Home Beobachtungen und Folgerungen aus dem Börsencrash vom 19. Oktober 1987

 

Mit 16 morphologischen Tips nach Fritz Zwicky

 

siehe auch Übersicht:

Morphologisches Lernen aus dem Börsen-Crash vom 19.10.1987

 

 

1. Rhythmen, Gestalten und Sprünge sehen

 

Das ist das Hauptkennzeichen der klassischen Morphologie seit Goethes Tagen.

Es gibt allerlei Arten von Rhythmen, z. B.

1. Konjunkturzyklen

a) Lange Wellen (vgl. Kondratieff-Wellen), ca. 50-60 Jahre

b) kurze Wellen, z. B. Auf- und Abschwünge, Haussen und Baissen, ca. 5-10 Jahre

2. Trends, einige Monate bis Jahre

3. globale Wellenbewegungen

4. zyklische Wertpapiere bestimmter Firmen oder Branchen

5. Wochen- und Tagesrhythmen.

 

Besonders gut zu beobachten waren die globalen Wellen beim Börsen-Crash und nachher. Sie liefen von Fernost über Europa nach Amerika, und zwar während Wochen ausserordentlich regelmässig.

 

Ebenso auffällig waren die enormen Kurssprünge und Disparitäten. In den ersten Tagen nach dem Crash eröffneten viele Kurse bis zu 30 % tiefer oder höher; Abweichungen von der Parität betrugen bis zu 20 %.

 

2. Steten Wandel spüren

 

Die Empfindlichkeit der Märkte ändert sich.

(1) Manchmal reagieren sie auf politische Verlautbarungen oder militärische Ereignisse, manchmal nicht.

(2) Je nachdem reagieren sie auf wirtschaftliche, politische, militärische, psychologische Faktoren.

 

Die Suche nach Sündenböcken ändert sich ebenfalls. Eine Zeitlang konzentriert sie sich auf einen Politiker oder Sachverhalt, bald aber auf andere.

 

3. Herausfinden, was man für ein Typ ist

 

Nach Zwicky besteht die wichtigste Aufgabe jedes Menschen, herauszufinden, was sein "Genie" ist, also worin seine Talente, aber auch die Schwächen liegen.

 

Das ist auch wichtig für die Arbeit an der Börse. Da lauten die Fragen etwa:

·        Bin ich risikofreudig?

  • Kann ich schnell reagieren, Erwartungen korrigieren usw.?

·        Kommt es mir auf Sicherheit, Liquidität, Rendite oder Wertzuwachs an?

·        Kann ich Verluste verkraften?

·        Kann ich ruhig schlafen in Zeiten der Ungewissheit?

·        Habe ich gern etwas "in der Hand", z. B. Gold, schöne Sachen, Edelsteine?

 

Gemäss den ehrlichen Antworten hat das Vermögens-Management zu erfolgen. Die realistische Einschätzung dessen, was man kann und weiss und das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten sind unabdingbare Voraussetzungen für den Erfolg überall.

 

4. Nüchterne Einschätzung der Börse

 

Auch die Arbeit an der Börse ist nüchtern einzuschätzen. Das in Wertpapieren angelegte Geld ist keine Sinekure. Die Arbeit an der Börse mag faszinierend sein, aber sie ist kein Spass, sondern bitterer Ernst.

 

Die Börse ist auch kein Casino. Nicht der Zufall regiert, sondern Menschen, genauer Dutzende von Faktoren über unterschiedlichste Menschengruppen.

 

5. Märkte sind undurchsichtig

 

Schon 1952 hat der St. Galler Wirtschaftsprofessor Walter Adolf Jöhr in seinem Riesenwerk über die "Konjunkturschwankungen" die beschränkte Transparenz der Wirtschaft und der Märkte beklagt. Man weiss nicht genau, was läuft und welche Mächte am Werk sind. Das führt zu falschen Einschätzungen und zu Fehlanpassungen.

 

Es ist zu vermuten, dass auch heute nur wenige den vollen Durchblick durch die Börse haben. Der "Märchendschungel" ist real! Es besteht der Verdacht, es gebe zuviele neue Instrumente, aber die Methoden für deren Einsatz fehlten.

 

In Zürich ist nicht einmal die Menge der täglich gehandelten Titel bekannt [1987]. Hinter einem einzigen Kurs können 2 Stück oder 2000 stehen. Und ob der Käufer ein ausländischer Investor ist, weiss man meistens nicht. Überdies werden oft Absprachen zwischen Institutionellen wirksam, sie führen z. B. zum Stillhalten oder zur Kurspflege. Viele Banken sind nicht nur für Gross- und Kleinanleger, sondern auch für sich selber tätig. Das trifft auch für Bankangestellte, Börsenhändler und Market Makers zu.

 

Nach dem Crash wurde die 10 %-Klausel ausser Kraft gesetzt. Das führte zu den Bockssprüngen der Kurse. Wäre diese Klausel nicht gerade für Krisenzeiten gedacht gewesen?

 

6. Unterscheide zwischen normalen und Krisenzeiten

 

Durch den Börsensturz wurden alle Börsen, alle Titelkategorien, Branchen und Firmen betroffen, gewiss in unterschiedlichem Mass, doch sämtliche markant. Sogar Schweizer Anlagefonds sanken in kurzer Zeit um 20 %.

 

In Krisen spielen Substanz und Bonität nur noch eine geringe Rolle.

 

7. Informationen kritisch bewerten

 

Manches im Informationssektor war unerfreulich. Das Spektrum reichte von verspäteten Kursberichten an Bildschirm und Telephon bis zu unrichtigen Zahlen in den Zeitungen.

 

Verlautbarungen zur Lage waren widersprüchlich, Empfehlungen vage oder ausweichend, Börsenberater überfordert.

 

Mancher musste auch seine eigenen Beschränkungen erkennen: Wer keine direkten und schnellen Informationen hatte (z. B. über Telekurs oder dauernden Kontakt mit dem Börsenberater), sass gegenüber Grossanlegern am kürzeren Hebelarm. Das enthüllten jeweils am nächsten Tag die Kurssprünge - in der Zeitung und auf der Abrechnung.

 

8. Manche alten Börsenregeln bestätigten sich

 

Beispielsweise:

  • Den richtigen Moment erwischt man nie.

·        Der erste Verlust ist der kleinste.

·        Wer schläft, verpasst viele guten Gelegenheiten.

·        Mal muss man mit, mal gegen den Strom schwimmen.

·        Sympathien für bestimmte Firmen, Branchen oder Länder, für Hausse oder Baisse sind unangebracht. Alle Werte und Trends sind neutral zu beurteilen.

·        Dividenden sind im Verhältnis zu den Kursschwankungen meist unerheblich.

·        Die Börse eskompiert Resultate oder Entwicklungen.

·        Man muss sich von seinem Börsenberater emanzipieren.

 

9. Ahnungen ernst nehmen

 

Es gab Investoren, berühmte und namenlose, die vor dem Crash ausgestiegen sind, zum Teil schon ein Jahr vorher, z. T. im Frühling, z. T. im Sommer. Nicht dass sie die einzigen gewesen wären, die Ahnungen hatten, aber sie nahmen sie ernst. Der interessierte Umgang mit Börsengeschäften mag solche Ahnungen schärfen. Sie bilden das Hauptstück dessen, was Zwicky als "gerichtete Intuition" bezeichnet hat.

 

10. Flexibilität der Wahrheit

 

Dieses von Zwicky für die Wissenschaft aufgestellte Prinzip gilt auch für die Börse. Was heute gültig ist, erwartet wird oder geboten scheint, kann in ein paar Tagen schon falsch sein.

 

Persönliche Flexibilität wird vor allem im Management gefordert. Sie bedeutet:

(1) bei der Sache sein;

(2) bereit sein, bisherige Maximen, Meinungen und Erwartungen rasch zu korrigieren.

 

In "Krisenzeiten" - so man zu einer solchen Beurteilung der Lage kommt - gilt es, einen Krisenstab zu bilden, und Kräfte zu mobilisieren. Zwicky sprach von "Kommandoaktion" oder "task force".

 

Wichtig ist dabei der Dialog mit Fachleuten und Betroffenen. Es dürfen keine einsamen Entscheide mehr gefällt werden.

 

Eine gefährliche Flexibilität besteht in "normalen" Zeiten bei den Schwellenanpassungen: Für sich selber gesetzte "Stop loss“-Limiten werden häufig nach unten versetzt, in der Hoffnung auf eine rasche Erholung des Titels. Warum den Gewinn nicht realisieren?

 

11. Überzeugt sein statt hoffen

 

Etwas vom Gefährlichsten ist die Hoffnung. Sie beruht darauf, dass man sich scheut, den Realitäten ins Auge zu blicken. Jede Aktion an der Börse muss auf Überzeugung basieren. Bildhaft: Wenn einem jemand den Finger auf die Brust setzt, muss man eine klare Antwort geben können.

 

Die Börse ist ein ungeeigneter Platz für Vogel-Strauss-Politik.

 

12. Weltanschauung, Lebenshaltung

 

Grundlage der Börse ist der Liberalismus. Er hat vier Säulen: freie Marktwirtschaft und Wettbewerb, Eigennutz und Leistung.

 

Verführt durch die langjährige Hausse, griffen einerseits Firmen zur "Securitization" (d. h. Geldaufnahme durch Emissionen statt Bankkredite), anderseits stiegen viele Anleger ein, in der "Hoffnung", das schnelle Geld zu machen.

 

3/4 der Anleger praktizieren die Lebenshaltung, den "Feufer und s'Weggli" erhalten zu wollen. Sie möchten in Ruhe einen grossen Vermögenszuwachs ernten. Was sie den andern, z. B. Spekulanten vorwerfen, erwarten sie selber auch: Geldvermehrung oder Ertrag ohne Einsatz, eigene Arbeit.

 

Manche Berater, Investoren und Unternehmer legen auch eine gewisse Arroganz zutage. Nach dem Crash dürfte man diese ablegen.

 

13. Vor- und Hauptsignale beachten

 

Wie bei der Eisenbahn gibt es mehrere Vorsignale und ein Hauptsignal. Überfährt man letzteres, muss man die Notbremse ziehen, nicht "hoffnungsvoll" weiterfahren.

 

Für den Börsen-Crash vom 19.10.1987 lassen sich leicht ein Dutzend Vor-Signale aufzählen. Überdies gab es in der Vorwoche direkte Signale, z. B.

·        Absturz am Bondmarkt (- 6 % in drei Tagen)

·        Kursverluste bei Aktien von 5 % (Dienstag bis Donnerstag) und nochmals 5 % (Freitag 16.10.).

·        Durchbruch einer Widerstandslinie (DJ 2370/80 am 15.10.).

 

Auch ein Crash selber ist als Hauptsignal ernst zu nehmen.

Er darf nicht bagatellisiert werden. Sofortige Reaktion bringt die kleinsten Verluste.

 

14. Totalitätsbetrachtung

 

Der Börsen-Crash hat besonders drastisch gezeigt, wie wichtig es ist, gemäss des morphologischen Ansatzes alles im Auge zu haben.

 

Das betrifft:

1. Das ganze eigene Portfolio. Wenn es irgendwo rinnt, geht auch bisher Gehaltenes verloren. Das heisst für Krisenzeiten: Schlagartig das gesamte Portfolio auflösen und nicht aus Sentimentalität auf einigen Titeln sitzen bleiben.

2. Das gesamte Umfeld beachten. In "sensiblen" Phasen haben vor allem Verlautbarungen bekannter Persönlichkeiten einerseits, militärische Ereignisse anderseits einen Einfluss, z. B. am Samstag, 18.10., die Rede Finanzminister Bakers, am Donnerstag, 22.10., eine "Eskalation im Golfkrieg" und eine pessimistische Prognose eines New Yorker Börsengurus.

 

Grundsatz: Stimmungen sind so wichtig wie Facts. Dabei müssen "Facts" ja stets interpretiert, d. h. gewichtet und beurteilt werden.

 

15. Sich informieren

 

In Abwandlung der Maxime "Unkenntnis des Gesetzes schützt vor Strafe nicht" gilt: Unkenntnis der Börse schützt vor Verlusten nicht.

 

1. Laufende Information ist unabdingbar, besonders aus Tages- und Fachzeitungen sowie Börsenbriefen.

2. Wichtig ist auch die Lektüre von Büchern, insbesondere Biographien oder Rückblicke von Börsenprofis und wissenschaftliche Analysen von Soziologen und Psychologen.

3. Die Lektüre von Berichten über den Börsen-Crash von 1929 (J. K. Galbraith) oder 1962 (Bank Vontobel) enthüllt bestürzende Parallelen in Ablauf und Verlautbarungen wie 1987.

4. Schliesslich sollte man sich auch mit den neuen Finanzinnovationen vertraut machen, z. B. anhand des Börsen-Würfels. Anzufügen ist das Studium von Börsen-Strategien.

 

16. Alternativen aufstellen

 

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass im Unterschied zur Entscheidungstheorie in der Praxis viel zu wenig Alternativen beachtet werden. Bei Fehlentscheidungen stellte sich heraus, dass in der Hälfte aller Fälle von Anfang an nur eine Lösung in Betracht gezogen und dann durchgestiert wurde. Das ist auch eine Verletzung des morphologischen Totalitätsprinzip.

 

Gerade eine Krise zeigt, dass es bereits in ruhigen Zeiten unentbehrlich ist, Alternativen - inklusive ein Krisenszenario - aufzustellen und zu studieren.

 

Gemäss dem "morphologischen Kasten" (nicht: Würfel) sind dabei sämtliche alternativen Anlagemöglichkeiten in Betracht zu ziehen. Dabei kann der morphologische Kasten seitwärts ergänzt werden durch die Kolumnen "Methoden/ Strategien" und "Risiko".

 

Zum "System aller Möglichkeiten" gehört ferner

1. dass man vor jedem Kauf die "Kurve" des betreffenden Titels genau studiert;

2. dass für jeden gekauften Titel sogleich eine Verkaufsstrategie ausgearbeitet wird. Diese kann bei Hausse revidiert werden. Bei Baissen gilt es dagegen, hart zu bleiben.

 

Fazit:

 

Die letzte Bemerkung fasst vieles zusammen: Hart bleiben. Die Börse ist kein sanftes Ruhekissen.

Hat man sich zu solchen Erkenntnissen durchgerungen und sie auch seelisch aufgenommen, kann man an die Erstellung eines Vermögens-Managements gehen.

 

Es besteht aus genau den selben Punkten wie das Unternehmensmanagement. Das zeigt auch, dass die Verwaltung des eigenen Vermögens eine echte Unternehmensaufgabe ist, nichts anderes, kein Spass und kein Spiel.

 


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