Sensibilisierung auf Umweltschutz (1948-1973)
Daten gesammelt 1974; ergänzt und zusammengestellt für: io Management Zeitschrift, Nr. 11/1991, 74.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es sehr lange, bis eine Sensibilisierung auf ökologische Probleme erfolgte. Das geschah ganz sachte erst im allgemeinen Aufbruch der 60er Jahre. Die USA spielten dabei den Auslöser, etwa mit Bürgerrechtsbewegungen und Bürgerinitiativen, mit Studentenrevolten und dem, was wir heute rückblickend als "New Age" bezeichnen. Europa zog etwas verspätet nach. Kurze Zeit, von 1970 bis 1973, erlebte "Umweltschutz" einen richtigen Boom.
Erste Signale
Erste Signale bildeten ·
Meldungen über japanische Fischer, die
wegen quecksilberhaltigen Abgasen und Abwässern der
"Minamata"-Krankheit erlagen (1955-65) · die gut sichtbare Schaumbildung auf Flüssen durch Detergentien (1959/60) · die Contergan-Kinder (1961/62) - insgesamt 5000 - und · die durch Kadmium, wiederum in Japan, hervorgerufene "Itai-Itai"-Krankheit (ab 1961) · die Typhusepidemie im Winter 1963 in Zermatt und · 1964 ein Fischsterben im Mississippi-Delta.
Im März 1967 erregte die Torrey-Canyon-Katastrophe weltweit Aufsehen, 1968 fanden sich Giftrückstände im Schweizer Käse, der nach den USA exportiert werden sollte. Für viele am eindrücklichsten, weil am besten sichtbar waren die zunehmende Verschmutzung beliebter Badestrände und die Verschandelung von Ferienorten durch Blechlawinen, Plastik, Abfall, Beton und Bahnen.
Warnende Stimmen
Die Warner blieben lange Zeit Rufer in der Wüste, auch wenn ihre Werke drastische Titel trugen, z. B. "Unsere ausgeplünderte Erde" (Fairfield Osborn 1950; engl. 1948), "Der Tanz mit dem Teufel" (Günther Schwab 1958), "Im Würgegriff des Fortschritts" (Bodo Manstein 1961) oder "Selbstvernichtung durch Zivilisation" (Rolf Lohbeck 1966). Auch das 1950 von K. William Kapp veröffentlichte Werk "The Social Costs of Private Enterprise" hatte keine Wirkung, auch nicht in der deutschen Übersetzung des ETH-Professors Bruno Fritsch (1958).
Immerhin versetzten 1955 Erich Fromm mit "The Sane Society" (dt. "Der Mensch und seine Zukunft" 1960), 1957 Vance Packard mit seinen "geheimen Verführern" (dt. 1957)und ein Jahr später John Kenneth Galbraith mit seiner "Überflussgesellschaft" (dt. 1959) die Öffentlichkeit in Unruhe. Diese steigerte sich durch Werke wie "Tod und Leben grosser amerikanischer Städte" (Jane Jacobs 1961, dt. 1963), "Our Synthetic Environment" (Murray Bookchin 1962, revidiert 1974), "Silent Spring" (Rachel Carson 1962, dt. 1963), "Tiermaschinen" (Ruth Harrison 1964, dt. 1965) und "Unsafe at Any Speed" (Ralph Nader 1965).
Wichtige Bilder und Begriffe
Bedeutsam wurden einige Bilder resp. Begriffe, nämlich: · "soziale Indikatoren" (Uno 1961, Raymond A. Bauer 1966) · "globales Dorf" (global village: Marshall McLuhan 1962) · "Raumschiff Erde" (spacecraft: Eugene P. Odum 1963; Spaceship Earth: Adlai E. Stevenson 1965, Kenneth E. Boulding 1966, R. Buckminster Fuller 1969) · "Lebensqualität" (Quality of Life: J. K. Galbraith 1963, L. B. Johnson) · "global denken - lokal handeln" (René Dubos 1968).
Erste Massnahmen
1948 wurde die "Internationale Union für die Erhaltung der Natur" (UICN) gegründet. Seit 1950 arbeiten die Rhein-Anliegerstaaten in der "Internationalen Kommission zum Schutze des Rheins gegen Verunreinigungen" zusammen. 1954 verabschiedete die "International Maritime Consultative Organization" (IMCO) eine Konvention zur Verhütung der Meeresverschmutzung. 1956 vereinten sich Gewässerschutz- und Fachvereinigungen, staatliche Institutionen, industrielle Unternehmungen und private Interessenten fast aller europäischen Länder zur "Föderation europäischer Gewässerschutz" (Präsident: Prof. Dr. Otto Jaag). Im selben Jahr wurde der "Clean Air Act" gegen den berüchtigten Londoner Smog erlassen. 1961 brachte die "Grüne Charta von der Mainau". 1968 arbeitete der Europarat eine "Wasser-Charta" und eine „Charta zur Reinhaltung der Luft“ aus.
Alternative Ansätze
1961 gründete der Atomphysiker Leo Szilard den "Ausschuss für eine lebenswerte Welt", eine der ersten Bürgerinitiativen, und in New York konnte das Komitee der Städtebaukritikerin Jane Jacobs erste Erfolge verbuchen. Demgegenüber wurden die Forderung von Emilio Q. Daddario nach "Technology Assessment" (1965) oder analoge Bemühungen um die kritische Prüfung politischer Entscheidungen und Programme ("Policy Evaluation") nur Insidern bekannt. W. H. Ferry, zehn Jahre lang Vizepräsident des "Zentrums für das Studium demokratischer Einrichtungen" in Santa Barbara, ging damals so weit, für technische Neuerungen ein zweijähriges Moratorium zu fordern. Als 1966 die Hippies den "Sommer der Liebe" feierten, machte der Wissenschaftshistoriker Lynn White jr. in seinem Vortrag "The Historical Roots of our Ecological Crisis" das Christentum für die Ausbeutung der Natur verantwortlich und plädierte für eine neue Haltung gegenüber der Natur des Menschen und seinem Schicksal.
Bereits 1957 hatte R. H. G. Siu einen 180seitigen "Essay on Western Knowledge and Eastern Wisdom" unter dem Titel "The Tao of Science" veröffentlicht. 1962 stellte der Gegenutopist und Drogenguru Aldous Huxley in seiner positiven Utopie "Island" (dt. 1973) eine Verbindung von östlicher Mystik, z. B. Buddhismus, mit westlicher Wissenschaft und alternativer Wirtschaft vor.
Hatte White noch vorgeschlagen, Franz von Assisi zum Schutzpatron zu machen, so plädierte E. F. Schumacher in seinen "Aufsätzen "Intermediate Technology" (1964) und "Buddhist Economics" (1968) für einen andern Weg. Der für alternative Technologie von Stewart Brand herausgegebene "Whole Earth Catalog" (seit 1968) wurde im Laufe der Zeit ein Bestseller und erreichte eine Auflage von drei Millionen. Zahlreiche spirituelle Gemeinschaften (Zen, Yoga, Sufi, Schamanen) versuchten sich in neuen Lebens und Wirtschaftsformen. Das 1969 in San Diego eingerichtete Öko- und Agrolabor "New Alchemy" zog zwei Jahre später nach Cape Cod. Paolo Soleris "Arcosanti"-Projekt in Arizona (seit 1968) gedieh nie so recht.
"Uns alle erfüllt jetzt die Furcht ..."
Noch die UNESCO-Konferenz zum Schutz der Biosphäre 1968 in Paris löste ein geringes Echo aus. Dabei waren 60 Staaten und mehrere internationale Organisationen durch 250 Delegierte vertreten. "Uns alle erfüllt jetzt die Furcht, ob wir die Verhältnisse noch in den Griff bekommen", bekannte der wissenschaftliche Direktor der US-Naturschutzbehörde damals. Andrej D. Sacharow sprach von der Gefährdung der modernen Gesellschaft durch den "verkalkten Dogmatismus einer bürokratischen Minderheit" und meinte, dass "nur universale Zusammenarbeit die Zivilisation bewahren" werde.
Umweltschutz-Boom 1970-1973
Erst im "Europäischen Naturschutzjahr" 1970 erfuhr der neue Begriff und mit ihm das Anliegen "Umweltschutz" Publizität. In den USA hielt Präsident Nixon Anfang Jahr eine programmatische Rede und richtete im Dezember ein Ministerium für Umweltschutz mit über 6000 Angestellten und einem Budget von 1, 4 Mrd. Dollar ein. Studentische Basisgruppen machten den "Earth Day" zum Tag des ökologischen Protests und aufgebrachte Bürger gründeten die Bewegung "Rettet die Erde". Im Mai 1971 strich der amerikanische Senat die Mittel für den Bau des zivilen Überschallflugzeuges SST.
Frankreich ernannte Anfang 1971 Robert Poujade zum Minister für Fragen des Natur- und Umweltschutzes. Die ersten deutschen Bundesländer mit richtigen Umweltministerien waren Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz.
1972 veröffentlichten Mitarbeiter des MIT unter der Ägide des Club of Rome die Studie "The Limits to Growth" und fand eine weitere Umweltkonferenz der UNO in Stockholm statt.
Environmental Quality ...
Prof. Dr. Emil Egli berichtete über Nixons Aufruf und Plan zu Hebung der "Qualität des Lebens" in seinem Buch "Natur in Not"(1970): "Es ist ein Gesamtprogramm zum Kampf gegen die Umweltverschmutzung, wie man es bisher nicht gehört hat. 37 Programmpunkte wollen dafür sorgen, dass Luft und Wasser, Stadt und Landschaft als Elemente des menschlichen Lebensraumes nicht mehr der Sorglosigkeit des Einzelnen und der Wirtschaft preisgegeben sind. Bereits hat der 'Council on Enivronmental Quality' Studienaufträge erhalten. Vorschriften für den Automobilbau und die Benzinbereitung zielen die Luftreinigung an, und die Frist ist der zuständigen Industrie auf das Jubiläumsjahr 1975 angesetzt."
... und Lebensqualität
Die Besorgnis um die bedrohte Umwelt kam auch an der Frankfurter Buchmesse desselben Jahres zum Ausdruck: Die Gemeinschaftsausstellung der amerikanischen Verleger stand ausschliesslich unter dem Motto: "The Quality of Life". Wort und Sachverhalt "Lebensqualität" tauchen 1972 allenthalben in deutschsprachigen Landen auf, beispielsweise in Parteiprogrammen oder am 2. St. Galler Symposium über wirtschaftliche und rechtliche Fragen des Umweltschutzes, und zwar in Zusammenhang mit dem "qualitativen Wachstum", das an die Stelle der masslosen Vermehrung von Produktion und Bau, Investition und Konsum treten sollte.
Auch in der Schweiz
Auch die ETH Zürich ging das Thema auf breiter Front an, z. B. im Herbst 1970 in einem grossangelegten Symposium "Schutz unseres Lebensraumes". Der über 500seitige Tagungsband mit 55 Ansprachen und Vorträgen erschien 1971. Überaus reiche Aktivitäten entfalteten in der Folge zahlreiche Vereinigungen wie · die "Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz" (1971, SGU, Prof. Dr. Meinrad Schär) · die "Schweizerische Stiftung für Landschaftsschutz und Landschaftspflege" (1970, SL, Dr. R. Schatz) · die "Basler Arbeitsgemeinschaft zum Schutz von Natur und Umwelt" (1970, BASNU, Prof. Dr. Adolf Gasser) · die "Arbeitsgemeinschaft Umwelt an den Zürcher Hochschulen" (1971, AGU) · die "Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Umweltforschung" (SAGFU, eine Zweiggesellschaft der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, 1972, Prof. Dr. Otto Tschumi).
Die "Arbeitsgemeinschaft Wachstum-Umwelt" (ein Nationalfondsprojekt der ETH und der Hochschule St. Gallen) unter der Leitung von Prof. Dr. H. C. Binswanger und PD. Dr. Theo Ginsburg endete 1978 mit der Publikation des NAWU-Reports "Wege aus der Wohlstandfalle".
Das Ende
Der Ölschock des Herbstes 1973 mit der nachfolgenden Rezession in allen Industrieländern - am schlimmsten in der Schweiz - machte fast allen Umweltschutzbemühungen jäh den Garaus. Was blieb, war einzig die Energiefrage. Die Flut visionärer, utopischer und idealistischer ökologischer Literatur und die unzähligen Initiativen und Aktionen interessierten nur noch Eingeweihte.
Erst um 1990 wurde das Thema Umweltschutz wieder salonfähig.
Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright
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