Home Wie kommt der Klein- und Mittelbetrieb zu Innovationen?

 

 

Der Inhaber eines Klein- oder Mittelbetriebes erschrickt, wenn er die Formel «Forschung und Entwicklung» hört (Abb. 1). «Es kann mir doch niemand zumuten, dass ich selber Forschung betreibe», meint er. Und er hat recht damit. Denn der Erwerb des für Innovationen nötigen technischen Wissens kann auf weitere sechs ganz unterschiedliche Weisen erfolgen, nämlich durch

 

den Kauf von faktorgebundenem Wissen, das in Betriebsmitteln und Werkstoffen vorhanden ist

  1. die Beschaffung freien technischen Wissens,
  2. den Erwerb von Patenten und Lizenzen,
  3. die Übernahme von Firmen und Fachleuten,
  4. die Anwendung der Kreativität,
  5. Learning by Doing.

 

Meist spielen mehrere dieser Möglichkeiten zusammen; aber eine Auslegeordnung gibt immer Impulse.

 

1. Betriebsmittel und Werkstoffe

 

Es wird häufig übersehen, dass Betriebsmittel und Werkstoffe - gekennzeichnet durch Leistungsmerkmale, Flexibilität, Störanfälligkeit usw. - Ausdruck des technischen Wissensstandes sind. Die sogenannte «alternative Substitution» eines Produktionsfaktors durch einen neuen ermöglicht damit den Übergang von einem Stand der Technik auf ein neues technisches Niveau.

Das ist scharf zu unterscheiden von blossen Änderungen in der Kombination bisher eingesetzter Faktoren, sei es durch organisatorische Veränderungen, Optimierung der Betriebsgrösse und der Standorte, Anwendung von Methoden des Operations Research oder Typung. Solche Massnahmen gelten als Rationalisierung.

 

Der Einsatz von faktorgebundenem Wissen ist vor allem für die Verfahrensinnovation von Bedeutung. Seine Aufgabe: gleiche Erträge mit geringeren Kosten zu realisieren. Zu beachten ist jedoch, dass die Einführung neuer Betriebsmittel die Produktionsbedingungen für die übrigen im Produktionsprozess eingesetzten Aggregate signifikant verändert. Der Produktionsprozess muss daher als ganzer harmonisiert werden, damit die Faktoreinsatzmenge vermindert und die Intensität verbessert werden kann.

 

2. Beschaffung freien technischen Wissens

 

Neben dem Wissen, das weder geheimgehalten noch durch Patentrechte geschützt wird, gibt es auch freies technisches Wissen. Dieses steht bei seinem Bekanntwerden allen potentiellen Anwendern gleichermassen und unentgeltlich zur Verfügung. Freilich entstehen bei der Beschaffung und Speicherung Kosten.

Die Möglichkeiten des Erwerbs solcher anwendungsorientierter Spezialkenntnisse sind vielfältig:

            Lektüre von Veröffentlichungen und Dokumentationen,

            Besuch von Ausstellungen und Messen,

            Kontakte zu Wissenschaftern und Technikern,

            systematische Prüfung von Konkurrenzprodukten.

 

Bei der Nutzung dieser Möglichkeiten stehen dem Unternehmer zwei Strategien zur Verfügung:

            der fallweise Erwerb im Hinblick auf konkrete Informationsbedürfnisse,

            der laufende Erwerb unabhängig von den augenblicklichen Anwendungsmöglichkeiten.

 

Im ersten Fall stehen den geringeren Erwerbskosten die längeren Zeitspannen der Informationsbeschaffung gegenüber. Im zweiten Fall stellen sich folgende Probleme:

            Abgrenzung des relevanten Bereichs,

            Speicherung und Bereithaltung auf Abruf,

            rasche Wiederauffindung für bestimmte Fragestellungen.

 

Durch die Nutzung kostengünstiger elektronischer Speichermedien und Netzwerke wird der laufende Erwerb von anwendungsorientierten Spezialkenntnissen zunehmend vorteilhafter.

 

3. Erwerb von Patenten und Lizenzen

 

Patente und Gebrauchsmuster sind üblicherweise das Ergebnis von Entwicklungsaktivitäten. Will ein Unternehmer solche Schutzrechte oder geheimgehaltenes technisches Wissen (Know-how) als Eigentum erwerben oder in Form von Lizenzen nutzen, muss er schauen, ob für solche ausserhalb seines Betriebes entwickelten technischen Kenntnisse in seinem Betrieb überhaupt die Möglichkeiten zum fruchtbaren Einsatz bestehen. Dieser ist abhängig von:

 

  • den technischen Gegebenheiten der Fertigung, der Ausstattung mit Betriebsmitteln und Anlagen, ihren quantitativen und qualitativen Kapazitäten sowie ihrer Anpassungsfähigkeit, der Altersstruktur und dem Abnutzungsgrad;
  • den personellen Gegebenheiten wie Qualifikation der Mitarbeiter, Bereitschaft zur Umstellung, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten;
  • den finanziellen Gegebenheiten, insbesondere den Möglichkeiten der Eigen- und Fremdfinanzierung des Patent- und Lizenzerwerbs und der notwendigen Investitionen.

 

Wenn man den Lizenzerwerb auch als Investition auffasst, dann sind - mit den gleichen Schwierigkeiten wie bei materiellen Investitionsobjekten - die finanzmathematischen Verfahren der Investitionsrechnung anwendbar, um seine Vorteilhaftigkeit zu beurteilen.

 

Zusammenarbeit mit Lizenzgeber

 

Die Kosten für einen solchen «Transfer technischen Wissens» entwickeln sich gemäss der «Lernkurve». Nun kann der Lizenzgeber für den Fertigungsanlauf vielfältige Erfahrungen aus dem Entwicklungsprozess nutzen, während dem Lizenznehmer diese Erfahrungen weitgehend fehlen. Eine enge Zusammenarbeit ist daher anzustreben. Der Lizenzgeber kann beispielsweise

 

  • die Einarbeitung und Schulung von Mitarbeitern des Lizenznehmers übernehmen, oder diesem
  • Personal aus seinem eigenen Entwicklung- und Fertigungsbereich für die Anlaufphase zur Verfügung stellen.

 

Ähnliches empfiehlt sich für den innerbetrieblichen Transfer technischer Wissens.

Ein Problem bleiben die Kosten: Wohl ermöglicht die enge Zusammenarbeit eine Kostensenkung für den Lernprozess in der Anlaufphase der Fertigung, doch die Zusammenarbeit selbst kostet ebenfalls. Daher muss auch hier gerechnet werden, damit eine optimale Lösung zustandekommt.

 

Diebstahl, Fälschung, Nachahmung

 

Über die Bemühungen zur Einführung eines schweizerischen Patentschutzes im letzten Jahrhundert gibt Richard Gerster in seinem Buch «Patentierte Profite» (1980) Auskunft. Er weist darauf hin, dass die Schweiz damals von Frankreich als Land betrügerischer Nachahmer («pays des contre-facteurs») und vom Deutschen Reichstag wiederholt als «Piratenstaat» und «Raubstaat» bezeichnet wurde. Der Zentralschweizer Industrielle A. Benziger meinte am schweizerischen Patentkongress von 1882: «Unsere Industrie ist nur dadurch zu der jetzigen Entwicklung gelangt, dass sie das Ausland benutzt hat - wenn das Diebstahl sei, so sind alle unsere Industriellen Diebe.»

 

Die heute wieder zunehmende Praxis, dass Handelsmarken gefälscht und Erfindungen genutzt werden, ohne den Patentinhaber zu begrüssen, hat also eine alte Tradition. Ebenso beliebt sind Nachahmungen oder gar Kopien, die sich zu richtigen Modewellen entwickeln können.

 

4. Übernahme von Firmen und Fachleuten

 

Betriebsspionage ist ebenfalls nicht aus der Methodik des Wissenserwerbs wegzudenken. Schon der englische Ingenieur James Nasmyth staunte 1842 nicht schlecht, als er seinen drei Jahre zuvor erfundenen - aber aus Geldmangel nicht patentierten - Dampfhammer im französischen Creusot in Betrieb sah, als er dort zu Besuch weilte. Schneider und Bourdon, die Besitzer dieses Werkes hatten eben in Abwesenheit von Nasmyth dessen Werkstatt in Patricroft besucht und dort seine Zeichnungen «gesehen». Sie bauten nicht nur seinen Dampfhammer nach, sondern liessen ihn auch noch in Frankreich patentieren.

Was jedoch jedem redlichen Unternehmer offen steht, sind verschiedene Arten von Zusammenarbeit mit anderen Firmen, zum Beispiel

 

            Contracts,

            Joint Ventures,

            Miete/ Pacht,

            Anschluss,

            Beteiligung,

            Übernahme/ Kauf,

            Fusion.

 

Über die Abwerbung von Fachleuten (Head hunting) kann man geteilter Meinung sein. Jedenfalls trifft man damit zwei Fliegen auf einen Schlag: Man gewinnt das persönliche Fachwissen, aber auch das Know-how des vormaligen Arbeitgebers.

 

5. Kreativität

 

Technisches Wissen ist jedoch nicht alles. Es braucht auch Ideen und Schwung. Dies fehlt heute manchen. Wie kommt man dazu? Durch kreatives Denken und Vorgehen, insbesondere

  • «Kreativ-Interviews» mit Experten,
  • Gruppensitzungen unter Einsatz von Kreativitätstechniken,
  • die Bildung von Innovationsgruppen mit Mitgliedern aus verschiedenen Fachbereichen, die einander als Koordinatoren (und Moderatoren) ablösen und ab und zu ausgewechselt werden.

 

Viel zu viele laufen mit Scheuklappen umher, gehen nach ausgeleierten Verhaltensprogrammen vor und haben Angst vor Veränderungen. Die Anwendung von Kreativitätstechniken kann helfen, solche Verhärtungen aufzubrechen. Sie weckt in den Mitarbeitern schlummernde Fähigkeiten und eröffnet dem Unternehmer eine neue Sicht der Dinge.

Mindestens so wichtig wie das Wissen, welches kreative Interviews und Sitzungen zu Tage fördern, ist der Gewinn von «schöpferischen Impulsen» - und zwar von drei Seiten her:

            vom technologischen Fortschritt (technology push),

            von den Absatzmärkten (demand pull),

            von betriebsinternen Potentialen her.

 

Solche Anstösse und ein frischer Wind stärken den Mut, etwas Neues zu wagen und die Zuversicht, die Beschwernisse einer Realisierung tapfer zu ertragen.

 

6. Learning by Doing

 

Dass der technische Fortschritt stets eine grosse Bedeutung für das wirtschaftliche Wachstum hatte, zeigten Fabricant (1954), Abramovitz und Solow (1956/57). Dass die Nachfrage einen ebenso wichtigen Faktor darstellt, belegte Jacob Schmookler (1966) in seiner Studie «Invention and Economic Growth». Und dass auch das «Learning by Doing» nicht gering einzuschätzen ist, wiesen nach der Pionierarbeit von T. P. Wright (1936) mehrere Forscher in den fünfziger Jahren nach.

 

So beschrieb etwa F. J. Andress 1954 «The Learning Curve as a Production Tool» und Lundberg 1961 den «Horndal-Effekt»: Bei den Horndal Stahlwerken in Schweden war in einem Zeitraum von 15 Jahren ohne technische Veränderungen ein Anstieg der Arbeitsproduktivität von durchschnittlich zwei Prozent pro Jahr beobachtet worden. 1962 arbeitete Kenneth J. Arrow für die «Economic Implications of Learning by Doing» ein mathematisches Modell aus.

Dahinter steckt die Erkenntnis, dass es nicht nur einzelne grosse Erfinder und geniale Techniker sind, welche die Entwicklung vorantreiben, sondern eine unübersehbare Vielzahl minimaler Verbesserungen während der Betriebszeit in der Produktion.

Diese Chance - mit der Erfahrung zu wachsen - ist gerade für den kleineren und mittleren Unternehmer ein nicht zu unterschätzendes Innovationsmittel. Mit Bewusstsein und Zielstrebigkeit ausgeübt, ist das dauernde Bewältigen von praktischen Problemen eine wichtige Quelle auch für den betrieblichen Fortschritt.

 

Eigenentwicklung

 

 

Entschliesst sich der Unternehmer zur Eigenentwicklung (Abb. 2), so hat er sich den Ablauf eines Entwicklungsprojektes (Abb. 3) vor Augen zu halten. Wer sich davon und vom hohen Mass an interner wie externer «Unsicherheit» nicht abschrecken lässt, muss drei weitere Faktoren beachten, die miteinander zusammenhängen, nämlich Entwicklungskosten, -dauer und -erfolg (Abb. 4).

 

Zerlegung in Aufgaben und Stufen

 

Daraus ergibt sich vor jeder Budgetierung und Bilanzierung, organisatorischen Gestaltung und Programmplanung die grundsätzliche Notwendigkeit einer flexiblen Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Das erfordert einerseits das Aufteilen des Gesamtprojekts in Teilaufgaben derart, dass spezifische Erfahrungen der Mitarbeiter wie des Unternehmens genutzt werden können, anderseits ein Zerlegen in Stufen.

In regel- oder unregelmässigen Zeitabständen müssen Haltepunkte vorgesehen werden, an denen aufgrund des bisherigen Projektfortschritts und unter Berücksichtigung früherer Erfahrungen Entscheidungen über die weitere Vorgehensweise getroffen werden, zum Beispiel Fortführung des Projekts, Wahl eines anderen Ansatzes, Revision der Entwicklungsziele oder Korrektur der Erwartungen bezüglich Ressourceneinsatz und Entwicklungsdauer.

 

Wäre nach alledem die technische Entwicklung erfolgreich abgeschossen, wirft die kommerzielle Phase weitere Probleme auf, insbesondere Timing und Gestaltung der Produktionsanlaufphase und der Markteinführung sowie die Durchsetzung auf dem Markt (frz. perséverance). Die Geschwindigkeit der Marktdurchdringung (frz. pénétration) entscheidet letztlich über Gewinn oder Verlust.

Alles in allem zeigt sich: So wichtig Innovation ist, so schwierig ist sie auch.

 

Waches und sensibles Suchen

 

Über aller Faszination durch «Forschung und Entwicklung» (Abb. 1) sollte daher gerade der Inhaber eines Klein- oder Mittelbetriebes seine Aufmerksamkeit dahin richten, wo bereits technisches Wissen vorliegt: in sinnvoll auszuwählenden Betriebsmitteln und Werkstoffen sowie in Lizenzen von patentiertem oder geheimem Know-how. Ein waches und sensibles Suchen in diese Richtung - unterstützt etwa auch von einer der zahlreichen Innovationsberatungsstellen und -firmen - kann bislang ungehobene Schätze ans Licht bringen.

 

 

Literatur

 

Abramovitz, M.: Resource and Output Trends in the United States Since 1870. American Economic Review 46, 1956, S. 5-23.

Andress, F. J.: The Learning Curve as a Production Tool. 1954.

Arrow, Kenneth J.: The Economic Implications of Learning by Doing. Review of Economic Studies 29, 1962, S. 155-173.

Fabricant, Solomon: Economic Progress and Economic Change. New York: National Bureau of Economic Research 1954.

Ford, Guy Stanton: On and Off the Campus. Minneapolis: University of Minnesota Press 1938 (über Betriebsspionage).

Henderson, B. D.: Die Erfahrungskurve in der Unternehmensstrategie. Frankfurt: Campus 1975.

Henfling, Manfred: Theorie technischer Innovationen in der industriellen Fertigung. Gerbrunn bei Würzburg: Wissenschaftlicher Verlag A. Lehmann 1981.

Hoffmann, Lutz: Innovation durch Konspiration. IBM-Nachrichten 41 (1991), Dezember, S. 16-23.

Kornhauser, W.: Scientists in Industry. 1962.

Lundberg, E.: Produktivitet och räntabilitet. Stockholm: P. A. Norstedt and Söner 1961.

Pelz, C./ Andrews, F. M.: Scientists in Organizations. 1966.

Redlich, Fritz: Der Unternehmer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964, S. 251-279 (Kapitel: «Die führenden Köpfe in der deutschen Dampfmaschinenindustrie in den ersten hundert Jahren»; zuerst 1944 erschienen; berichtet über Betriebsspionage zur Zeit der ersten Dampfmaschinen.).

Schmookler, Jacob: Invention and Economic Growth. 1966.

Gerster, Richard: Patentierte Profite. Basel: Z-Verlag 1980.

Solow, R. M.: Technical Change and the Aggregate Production Function. Review of Economics and Statistics 39, 1957, S. 312-320.

Steiner, G. A.: The Creative Organization. 1965.

Wright, T. P.: Factors Affecting the Cost of Airplanes. Journal of the Aeronautical Sciences 3, 1936, S. 122-128.

 

 

(ursprüngliche Fassung November 1984;

erschienen: Erfolgs- und Karrierehandbuch Heft 2, 1987, 891-900)

[Nachdruck im Sammelband: Innovation gewinnt. Kulturgeschichte und Erfolgsrezepte. Zürich Orell Füssli 1997, als Kap. 13: „Wie kommt der Klein- und Mittelbetrieb zu Innovationen?“, 153-162]

 


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