Home Ludwig Hohl: Dichter und Mensch

 

 

Erschienen

Unter dem Titel: Gerühmt und immer wieder vergessen: Ludwig Hohl.

Zürichsee Zeitung, 5.4.;

1. Hälfte in: Landbote 10.4.;

2. Hälfte in: Luzerner Neueste Nachrichten 9.4. 1974

 

 

 

"Dass ich, und im allerernstesten Sinne, Leser haben werde, ist ausser aller Frage. Was ich nicht weiss, ist nur, wie viele und, wann.“

 

Ludwig Hohl. schrieb dies vor vierzig Jahren. Er wird am 9. April 70 Jahre alt. Bis jetzt hat er nicht viele Leser gefunden. Gewiss gibt es einen Kreis von Schatzsuchern, die seine Werke wie Augäpfel hüten. Aber es sind zu wenige, die Hohl kennen. Zu wenige, die wissen, dass dieser wohl schärfste und klarste Schweizer Dichter der letzten Jahrzehnte seit Jahrzehnten in einem Keller in Genf wohnt. Zu wenige, die spüren, dass da ein sensibler Philosoph, der seine Hand am Puls der Zeit hat, von seinen Zeitgenossen schmählich im Stich gelassen worden ist.

Freilich gibt es Vereinzelte, die immer wieder auf sein staunenswertes, in bedrückender finanzieller Enge und fröstelnder Einsamkeit unermüdlich weitergesponnenes Oeuvre hinweisen. Doch der Erfolg war bislang einzig die Formel: Ludwig Hohl ist der bekannteste Unbekannte der Gegenwart, der grösste und am wenigsten gelesene. Darum wohl schrieb Friedrich Dürrenmatt vor fünf Jahren in einer Sondernummer der „Revue des Belles-Lettres", die Hohl gewidmet war: "Ich kenne viele .Schriftsteller. Ludwig Hohl ist der einzige vor dem ich ein schlechtes Gewissen habe. ich kann mich mit ihm nicht messen. Deshalb schreibe ich nicht Sätze, deshalb schreibe ich Theaterstücke."

 

Vor 70 Jahren wurde Ludwig Hohl in Netstal, im Glarnerland geboren. Von 1924 bis 1936 lebte er ausserhalb der Schweiz, die letzten Jahre davon in Holland, "in der grössten geistigen Einöde", wie er diese prüfungsvolle Zeit selbst kennzeichnet. Dennoch verfasste er hier sein Hauptwerk, die zweibändigen "Notizen" (erschienen bei Artemis 1944/54) , weit über tausend Seiten mit dem wegweisenden Untertitel "Von der unvoreiligen Versöhnung". Seither lebt er in den bescheidensten Verhältnissen in Genf.

 

Ebenfalls in den dreissiger Jahren entstanden "Nuancen und Details" (1939 bei Oprecht, 1964 um den 1942 im Selbstverlag gedruckten dritten Teil ergänzt bei Walter erschienen) und der "Nächtliche Weg" (1943 bei Morgarten, 1972 gekürzt in der Bibliothek Suhrkamp erschienen).

Weit über zwanzig Jahre mussten jeweils vergehen biss ein neuer, mutiger Verlag den Versuch unternahm, Hohl einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mehr als die Spanne einer Generation aber dauerte es auch, bis ein neuer Band mit Erzählungen erschien. Das war 1967, als der Walter-Verlag den vielsagenden Titel herausbrachte: "Dass fast allen anders ist."

Nicht dass der Autor je untätig gewesen wäre, im Gegenteil! Doch die Entdeckung, dass da jemand in einem Keller, in selbstgewählter Bescheidenheit und mit unerschöpflicher Denkkraft Jahr für Jahr darum ringt, das festzuhalten, von dem er überzeugt ist, "dass kein anderer es schreiben könne", damit er dem guten Leser "etwas mitbringt von seiner besonderen Reise, und wenn es auch nur das Kleinste wäre" (N I, Vorwort) - diese Entdeckung liess auf sich warten.

Der Walter Verlag machte also einen Anfang, und im Frühling 1971 stieg Dr. Siegfried Unseld, der Leiter des Suhrkamp Verlags, höchstpersönlich in die Höhle des Löwen. Nichts Geringeres war die Folge als ein Vertrag, der vorsieht, endlich das Gesamtwerk Hohls herauszubringen: eine Neuauflage der "Notizen", ein Nachdruck der wenigen bereits erschienenen Erzählungen, vor allem aber die Fülle der im Manuskript vorliegenden Essais und Erzählungen, Aufzeichnungen und Notizen. Ein Unterfangen, das nicht genug zu loben ist - auch wenn es spät, sehr spät kommt.

 

Heute kann also jedermann Hohl entdecken. Der "Nächtliche Weg" und ein Teil der "Notizen" sind bei Suhrkamp schon erschienen. Die beiden Bände des Walter-Verlags sind noch erhältlich. Jede Zeile darin gleicht einem kostbaren Diamanten, aus dessen Facetten die Feuer des Menschengeistes sprühen, dessen Schliff ein Ringen ums Höchste abforderte und dessen durchsichtige Oberfläche die unergründlichen Tiefen des Lebens spiegeln.

 

Einst (14.6.1969) habe ich Hohl besucht. Ein Ereignis, das sich meinem seelischen und geistigen Fassungsvermögen entzog. Ich notierte mir: "Gibt es Sachen, Begegnungen, über die man höchstens sprechen kann, jedoch nicht schreiben? Es sei denn, man hätte das Vermögen eines wirklichen Dichters ...“

 

Das Erlebnis hatte mich aufgewühlt, wie nie eines zuvor oder nachher. Mehrmals versuchte ich, es zu Papier zu bringen. Vergeblich. Es reichte nur zu einigen Sätzen, in einem weiteren Anlauf nur zu Stichworten. Ein abgerundetes Bild zu geben ist auch gar nicht möglich.

Die folgenden Fragmente mögen dennoch einen Eindruck wiedergeben, die Schwierigkeit zeigen, einen Dichter, aber auch einen Menschen zu fassen:

 

"Meine Französischkenntnisse sind sehr mangelhaft. Es fällt mir keine andere Charakterisierung für Ludwig Hohl ein als l'homme qui échappe à tout: Er entflieht der Gesellschaft, entzieht sich jeder (nüchternen) Beschreibung. Flüchtet er auch vor sich selbst?...

Etwa eine Viertelstunde südwestlich ausserhalb des Stadtzentrums von Genf liegt sein Domizil: eine kurze Strasse, auf deren einer Seite, etwa hundert Meter zurückversetzt, monumentale Wohnblöcke breit und wuchtig in die Höhe ragen. Im Innern eines alten Mietshauses steigt man in den Keller, wo die Bewohner ihre Brennwaren, nichtbenutzten Geräte, Behälter, vielleicht auch Kartoffeln, Früchte hinter den üblichen hölzernen Gittertüren lagern.

Ich klopfe energisch an die einzige massive Türe. Es öffnet, das Gesicht noch zur Hälfte voller Schaum, das Rasiermesser in der einen Hand ...: Ludwig Hohl. Er bittet mich herein, holt irgendwo einen Stuhl hervor und bietet ihn mir an. Die erste Wanddekoration, die ich sehe: das Zeitungsbild eines Mädchens mit entblössten schneeweissen Brüsten. Halb verdeckt hinter einer quer durch den Raum gespannten faserigen Schnur, woran alte, vergilbte Zeitungsausschnitte und Notizzettel hängen, sind, wiederum mit Klammern an einer Schnur aufgemacht, an einem hohen Gestell weitere Photos befestigt ...

 

Der Raum misst etwa sieben mal vier Meter. In der Mitte stehen zwei aneinanderstossende Tische, darauf ein verstaubten Tonbandgerät, Berge von Papieren aller Art, Flaschen, Medikamente. Fast verborgen in einer Ecknische befindet sich das Bett. Am andern Ende des Zimmers stehen ein alter Ofen und ein kleiner Herd; auf einem Tisch an der Wand ein Waschbecken, daneben Geschirr; anschliessend ein grosses Gestell, gefüllt mit sorgfältig gebündelten Paketen, von Notizen, sorgfältig ausgeschnittenen und registrierten Zeitungsartikeln. Sie sind zwanzig bis dreissig Jahre alt und dementsprechend, wenigstens äusserlich, verblichen. Eine andere Ecke wird von einem hohen Gestell eingenommen, darunter stehen Koffer und ein ungeöffnetes riesiges Bücherpaket. Ein schiefes Bord enthält abgegriffene Bücher. Eine unbeschirmte Birne an der Decke und eine andere, halb hinter einem fast zerfetzten Wandschirm, erleuchten den Raum.

 

... Hohl ist keineswegs asozial, sondern sehr aufmerksam: macht Platz auf dem Tisch frei und säubert ihn, schenkt Getränke nach.

 

Er ist sehr sorgfältig: seine Hände sind geschickt; was er in die Hand nimmt, behandelt er fast zärtlich.

 

Hohl ist im kleinen geduldig, im grossen (bei Versprechungen anderer) ungeduldig, gespannt, erwartungsvoll.

 

Er ist sehr sauber (obwohl Staub und Schmutz seine ganze Kellerwohnung bedecken und erfüllen): wäscht sich häufig die Hände (kurz geschnittene Fingernägel), rasiert sich sauber. Sein Haar fällt "samtweich"; auch das Fell seiner Katzen ist zart und schimmernd. Spült die Gläser sauber, hat sogar eine Rolle Küchenpapier aufgehängt.

 

Er ist sensibel, beinahe übersensibel.

 

Hohl ist enorm scharfsichtig (trotz seiner schlechten Augen ...), brillant in Gedanken und Wort (kein Schwätzer).

 

Er hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis: Er erinnert sich an Sätze, die eine Besprechung seiner 'Aphorismen' (was er nicht so genannt und verstanden haben will) aus dem Jahre 1944 enthielt. Fand auch nach kurzem Suchen in der scheinbar katastrophalen Unordnung den betreffenden Artikel (der fein säuberlich in einem Büchlein aufgeklebt und registriert ist).

 

Man kann Hohl weder als rätselhaft, noch als Alchemisten, Mystiker bezeichnen. Er ist auch nicht geheimnisvoll - aber was? Nicht fassbar."

 

 


Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch