Lebens ist nötig: Geist, Grösse, Produktivität. Damit zusammen hängen aber auch so verschiedene Probleme wie Nächstenliebe, das Gute, Veränderung und Entwicklung, Kraft und Erkenntnis, Dummheit und Faulheit.

"Die gute Tat muss in deinem hauptsächlichen Dasein stattfinden" (97).

"Reisse dich zusammen zum Entscheidenden!" (102).

"Mir scheint, es ist gerade eben nicht schwer, richtig zu leben - für den, der sich dauernd, schrittweise aktiv verhält -, die Menschen sind nur entsetzlich faul. Da gehen sie lieber eine Stunde beten, als eine Minute zu denken, so faul sind sie" (128).

"Wenn Du dich verwandelst, verwandelt sich die Welt" (137).

"Man muss seine Kräfte dahin tragen, wo das höchste Resultat ist, das diese Kräfte erreichen können" (161).

 

Hohl ist weit mehr als ein Schriftsteller oder Philosoph. Er ist ein Denker. Fern aller mechanischen Dialektik geht es ihm um die spannungsvolle Einheit von Leben, Geist und All. Was für bedenkenswerte Sätze:

"Etwas vom Schwersten: Die Zahl zwei zu denken. (Der Jugend ganz unmöglich)" (158).

"Die Jugend sucht ihr Heil immer in Systemen - statt in der Natur" (248).

"Die grössten Leiden sind immer geheime" (167).

"Das schwerste Leiden ist immer das, das mit einer Leistung zusammenhängt" (254), es ist tragisch (294).

"Geist misst man an der Stärke des Widerstandes gegen das, was die Allgemeinen Geist nennen" (189).

"Was nennen wir überhaupt Geist? Jenes Anfangsstadium; das Bewusstwerden einer Kraft, die die Welt verändern kann" (208).

"Die Vergeudung ist das oberste (das quantitativ am meisten bedeutende) Gesetz der Natur" (225).

"Theorie ist das Feindliche. Beobachtung ist das Helfende ... Was ist Beobachtung? Liebe" (241, 242).

„Die Hoffnung des Handelns ist das Erkennen. Aber des Erkennens Vater und Sohn ist das Handeln" (264).

"Wenn er nicht einmal das Komplizierte begreift, wie soll er das Einfache begreifen?" (282).

"Die Reichen wollen immer moralische Erziehung statt Geld geben. Die Armen aber möchten immer das tun, was nur die Reichen tun können, nämlich Geld geben, und vergessen ganz, was sie an Reichtum haben" (300).

 

Es ist kein Kaleidoskop, das Hohl vor unsern staunenden Augen dreht. Vielmehr ist es eine streng aufgebaute musikalische Komposition, die zum einfühlsamen Hören auffordert. Motive wie Schule, "falsche Vorbereitung" und Eltern, Gottesfrage und Christentum, Glaube, Wissen und Wahrheit, Kunst, Forschung und Politik, Jugend und Alter, aber auch Tragik und Unglück, die finanzielle Notlage und das Exil des Schöpferischen klingen auf.

Doch stets meldet sich das Verlangen nach Kommunikation, das Echte, Richtige, Höchste, Reale mitteilen zu können: "... die einzige soziale Einstellung: sich selbst im andern denken; die Einstellung dem Leiden als Leiden gegenüber mit Aufhebung der Person" (323).

 

Wir sind einsam - "aber nur, weil die andern so entsetzlich faul sind" (326). Das schrieb Hohl vor über 35 Jahren ...

 

 

 

*Leserbrief im Tages-Anzeiger, 9. Februar 1973:

 

Nie quantitativ

 

In einer Rezension des Bandes «Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren» von Ludwig Hohl in der Bibliothek Suhrkamp schrieb Roland Müller im Tages-Anzeiger vom 22. 1.: «Es ist nicht ersichtlich, was die Leitung des Suhrkamp-Verlages, die sich nun des Oeuvres von Ludwig Hohl angenommen hat, dazu bewog, aus den zwölf Teilen des Hohlschen Hauptwerkes ‘die Notizen' ausgerechnet den zweiten ‘Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren’ in der Bibliothek Suhrkamp einer hoffentlich ständig zahlreicher werdenden Leserschaft vorzustellen. Nur, weil es der längste Teil ist.»

 

Die Motivation des Suhrkamp-Verlages für seine Publikationen ist nie quantitativ. In diesem Falle ist die Frage auch ganz eindeutig zu beantworten. Ludwig Hohl sieht sein Hauptwerk, «Die Notizen», als geschlossene Einheit. Er selbst hat bestimmt, dass als einziger Teil jenes Kapitel als selbständiger Teil herausgelöst und publiziert werden dürfe.

 

Suhrkamp-Verlag:

Dr. Siegfried Unseld, Frankfurt a. M.

 

 

 

Ludwig Hohl im Verlag Suhrkamp, Frankfurt am Main

 

Nächtlicher Weg. Erzählungen. 1971

Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren. (Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung. Teil 2) 1972

Nuancen und Details. 1975

Bergfahrt. 1975

Varia (Aus: Die Notizen). 1977

Vom Arbeiten. (zugleich erschienen als T. 1 u.12.: Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung), 1978

Das Wort fasst nicht jeden. Über Literatur. 1980

Die Notizen. Oder Von der unvoreiligen Versöhnung. 1981

Dass fast alles anders ist. 1984

Von den hereinbrechenden Rändern. Aus dem Nachlass herausgegeben von Johannes Beringer, 2 Bde 1986

Und eine neue Erde. Im Auftrag der Ludwig Hohl-Stiftung hrsg. von Johannes Beringer, 1990

Mut und Wahl: Aufsätze zur Literatur. Herausgegeben von Johannes Beringer, 1992

Jugendtagebuch. Herausgegeben von Hugo Sarbach, 1998

Aus der Tiefsee. Paris 1926. Herausgegeben von Ulrich Stadler, 2004

Ludwig Hohl: „Alles ist Werk“. Ausstellungskatalog: Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, 11.3-15.5.2004; Strauhof, Zürich, 11.8-28.11.2004. Herausgegeben von Peter Erismann, Rudolf Probst, Hugo Sarbach 2004

Mitternachtsgesellschaft. 2005

 

 

Ferner weitere Publikationen über Ludwig Hohl:

Ludwig Hohl (1904-1980). Akten des Pariser Kolloquiums/ actes du colloque de Paris, 14.-16.1.1993. herausgegeben von Jean-Marie Valentin. Bern: Peter Lang 1994.

Werner Morlang (Hrsg.): Die verlässlichste meiner Freuden. Hanny Fries und Ludwig Hohl. Gespräche, Briefe, Zeichnungen und Dokumente. München, Wien: Nagel und Kimche 2003.

Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Ludwig Hohl. Text + Kritik I/ 2004; Sonderheft (= Heft 161), München 2004.

Rudolf Bussmann, Martin Zingg (Hrsg.): Ludwig Hohl. drehpunkt, Sonderheft (= Heft 118), Basel 2004.

Johannes Beringer: Hohls Weg. In: Tumult, Bd. 28, Berlin 2004, 189-211.

Elsbeth Tschopp: „Sie meinen wohl den verlorenen Sohn!“ Ludwig Hohl, eine Kindheit im Thurgau. Thurgauer Jahrbuch, Frauenfeld: Huber, Bd. 80, 2005, 89-96.

Irmgard Fuchs: Ludwig Hohl. Der Wegkundige. In Irmgard Fuchs (Hrsg.): Tiefenpsychologie und Revolte. Zur Humanisierung des Arbeitslebens. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, 153-178.

Rudolf von Bitter (Hrsg.): „Es ist schwer, so ins Dunkel zu reden“. Briefe [von Ludwig Hohl] an Isak Grünberg 1930-1937. Wädenswil: Nimbus, Kunst und Bücher 2011.

 


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