Home Eine Chronik des zunehmenden Grauens

 

Zu Ludwig Hohls "Bergfahrt" (1975)

 

 

 

Das ist eine Chronik der Niederlagen, der enttäuschten Hoffnungen, des Unheils.

 

Dabei fängt es so harmlos an. Schon der schlichte Titel "Bergfahrt" erinnert an frohe Gesänge und lustige Studenten, die mit den Vögeln nach Süden nun sich lenken, an "Laue Luft kommt blau geflossen", und all die Wunder "in Berg und Wald und Strom und Feld".

 

Inhalt

 

Zwei junge Männer warten "im Frühsommer, zu frühester Morgenstunde, tief in den Alpen, am Vereinigungspunkt zweier Täler" (7) auf einen Autobus, der sie ein Stück hinauf in das Nebental bringen soll. "Wie viele wissen, was für eine Magie an einem sehr frühen Morgen dieser Jahreszeit und bei vollkommen gutem Wetter ein fruchtbares Gebirgstal entfalten kann; eine Magie, die zugleich ein Mächtiges und ein unsäglich Zartes, Ahnungsvolles enthält?" (8). Und ringsum stehen "in ungewöhnlich machtvoller, strahlender Anwesenheit" die Gipfel. Am Berg "ist nur Steilheit, gelassener Sieg, fragloser Sieg" (9).

 

In einer Alphütte verbringen sie die erste Nacht. "Entschiedener Regen" hält sie den nächsten Tag in der Hütte zurück (23). Zum erstenmal gefangen! Das Unheil setzt ein. In der "so ganz und gar unwirtlichen Bergnacht (27)  des dritten Morgens brechen sie auf. Ull, der Energischere und Unternehmungslustigere, tritt vor die Hütte. "Der Wind war eisig, und das  Wetter, nein, man konnte es nicht gut nennen!" (31). Auch das Gebirge ist  zu "finstern Massen" geworden: Seine "riesigen Felsenleiber lagerten da, die sich mit der Unendlichkeit zusammengetan hatten, die ganze Welt war ein qualmender Kessel, Grauen erweckend und aussermenschlich, und Ulls Stimme war das einzige, was rief" (31).

 

Im tiefer werdenden Schnee rücken sie mühsam vor. Bald pfeift ein unbarmherziger und heftiger Wind über die weisse Fläche. Wie anders nimmt sich hier der Gipfelbau des Gebirges aus: "Von einer feinen Silberarbeit konnte nicht mehr die Rede sein; die Felsen erwiesen sich jetzt als ein stürmisches Gewirr von zackigen Pfeilern, Rippen, Türmen, finsteren Rinnen, abschüssigen Couloirs" (37). Und dann erst der Gletscher, der "über einer haushohen senkrechten Felswand endete in einem Getümmel jener bizarren Figuren, die man in der alpinistischen Fachsprache Séracs nennt" "Schauerlich und grotesk zugleich" sind diese Blöcke, Spalten und Gewölbe. "Schrecklich!" (41) gibt Johann von sich, der Furchtsame, als er ihrer ansichtig wird.

 

Nach einigen Stunden zwingt sie ein zunehmender Schneesturm zur Umkehr, und in einer unter dem Schnee begrabenen Schutzhütte verbringen sie die dritte Nacht. Obwohl es am nächsten Morgen „völlig windstill und sternenklar" (50) ist, will Johann nicht mehr weiter - "Ich kann halt einfach diesen fürchterlichen Eiswind nicht ertragen ... Und dann diese fürchterlichen Séracs!" (50) -, worauf der andere in einer masslosen Wut im Alleingang den Gletscher überwindet. Auf einem sonnigen Felsengrat sieht er sich dann unversehens in der Falle: Über den Gletscher kann er nicht mehr zurück, und neben ihm türmt sich die Südwand. "Sie sah grauenhaft aus" - ein schauerlicher, grauenerregender Abgrund (59; 64).

 

Das Bild seiner Freundin steigt vor Ulls Augen auf. "Es drängte ihn, laut ihren Namen zu rufen ...War die Liebe zu ihr grösser als die zum Gebirge? Es war eine anders geartete Liebe. Das Gebirge hatte er nun oder vielmehr: es hatte ihn; es umgab ihn, ringsum; im allgewaltigen Sonnenlichte gleissend und in Finsternissen starrend.“ (62)

So geschah das Unglaubliche: "Er, der Stahlharte - in den Auen der andern -, heulte auf seinem Grat“ (63).

 

Als Ull sich nach langem Überlegen zum Abstieg in die Wand wagt, verliert er seinen Pickel und entgeht später, im "furchtbaren Fels" (71) - es" hing vielleicht von einem Millimeter ab" (75) -, dem Absturz. Bei anbrechender Nacht weist ihm die Stimme seiner Geliebten den Weg aus einer aussichtslosen Lage. Auf einem Felsenkanapee hält er sich mit Klappern der Schuhsohlen, Anzünden der Laterne, Pfeifenrauchen und Knabbern wach. Doch gibt es Momente, da er in kurzen Schlaf fällt und, vielleicht Sekunden nur, träumt: "So befand er sich auf einmal in einem warmen traulichen Gemach und erinnerte sich mit mitleidigem Staunen, wie er soeben noch gemeint hatte, frierend bis ins Mark hinein auf schmalem Bande in ungeheuren Felswänden ausgesetzt zu sein; mit undurchdringlicher Schwärze der Tiefe, mit Felsen und Gletschern aufragend bis in den Zenit des Himmels, wie im Rachen eines unvorstellbar gossen Tieres, dessen Zähne die Türme und Eckpfeiler waren, der finstere Abgrund sein Schlund, die Sterne seine Augen" (87).

 

Am Morgen des fünften Tages steigt er am doppelt genommenen Seil von der Plattform in den Firnhang ab, gräbt das eine Bein in den Schnee, macht sich daran, das Seil herunterzuziehen und gerät ins Rutschen. "Er sauste dem Bergschrund entgegen, der weiter und tiefer war, als angenommen werden konnte, - und ward nicht mehr gesehen" (92).

 

Unterdessen hatte schon am Tag zuvor Johann, "munter wenigstens dem Anschein nach" (93), den Abstieg unter die Füsse genommen. Schon fast unten im Tal, will er auf einer Abkürzung die andere Seite erreichen, schlägt, sich in frischgewonnener Überheblichkeit als "Hochalpinist" fühlend, die Warnung eines Bauern in den Wind und gerät am Ufer des Bergbachs ins Gleiten: "So saust er in den Bach hinein und schlägt  mit dem Kopf gegen einen Felsen". Er wird mitgerissen, „im Gezische weitergeschleudert“, und "ohne dass man sagen könnte, in welchem Masse die Schläge an den Kopf und das Wasser daran Anteil hatten - verendete er, rasch" (96).

 

Kontext

 

Das ist die Geschichte des zunehmenden Grauens, des Versagens, für deren endgültige Fassung Ludwig Hohl ein halbes Jahrhundert gebraucht hat.

Im Alter von 22 Jahren, 1926, hat er sie entworfen und bis 1940 sechsmal umgeschrieben. Dann liess er sie dreiunddreissig Jahre ruhen, bis er sich im März 1973 bereit fühlte, das Werk zu vollenden. Er dachte, in zwei, drei Monaten sei es geschrieben; doch es wurden zwei Jahre und viereinhalb Monate daraus: „Es war das Schlimmste, und brauchte mehr Anstrengung als alles bisher in meinem Leben. Vielleicht stimmt das, aber vielleicht auch nicht", meint Hohl im selben Atemzug. Nun sind die 20 Kapitel auf knapp hundert grossbedruckten Seiten im Suhrkamp Verlag (Frankfurt am Main) erschienen.

 

Freunde von ihm wissen, dass er sich so lange scheute, diese Erzählung abzuschliessen, weil er befürchtete, damit falle auch seine leibliche Existenz dem unausweichlichen Schicksal anheim. Wie gut, dass sich das wirkliche Leben nicht von dichterischen Gleichnissen bestimmen lässt! Es hat seine eigenen Gesetze, die in Worte zu prägen zwar der Dichter bestrebt ist; doch vor der Gestaltung des eigenen Lebens erweisen sich die Instrumente des menschlichen Schaffens als zu stumpf - das Leben ist mächtiger. Es gibt ein Entrinnen, mag es noch so alltäglich und grau sein!

 

Karge biographische Angaben

 

Eben das Leben aber hat sich in der langwierigen und mühevollen Konstruktion dieser "Bergfahrt" davongestohlen, und damit auch die geschichtliche Dimension. Die Charakterisierungen der beiden Alpinisten sind knapp: "Lang und hager der eine, mit schläfrigem Gesichtsausdruck" (7), das ist Johann, dreiundzwanzig, ein schlechter Berggänger mit häufigen Anfällen von Melancholie, hilflos und unsicher (10, 13). Er muss einige Zeit in Paris gelebt haben und ein starker Esser sein, weshalb er trotz seiner Hagerkeit schwer ist (62). Ull dagegen ist kleiner und "von konzentrierterem Wesen " (7), ein erfahrener, geschmeidiger, umsichtiger Führer und Ratgeber. Er hat vor wenigen Jahren auch seine Freundin in das Gebirge eingeführt (61), einst den Nordgrat einer Aiguille im Alleingang bezwungen - "um nachher zu erfahren, dass diese Kletterei als die schwierigste des ganzen Gebietes betrachtet wurde" (67) - und ist schon einmal auf einem steilen gefrorenen Schneehang abgerutscht (69). Mehr erfährt der Leser über die zwei Männer nicht. Keine Lebensgeschichte, kein Rückblick auf die Mühen von Alltag und Beruf, kein Hinweis sogar darauf, weshalb die beiden gerade diesen Berg besteigen wollen, weshalb Johann überhaupt mitkommt, Ull ihn mitgenommen hat.

 

Unheroisches Motiv

 

Dies zu erhellen, wäre gerade deshalb von Bedeutung, weil Ull sich am vierten Tee von seiner Wut über den mutlos gewordenen Begleiter hinreissen lässt, es mit dem Gletscher allein aufzunehmen - "ein fast verrücktes Unternehmen" (52). Nur die masslose Wut begleitet ihn in dem "fast hoffnungslosen Kampf" (55). "Mit eigentlicher Verbissenheit" (57) dringt er vor: "Er dachte nicht daran, dass er seinen Plan hätte ändern sollen" (57). Zwar hätte er im ersten Teil der Eismassen noch umkehren können. "Aber von der Idee, vielleicht diesen Johann noch in der Hütte zu treffen, wandte er sich mit Grauen ab. Er wollte nichts mehr- damit zu tun haben!" (57) Dabei hatte ihm dieser im Morgendunkel mit wärmerer und lebendigerer Stimme als sonst einen Gruss und freundliche Wünsche mitgegeben gehabt (53).

Welch unheroisches Motiv! Nicht beflügelt von der Vision der Bezwingung eines majestätischen Gipfels, sondern sich quälend "durch das Gewirre der Steilwände und Eisfiguren" (56) schafft er sich hinauf. "Und von einer gewissen Höhe an war dem Gletscher nicht mehr zu entrinnen" (57). Dabei meint er doch im Biwak der folgenden langen Nacht "auf einmal die endgültige Antwort" (87) auf die oft gestellte Frage gefunden zu haben: Warum steigt ihr auf Berge? "Dies war es: Um dem Gefängnis zu entrinnen." (88)

 

Wäre also die Bergfahrt nur der Eintausch eines Gefängnisses gegen andere: zuerst die Alphütte im Regen und Nebel, dann der Schneesturm, der ein Weiterkommen verunmöglicht, und schliesslich der Gletscher: So weicht die Wut über Johann der Wut über den Gletscher. Ull muss den Grat erreichen - "und das Weitere würde man sehen. Er dachte nicht daran, er wollte nicht daran denken - aber dunkel begleitete es ihn doch" (57). Eine Vorahnung den Verhängnisses - Antwort auf den Trotz, auf die nun nicht mehr gezeigte Geschmeidigkeit? (62) Kein Berggeist hilft ihm weiter (80f), und auch die Stimme der Freundin bringt nicht die endgültige Rettung. Das im Traum gesehene Ungeheuer verschlingt ihn am andern Morgen.

 

Wäre dies die Parabel für ein Leben, das von Falle zu Falle tappt, das sich befreien will und zwar weiss wovon - vom Reich der Tiefe, von einem unfähigen Menschen -, aber nicht woraufhin? Kein Aufschwung zur Freiheit, kein Streben nach dem "blauen Licht", nur Anstrengung, Selbstüberredung, Verstiegenheit. Aber ohne Ziel - ein Ziel, das schon die Umkehr in sich bergen müsste.

Noch schlimmer aber ist das Versagen. Es geschieht je dreimal: Johann verliert den Mut zum Weitermachen und Ull den Pickel. Keiner von beiden ist auf den Gipfel gelangt. Beide finden den Tod, der eine im untersten Grund - dabei meinte er doch, hochmütig, er gehörte "zum Reich der Höhe, nicht dem der Tiefe" (95) -, der andere hoch über dem Gletscher – und dieser hielt sich "für einen guten, ja vielleicht sehr guten Kletterer" (67) ; das Wetter aber war schön, warm, und es wehte kaum ein Wind (89).

 

Naturschilderung

 

Dieser wenig erfreulichen Skizze menschlichen Unvermögens und eigenen Verschuldens steht eine ungemein fein komponierte Naturschilderung gegenüber, die auf dem Prinzip der Polarität aufbaut: In jeder Seite ist schon die andere keimhaft angelegt. Doch das sieht man erst bei einer Verschiebung der Perspektive. "Aus einer gewissen Distanz und von unten gesehen" (9) schwingt der höchste Grat, „mehrere Gipfel verbindend, kampflos, makellos vor dem hellen, flimmernd hellen Hintergrunde sich hin", ",und das ganze langgezogene Gebilde dieses Gipfelbaues vor den hellen Himmeln hätte vielleicht auch den Eindruck erwecken können von einem sehr grossen Schiff, das nicht in ein Erdenmeer nur, das in die Ewigkeit hinein führe" (9).

 

Wie der Schein trügt! Aus der Nähe gesehen wartet "alles da droben, Felsen und Gletscher und Abstürze, finstere Kamine, schreckliche Stürme, unsägliche Anstrengungen ..." (31). Genauso entpuppt sieh das Tal, das "die Apotheose seiner Fruchtbarkeit erreicht" (8) hat, als Käfig.

 

Die Magie des Leisen und Verheissungsvollen zerfällt. Wie Johann am vierten Tag bergabwärts eilt, sieht er: "Da unten das Tiefland ... die stickige Tiefe wieder, der heisse Dampf, der ihr entquoll ... " (93); und an Ull denkend, den er verlassen hat und bereits auf dem Gipfel glaubt, übergibt er sich. Beklemmung beim Aufstieg wie beim Abstieg!

 

Unter den kontrapunktischen Akzenten schwelt ein Verborgenes. Der Reichtum des ragenden Grüns der Niederungen verwandelt sich schon nach den ersten Stunden des Aufstiegs zum "fetten Gras der Täler" (11), und das "wahrhaft träumende Dörfchen", das am gegenüberliegenden Hang sichtbar wird, "sah so still, so rein aus, in so edler Friedlichkeit ruhend, wie keine Dörfer in Wirklichkeit sein können" (12). Nur noch ein einziges weiteres Mal, als Ull auf dem Grat vor sich hinträumt, erscheinen hinter dem Schneehang in sehr weiter Ferne und Tiefe ,"grüne Wälder und Wiesen, blühende Täler mit kleinen Dörfern" (60); doch eines davon ist ein "fettes und lebendiges Dorf" (61).

 

Spannung zittert zwischen Fruchtbarkeit und. Leblosigkeit, zwischen Saturiertheit und höchster Gefahr. Und diese Spannung schleicht sich lähmend ins Blut: Ull, der sonst so Entschlossene, wird zum Zauderer.

 

Andere, enger beieinander liegende Kontraste sind: die "winddurchsauste, finstere Hütte " (27), die sich nach einigen Schritten in den eisigen Wind des Morgengrauens als traulich erweist (30); der klare Sternenhimmel über dem Dunkel der Tiefe (86); das Steckenbleiben im Schneesturm, der mit feinen, harten Körnern den Körper mit solcher Gewalt triff, "dass es trotz der dichten Vermummung bisweilen war, als sei er nackt den peitschenden Eisnadeln freigegeben" (44), und dann die Rückkehr in die "milde Luft, die summende Stille, die wohltuende Wärme" (49)der Alpterrasse - "und alle aus den Wolken getretenen Berggräte standen rings umher in unerhörter Heiterkeit" (49).

 

Unlebendig

 

Blass bleibt demgegenüber der Kontrast zwischen Johann und Ull. Wo der eine so starr und stumm ist, können keine Konflikte aufbrechen. Als Ull an dem Regentag in der Alphütte von vergangenen Fahrten berichten möchte, findet er kein Echo: "Wie soll man zu einer Figur aus Holz oder aus Gips reden? Johann schaute irgendwohin - wohin? Nein, er schaute nirgendwohin. Kein Hauch inneren Lebens ging mehr von ihm aus" (24).

 

Dieses Unlebendige kennzeichnet aber auch Hohls Naturbeschreibung. Da gibt es keine "Lerchen hoch in Lüften"; kein Adler, der "König der Berge ", zeigt sich, keine Bergdohlen segeln um die Pfeiler; weder Schafe noch Gemsen, zirpende Grillen oder flatternde Schmetterlinge kommen vor - nur in der Alphütte ein "merkwürdiges Käferchen" (23) und "sicher auch eine Maus" (24).

Die einzigen Lebewesen in dieser Bergfahrt sind die beiden jungen Männer - warum nicht drei, nicht eine ganze Seilschaft? - und der Bauer, der aus der Ferne Johann vor der Abkürzung warnt, die ihn das Leben kostet. Die andern Gestalten bleiben Schemen, den Figuren der Séracs gleich: ein Bär und ein Mathematiker in einem Alptraum von Johann, die ferne Geliebte und ein Freund P. in den Wachträumen Ulls.

 

Gleich dreimal benützt Hohl die Formel: "Keines Menschen Spuren" (15,63). Fernab der Welt spielt sich somit die Tragödie ab. Nicht um Charakter, Erleben, Reflexion geht es, sondern um Aktion, und die Berechnung, wie Schwierigkeiten in einer menschenleeren Landschaft, in einer "Landschaft wie zu Urzeiten" (60), zu bewältigen sind. Eine Auseinandersetzung also mit den Elementen: Fels, Geschiebe, Schnee und Firn, Wind und Wetter zwischen den Polen Dunkel und Glanz, Härte und Weichheit, Kälte und Hitze.

Wo Kampf und Angriff die Parolen sind, bleibt allerdings kein Platz für Gemüt und Hingabe, da herrscht nur Mühsal. Keine fröhlichen Lieder erklingen auf dieser Bergfahrt. Die einzigen Geräusche sind das Rauschen und Murmeln der Bäche im Gletscher oder in der Tiefe, das Pfeifen des Windes, das "Tosen, Dröhnen und Klirren" (44) des Eises, die Schüsse des nächtlichen Steinschlags (83).

 

Auch die Begeisterung fehlt. Da waltet nicht Freude und Lust, nicht einmal Lust am Aufstieg, an der Bewegung, am Schauen, am Atmen. Eine harte Welt. Nicht Düfte und Farben erquicken den Bergwanderer, kaum ein freundlicher Ort lädt zum Verweilen, keine wehmütige Stimmung zum Anhalten, keine Wolkenzüge zum Sinnieren - Leistung ist alles, was zählt, oder denn Ermattung. Und nur der Verstiegene gerät ins Träumen.

 

Keine endgültigen Antworten

 

Die Bergwelt ist unbarmherzig und verzeiht keine Nachlässigkeit. „Überall lauern Abgründe“ (55), "Die Abgründe hören für einen Alpinisten nie auf“ (65). Gilt das auch für die Dichter? Entspricht die Einsamkeit des Berggängers derjenigen Ludwig Hohls? "Lonely are the Brave"? Doch woran liegt das Scheitern?

Auch der Dichter ist ratlos und kann sich nicht enthalten zu fragen, als Ull seinen Pickel fahren lässt: "Was hatte sich eingemischt?" (70) Umgekehrt aber: Warum ist kein "einsichtiger und weitblickender Geist" aus der Felsenspalte getreten und hat ihm geraten, auf dem Grat zu bleiben und in der nächsten Morgenfrühe über den Gletscher zurückzusteigen? (62) (Hier hätte die Selbstüberweindung einsetzen müssen!)

 

Mehr noch. Als Ull in seinem Biwak die „endgültige Antwort" gefunden hat, stellt der Erzähler die Frage in den leeren Raum: "... Und nun?" (88)

 

Es gibt eben keine endgültigen Antworten, keine Rezepte, weder für eine Bergfahrt noch für ein dichterisches Werk (59). Weder Vorsicht und Geduld noch Können sind Garantien für ein Gelingen. Anstrengung aber erst recht nicht. Auch das "reculer pour mieux sauter", das Warten und Umkehren, das "Ausweichen und wieder Ausweichen und Neuansetzen" (68) führt nicht immer zum Erfolg. Vielleicht nicht einmal beim Dichten und - Lesen.

 

Unter der Oberfläche lauert das Furchtbare

 

Gerade die Strenge der Komposition, die minutiös ausgefeilten Kontrapunkte und die Nüchternheit der Schilderung, von Hohls eminenter Sachkenntnis getragen und gerne von Interpreten 'Realismus" oder "Naturalismus" genannt, zwingen auch den Leser zum mehrfachen Ansetzen, auf dass sich das düstere Geschehen dem Verständnis erschliesse. Und dieses könnte ergeben: Unter der filigranartig gewebten Oberfläche lauert nicht nur ein Ungewisses, nein ein Furchtbares, das vielleicht gerade deshalb so unsäglich banal ist. Im Keime schlummert das Unheimliche. Das Ahnungsvolle weicht dem Fetten und Dumpfen, das Strahlende und Kampflose dem Hoffnungslosen.

 

Wohl selten hat ein Dichter in dieser Knappheit und Meisterschaft hinter der äussersten Wirklichkeitsnähe des Vordergründigen ein Unsagbaren durchschimmern lassen. Doch verbirgt sich hinter dieser spröden Prosa - die trotz der unablässigen Verwendung starker und stärkster Wörter den Eindruck von Kargheit hervorruft, die als kühle Distanz, ja Abstraktheit gedeutet werden kann - keine verklärte Legende. Das Reale ist Schicksal!

 

Nichts Wunderliches und nichts Wunderbares geschieht. Kein "heiliger Berg", keine "Berge im Zorn"! Es ist nicht der Berg, der ruft, auch nicht ein Höheres ... Nicht die "weisse Hölle" lockt, vielmehr ein unbefragter Drang treibt den Menschen. Nicht zur Selbstüberwindung - es ist nur Selbstüberredung. Nicht zur spielerischen Entfaltung des ganzen Vermögens und Könnens - es ist nur ein Krampf. Da findet kein Ausbruch in die Offenheit statt, nicht Befreiung, sondern eine Flucht: die Flucht des Menschen vor sich selbst. Aus Angst vor dem Ausharren in der Tiefe, vor der Verantwortung in der Mitmenschlichkeit.

 

Der Tod als letztes Korrektiv

 

Wäre das einzige, was der Mensch sucht, der Tod? Den angemessenen Tod. Doch auch dieser lässt sich nicht zwingen! Auf geradezu absurde Weise vertauschen die beiden Berggänger am Ende ihre Rollen. Der Tod als einziges, endgültiges Korrektiv. Ohne dass sie an ihn einen Gedanken verschwendet hätten, ereilt er sie beide: Ull in ermüdender Langsamkeit, Johann. aber, in dessen Leben "doch sich fast alles mit schwermütiger Langsamkeit abgespielt hatte" (96), jäh. Was bleibt? "Die vielleicht unsinnige Frage“ des Dichters, ob nicht dieser Rollentausch „hätte geschehen können ..  im Leben?" (97)

 

28.12.1975-2.1.1976

 


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