Home Ludwig Hohl: Kontraste

 

 

Erschienen in:

Bund/ Bern, 7.4.;

Ostschweiz/ St. Gallen, 10.4.,

Aargauer Tagblatt, 13.4. 1974;

Auszug in Spektrum, Zürich Nr. 6

 

 

Nun ist er siebzigjährig geworden, der grosse Einsame, der bekannteste Unbekannte, der von vielen Gerühmte, aber von wenigen Gelesene: Ludwig Hohl, geboren im Glarnerland, erzogen im Thurgau, Aufenthalte in Paris, Wien und Holland, seit 1937 in Genf. In einem Keller, dessen zwei vergitterte Fenster auf das Trottoir hinausgehen. Gegenüber erheben sich monströse Wohnbauten; für das Parkhaus wurde kürzlich in der Zeitung inseriert.

 

"Einer hat eine Melodie gespielt auf einem Alphorn und um ihn waren grosse Felswände und sie trugen die Melodie hinab in die menschengefüllte Ebene. Ein anderer hat eine ebenso schöne Melodie gespielt, aber tief in einer moosigen Waldgrube, und es hörte ihn keiner" (N+D, 109). Ob in diesen Sätzen Hohl von seinem eigenen Schicksal redet? Einem Schicksal, das ihn in den Keller setzte: "Ich möchte um alles in der Welt nicht, dass man annähme, er hätte selber hineingehen können und die schöne Melodie doch spielen. Ging er selber hinein, so konnte er die schöne Melodie nicht spielen. Das ist ein wichtiges Geheimnis.“ Dies fügt er in der Fussnote hinzu. Ein Detail aus "Nuancen und Details".

 

Die schöne Melodie wäre zu hören gewesen. Der Oprecht-Verlag druckte 1939 "Nuancen und Details"', der Artemis-Verlag vier Jahre später den "Nächtlichen Weg" und dann die tausendseitigen "Notizen" (1944/54), der Walter-Verlag die vollständigen "Nuancen und Details" (1964) und "Dass fast alles anders ist" (1967).

Der Erfolg blieb aus. Vom ersten Band der "Notizen" wurden 253 Exemplare, vom zweiten 60 verkauft. Der Rest wurde später für einen Fünfliber verramscht, wie es in der Fachsprache heisst; noch später, so geht die Legende, wurden die übriggebliebenen Bücher eingestampft. Im September 1972 konnte man „Drei alte Weiber in einem Bergdorf“ (Kandelaber-Verlag 1970) in Zürich an der Oberdorfstrasse als "Helvetische Restposten" ausgestellt sehen.

 

Vor fünf Jahren meinte Max Frisch zu diesen Restposten: sie seien "virulent jetzt wie vor Jahrzehnten und lesbar, als wäre es jetzt entstanden, abseitig-gegenwärtig, ‚unberühmt’, aber vorhanden, als Sprache akut, ich denke, das ist Rang".

 

Das mag mitgeholfen haben, dass der Suhrkamp-Verlag sich endlich Hohls angenommen hat. Dessen Leiter, Dr. Siegfried Unseld, stieg die schmale und dunkle Kellertreppe hinunter, um eigenhändig mit einem Vertrag das bereits Erschienene oder im Selbstverlag Gedruckte (beispielsweise "Vom Arbeiten", 1943; im selben Jahr von Max Frisch in der Neuen Schweizer Rundschau besprochen), vor allem aber die Schatztruhe mit den Manuskripten ans Licht zu holen.

 

Nicht alle Aufzeichnungen ruhen freilich in einer Truhe. Die kostbarsten hängen vielmehr an einer quer durch den Raum gespannten faserigen Schnur. Sie sind mit Wäscheklammern neben Zeitungsausschnitten befestigt: Bertrand Russell beispielsweise, aber auch Aktphotos. Eine nackte Glühbirne verbreitet stechendes Licht. Staub liegt auf dem Tisch - von den beiden Gestellen mit abgegriffenen Büchern, zusammengebundenen Manuskripten und säuberlich gebündelten Zeitungsausschnitten ganz zu schweigen -, Staub auch auf dem Tonbandgerät und der Schreibmaschine. Daneben Flaschen, Medikamente. Auch das schöpferische Genie ist gebunden an den .Leib; es muss ihn in Fahrt bringen und mit Pulvermixturen besänftigen.

 

Von einem Papierfetzen an der Leine ist das Faksimile in der Sondernummer der "Revue de Belles-Lettres" zu seinem 65. Geburtstag wiedergegeben: "Pro me" - das mag heissen: für mich oder: pro memoria - "Das Prinzip ... entdeckt, das vermutlich wenn irgendetwas, das Schreiben ermöglicht: Mir vorzustellen, dass der Tod vor der Türe steht und dass ich just noch den Moment, noch Momente habe, an dieses Stück - immer nur gerade an dieses - die letzte Hand zu legen."

 

Der Tod ist ein Motiv, das das Gewebe von Hohls Leben und Werk wie ein feiner Faden durchzieht. Auch seine Erzählung "Bergfahrt", aus der einige Abschnitte in dem Bändchen "Wirklichkeiten" (Tschudy-Verlag, 1963) wiedergegeben sind, und die er jetzt für den Suhrkamp-Verlag abzuschliessen bemüht ist.

Was wäre Bergsteigen ohne das Risiko des Absturzes. Einst, als uns Hohl - stets in rührender Weise auch um das leibliche Wohl seiner Gäste bedacht, nicht nur um das geistige - Würstchen wärmte und schon fast zerflossene Butter liebevoll auf riesige Schollen Brot strich, redeten wir über die beste Art zu sterben. Hohl entflammte sich für den Sturz von Berges Spitze eine mehrere hundert Meter hohe Wand hinunter. Das schien ihm die sauberste, schmerzloseste Lösung. Wir wandten ein, wie lange die Fallzeit sei; Zeit genug ein ganzes Leben nochmals zu durchleben. Welche Qual.

 

Auch in Träumen stürzt man ab und zu von steinigen Höhen. Die einzige Rettung: seine Arme ausbreiten wie Flügel. Den Adlern gleich. In seiner Erzählung "Polykrates" (1961 erschienen, aufgenommen in "Dass fast alles anders ist") fragt Hohl: "Müssen die Adler immer im Finstern wohnen?" (Dass, 72) Nein, sie fliegen ins Licht, über die Länder der Menschen.

 

Solche Fragen sind "Herrn Meier" oder dem "Apotheker" natürlich Hekuba. Diese Gattung Zeitgenossen - Name und Beruf paradigmatisch genommen - ist Hohl von jeher ein gewichtiger Dorn im Auge. Dem Apotheker hat er einen ganzen Teil, 100 Seiten, in den "Notizen" zugedacht. Der Untertitel gibt näheren Aufschluss: "'Von Narren, Redaktionen, Hund, Sonn- und Feiertagen, Dummheit, Hässlichkeit, Faulheit".

Die "Notizen" stammen aus den dreissiger Jahren, während deren Hohl "in Holland in der grössten geistigen Einöde lebte". Noch vor einem Jahr aber scheute sich eine Schweizer Tageszeitung, den ebenerwähnten Untertitel in einer Rezension zu drucken.

 

Beissenden Spott giesst Hohl über den "Apotheker" aus. "Quintessenzenmeier" schlägt er vor, ihn von nun an zu nennen (N II, 185). "Was er redet, ist zwar nichts, aber dafür lang" (189). Oder: "Er spannte über den Teig Saiten und wollte spielen – Geige" (236). Auch in "Dass fast alles anders ist" kehrt ein ähnliches Bild wieder: Herr Meier, "der breiige Abgrund" (Dass, 75).

 

Jedermann darf sich betroffen fühlen. Jedermann muss aber zuerst Hohl entdecken. Man muss ihn nur lesen. Das fordert freilich dem Leser etwas ab, soll es ihm nicht wie jenem Professor gehen, über den Hohl lakonisch schreibt: "Er ist nicht imstande, einen Satz von mir dreimal zu lesen; denn beim zweiten Mal, wenn er zu verstehen beginnt, läuft er davon" (N II, 231).

Gewiss, wer standhält, den packen Hohls Sätze wie Krallen und lassen ihn nicht mehr los; wie Pranken schlagen sie einen, unbarmherzig, man ist betroffen, begeistert, entgeistert; da spricht eine sprachgewaltige Stimme - "gutes Deutsch genügt mir schon, deutsches Deutsch ist mir zu viel" (N II; 233) - Bitteres. Die Sätze sind kristallklar, prägnant, scharfsinnig, tiefsinnig, schneidend oft, zärtlich hegend genau so oft. Hohl hat einen bissigen und oft gruseligen, aber immer feinen Humor, gespiesen von harter Erfahrung und geduldiger Beobachtung. Er schreibt keine gesammelten Aphorismen, sondern Gedanken, Geschichten, die einen Zusammenhang haben und in einem streng ausgearbeiteten thematischen Aufbau-"Struktur" aber nicht "System" - stehen. Resultat eines Ringens um jedes Wort, um jedes Satzzeichen.

 

Sein Werk ist auf lebenslanges Wachstum angelegt, das im Leser Fortgang und Erweiterung finden soll. Bericht eines "nächtlichen Weges", einer "Bergfahrt", die zwar dem Absturz nicht entrinnt - doch der Dichter kann ja fliegen. Er muss fliegen, denn so beschloss Hohl vor vierzig Jahren seine "Nuancen und Details": "Wer würde es der Jugend sagen können, dass das Lernen - und das lernen Lernen! - alles ist, - nicht das Gelernte?"

 


Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch