Home Die Wende von 1973: Ursachen und Folgen

 

geschrieben im Januar 1975,

am 10. Februar 1975 an „Die Zeit“ geschickt; nicht erschienen

 

 

siehe auch:    Zur Ethik von Gesamtsystemen (Mai 1975)

                        Überleben durch Bescheidenerwerden (Juni 1975)

                        Woher kommt die moderne Esoterik?

                        Teil 4: 1950-2000: Die Wiederentdeckung und Popularisierung der theosophischen Lehren

 

 

Zur selben Zeit, da auch renommierte Schweizer Prognose-Institute noch verkündeten, ein Null-Wachstum sei "jedenfalls auf absehbare Zeit höchst unwahrscheinlich" und als Forderung für die Entwicklungsländer "unethisch", setzte bereits die Wende ein:

  • Das Weltwährungssystem zerfiel,
  • der Dollar und die Börsenkurse sackten ab, und
  • zahlreiche Rohstoffe wurden knapp oder ihre Preise stiegen steil an.

 

Der Abzug der Amerikaner aus Vietnam, das Inkrafttreten des innerdeutschen Grundvertrages, Allendes Sturz, der vierte Nahostkrieg und das Erdölembargo setzten mehr als nur politische Fanale für das Jahr 1973.

 

Schon in den darauffolgenden 12 Monaten schlug für viele Länder die wirtschaftliche Stunde der Wahrheit: Die Konsum- und Investitionsfreude (Flucht in Sachwerte) begann sich zusehends zu verflüchtigen, Produktion und Bau mussten vielerorts gedrosselt werden, der Bestand an Leerwohnungen und unverkauften Neuwagen, aber auch – paradoxerweise - an Heizöl. Kupfer und Textilien nahm teilweise beängstigende Ausmasse an.

Im Januar 1975 wurde das Ausmass des Scherbenhaufens voll sichtbar, als nämlich der statistische Nachweis vorlag, dass in zahlreichen Staaten das Bruttosozialprodukt stagnierte (Schweiz, Bundesrepublik, Grossbritannien) oder gar gefallen war (Japan: -0,6%; USA: -2,2%; Griechenland: -4%).

 

Sprach man 1973 zaghaft höchstenfalls von Teuerung und Stagflation, so begann man sich gegen Ende 1974 mit "Krise", "Rezession" ja "Depression" wohl oder übel zu befreunden und wagte erstmals seit 25 Jahren vom schwarzen Freitag des 24. Oktober 1929 zu sprechen.

 

Am 15. Januar 1975 musste der Präsident des mächtigsten Landes der Welt - immer noch erschüttert von den Nachwehen von "Watergate" und "Vietnam" - in seiner "State of the Union"-Botschaft bekennen, "die Lage ist nicht gut":

„Millions of Americans are out of work.

Recession and inflation are eroding the money of millions more.

Prices are too high, and sales are too slow ...

The national debt will rise to over $500 billion.

Our plant capacity and productivity are not increasing fast enough.

We depend on others for essential energy.“

 

Am Problem vorbeigesehen

 

Was ist nun eigentlich geschehen? Das soll im folgenden unter Zuhilfenahme vieler wohlbekannter Schlagworte und Formeln andeutungsweise und ebenso pauschal wie fragmentarisch skizziert werden.

 

Nach einer Blütezeit, die in der Weltgeschichte wohl ihresgleichen sucht, sowohl was Dauer als auch Wertschöpfung und die Verbreitung technischer Errungenschaften betrifft, kommt unerwartet der grosse Rückschlag. Für die Länge einer ganzen Generation hatte seit etwa 1949 ein kaum gebrochenes Wachstum und eine nur von wenigen ernsthaften Enttäuschungen - Scheitern der "grünen Revolution" und einer effizienten Entwicklungshilfe und infolgedessen Hungersnöte und Elend - begleitete Expansion die Gemüter der Menschen sosehr in ihren Bann geschlagen, dass der geheime Argwohn, es könne ja "nicht immer so weitergehen" verdrängt und mahnende Stimmen durch ein unablässiges Feuerwerk von Erfolgsmeldungen zum Schweigen gebracht wurden.

 

Auch Experten liessen sich von den beharrlich steigenden Kurven zu Trendextrapolationen in ungeahnte Höhen verleiten. Erst um das Jahr 1970 fing man an, sich über die "Grenzen des Wachstums" Gedanken zu machen und vor allem dem Problem des Schutzes unseres Lebensraumes und der Erhaltung der Lebensqualität die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Doch blieben die Auseinandersetzungen über die Möglichkeiten und Grenzen beispielsweise des Verkehrs-, Gesundheits- oder Bildungswesens, der Kontrolle der Bevölkerungsexplosion, des Absatz- und Arbeitsmarktes und der multinationalen Gesellschaften in der Dritten Welt weitgehend akademisch. Die Fragen, so meinte man, beträfen etwa:

¨ Wie richten sich die modernen Industriestaaten im "Überfluss" (John Kenneth Galbraith, 1958/67) ein?

¨ Welche Strukturen und Steuerungsvorgänge erfordert die Gestaltung der "nachindustriellen Gesellschaft" (Daniel Beil, 1966)?

¨ Wie kann ein „Wachstum im Gleichgewicht” verwirklicht werden ein qualitatives oder organisches Wachstum also, das die Umwelt nicht (weiter) zerstört, die Ressourcen schont und die Versorgung mit öffentlichen Gütern - aber nicht Konsumgütern zweifelhafter Notwendigkeit - sicherstellt?

 

Unversehens gilt es nun aber in einem ganz andern Sinne ernst, als sich auch die Fachleute träumen liessen. Befürchtete man noch 1973 einen Wachstumsrückgang höchstens wegen kostspieliger Umweltschutzmassnahmen, und versuchte man der Öffentlichkeit beizubringen, sie müsse umweltschonende, nicht umweltbelastende Produkte kaufen und sollte bereit sein, dafür auch einen höheren Preis zu bezahIen, da die Hersteller ihrerseits auf eine umweltgerechte Produktionstechnik umzustellen bereit seien, so geht es heute darum, dieselbe Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass der früher lauthals geforderte "Konsumverzicht" doch Schattenseiten aufweist.

Es ist zwar von gutem angesichts der Teuerung und Inflation, dass der einzelne kostenbewusst und preisgünstig einzukaufen bemüht ist, doch eine allzustarke Einschränkung oder ein Hinausschieben der Neuanschaffung von Sachgütern und der Inanspruchnahme von Dienstleistungen führt zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Störungen, unter denen der einzelne selbst auch zu leiden hat: Hohe Lagerbestände und unausgenutzte (Über-)Kapazitäten haben nicht nur ehedem halbherzig geforderte "Gesundschrumpfungen" und "Strukturbereinigungen" zur Folge, sondern Kurzarbeit, Zwangsferien, Massenentlassungen, Betriebsschliessungen und Konkurse.

 

Grossangriff auf das bürgerliche Weltbild

 

siehe auch: Innerliche und äusserliche Verwandlungen seit 1939

 

Freilich wird dem Bürger dabei einiges zugemutet, und dies nicht zum ersten Mal! Es begann, nicht einmal gerade harmlos, schon Mitte der fünfziger Jahre. Hatten die Kriegshandlungen in Indochina und Korea, die sukzessive Entkolonialisierung sowie die Putsche im Nahen Osten und in Nordafrika noch weitab vom Schauplatz des Wiederaufbaus in Europa stattgefunden, so brachte doch das Jahr 1956 bereits Aufstände in Polen und Ungarn und die Suezkrise.

 

Also war es dem Bürger nicht lange vergönnt, das "stille' Glück im Winkel" ungestört zu geniessen. Bereits 1954 veröffentlichte David Morris Potter seine Diagnose „People of Plenty - Economic Abundance and the American Character“.

Das atomare Wettrüsten, die fortschreitende Automation und eine Rezession in den Jahren 1957/59 setzten dem Bürger recht unvermittelt arg zu.

 

Ein halbes Jahrzehnt später wurde er weiter verunsichert durch das Gerede um die "Bildungskatastrophe" (Georg Picht, 1964), den "brain drain“ von Europa nach Amerika und den "technological gap". Mit der Lockerung der Zensur, sexueller Freizügigkeit sowie der Emanzipation der Frau - Betty Friedan, die "Pille" und das Frauenstimmrecht in der Schweiz! - musste er sich ebensosehr auseinandersetzen wie mit der "Neuen Linken", der "Ausserparlamentarischen Opposition" und den darauf folgenden Studenten- und Jugendrevolten, in den USA auch mit den Bürgerrechtsbewegungen.

 

Auf der einen Seite unter naturwissenschaftlich-technischer Perspektive als „Hinterweltler“ (Karl Steinbuch, 1968) deklariert, auf der andern Seite als Spiesser im "Wohlfahrtsstaat" (Gunnar Myrdal, 1958) oder gar Wasserträger des Spät- oder Monopolkapitalismus denunziert, gleichzeitig aber von einem noch nie dagewesenen wirtschaftlichen und technischen Aufschwung geblendet, war es für den Bürger wahrlich kein leichtes, zwischen Fernsehschirm, Beate Uhse-Artikeln und Auslandreisen, Strassendemonstrationen, Polit-Happenings und betrieblichem Leistungszwang (David C. McClelland: „The Achieving Society“, 1961; dt. 1966), Fettecken" (Joseph Beuys), "Underground" (Andy Warhol) und "Consumerism" (Ralph Nader) seine Selbstachtung zu bewahren.

 

Man kann schon sagen, dass sich viele, allzuviele von der Brechung von Tabus und Autorität einerseits, Genuss- und Konsumverherrlichung anderseits ins Bockshorn jagen liessen. Vertrieben aus einem Paradies, in dem sie gar nie richtig heimisch werden konnten - nicht zuletzt weil auch offizielle Stellen sie periodisch in ein Wechselbad von *'Nachfrageüberhang" und "Kontraproduktivität", "Überhitzung", "Abschwung" "Flaute" und "Talsohle", "Konjunkturbremse" oder  "Konjunkturdämpfung", „Globalsteuerung“, „Stabilisierung“ und „Stützungsaktionen“ tauchten -, geduckt unter dem Sperrfeuer der Propagierung von "antiautoritärer Erziehung" und "Kommunen", marxistisch-leninistischer Gesellschafskritik und Forderungen nach Systemveränderung ("Macht kaputt;, was Euch kaputt macht!"), kurz: überfordert durch die verwirrende Fülle der an allen Ecken und Enden auf sie einstürzenden Anschuldigungen und Anrempeleien, ebenso wie durch die Ermahnungen zum Umdenken und den Zwang zur Effizienz blieb den Bürgern meist nur eines: Abschalten und Abwehr.

 

Das ungläubige Staunen und die daraus resultierende Entrüstung, so verständlich dies war, hatte als Ergebnis nur den Verlust der eigenen Initiative zur Folge. Die Zumutung, mit all diesen widersprüchlichen Erscheinungen fertig zu werden, war einfach zu gross. Wie sollte der Bürger auch ausmachen können, was nun "Systemzwang" oder "Subversion", Manipulation oder Mache, "Verplanung" oder "falsche Programmierung“, Unvernunft oder Zweckrationalität sei. Ziemlich folgerichtig mündete daher diese kuriose Mischung von Apathie und Träumerei Ende 1972 in die "Nostalgie"-Welle aus.

 

Zukunftsforschung und Umweltschutz

 

Nun gab es allerdings noch ein weiteres, das den Bürger aufschreckte: die Zukunftsforschung und der Umweltschutz. In den USA und England fanden sie wiederum etwas früher Beachtung als auf dem Kontinent.

 

siehe: Sensibilisierung auf Umweltschutz 1948-1973

 

Ergänzend erwähnt seien hier nur das internationale Ciba-Symposium "Man and His Future" 1962 in London (als Buch englisch 1963; deutsch 1966), Herman Kahns Schriften über nukleare Kriegsführung (1960/65) und das "Undenkbare" (1962), die Delphi-Prognosen der Rand-Corporation von Olaf Helmer und Theodore J. Gordon (1964) sowie die Experimente mit ferngesteuerter "Psychokontrolle" von Jose Delgado. Kaum beachtet dagegen wurden die Untersuchungen über das „bürokratische Böse“ die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität von Stanley Milgram (1963-65; als Buch 1974; dt. 1974).

 

Hatte die UNESCO-Konferenz zur Rettung der Biosphäre 1968 in Paris noch ein geringes Echo ausgelöst, so leiteten immerhin das Europäische Naturschutzjahr und Präsident Nixons Umweltschutzbotschaft 1970 eine Umkehr ein: Der vordem als Freiraum einiger unverbesserlicher Weltverbesserer oder finsterer Kulturpessimisten oder mit Kopfschütteln als realitäts-, das heisst eben wachstumsfremd klassierte Umweltschutz wurde zum ernstgenommenen Anliegen.

 

Der bislang von Bildungsreform und sexualaufklärerischen Parolen geplagte Bürger der Leistungsgesellschaft sah ebenso wie der von Mitbestimmung und klassenkämpferischen Parolen bedrängte Unternehmer endlich die Notwendigkeit einer "Raumschiffökonomie" (Kenneth Boulding, 1966) ein und anerkannte sie als weltweites Problem Nummer eins. So konnte er immerhin 1972 von Meadows "Limits to Growth" nicht mehr überrascht werden, und die Feststellung, dass es nun im besondern um "Lebensqualität" gehe und die Industrie "umweltfreundlichere" Technologien einzusetzen, anfallende Abfallprodukte einer Wiederverwertung zuzuführen und rascher abbaubare Erzeugnisse herzustellen gewillt sei, konnte ihn durchaus mit Befriedigung erfüllen.

Längst über die Technisierung und Mechanisierung ganzer Lebensbereiche und die "Übernutzung" von Natur und Mensch erschrocken, längst auf Flugzeug- und Autobahnlärm, Rückstände von Schädlingsbekämpfungsmitteln und Naturverschandelung durch breite Strassen und Betonwände, Feriensiedlungen, Bergbahnen und Skilifte, auf russige Ölfeuerungen, überflüssige Verpackungen und städtebauliche Monstrositäten sensibilisiert, wiegte er sich in der sachte genährten Hoffnung, "menschenwürdiges" Planen und Bauen und "umweltgerechtes" Produzieren, Verwerten und Beseitigen werde fortan das Schlimmste verhüten helfen - ohne dass "man" dabei auf allzuviele der liebgewordenen Annehmlichkeiten zivilisatorischer Errungenschaften verzichten müsse.

Allerdings wurden Skeptiker den Verdacht nie ganz los, "man" erwarte stets von den andern, dass sie sich umweltgerecht verhielten, und bei vielen Unternehmen und Behörden gelte die Absicht schon für das gute Werk.

 

Warum dieses Versagen?

 

Ein Wohlleben in Illusionen und Spekulationen (in doppeltem Sinne), die auf tönernen Füssen standen und zudem unterminiert waren von lange schwelender Verunsicherung, auf seltsam verquere Art verschlungen mit Sorglosigkeit, Fehleinschätzungen und vorschneller Kompromissbereitschaft auf der einen, fehlender energischer Tatkraft, gereizter Abwehr und Phantasielosigkeit auf der andern Seite und daher einem ebenso hartnäckigen wie hochnäsigen Fortfahren in der einmal eingeschlagenen Richtung des „citius, altius, fortius“, dies hat unzweifelhaft dazu beigetragen, dass, wie es die Araber und andere, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, formulieren dürften, die "Schwächen des westlichen wirtschaftlichen und politischen Systems" drastisch offenbar wurden.

 

Die Ölkrise hat das Kartenhaus zum Einsturz gebracht. Die "langfristigen Vorausschauen" haben zu viele wesentliche Faktoren und Zusammenhänge ausser acht gelassen.

 

Und nun wäre der Bürger gezwungen, ein weiteres Mal umzudenken – wobei die Frage offen bleibt, ob das bisher gar nicht oder nur ansatzweise stattgehabte Umdenken dem nunmehr erforderlichen entschiedenen Umdenken förderlich oder hinderlich ist.

 

Jedenfalls begab sich, was nur die "unverbesserlichen" Miesmacher für möglich gehalten hatten: Kaum waren die "Grenzen des Wachstums" (mit was für frag-würdigen Mitteln auch immer) prospektiv analysiert - nicht aber als unmittelbar bevorstehend prophezeit - worden, da senkten sie sich mit ihrem vollen Gewicht in der Dämmerung der Unfähigkeit untereinander uneiniger Nationalstaaten auf die ganze Erde herab.

Was die Finanz- und Aussenminister nicht fertig brachten, nämlich ein neues Weltwährungssystem, Vertrauen in die Börse und geschlossene Solidarität der vom Erdöl abhängigen Staaten zu bewerkstelligen, das gelang auch den Wirtschafts- und Innenministern nicht: nämlich die konjunkturelle Talfahrt in den Griff zu bekommen, die Arbeitsplätze zu sichern und die Budgets ausgeglichen zu halten.

 

Dass das Management zahlreicher Firmen - oft über Jahre geschult in vielfältigen Führungsmodellen, Unternehmenspsychologie, Organisationstheorie und Systemanalyse - mit der neuen Lage nicht fertigzuwerden vermochte, ist gleichfalls bedauerlich. Trotz Systemdenken, Vorausschau, Alternativplanung und Neuer Politischer Ökonomie, trotz Einsatz von Computern, arbeitssparenden Büromaschinen und halb- oder vollautomatisierten Fertigungsanlagen - oder gerade deshalb - verstand kaum jemand die Zeichen der Zeit, lies: Krise, zu deuten und dementsprechend zu handeln.

 

Gewiss hat zumindest das Übersehen der epochalen Wende seine Gründe. Einer liegt in der Verquickung des Erdölembargos mit dem vierten Nahostkrieg. Die Panzerschlachten auf dem Sinai trübten den Blick für die politische und wirtschaftliche Tragweite. Hinzu kam recht bald ein ständig an Nahrung gewinnender Verdacht, dass das ganze Erdölabenteuer ein gigantischer Bluff sei. Er wurde bestätigt, als im Januar 1974 die Gewinne der Ölkonzerne publik wurden: im Vergleich des dritten Quartals betrugen sie bis zu viermal mehr als im Vorjahr - im Durchschnitt der sieben grössten Firmen doppelt so viel. Die Jahresgewinne lagen bei manchen Gesellschaften 46 bis 60 Prozent höher.

Mit 2,4 Milliarden Dollar erzielte Exxon den höchsten jemals von einem Industrieunternehmen erreichten Jahresgewinn (laut „Time“ vom 7.7.1974 waren es gar 3,1 Mrd. Dollar.) Zudem hatte die Welterdölförderung gegenüber 1972 noch um 9 Prozent (Iran und Saudiarabien 16%) zugenommen – erst 1974 stagnierte sie (in Kuweit ging sie gar um 16% zurück). Aber auch etwa die Welterzeugung an Zucker erreichte 1973/74 mit 80,5 Millionen Tonnen einen neuen Rekord.

 

Das Ausmass der Krise

 

Richtete sich demzufolge der Ärger zunächst auf die "bösen" Araber und die multinationalen Krisengewinnler, so starrte man fortan wie das Kaninchen auf die Schlange auf die Ziffern der monatlichen Teuerungsraten. Die zehn- bis zwanzigprozentigen Zuwachsraten von Umsatz, Produktion oder Bauvolumen wurden abgelöst von Inflationssätzen um 10 Prozent (Schweiz, Schweden, USA) oder 20 Prozent und mehr (England, Italien, Japan). Die Entlarvung der Ölkonzerne wurde bald ad acta gelegt, die Wut auf die arabischen Staaten verwandelte sich in gelinde Verzweiflung, doch was eigentlich geschehen war, realisierte man immer noch nicht. Leichtfertig tröstete man sich über momentane Engpässe und Einbussen hinweg, in der trügerischen Vorfreude, es werde schon nicht so schlimm sein und so lange gehen, spätestens im Frühling 1974 werde der Absatz respektive der Bedarf wieder anziehen. Doch als die Besserung ausblieb, wurden die Gesichter länger und länger.

Erst als der Präsident des mächtigsten Landes der Welt in seiner "State of the Union"-Botschaft eingestand, "die Lage ist nicht gut", fing man an zu überlegen, es könnte schon etwas daran sein.

 

Dabei hatten sich schon Anfang 1973 vor allem die New Yorker Bankiers die bange Frage gestellt: "Können die Araber mit ihren Ölmilliarden die Welt aus den Angeln heben?"

Die Beträge, welche damals die Währungsfachleute mit Sorge erfüllten, muten heute allerdings geradezu lächerlich klein an: 1971 nahmen die Mittelost-Ölstaaten 7 Milliarden Dollar ein; 1974 dürften es zehnmal soviel gewesen sein - dabei hatten die Finanzexperten ab 1980 erst 30 Milliarden prognostiziert! Dass Saudi-Arabien im November 1972 über einen Gold- und Devisenbestand von 2,5 Milliarden Dollar verfügt hatte, fand man bereits unheimlich. Zwei Jahre später waren es 14 Milliarden.

 

Dass das Anschwellen der Petrodollars in den erdölabhängigen Ländern die Ertragsbilanzen schrumpfen lässt oder gar Aussenhandelsdefizite zur Folge hat (Frankreich, USA) ist naheliegend. Die Zahlungsbilanzdefizite 1974 machten für Frankreich, die USA, Italien und England zwischen 7,5 und 9 Milliarden Dollar aus.

Noch mehr trifft es jedoch die Entwicklungsländer, müssen diese doch nicht nur einen zunehmend grösseren Teil ihrer Exporteinnahmen für Erdöl aufbringen, sondern auch gleichzeitig mehr bezahlen für Industrieprodukte und Investitionsgüter, die sie nicht selber herstellen können und deshalb einführen müssen. Wie die "Swissaid" berichtet, zwingen überdies eine unterentwickelte Landwirtschaft und ungünstige Witterungsverhältnisse viele dieser Länder, grosse Mengen von Grundnahrungsmitteln - die ebenfalls um 50 Prozent teurer geworden sind - im Ausland zu kaufen.

 

"Wir stehen mitten in einem Krieg"

 

Wie ein Dieb in finsterer Nacht hat also eine kleine Gruppe von der Natur begünstigter Entwicklungsländer (Kartelle für Öl, bald auch für Kupfer, Bauxit, Eisen und Phosphate, Kakao und Bananen) die Kluft zwischen Arm und Reich noch mehr vergrössert und macht sich daran, auch die entwickelten Länder völlig zu lähmen. Wenn PLO-Chef Arafat unumwunden erklärt: "Die wirtschaftliche Katastrophe, die wir hervorrufen werden, wird sich notgedrungen auf alle westlichen Länder ausdehnen", dann kann man schon wie ein Schweizer Industrieller zum Schluss gelangen: "Wir stehen mitten in einem Krieg".

 

Die fetten Jahre sind vorbei! Härtere Zeiten kommen.

 

Erste Folge:

Der Umweltschutz wird weniger rasch ausgebaut als bisher, denn die Budgetkürzungen der öffentlichen Hand schneiden nicht nur Reformprojekte, sondern auch Sanierungs- und Infrastrukturvorhaben zurück. Zudem verleiten zurückgehende Auftragsbestände und finanzielle Engpässe zahlreiche Unternehmungen, vom Staat eine Lockerung der Sicherheits- und Umweltschutzvorschriften, Übergangsregelungen oder eine Erstreckung der Fristen zu verlangen. Denn, das wussten Einsichtige schon in der Prosperität: Der Erlass von Vorschriften ist in vielen Fällen keine Frage der technischen Möglichkeiten, sondern der finanziellen Zumutbarkeit.

 

Zweite Folge:

Das bürgerliche Selbstverständnis, schon beträchtlich angeschlagen in den sechziger Jahren, wird erst recht zusammenfallen, wenn sich Kleinstaaten wie Grossmächte von einer Handvoll Ölscheichs und Terroristen andauernd einschüchtern lassen.

 

Dritte Folge:

Der Forderung nach wenigstens "Bewahren des Erreichten" ruft einen sich modern gebenden Konservativismus auf den Plan, der beispielsweise unter dem Deckmantel einer ökologischen und globalen Ethik alte Machtverhältnisse übernimmt und zementiert, wenn nicht gar ein unbedachter Dirigismus, Interventionismus und Protektionismus um sich greift. Dies ist umso gefährlicher als die sich zusehen ausbreitende Resignation in Passivität statt Kreativität ausmündet.

Zahlreiche fragwürdige politische Strömungen könnten so Auftrieb erhalten. Und da wird es wieder einmal mehr gelten, die Augen offen zu halten und den Anfängen zu wehren.

 

Die Selbstzerstörung der Menschheit

 

Es geht nicht an, den Schwarzen Peter für die Entwicklung der letzten zwei Jahre allein den Ölstaaten zuzuschieben. Vielmehr ist zuzugeben, dass die Inflationsmentalität der Industrieländer einen wesentlichen Anteil daran hat, Die bisher unablässig gestiegenen Ansprüche bei Einkommen und Sozialleistungen, nach Sicherheit und Bequemlichkeit, der Wunsch, dasselbe zu besitzen und sich leisten zu können wie der Nachbar (vom Kühlschrank über den Farbfernseher bis zum Zweitwagen und Ferienhaus) und das betriebliche Bestreben nach immer höheren Erträgen haben "Wohlstandsallüren" gezeugt, die auf die Dauer zu einem Zusammenbruch führen mussten. Hinzu kommt, dass das aufgeblähte Angebot an Gütern und Dienstleistungen zu einem guten Teil auf Kosten der Entwicklungsländer - häufig ehemaliger, nun im Stich gelassener Kolonien - zustande kam.

 

Man kann somit nicht umhin zuzugeben, dass es nicht dunkle Mächte waren, die ihre Hand im Spiel hatten, sondern dass es der Mensch selbst ist, der die nunmehr fatale Lage herbeigeführt hat. Den einzelnen trifft dabei ebensolche Schuld wie die Interessengruppen, seien es nun Lobbies oder Nationalstaaten, internationale Vereinigungen oder multinationale Konzerne.

 

Schon 1970 stellte Karl Steinbuch fest, dass "die Menschheit ihre eigene Zerstörung ziemlich konsequent und systematisch" vorbereitet, nachdem schon früher der russische Atomforscher Andrej Sacharow von der Gefährdung der modernen Gesellschaft durch den „verkalkten Dogmatismus einer bürokratischen Minderheit" gesprochen hatte.

 

Das "Ende des Überflusses“ (Paul und Anne Ehrlich) ist herangekommen. Die Zeit der beinahe ungebrochenen Expansion ist bereits Geschichte. Die uralte Erkenntnis, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, bricht sich notgedrungen Bahn. Allerdings zu spät. Man ritt derart stolz auf der Woge des Booms, dass man "Strukturveränderungen" nur halbherzig an die Hand nahm oder schlicht verpasste.

Es ist erstaunlich, wie wenig Substanz geäufnet wurde; kein "Polster" wurde zugelegt - ausser den Gastarbeitern und den verheirateten Frauen. Geborgter Reichtum wurde in Saus und Braus verprasst. Man baute auf Sand, statt auf soliden Rücklagen. In einer gewaltigen Fortschrittsverherrlichung frönte man dem eitlen Wahn, alles was technisch oder ökonomisch möglich sei, könne auch unbeschadet realisiert werden. Ein kritikloser Optimismus hielt die meisten Verantwortlichen in Ost und West gefangen. Masslosigkeit und Arroganz hielten Urstände. Gewinne und Margen wurden als Fetische verehrt.

 

So und ähnlich werden in nächster Zeit die zerknirschten Selbstanklagen lauten - und aus dem arabischen Lager werden ähnliche Stimmen laut. (Unsere unwirsche Frage an die Araber, "Was macht Ihr nur aus und mit dem vielen Geld?“, muss - in der Vergangenheitsform - zuerst von den Industrieländern beantwortet werden.) Es stimmt schon, der "unbewältigte Wohlstand" (Walter Wittmann, 1972) hat erst zu einer seelischen Übersättigung, zur "Überdrussgesellechaft" (Roland Nitsche, 1971) und hernach in manchen Wirtschaftszweigen zu einer materiellen Sättigung geführt, und zwar schneller als man berechnet hatte, obgleich mancher Nachholbedarf ungedeckt geblieben ist. Vieles war nur Schall und Rauch!

 

Hoffnung auf Krisenmanagement und -planung

 

Jetzt könnten die vielgepriesenen Krisenmanager zum Zuge kommen. Die "Lerngesellschaft" (Karl Bednarik, 1966) ist herausgefordert, freilich nicht im Sinne der weiteren Anfügung von Wissen, sondern im Sinne des "Überlebens", unter der Devise:

Wie werden wir mit der Rezession fertig?

Wieweit und wieviel müssen wir zurückstecken?

 

Es wird aber gewiss nicht darum gehen, in einer falschverstandenen Abkehr von der "Planungseuphorie" fortan auf jede Planung zu verzichten, Im Gegenteil: Das Ausnützen und der optimale Einsatz der knapper gewordenen Mittel erfordert in vermehrtem Masse Planung. Allerdings solche, die sich nüchtern auf umsichtig erarbeitete Alternativen und Konsequenzenanalysen abstützt.

 

Von einer auf kurzfristige Lösungen gerichteten intuitiv-pragmatischen Entscheidungstechnik, die in Unternehmerkreisen neuerdings als Allerheilmittel propagiert wird, ist wenig Gutes zu erhoffen; die Lage ist zu ernst, als dass kleinliche und an enge Standpunkte gebundene Vorkehren einen Nutzen auch für kommende Generationen - an die es auch jetzt noch zu denken gilt - ergeben könnten.

 

„Feuerwehrübungen* haben noch nie Lösungen gebracht. Gerade wenn der Konkurrenzkampf sich verschärft, tut qualitative, langfristige Planung, d. h. Achtung auf Kontinuität und Wiederherstellung von Gleichgewichten not. Jedoch ist darauf zu achten, dass der "Kampf für eine lebenswerte Welt“ nicht den Massnahmen zur Stimulierung des Geschäftsganges zum Opfer fällt: Weder darf der "konjunkturelle Niedergang" zum Alibi werden, neue Fehler auf Kosten unserer Nachkommen zu begehen, noch darf die "Redimensionierung" auf dem Buckel der Armen, Schwachen und Hilfebedürftigen im eigenen Lande wie in den Entwicklungsländern ausgetragen werden.

 

"Sauve qui peut" und "Jeder ist sich selbst der Nächste" sind schlechte Maximen für die Rettung der "One World".

 



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