Home Die Bergfahrt des Ludwig Hohl

 

 

Erschienen in

TAT/ Zürich, 6.4;

Vaterland/ Luzern, 6.4.1974

 

 

 

"Wahrhaftigkeit ist das Nennbare. Wahrheit ... gibt es nicht" (N+D, 85).

 

Siebzig Jahre eines wahrhaften Lebens sind viel, als Jahre eines entbehrungsreichen Lebens zählen sie noch mehr. Ein Leben, das mit dem 9. April 1904 im Glarnerland begann, im Thurgau geschult wurde, von 1924 bis 1936 in der Fremde - Paris, Wien, Holland - darbte und seither in einem Keller in Genf bei sich ist - "Ein wunderbarer Ausdruck: 'Ich bin bei mir'.('être chez soi’)" (N II, 67) -, ist das ein Dichterleben?

Oder das Leben eines Philosophen. Des Menschen, der wie im Platonischen Höhlengleichnis mit dem Rücken zum Ausgang das Licht- und Schattenspiel emsiger Mitmenschen beobachtet, wissend drum, dass der Schein des Feuers nur ein Schein ist, der Sonne nämlich„ die oben, draussen leuchtet, das Wahrhaft-Seiende? "Das Gesehene ist wichtiger als das Geschehene, das Reale wichtiger als das Wirkliche" (N II, 123).

 

Ist es gar ein Adler, der im Hölderlinschen Finstern wohnt? Nein, denn fragend steht die Klage im Raum: "Müssen denn Adler immer im Finstern wohnen?"

Und auch die Frage ist nicht wichtig, „ob einer seine Leiden selbst verschuldet habe: schon darum nicht, weil doch niemals eine sichere Antwort erfolgen könnte. Wo liegt die Bedeutung? Allein bei den Hervorsteigenden."

 

Jahrelang stieg Ludwig Hohl nur zum Einkaufen aus seinem Keller: Weniges zum Essen, Futter für die Katzen, Rasierseife und Küchenpapier, Brot, Butter, Käse und Würstchen für die Gäste. Spirituosen bester Qualität, aber auch Medikamente in verwirrender Fülle: "Alles, was von Giften bisher gesagt werden ist, ist erst ein kleiner Anfang gewesen" (N+D, 50).

 

Keine Bergfahrten mehr. "Einmal führte er fünf Hochgebirgsbesteigungen aus an fünf aufeinanderfolgenden Tagen - Eingeweihte wissen, was das bedeutet -; die letzte dieser Besteigungen begann um zwei Uhr morgens und endete bei einbrechender Nacht in einem Biwak" (Dass, 68). Schreiben aber tut Hohl immer noch an seiner "Bergfahrt".

 

Es gibt leibliche, geistige und publizistische Bergfahrten. Erstere lässt der geschundene, zermarterte Organismus nicht mehr zu. Der Geist aber ist stärker als das Fleisch; der Glaube kann Berge versetzen. Gegen Redaktoren freilich vermag er nichts. Also ist die publizistische Bergfahrt die steinigste. Hohl singt davon ein Lied, kein politisches, aber ...

Die Noten entnimmt er einem "literarischen Schatzkästlein" (N II; 354f), das er vor vierzig Jahren angelegt hat, "um den in den schweizerischen Zeitungen und Zeitschriften herrschenden Raummangel zu erklären, in den Jahren, in denen ich bis zu fünfhundert Sendungen jährlich an eben diese Presse ausführte, womit ich, infolge des Raummangels, 0 bis 3 Abdrucke erzielte."

 

Raummangel? Wieviel Bitteres spricht aua dem unverblümten Rezept: "Aber warum will man nie meinen Rat befolgen? Gedruckt müssen alle diese Stücke werden, das ist klar; und die Not des Redaktors ist gross. - Er soll die Texte übereinander drucken, statt nebeneinander (die Walzen mehrere Male über dieselbe Stelle laufen lassend)! So wird Raum frei, und dem Leser ist's Gewinn" (N II, 195).

 

Mit Verlegern hatte Hohl nicht mehr Glück, schon gar nicht aber mit Lesern. Der Verlag Oprecht druckte 1939 zwei Teile von "Nuancen und Details"; der dritte Teil erschien drei Jahre später "chez l'auteur".

Erst 1964 brachte der Walter-Verlag das ganze Buch heraus und liess 1967 "Dass fast alles anders ist" folgen; dann war auch diesem Verlag Hohl kein Anliegen mehr.

Nachdem der Artemis-Verlag 1944 den ersten Band der über tausend Seiten umfassenden "'Notizen" herausgebracht hatte, musste Hohl zehn Jahre warten - und prozessieren - bis endlich auch der zweite Band erschien.

 

Von "Nuancen und Details" wurden 250, vom ersten Band der "Notizen" ebensoviel, vom zweiten noch 60 Exemplare verkauft. Ende der sechziger Jahre setzten die Buchhändler in einem Verzweiflungsakt den Preis für die verstaubten Exemplare von 40 auf 5 Franken herab. Was dennoch nicht wegging, soll eingestampft worden sein.

 

Muss dies das Los des echten Dichters bleiben: " 'Le philosophe inconnu': aber welcher Philosoph ist denn bekannt - andern als wieder wirklichen Philosophen?"

Oder: "Wie manchmal muss wohl jeder wirkliche Schriftsteller an jene Bibelstelle denken: 'Das Wort fasst nicht jeden...'!"

So kann sich auch Hohl trösten mit der Überzeugung: "Dass ich, und im allerernstesten Sinne, Leser haben werde, ist ausser aller Frage. Was ich nicht weise, ist nur, wie viele und, wann" (N II, 155).

 

Dem versprengten Grüppchen, das Hohls Werke wie einen Schatz funkelnden Geschmeides hütet - da die Kenner unterscheiden können, "ob etwas erkauften Glanz hat oder jene Härte, die glänzt" (N II, 375) -, diesen Lesern bringt Hohl etwas mit von seiner inneren Reise, die eine, die einzige "Entwicklung des Geistes" (N+D, 26) ist: einen Bericht. Schüchtern streckt er seine Hand hin. Wer begleitet ihn auf dem "Nächtlichen Weg", auf der "Bergfahrt"?

Wenn der Leser den Weg mitgeht - "wie die in der Nacht Steigenden sind wir" (N+D, 32) -, sieht er ihn, den Begleiter, den Tod. Er ist es, der dem Mann, der sein Lebenswerk schaffen musste, in der "Skizze einer Skizze der Welt" das Wort einflüstert: "Und aus den Wegen die er gegangen, erstand sein Werk von selbst."

 

Denn: "Das Brennendste: ‚Geistige Ereignisse': Nicht Resultate, sondern Weg! Wer würde es der Jugend sagen können, dass das Lernen - und das lernen Lernen! - alles ist, - nicht das Gelernte?" (N+D, 109)

 

Was kann der Leser mit Hohl lernen? "Dass fast alles anders ist – fast alles anders, als fast alle Menschen, fast immer, sich vorstellen“ (Dass, 128, 139).

Dass das Schaffen eines Kunstwerkes einer schwierigen Hochgebirgsbesteigung gleicht: "Absturz kann dort stattfinden wie hier, droht ebensosehr" (N+D, 71).

Oder das „Prinzip der Arbeit: Dass man überall hinansteigen kann" (N+D, 9), denn "Arbeiten ist nur ein willkürliches Übereinstimmen mit dem Wachstum" (N+D, 19), , aber "kein harmonisches Wallen, sondern ein andauernder Kampf (gegen Ermattung und all die übrigen Dinge...), für uns, Menschen" (N+D, 45).

 

Noch wichtiger ist die Erkenntnis, dass die Mitte keine Kraft hat, sich zu erneuern: "Das menschliche Entdecken schreitet nicht so vor, dann man vom Allgemeinen, dem von allen Gesehenen, 'Wichtigen' aus endlich zu den Randbereichen, den Nuancen gelangte, wo dann allmählich Verblassen und Auslöschen einträte; sondern umgekehrt: zuerst wird ein Neues gesehen in den Randbezirken, an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen, des Subtilen, der unmerklichen Spannungen, des fast Unsichtbaren ..., dort, wo der allgemeinen Meinung nach nur die 'unpraktischen' und nebenhinausgeratenen Fachleute sich beschäftigen können. Und dann ... langsamer oder rascher, oft unmerklich und bisweilen auch in einem gewaltigen Ruck, schieben sich diese Nuancen-Entdeckungen in den Tag hinein, mehr und mehr der Mitte zu, beherrschen endlich die Welt" (Dass, 75ff).

 

"Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein. 'Seht, da kommt der Träumer her.' Morgen beherrscht er das Land. 'Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist gesetzt worden zum Eckstein'".

 

Etwa an seinem 67. Geburtstag ist Ludwig Hohl entdeckt worden, Dr. Siegfried Unseld stieg die schmale und dunkle Kellertreppe hinunter. Das Gesamtwerk Hohls soll im Suhrkamp-Verlag erscheinen: Gedrucktes, im Selbstverlag Erschienenes, Manuskripte. Den Anfang haben die Bändchen „Nächtlicher Weg" (1971) und "Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren" (1972) gemacht.

 

Zwölf der zwanzig Kapitel der Erzählung "Bergfahrt“ hat Hohl schon fertiggestellt. Die acht andern stehen unter dem Motto: "Schreiben ist sehr leicht; darum, weil es so leicht ist, ist es so schwer" (N+D, 73). Deshalb auch: "Ein grösseres Wunder als ein richtig gewählten Wort gibt es nicht" (N II, 540).

 

Die beiden Alpinisten in der "Bergfahrt " finden den Tod. Ludwig Hohl darf nicht abstürzen. Ein weiteren Werk, das Lebenswerk, harrt noch der Vollendung: "Von den hereinbrechenden Rändern". Hohl sagt selbst: "Wenn die Ränder hereinbrechen, dann erlebt der Mensch das Reale" (Dass, 82). Das Reale aber ist das Vollenden des Ganzen. "Was ist denn das Kriterium des Realen? Das Mass des Bejahenkönnens" (N+D, 66ff) - oder die Liebe, "die sich als mächtiger erweist als der Tod" (Dass, 44; vgl. N+D, 80ff).

 


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