HomeMorphologie von Goethe bis Zwicky

                    Strukturbeschreibung, Entdeckungsmethode, Weltansicht

 

(Goethe hat nach unserem heutigen Sprachgebrauch viele Kommata weggelassen)

 

 

Goethe: 1796 Begriff Morphologie

 

Der Begriff "Morphologie" taucht zuerst in der Biologie auf. Bekanntlich hat sich auch Johann Wolfgang von Goethe mit Fragen der Naturwissenschaft und Biologie befasst.

 

1780 begann er, nach der Grundgestalt der Gebirgsbildung zu suchen, ein Jahr später nach dem Zwischenkieferknochen des Menschen, 1785 nach der "Urpflanze"; 1790 veröffentlichte er den "Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären". 1791 setzten seine Bemühungen um die Farbenlehre ein, wobei er zum Gesetz der Polarität gelangte.

In der Folgezeit erkannte er, dass die Erforschung und Lehre von den Gestaltungsgesetzen der Natur und ihrer Steigerung von einfacher zu immer höherer Formung eine neue Wissenschaft darstellt, für die er die Bezeichnung "Morphologie" prägte. Sie taucht 1796 erstmals in einer Tagebuchaufzeichnung in Jena auf.

Unabhängig von Goethe gebrauchte der Mediziner Carl Friedrich Burdach den Begriff "Morphologie" zuerst im Jahre 1800 in einer Veröffentlichung.

 

Goethe: 1807 über die "lebendigen Bildungen"

 

1807 machte Goethe sich daran, ein zusammenfassendes Werk über die "lebendigen Bildungen" zu schreiben. Doch über die aus drei Kapiteln bestehende Einleitung kam er nicht hinaus. Er berichtet darin, dass die "Metamorphose der Pflanzen" (1790) in der Fachwelt keine gute Aufnahme gefunden habe, er aber, in der Überzeugung, den richtigen Weg gefunden zu haben, "nur sorgfältiger das Verhältnis, die Wechselwirkung der normalen und abnormen Erscheinungen" beobachtet habe.

"Als ich mir genugsame Fertigkeit erworben, das organische Wandeln und Umwandeln der Pflanzenwelt in den meisten Fällen zu beurteilen, die Gestaltenfolge zu erkennen und abzuleiten, fühlte ich mich gedrungen die Metamorphose der Insekten gleichfalls näher kennen zu lernen ... Hier fand sich kein Widerspruch mit dem was uns in Schriften überliefert wird, und ich brauchte nur ein Schema tabellarisch auszubilden, wornach man die einzelnen Erfahrungen folgerecht aufreihen, und den wunderbaren Lebensgang solcher Geschöpfe deutlich überschauen konnte." (Erhalten von diesen Studien sind zwei Hefte aus den Jahren 1796 bis 1798.)

Gleichzeitig befasste er sich mit der vergleichenden Anatomie der Tiere, vorzüglich der Säugetiere, und konnte sich dabei "gar bald einiger Einsicht in tierische und menschliche Bildung erfreuen. Jene, bei Betrachtung der Pflanzen und Insekten, einmal angenommene Methode leitete sich auch auf diesem Weg: denn bei Sondierung und Vergleichung der Gestalten musste Bildung und Umbildung auch hier wechselweise zur Sprache kommen".

 

Goethe: Morphologie als neue Wissenschaft

 

Bereits hier ist also formuliert, was später auch dem Nachlass zu entnehmen war: Die Morphologie will "nur darstellen und nicht erklären". Sie ist eine neue Wissenschaft, "zwar nicht dem Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode nach ... Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten."

Wenn die Morphologie nicht mehr nur eine Hilfswissenschaft der Physiologie sein soll, dann muss sie sich freilich zuerst als eigenständige Wissenschaft legitimieren, "indem sie das, was bei andern gelegentlich und zufällig abgehandelt ist, zu ihrem Hauptgegenstande macht, indem sie das, was dort zerstreut ist, sammelt, und einen neuen Standort feststellt, woraus die natürlichen Dinge sich mit Leichtigkeit und Bequemlichkeit betrachten lassen. Sie hat den grossen Vorteil dass sie aus Elementen besteht, die allgemein anerkannt sind dass sie mit keiner Lehre im Widerstreite steht, dass sie nichts wegzuräumen braucht um sich Platz zu verschaffen dass die Phänomene, mit denen sie sich beschäftigt höchst bedeutend sind und dass die Operationen des Geistes, wodurch sie die Phänomene zusammenstellt, der menschlichen Natur angemessen und angenehm sind, so dass auch ein fehlgeschlagener Versuch darin selbst noch Nutzen und Anmut verbinden könnte" (Nachlass).

 

Goethe: Strukturlehre der natürlichen Dynamik

 

Viel Verwirrung hat der Begriff "Gestalt" verursacht. Goethes Morphologie ist keine Gestaltlehre. Gestalt ist etwas Statisches; mit dem Wort "Gestalt" abstrahiert man "von dem Beweglichen". Worauf es Goethe aber ankam, ist diese Bewegung, das Werden und Vergehen, Bilden und Verwandeln. Denn er hält folgendes fest:

 

"Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, dass nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten, als von dem Hervorgebrachtwerdenden gehörig genug zu brauchen pflegt.

Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken.

Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermassen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht" (1807).

 

Man wird also Goethe am ehesten gerecht, wenn man seine Morphologie als "Strukturlehre der natürlichen Dynamik" fasst. Öffentlich wurden diese Auffassungen allerdings erst durch den Druck in der von Goethe selbst herausgegebenen Zeitschrift "Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie", 1817.

 

Ausbreitung in Natur- und Kulturwissenschaft

 

Seither setzte sich der Begriff Morphologie nach und nach durch: zuerst in der Botanik mit Auguste de St. Hilaires "Morphologie végétale" (1841) und in der Zoologie mit Ernst Haeckels "Genereller Morphologie der Organismen" (1866).

Schon bald sprach man aber auch in anderen Naturwissenschaften - insbesondere Geologie, Kristallographie und Medizin -, aber auch in den Geistes und Kulturwissenschaften von Morphologie. Im Bereich der Sprachwissenschaft taucht der Begriff bereits seit 1860 auf (engl. 1860/69; frz. 1868; it. 1874).

 

Gestalt- und Ganzheitslehre

 

1888 veröffentlichte der englische Philosoph Bernard Bosanquet seine Erkenntnistheorie "Logic or the morphology of knowledge". In Verbindung mit dem Gestaltbegriff gelangte morphologisches Denken in die Psychologie: Christian von Ehrenfels begründete mit seinem Aufsatz "über Gestaltqualitäten" (1890) die Gestaltpsychologie, welche zuerst in Graz, dann von der Berliner Schule (hier als Gestalttheorie; Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Wolfgang Metzger, Kurt Lewin) und der Leipziger Schule (hier als Ganzheitspsychologie; Felix Krueger, Hans Volkelt, Friedrich Sander, Albert Wellek) ausgebaut wurde.

 

Andere Auswertungen der Morphologie in Verbindung mit Gestalt und Ganzheit gingen auch in weltanschauliche Richtung; etwa durch Ernst Haeckel (1892) und Wilhelm Ostwald zu einem "Monismus" oder durch J. C. Smuts (1926) und Adolf Meyer-Abich (z. B.: "Logik der Morphologie" 1926) zu einem "Holismus". So verschiedene Versuche wie Hans Drieschs "Ordnungslehre" (1912), J. S. Haldanes Organizismus, Othmar Spanns "Kategorienlehre" (1924), Hermann Friedmanns "Welt der Formen" (1926), Ferdinand Weinhandls "Gestaltanalyse" (1929) und Günther Müllers "Morphologische Poetik" gehören neben vielen andern auch hierher.

 

Besonders bekannt geworden ist der Versuch Oswald Spenglers, eine Kultur- und Geschichtsphilosophie als "Morphologie der Weltgeschichte" zu entwickeln. Im "Untergang des Abendlandes" (1918) nennt er alle Arten, die Welt zu begreifen, Morphologie. Zahlreiche Forscher und Philosophen schlossen sich an und weiteten auch diese Ansätze aus: Der Ethnologe Leo Frobenius begründete (nach 1925) in Frankfurt ein "Institut für Kulturmorphologie", Ruth Benedict untersuchte "Patterns of Culture" (1935) und Alfred Kroeber "Configurations of Culture Growth" (1944).

 

Soziale Morphologie und Humanökologie

 

Der Begriff "soziale Morphologie" wurde kurz vor der Jahrhundertwende von Emile Durkheim eingeführt. Von einer biologischen Analogie ausgehend betrachtete er die Untersuchung von Gruppen- und Bevölkerungsstrukturen als Hauptgebiet neben der "sozialen Physiologie" welche die Funktionen der sozialen Strukturen erforscht.

 

"Soziale Morphologie" deckt sich über manche Bereiche mit Soziographie und Demographie einerseits, Humanökologie anderseits. Letztere wurde Mitte der 20er Jahre von Robert E. Parkes unter Bezug auf Durkheim eingeführt (z. B. "The Urban Community as a Spacial Pattern and a Moral Order", 1926). Als "urban morphology" hat sich diese Forschungsrichtung lange gehalten (z. B. R. E. Dickinson 1945, P. H. Chaumbart de Lauwe 1952).

 

Eine Fülle von Anregungen ist u. a. folgenden Zeitschriften und Schriftenreihen zu entnehmen:

 

- Flora, seit 1818.

- (Carl) Gegenbaurs Morphologisches Jahrbuch, begründet 1876.

- Botanisches Zentralblatt, 1880-1945.

- Journal of Morphology, seit 1887.

- Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie, seit 1899.

- Zeitschrift für Morphologie und Ökologie der Tiere, seit 1924; ab 1975: Zoomorphology.

- Die Gestalt - Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie, Bd. 1-29, 1940-58.

- Ekistics, seit ca. 1956.

- Proceedings des International Congress of Stereology, seit 1963.

 

Zwicky: Die Aspekte seiner Morphologie

 

Schon in seinem ersten öffentlichen Vortrag über die "Grundlagen der Triebwerke" im September 1946 in Paris hat Fritz Zwicky seine Methode als "neues philosophisches technisches Prinzip" eingeführt. Ein Jahr später bezeichnete er sie als "wichtigste Methode einer organischen Integration des Wissens" und empfahl sie den "technischen und wissenschaftlichen Philosophen". Und 1949 formulierte er: "Morphologisches Denken und Vorgehen sind im wesentlichen das Prärogativ freier Menschen, deren Zusammenarbeit die beste Garantie für die Verwirklichung der Ziele darstellt, welche demokratische Völker, sowie Einzelgänger so oft und so lange in mehr oder minder verworrener Weise, und deshalb nur mit halbem Erfolg zu erreichen versucht haben" (siehe "Jeder ein Genie", 1971, S. 38).

1957 träumte Zwicky noch von einem kommenden "Zeitalter der Morphologie", 1971 meinte er vorsichtiger, dass, "falls überhaupt für die Welt noch einmal ein grosses Zeitalter eintreten sollte, es eines ist, in welchem das morphologische Weltbild das Symbol seiner Kultur darstellen wird. Wie man sich dieses morphologische Weltbild vorstellen soll, habe ich in meinem Buch 'Entdecken, Erfinden, Forschen'...(1966) zu beschreiben versucht" ("Jeder ein Genie", S. 225).

Zwicky hat somit seine Morphologie stets auch mit philosophischem und kulturell wirksamem Einschlag gesehen. Daher muss man von ihr mindestens drei Aspekte ins Auge fassen:

-          Morphologie als Methode für Entdeckung und Erfindung, Forschung und Konstruktion, wofür ein ganzes Bündel von einzelnen Methoden entwickelt wurde,

-          Morphologie als Erkenntnistheorie, ja als Weltansicht und Lebensweise, und

-          Morphologie als Beschreibung kosmischer Strukturen, Gebilde und Vorgänge.

 

Diese drei Facetten machen zusammen die Vielfalt des "morphologischen Denkens und Handelns" aus und erlauben es daher nicht, Zwickys Absichten und Einsichten auf eine einfache Formel zu bringen.

 

Er gleicht darin Goethe, auf den er seine Morphologie ja auch bezieht. Auch dieser war Naturforscher aus Anlage und Passion, aber er begnügte sich nicht mit dem Entwerfen und Anwenden von Methoden, mit Tabellen und Berechnungen, sondern er verwandte sie dazu, eine "grosse Weltansicht" zu erschaffen. Beiden geht es nicht nur um "die Natur", sondern auch um das Wesen des Menschen, seine Stellung in der Natur und seine Aufgaben in der Gesellschaft. Daher sind beide Humanisten und Weltbürger. Ihr Werk ist "Konfession", Glauben und Bekenntnis in allen seinen Ausdeutungen.

 

Es verwundert somit nicht, wenn die Entwicklung des "morphologischen Weltbildes" für Zwicky ein lebenslanger Prozess war.

 

Beginn der Morphologie: Stenographie und Bergsteigen

 

In späteren Jahren hat Zwicky immer wieder auf verschiedene Weise geschildert, wie das vor sich ging. Im Buch "Jeder ein Genie" (1971, S. 171f) geht er bis zur Sekundarschulzeit (1910-14) in Glarus zurück:

 

"In der Sekundarschule erlernten wir auch die Stenographie. Da ich, zu knochig von Gestalt, nicht so flüssig schrieb wie einige der anderen, machte ich mich an eine erste morphologische Studie, mir das magische Wort ALLE vor Augen haltend. Ich argumentierte, warum nur Buchstaben kürzen? Warum nicht alle Worte kürzen, sagen wir einige Tausend, statt nur der wenigen Dutzend im regulären System? Und weiter, warum nicht ganze stereotype Sätze, die immer wieder kommen, und dann Sätze von Sätzen mit typischen Symbolen wiedergeben? Auf diese Weise schlachtete ich die Sprache so zusammen, dass ich mit 17 Jahren zum schweizerischen Meister in deutscher und französischer Stenographie aufrückte.

Und so ging es weiter, mit Kunstturnen, Leichtathletik, Schwerathletik, Arbeiten in der Mathematik, Physik und Ingenieurwissenschaft, Beschäftigung mit Politik, Erstbesteigungen in den Alpen, Kanada, Alaska, und anderen Spezialgebieten. Dabei wurde mir erst etwa um 1930 ganz klar, dass keines dieser Gebiete meiner geistigen Heimat gleich kam. Zwar machte mir alles Spass, aber ich brauchte am Ende etwas ganz Anderes, nämlich die Erschauung des morphologischen Weltbildes, indem alle wesentlichen Beziehungen zwischen materiellen Gegenständen, physischen und psychischen Erscheinungen, sowie Ideen und Konzepten klar erkennbar sind. Um allen Aspekten dieses Weltbildes auf die Spur zu kommen, entwickelte ich die Methoden des morphologischen Denkens und Vorgehens."

 

Lenin als Anstoss zur Morphologie?

 

Zwicky erzählte gerne, er habe zu Beginn seiner Studienzeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich Tür an Tür mit Lenin gewohnt. Dieser hatte seit 1895 mehrmals in der Schweiz, vorwiegend in Genf, geweilt. Im Februar 1916 begann er in Zürcher Bibliotheken zu arbeiten, verfasste hier sein Hauptwerk zur politischen Ökonomie ("Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus"), hielt Vorträge und reise im April 1917 in dem legendären "plombierten" Wagen nach Petrograd, wo eben die Revolution ausgebrochen war.

 

Zwicky erinnert sich:

"Lenin weilte noch in Zürich als ich meine Studien an der ETH aufnahm, und ich hatte damit eine ausgezeichnete Gelegenheit, seine Aktivitäten und diejenigen anderer kommunistischer Agitatoren aus nächster Nähe zu beobachten. Es war mir von Anfang an klar, dass sie eines der widerwärtigsten und mörderischsten Spiele der ganzen Weltgeschichte spielten. Deshalb und weil sogar einige Schweizer Arbeiter durch die Parolen aus Moskau verführt worden waren, gründeten wir eine politische Organisation in der Schweiz, um den Kommunismus in unserem Land ein für allemal zu zerschlagen und ein Verhältnis zwischen Industrie und Arbeit, Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufzubauen, das ihre dauernde friedliche Zusammenarbeit herbeiführen sollte.

 

Ich verliess die Hochschule für eine Weile und wurde ein politischer Sekretär dieser Organisation, die später aufgelöst wurde als die vorgesehene Arbeit getan war. In der Tat hat es seither in der Schweiz nie mehr als eine Handvoll Kommunisten gegeben; die Schweiz hat auch die Existenz der Sowjetunion von 1916 bis 1947 politisch nicht anerkannt, und im Lande selbst gab es seit 1918 keine Streiks. Viele der Männer und Frauen unserer ursprünglichen Organisation blieben in Verbindung miteinander und arbeiteten zusammen in der Erleichterung des Schicksals notleidender Kinder und alter Leute, sowohl in der Schweiz als auch in der ganzen Welt, etwa durch die Gründung der Pro Juventute, der Pestalozzi-Stiftungen und anderer Unternehmen.

 

So bin ich schon in dieser frühen Zeit, vor allem wegen meiner Beteiligung an internationalen und lokalen Schweizer Aktivitäten zur Förderung des Friedens, auf die Idee gekommen, dass es allgemeinere Dinge gibt als bloss partikuläre Berufungen und Nebenbeschäftigungen. Ich hatte gar keine Lust, mich mein ganzes Leben einem einzigen spezialisierten Beruf zu widmen, obwohl ich recht befriedigende Erfolge in den meisten Fachgebieten aufzuweisen hatte, auf die ich mich einliess. Diese Gebiete - als Ergänzung zu Politik, Handel, Technik und verschiedenen Wissenschaften - betrafen einige fremdartige Dinge wie die Schulung von Bergführern für die Schweizer Armee, indem ich neue Methoden des Skifahrens und Klettern einführte, die Entwicklung einer extrem schnellen Stenographie, mit der man rascher schreiben als sprechen kann, und den Erwerb von Kenntnissen vieler Sprachen. Für all dies verwandte ich bereits einige morphologische Methoden in einem rudimentären Stadium.

 

Da mich, wie gesagt, die Arbeit in all diesen erwähnten Spezialgebieten nicht ganz befriedigte, kam ich etwa 1930 auf den Gedanken dass jedes Individuum nur in einem Beruf zufrieden sein könne, der irgendwie seinen eigenen und sehr spezifischen Eigenarten entspricht. Das führte mich zur Idee, dass jede Person in Wirklichkeit einzigartig, unvergleichlich und unersetzlich ist, oder, in andern Worten, dass jede Person ein potentielles Genie hat, das, wenn nicht richtig entfaltet, zu Frustration und Unglücklichkeit seines Trägers führt.

 

Der passende Beruf für mich selber musste allerdings offensichtlich erst noch erfunden werden, und sein Gegenstand musste ein universeller sein, der alle grundlegenden Aspekte menschlicher Bestrebungen umfasst. Der Gegenstand dieses Berufes musste die Struktur von Körpern, Erscheinungen und Tätigkeiten einschliessen. Und da die Struktur aller dieser Gebiete eine Rolle spielt, nannte ich meine neue Aktivität Morphologie das bedeutet, das Studium der Strukturen aller Dinge und Ideen und die Anwendung der Ergebnisse dieser Untersuchungen ...

 

Jeder Mensch ist ein Genie und unersetzbar, nur weiss er es nicht und weiss nicht, wie er sein Genie realisieren kann. Er wird erdrückt von seiner Erziehung und den Konventionen. Mein eigenes grösstes Problem ist, dass ich noch nicht weiss, wie ich es ihnen beibringen kann. Obwohl ich es hartnäckig versucht habe, gelang es mir nie, zu Kriterien zu kommen, wie man das Genie des Menschen herausfinden oder entwickeln kann ... Dennoch ist meine Überzeugung, dass niemand ein richtiger Mensch ist, der nicht sein wahres Genie realisiert hat. Einige Männer waren so frustriert, dass sie als Massenmörder endeten, wie Hitler, Lenin, Mussolini, Stalin und so weiter. Sie gingen völlig in die Irre und waren beklagenswert unglücklich, weil sie von Minderwertigkeitskomplexen bedrängt waren."

 

Die "Flexibilität der wissenschaftlichen Wahrheit" erlaubt Negation und anschliessende Konstruktion

 

Dies sind Rückblicke Zwickys aus den reifen Jahren. Publizistisch ist er mit seinen Ideen erst seit 1933 an die Öffentlichkeit getreten, und zwar mit dem "Prinzip der Flexibilität der wissenschaftlichen Wahrheit" (Physical Review, Vol. 43.12, 1933, S. 1031-33). Er ging davon aus, dass es nicht nur eine absolute Wahrheit gibt, sondern dass wissenschaftliche Wahrheiten mehrwertig sind. Wenn man also Entdeckungen machen will, muss man die angeblich unumstösslichen Wahrheiten negieren, nach allgemeineren Wahrheiten suchen und dafür Experimente beiziehen.

Zwicky wies darauf hin, dass das Verfahren der Negation und Konstruktion in der Mathematik längst bekannt sei, aber er meinte, seines gehe "tiefer". Seine Auffassung wurde sogleich vom Physiker Henry Margenau heftig angegriffen (Philosophy of Science, Vol. 1, S. 118-21 u. 486-7): sie sei falsch, unnötig und ein alter Hut. Letzteres trifft insofern zu, als Skeptizismus oder Kritik schon von den alten Griechen gepflegt wurden. Dagegen deckt sich Zwickys Auffassung nicht mit dem "methodischen Zweifel" von Descartes (1637), denn dieser betrifft die Prüfung des sinnlich Wahrgenommenen und hat als letztes Kriterium die Evidenz. Instrument dafür ist die Intuition. Und weil die intuitive Aussage "als Ganzes auf einmal" einsichtig ist, bedarf es keines sukzessiven Herantastens an die Wahrheit (vgl. "Regulae ad directionem ingenii", 1628).

 

Bei Zwicky handelt es sich um die Infragestellung oder Negation von vorherrschenden Auffassungen, Postulaten oder Theorien mit anschliessendem Entwurf von neuen, anderen Theorien oder Praktiken. Als Paradebeispiel nennt er immer wieder die nicht-euklidsche Geometrie, als erste persönliche Anwendung das von Chervet, Reichstein und ihm 1918/19 eingeführte Rückwärts-Aufsteigen auf Eis.

Viel eher deckt sich Zwickys Ansatz daher mit demjenigen des Begründers des "Pragmatismus", Charles S. Peirce. Darauf machte Zwicky der Philosoph Charles Hartshorne auf einer Postkarte aufmerksam. Merkwürdigerweise hat Zwicky diesen Hinweis nicht aufgenommen, was umso bedauerlicher ist, als Peirce seit 1867 auch wichtige Beiträge zur Relationenlogik und zu den Grundlagen der modernen Semiotik (Zeichenlehre) geliefert hat und später mehrere Anwendungen des Prinzips der "Fehlbarkeit" (fallabilism).

 

Ende der 50er Jahre bezeichnete Thomas S. Kuhn Anstösse von Zwickys Art als "Paradigmenwechsel" ("Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen", 1962).

 

In den nächsten Jahren hat Zwicky seine Auffassung der Flexibilität der wissenschaftlichen Wahrheit in mehreren kürzeren Überlegungen konkretisiert, beispielsweise: Es gebe in entfernten Sternen oder Galaxien "negative Protonen" (1935), das Licht von Galaxien weise, wenn es auf der Erde beobachtet werde, dieselben Eigenschaften auf wie das Licht auf der Erde (1937) oder die Ruhemasse von Elementarteilchen verändere sich bei einer Kollision mit andern Teilchen (1938).

 

Da die Hypothese des expandierenden Universums damals allgemein akzeptiert wurde, ging Zwicky auch gegen diese vor und berechnete, dass das Alter des Alls demzufolge nicht einige Milliarden Jahre, sondern 1018 Jahre betragen müsste (1939).

 

Gerichtete Intuition

 

Solche Behauptungen mögen von vielen als müssige Spekulationen abgetan worden sein. Unbestreibaren Erfolg hatte Zwicky aber mit der Entdeckung von 12 Supernovae in drei Jahren - genau wie vorausberechnet. Weitere Entdeckungen folgten. Worauf sie beruhten, beschreibt er ebenfalls in "Jeder ein Genie" (S. 173), nachdem er über die "Versager" in der Wissenschaft hergezogen ist: "Vor dem Zweiten Weltkrieg kümmerte ich mich wenig um diese Herren. Ich arbeitete fröhlich darauf los und, mich auf 'morphologisch gerichtete Intuition' verlassend, sagte ich schon in den Dreissiger Jahren die Existenz von negativen Protonen, einer Vielzahl von Elementarteilchen, verschiedenartigen kooperativen Phänomenen, Neutronensternen, schwachen blauen (Humason-Zwicky) Sternen, Zwerg-, Pygmäen- und Gnom-Galaxien, intergalaktischer Materie und ganz neuartiger Verteilung und Häufigkeit von Galaxienhaufen, sowie deren Dimensionen und Massen voraus, Schlussfolgerungen, die sich in der Folge samt und sonders bewahrheitet haben."

 

Die "gerichtete Intuition" ist nun tatsächlich mit der Intuition von Descartes verwandt, dem "einfachen, über jeden Zweifel erhabenen Begreifen, das allein dem Licht der Vernunft entspringt" (Regulae).

 

Das Genie von einzelnen und von Völkern

 

Es ist auch diese Intuition, welche Zwicky auf die Idee gebracht hat, "dass jeder Mensch potentiell ... eigenartig, unvergleichlich und unersetzlich, das heisst ein Genie ist" ("Jeder ein Genie", S.24).

Dieser Gedanke taucht in Zwickys Tagebüchern seit 1941 immer und immer wieder auf. Öffentlich hat er ihn zuerst 1943 in einem Aufsatz über die Schweizer Armee in der "Los Angeles Times" vorgetragen und mit dem damals eben populär gewordenen Begriff Frustration verknüpft: "Alle Schweizer Verfassungen der letzten 652 Jahre beruhen stillschweigend auf zwei fundamentalen Prinzipien, nämlich

a) Jedes menschliche Wesen hat sein eigenes spezifisches Genie, dem man eine Chance geben muss sich so frei wie möglich zu verwirklichen und zu entfalten, damit das Individuum nicht frustriert wird und damit eine Bedrohung für den ganzen Organismus des Volkes bildet, und

b) Jede Rasse hat ihr eigenes spezifisches Genie, dem jede Chance zur Verwirklichung in allen Manifestationen seines Lebens gegeben werden muss, damit die Rasse nicht frustriert wird und damit eine Bedrohung für das Ganze ihres eigenen Volkes und die anderen Völker der Erde bildet."

 

Halteaktion und Aufbau einer besseren Welt

 

Ausführlich darüber hat Zwicky dann in so verschiedenen Zeitschriften wie "Engineering and Science" (Free World Agents of Democracy; Nov. 1949) und "Journal of the American Rocket Society" (Tasks We Face; März 1951) gehandelt. Im ersteren Aufsatz hat er auch die "Halteaktion" vorgeschlagen. Er versteht sie durchaus politisch: Die unglücklichen und frustrierten Diktatoren und ihre Satrapen müssen davon abgehalten werden, die Welt in Schutt und Asche zu legen. Dafür braucht es materiell wie geistig freie Menschen (vgl. auch "Jeder ein Genie", S. 35-38). Neben Paracelsus und Pestalozzi, Dufour, Dunant und Nasen nennt er auch Goethe.

 

Die Halteaktion ist auch Voraussetzung für das, was Zwicky später für die Migros-Klubschule als "Existenzbehauptung und Existenzentfaltung" (1959) umschrieb.

 

Freiheit, Demokratie und Einsatz beim Aufbau einer neuen, besseren Welt blieben bei Zwicky nicht nur wohlklingende Worte. Auch sein Dienst im Zivilschutz von Pasadena (1941-44) und seine Bemühungen für die schweizerische Landesverteidigung (1946-60) waren von einer ernsthaften Bekümmerung um das Schicksal der Menschen getragen. Nicht von ungefähr wandte er auch viel Zeit für die "Pestalozzi Foundation of America" (seit 1946) und sein wissenschaftliches Bücherhilfeprogramm (1942-61) auf.

 

Die weltweite Zusammenarbeit aller Menschen guten Willens war ihm stets zentrales Anliegen. Dabei sah er die Grundlage dafür ganz realistisch schon in kleinen Schritten wie im Austausch von Studenten, Technikern und Wissenschaftern oder im Lernen von Fremdsprachen. Dass dafür auch eine morphologische Methode eingesetzt werden kann, zeigte er in seiner "Multisprachenlehre" (1967): drei oder vier Sprachen werden gleichzeitig nach dem Prinzip von "Assoziation und Widerspruch" gelernt.

 

Die Einordnung der Multisprachenlehre in die morphologischen Methoden wechselt: Am Methoden-Symposium (1967, S. 294) erwähnte er sie als Beispiel der sonst nirgends spezifizierten "Methode der Verallgemeinerung" und erstellte dafür in einem eigenen Vortrag einen morphologischen Kasten (S. 317-320, vgl. 286). In seinem Beitrag zum Band über "Die neuen Methoden der Entscheidungsfindung" (1972, S. 138-9) hat er sie dagegen als (hier) einzige "Methode der Feldüberdeckung" vorgestellt. Hier wie schon am Grafiker-Symposium (1969, S. 64) und in "Jeder ein Genie" (S. 235-6) illustriert er mit ihr aber auch gleichzeitig die "bescheidene Morphologie".

 

Mitteilbare und nicht-mitteilbare Wahrheit

 

Betroffen vom Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Zwicky den Plan gefasst, ein Buch "über den Charakter der Wahrheit" zu schreiben. Unter den zahlreichen Notizen in diesem Zusammenhang finden sich mehrfach Stichworte wie "Unausschöpfbarkeit der Wahrheit" (1940) und "Unausschöpfbarkeit der Aspekte des Lebens und ihre Konsequenzen" (1942).

 

Aus dieser Zeit mag auch die folgende Betrachtung über "Mitteilbare und nicht-mitteilbare Wahrheit" stammen:

 

"Die Tragik des Menschen liegt im gleichzeitigen Bestehen dieser beiden Arten von Wahrheit. Man kann sich mit anderen Menschen nur auf der Basis der mitteilbaren Wahrheit auseinandersetzen, doch die wichtigsten Handlungen entstehen und werden gerechtfertigt durch die nichtmitteilbaren Charakteristiken des Menschen.

 

Es gibt sogar Charakteristiken und Erfahrungen, die nicht einmal dem einzelnen selber zugänglich sind. Als Beispiel meine Reise nach Bulgarien. Fahrt über den Arlberg (1910). Vor mir lag die ganze Reise, die ganze Welt und die ganze Zukunft. Eine Empfindung (thrill), die ich nicht vollständig ins Bewusstsein zu heben vermag, aber sie hat mein Leben beeinflusst.

 

Von den nicht-mitteilbaren Charakteristiken des Menschen kann man nur die Folgen voraussagen, aber man kann sie nicht ändern. Offensichtlich hat niemand heute dafür eine Lösung. Deshalb liegt eine anständige organische Gesellschaft (a decent organic society) noch Tausende von Jahren in der Zukunft".

 

Theorie der Marken, Informations- und Kommunikationstheorie

 

In einer Festschrift zum 60. Geburtstag von R. Courant (1948) hat er diese Gedanken publiziert und mit der morphologischen Methode zusammengefügt. Damit in Zusammenhang steht auch die "Theorie der Marken", eine Art Zeichentheorie, die er zu einer Informations- und Kommunikationstheorie ausbauen wollte. Die Absicht gedieh immerhin 1955 zu einer "morphologischen Informationstheorie" welche in der Früherkennung von Raketen und andern Flugobjekten eine Rolle hätte spielen können (vgl. "Morphologische Forschung", S. 99-102 u. 54-56).

 

Eine Zusammenfassung der Theorie der Marken, der Wahrheit und Kommunikation findet sich im 1. und 8. Kap. der "Morphological Astronomy" (1957).

 

Morphologische Analysen und Schemata

 

Auf diesem Hintergrund ist das zu sehen, was im landläufigen Sinne als "Morphologie nach Zwicky" bekannt geworden ist. Und auch hier ist zu unterscheiden zwischen dem, was er gemacht und dem, was er publiziert und vorgetragen hat.

-          Die erste Arbeit in diesem Sinn war die "Morphologie des totalen Kriegs" (1940), kurz skizziert in einem Vortrag an der ETH 1956 (erschienen in "Morphologische Forschung", S. 93-94).

-          Auch die Morphologie des Bücherhilfeprogramms (1942) hat er erst 1956 an der ETH vorgestellt (S. 25-33).

-          Seinen Einsatz im Zivilschutz von Pasadena (1941-44) hat er später auch als "morphologisch" bezeichnet.

-          Wie es zu seiner Morphologie der Triebwerke (1944) kam, hat er in "Jeder ein Genie" (S. 137f) beschrieben.

-          Die Analyse der Auswirkungen der Atombombe (1945) hat er bald darauf in Vorträgen und einmal, 1951, auch in einem Aufsatz geschildert ("Tasks We Face").

-          Die Morphologie der Teleskope hat er 1948 ausgearbeitet und im Jahr darauf in den "Physikalischen Blättern" (Jg. 5; "Morphologische Astronomie") publiziert.

-          In seinem Vortrag am 28.3.1951 in New York über "Morphology of Scientific Research and Engineering Invention" hat er zum ersten Mal zahlreiche Hinweise auf die "Morphologie der Erziehung" (S. 15-20, vgl. auch "Jeder ein Genie", S. 221-225) mit der ersten Erwähnung der "dimensionslosen Morphologie" in der Astronomie (S. 19) gegeben und die spontane, unorganisierte Bildung von "morphologischen Kommandoaktionen" oder -Gruppen (morphological combat groups) zur "Eliminierung aller Übel der Welt" und zum Aufbau einer neuen, besseren und schöneren Welt vorgeschlagen (S. 20-28). Zwicky verstand sich in seinen Bemühungen um die richtige Erziehung als Nachfolger Pestalozzis ("Jeder ein Genie", S. 200).

-          "How to Plan und Pay for the Safe Highways we Need" (1953) blieb eine ungedruckte Wettbewerbsarbeit.

-          In den Vorträgen an der ETH 1956 hat er zahlreiche weitere "Morphologische Schemata" vorgestellt: für das Training gegen Unfälle, für die Beziehungen zwischen Phänomenen, für die analytische Farbenphotographie, für den Studenten im Examen, für die Landesverteidigung, für Flammenwerfer und für Warnungssysteme (gedruckt im Büchlein "Morphologische Forschung" (1959).

-          Die Morphologie für "lästige Anfragen" findet sich im Buch "Morphological Astronomy" (1957).

-          Eine Fülle von Darstellungen - unter anderem auch für Energieumwandlungen und Verhaltensformen - findet sich schliesslich im Buch "Entdecken, Erfinden, Forschen" (1966).

-          Sein Freund Albert G. Wilson stellte am Symposium "New Methods of Thought and Procedure" (1967) die Methode der "morphologischen Analogie" vor (S. 302-309).

-          Für das Handbuch über "Die neuen Methoden der Entscheidungsfindung" (1972) illustrierte Zwicky die "Methode des Morphologischen Kastens" am Beispiel von Konstruktion und Vertrieb von Produkten, wofür er einen seiner seltenen Würfel zeichnete (S. 133-138).
Neu führt er hier die Morphologie der Wendeltreppe ein (S. 140-141).

-          Den letzten morphologischen Beitrag aus Zwickys Feder bildet das "Morphologische Mosaik", das er am ersten Symposium der "Fritz-Zwicky-Stiftung" im Oktober 1973 in Glarus vorgetragen hat. Nach einer Skizze seiner "Morphologie der Energie" (S. 66-73), erläutert er die erstmals in "Jeder ein Genie" vorgestellte "gerichtete Intuition" (S. 73-80) und nimmt sich "Ungereimtheiten als Ausgangspunkte" dafür vor, und zwar aus dem Bereich der Physik (z.B. negative Protonen), der Zoologie (rechtsdrehende Schneckenhäuschen) und der Wirtschaft (Börsenspekulation).
Die "gerichtete Intuition in der Astronomie" beschliesst dieses Vermächtnis von Zwicky, dessen Lebenswerk zu einem grossen Teil darin bestand, einerseits die "Verirrungen des menschlichen Geistes" zu bekämpfen, anderseits "Methoden zu entwickeln und Wege zu finden, um ... Einsichten in die Wege der ursprünglichen Schöpfung zu ermöglichen" (S. 73).

 

Morphologie: geordnete Art des Vorgehens, Darstellens und Bewertens

 

Was ist nun aber diese "morphologische Methode"? In einem seiner ersten Aufsätze (1947) hat sie Zwicky definiert als "simply an orderly way of looking at things". Und noch ein Vierteljahrhundert später hielt er in "Jeder ein Genie" (S. 39) fest: "Morphologisches Denken ist im Grunde genommen nichts anderes als eine geordnete Art der Betrachtung und der Bewertung der Dinge und der Geschehnisse. Das tönt verdächtig leicht und nichtssagend ... Der Schlüssel und der Haken unserer Anweisung stecken in der Forderung, dass alles auf eine 'geordnete Art' behandelt werden müsse. Dies bedingt nämlich, dass alle Beziehungen zwischen den in Frage kommenden Gegenständen, Phänomenen und Ideen erkannt und unverfälscht in unser Denken und in unser Handeln eingeführt werden müssen, ansonst wir der natürlichen Ordnung der Welt Gewalt antun und Verwirrung und Konflikte heraufbeschwören. Und weiterhin, nachdem wir die verschiedenen Aspekte einer vorgegebenen Aufgabe richtig durchmustert und alle Möglichkeiten erschaut haben, müssen wir ohne Vorurteil dasjenige Vorgehen wählen, das für die Lösung der uns gestellten Aufgabe das beste ist."

 

Wichtig ist dreierlei: die "geordnete Art" des Vorgehens, der Darstellung aller Möglichkeiten und der Bewertung.

 

Die Schritte der Problemlösung

 

Das ordentliche Vorgehen ist mittlerweile als "Problemlösungsmethodik" bekannt geworden. Sie verläuft in mehreren Stufen. Zwicky hat je nach Aufsatz 3 bis 6 unterschieden, z. B. 1947:

 

1. Definition einer Klasse von Geräten durch ihren Zweck.

2. Darstellung aller möglichen Glieder dieser Klasse in einem "morphologischen Kasten".

3. Leistungsanalyse jedes einzelnen Geräts.

 

oder 1948:

1. Formulierung des Problems.

2. Schematische Darstellung der Totalität aller Dinge, nach welchen gesucht wird, durch Konstruktion des morphologischen Kastens.

3. Leistungsanalyse in Hinblick auf die grundlegenden Erfordernisse des ursprünglichen Problems.

4. Entdeckung, Konstruktion, Synthese, Ausführung oder Anwendung der Lösung (direkte Aktion).

 

Schon 1948 hat er aber den zweiten und dritten Schritt bereits unterteilt und den ersten und vierten spezifiziert, was bereits Hinweise auf die Konstruktion des morphologischen Kastens und auf die Problematik der Bewertung gibt:

 

1.       Formulierung eines spezifischen Problems. Dieses wird alsogleich verallgemeinert, soweit es möglich und vorteilhaft scheint.

2a.    Analyse des verallgemeinerten Problems in Hinsicht auf alle für die Lösung wesentlichen Parameter.

2b.    Schematische Ableitung sämtlicher Lösungen anhand dieser Parameter (jede Kette ergibt eine Möglichkeit).

2c.     Ausscheidung von Unvereinbarem oder von Lösungen, deren Realisierung fundamentale physikalische Gesetze im Weg stehen.

3a.    Bestimmung der idealen Leistung oder des Ideal-Werts aller Lösungen, gefolgt von einer realistischen Schätzung der praktischen Leistung nach Berücksichtigung von Unwirksamkeiten und Verlusten.

3b.    Vergleich aller Lösungen untereinander bezüglich ihres relativen Werts in Hinsicht auf die Erfordernisse.

3c.     Wahl der Lösungen, welche am besten geeignet sind, diese Erfordernisse zu erfüllen.

4.       Detaillierte Analyse, Entwurf und Konstruktion der gewählten Lösung. Dies erfordert meist eine zusätzliche (submorphologische) Analyse von einigen der Lösungen des ursprünglichen allgemeinen Problems.

 

Diese wohl genaueste Darstellung erschien in den "Helvetica Physica Acta" (Vol. XXI, H. 5, 1948, S. 301).

In der Sekundärliteratur fehlen diese präzisierenden Angaben meist; es wird nur auf die Formulierung der ETH-Vorträge (S. 13 u. 63) oder in "Entdecken, Erfinden, Forschen" (S. 116f) Bezug genommen.

 

Geordnete Art der Darstellung: ein- bis dreidimensional

 

Soweit das geordnete Vorgehen, bei dem jeder Schritt bereits seine Tücken aufweist - worauf Zwicky besonders in den ersten Publikationen immer wieder hingewiesen hat.

Wie stellt man nun die "Totalität" der gesuchten Dinge dar? Die einfachste Form ist die Klassifikation nach gemeinsamen Charakteren (z. B. Eigenschaften). Das ergibt eine eindimensionale Anordnung.

 

Lassen sich die Charaktere selber in zwei Klassen unterteilen, erstellt man mit Vorteil eine Matrix. Und genau dies ist es, womit Zwicky angefangen hat. Er verwendete für die Darstellung von Antriebsmaschinen die beiden Klassen Antriebsmittel (1. Dimension) und Bewegung der Maschine oder des Arbeitsmediums (2. Dimension).

 

Nimmt man als 3. Klasse z.B. die Schubverstärkung dazu, ergibt sich ein Würfel. Ein solcher wurde erstmals im September 1946 in der Zeitschrift "Fortune" (S. 140) als "file cabinet" abgebildet. Zwicky sprach auch von "chest of drawers". Das Bild eines solchen Aktenschranks findet sich noch in "Entdecken, Erfinden, Forschen" (S. 127). Es ist aber kein gutes Beispiel, da man sich nicht gut eine "Lauflinie" in einem Abteil oder Fach einer "Schublade" vorstellen kann. Die erste Zeichnung im "Fortune" enthält dagegen leibhaftige Strahltriebwerke in den Schubladen.

 

n-dimensionale Darstellung ergibt "morphologische Ketten"

 

Die Sache mit den "Lauflinien wissenschaftlicher Zeitschriften" ist aber insofern interessant als sie den Hinweis darauf gibt, wie Zwicky das Problem löste, mehr als drei Parameter und damit Dimensionen darzustellen.

Die ebenso verblüffende wie einfache Lösung besteht darin, die Parameter (Dimensionen) einfach als beliebig lange Reihe untereinander zu schreiben. Je nach der Anzahl unterschiedlicher Eigenschaften (Arten) pro Dimension ergeben sich dabei unterschiedliche Zeilenlängen: die "Komponenten" oder "Elemente". So kann auf gedrängtem Raum eine Vielzahl von Möglichkeiten dargestellt werden.

 

Zwicky hat dies zuerst an "propulsive power plants" (1947) durchgespielt, wofür er 6 Parameter brauchte:

1.      Chemische Reaktion (4 Arten)

2.      Bewegung der Antriebsteile (4 Arten)

3.      Schubverstärkung (3 Arten)

4.      Phasen des Triebstoffs (3 Arten)

5.      Betriebsweise (2 Arten)

6.      Zündung (2 Arten).

 

Nun kann man auf jeder Zeile (Dimension) eine Möglichkeit einkreisen und die Kreise mit einer Linie verbinden: Das ergibt eine "morphologische Kette". Das hat aber nichts mit einer "Lauflinie" zu tun. Jede Kette stellt genau eine Lösung oder ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften dar. Insgesamt sind 4x4x3x3x2x2 = 576 Ketten und damit "basic propulsive power plants" möglich. 1951 (in "Tasks We Face") führte er 5 weitere Parameter ein und gelangte damit zu 36'864 "pure-medium jet engines" Da dabei einige Lösungen widersprüchlich oder sinnlos sind, verkleinert sich die Zahl auf 25'344 echte Möglichkeiten. (Vgl. auch "Morphologische Forschung", S. 64-67.)

 

Man kann dieses Verfahren auch als Kombinatorik auffassen; mit "Relationen" hat es nichts zu tun.

 

Drei Arten von "morphologischen Kasten"

 

Das bedeutet freilich nicht, dass sich Zwicky nicht mit "Zusammenhängen" unterschiedlichster Art abgegeben hätte. Aber er hat nur zwei systematische Ansätze unternommen:

  • ein "Morphologisches Schema der Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen" ("Morphologische Forschung", S. 40f) und
  • eine klassische Matrix mit identischen Parametern oder Komponenten in beiden Dimensionen für die "Totalität aller Energieumwandlungen" (Entdecken, Erfinden, Forschen, S. 153).

 

Der Versuch einer Morphologie der "Vektor-Assoziationen" (in F. LeLionnais: "La méthode dans les sciences modernes" 1958, S. 311-326) ging ebenfalls in die Richtung, "the whole edifice of interrelations" zu errichten, ist aber nicht weiter gediehen.

 

Zwicky bezeichnet also mindestens drei verschiedene Darstellungen als "morphologischen Kasten": das Lauflinienschema, die eben erwähnten zwei Beziehungsmatrixen und der am bekanntesten gewordene n-dimensionale Kasten.

 

Die Differenzierung von Parametern und Elementen

 

Die Güte eines letzteren hängt von der Bestimmung resp. Differenzierung der Parameter wie der Elemente pro Parameter ab. Je differenzierter diese sind, desto mehr Lösungen ergeben sich. Das kann zu einer erdrückenden Fülle von Möglichkeiten führen. Deshalb hat ein Freund von Zwicky, John Strong, die "bescheidene Morphologie" (Engineering and Science, Mai 1964) eingeführt.

 

Am besten lässt sich diese Problematik an der Morphologie des Menschen erläutern. Welche Parameter halten wir hier für wichtig? Alter, Geschlecht, Zivilstand, Einkommen, Bildung, Religion, Hautfarbe? Und wie weit differenzieren wir Altersgruppen, Einkommensklassen, Hauttönungen usw.? Mit Leichtigkeit lassen sich hier mehr als 36'864 Möglichkeiten aufzeigen.

Dass "Totalität" damit auch eine Frage der Ausdauer ist, zeigt sich am deutlichsten in den von Zwicky häufig gebrauchten verfänglichen drei Buchstaben "etc." und "usw.".

 

Bis hierher ist jedenfalls streng darauf zu achten, dass keinerlei Wertvorstellungen oder Normen ins Spiel kommen. Solche würden die vorurteilsfreie Suche nach sämtlichen Lösungen behindern. Erst jetzt darf die Bewertung beginnen.

 

Bewertung der Lösungen nur teilweise gelöst

 

Für die Bewertung der Lösungen hat Zwicky die "universelle Schubformel" eingeführt. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Leistung von Triebwerken berechnen. Auch weitere technische Erfordernisse lassen sich in "topologischen Leistungsdiagrammen" darstellen. Bei andern Objekten ist es aber weit schwieriger.

Noch 1966 gab Zwicky zu ("Entdecken, Erfinden, Forschen", S. 191, vgl. 105, 49f, 251f): "Dieses generelle Problem ist bis heute noch nicht gelöst." Es wäre somit eine der wichtigsten Aufgaben des Morphologen, den "morphologischen Kasten aller Werte", die für die Menschen und ihre Umwelt bedeutsam sind, zu konstruieren.

 

Noch schwieriger ist die Auswahl der geeignetsten oder optimalen Lösung. Hiefür hat Zwicky keine Kriterien angegeben.

 

Die systematische Feldüberdeckung anhand von Stützpunkten

 

Ungeachtet aller theoretischen wie praktischen Schwierigkeiten hat sich Zwicky sein Leben lang mit der "Totalität aller Möglichkeiten innerhalb jedes bestimmt umrissenen Problemkreises beschäftigt". Schon 1950 hatte er (in den "Helvetica Physica Acta", Vol. XXIII) Morphologie als "Totalitätsforschung" gefasst und gleich auch eine weitere Art des Vorgehens angedeutet: die "Methode der Stützpunkte".

 

Diese "Stützpunkte", schreibt er später in "Entdecken, Erfinden, Forschen" (S. 56) "können Tatsachen oder Erfahrungen sein, die man selbst gemacht hat oder die von anderen gemacht worden sind. Auch der Besitz von Geräten, Büchern, Kunstgegenständen oder die Kenntnis der Gesetze, nach denen physikalische, chemische, biologische oder psychologische Vorgänge ablaufen, liefern solche Stützpunkte. Mit der morphologischen Methode der Feldüberdeckung sucht man dann nach allen Lösungen eines genau vorgegebenen Problems, indem man von einer begrenzten Zahl von Stützpunkten des Wissens ausgeht und eine genügende Zahl von Denkprinzipien benutzt, um neue Tatsachen aufzudecken, neue Probleme zu formulieren und unter Umständen neue Materialien, Geräte und Methoden zu erfinden, die der weiteren Forschung dienen."

 

Schon 1956 hat er diese Methode als "lateral" bezeichnet, 1962 als "einfachste Art" der Verallgemeinerung eines gegebenen Problems.

Wiederum demonstriert sie Zwicky aber nicht an Beispielen aus der Biologie, Medizin oder Gesellschaft, sondern an den regulären Polyedern, an der "integralen Planung und Konstruktion" eines neuen Teleskops und am Briefmarkensammeln. Hinweise gibt er auf Faradays Erforschung der Zusammenhänge zwischen Naturphänomenen und Mendelejews Periodisches System der chemischen Elemente.

 

Die "Methode der sukzessiven Approximation" ist nichts anderes als eine Ausbildung des Verfahrens der systematischen Feldüberdeckung. Wichtig ist hierbei, dass die unterwegs gemachten Erfahrungen laufend in die Analyse eingehen (Rückkoppelung). Beispiele sind das Bücherhilfeprogramm und die Smogbekämpfung (1960).

 

Morphologie in der Astronomie

 

Noch ganz in der naturwissenschaftlichen Tradition hat Zwicky den Begriff "Morphologie" erstmals 1940 verwendet, als er in der "Physical Review" (Vol. 58, S. 478) eine Notiz über "Hydrodynamics and the Morphology of Nebulae" erscheinen liess.

1948 prägte er für seine Halley-Lecture in Oxford den Begriff "Morphological Astronomy". Ein umfangreiches Buch erschien unter diesem Titel 1957 (Berlin: Springer).

 

Um 1950 entwickelte er für die Kosmologie die "dimensionslose Morphologie", von der Einstein meinte, sie sei "äusserst geistreich und die 'kompakteste Methode". Dabei geht es nicht um die physikalischen Eigenschaften kosmischer Objekte, sondern einzig um ihre Identifizierung und Zählung sowie Winkelmessungen zwischen ihnen. Daraus Iassen sich Stützpunkte über die Verteilung der Materie im extragalaktischen Raum gewinnen. Auf Grund davon können Anhaltspunkte dafür gewonnen werden, ob das Weltall expandiert oder nicht.

 

Eine andere fruchtbare Methode besteht im "konstruktiven Gebrauch von Unvollkommenheiten". Bereits in einem Aufsatz über "Sternszintillationen" (1953), hat er versucht, das durch atmosphärische Störungen verursachte "Flackern der Sterne" in positive Ergebnisse umzuwandeln. In "Morphologische Forschung" (S. 54) und am Methoden-Symposium (1967, S. 293) hat er dies kurz angeschnitten, aber erst am Grafiker-Symposium 1969 (S. 58) hat er genauer beschrieben, wie er durch "geschleppte extrafokale Aufnahmen" etwa 5000 kompakte Galaxien von gewöhnlichen Einzelsternen unterscheiden konnte.

 

Ebenfalls um 1953 entwickelte er die Methode der zusammengesetzten Photographie ("Kombinationsphotographie und analytische Photographie" in "Morphologische Forschung", S. 41-47), und die in "Morphological Astronomy" (1957) in einem Satz erwähnte "Methode der Extreme" hat er in "Entdecken, Erfinden, Forschen" (S. 185-190) vorgestellt: "Solche Beschäftigung mit extremen physiko-chemischen Randbedingungen führt sehr oft zur Entdeckung von Phänomenen, die uns den Weg weisen, wie bisher als absolut gewertete Naturgesetze abgeändert oder verallgemeinert werden müssen."

 

Als Beispiel gibt er an, dass er Mitte der 50er Jahre den "Zusammenbruch von Newtons Gravitationsgesetz über grosse Distanzen" (1957) festgestellt habe. Es gilt noch in der Grössenordnung von Galaxienhaufen, also etwa in Distanzen bis zu zehn Millionen Lichtjahren, nicht mehr aber für die Wechselwirkung von Haufen zu Haufen. Dass es daher keine "Superhaufen" gebe, verkündete er schon 1956 ("Morphologische Forschung", S. 49, vgl. 107).

 

Bemerkenswert ist, dass Zwicky erst spät - 1969 in Tagebuchnotizen - darauf kam, auf was seine Erfolge in der Aufspürung bisher unbekannter kosmischer Objekte und Erscheinungen beruhten: auf der "gerichteten Intuition".

 

In "Morphologische Forschung" (S. 48: Kap. "Ausfüllen von Lücken") sprach er noch von "hartnäckig vorstossender Feldüberdeckung", in Artikeln der 60er Jahre von "planmässiger Durchmusterung" der Himmelsobjekte (z. B. 1964, 1966) oder "systematischer Entdeckung von kosmischen Objekten" (1967) und am Methoden-Symposium (1967, S. 289-91) von "Systematic Field Coverage", worunter er am Grafiker-Symposium (1969, S. 58) auch die bereits erwähnte "Morphologie der Unvollkommenheiten" zählte. Erst in seinem "Morphologischen Mosaik" (1973, S. 73) fand er dafür die schöne Formel: "Mit gerichteter Intuition der Schöpfung nach - und über sie hinaus."

 

Eine Zusammenfassung der Ergebnisse von Zwickys Forschungsarbeiten am Himmel erschien auf 130 Seiten in den "Advances in Astronomy and Astrophysics", Vol. 5 (1967) und 7 (1970).

Noch für einen Kongress der Internationalen Astronomischen Union im September 1973 hat Zwicky einen Beitrag unter dem Titel "Morphological Aspects of Research in Astronomy" vorbereitet.

 

Antriebstechnik und Triebstoffchemie

 

Wie sehr alle morphologischen Methoden ineinander verwoben sind, zeigt sich nicht nur in der Astronomie und Astrophysik, sondern auch im Gebiet der Raketen- und Antriebstechnik sowie in der Triebstoff- und Energiechemie. Hier ist es aber auch besonders schwierig, die vielen Ansätze und Arbeiten von Zwicky auseinanderzuhalten, seit er 1943 die Tätigkeit bei der Aerojet Corp. aufgenommen hat.

 

Am besten stützt man sich dabei auf die Erläuterungen in "Entdecken, Erfinden, Forschen" (S. 141-162, 177-185, 193-205 und mehrfach) und setzt beim Energie-Problem ein.

 

Dabei kann man zuerst nach den verschiedenen Energiearten fragen. Zwicky hat schon 1946 damit begonnen, 1966 unterschied er zu praktischen Zwecken 10 Arten.

 

Die zweite Frage gilt der Totalität aller Energieumwandlungen. Gemäss einer einfachen Matrix ergeben sich 10 x 10, also 100 Möglichkeiten, die man auf drei Betrachtungsebenen näher untersuchen kann, nämlich im mikroskopischen, im makroskopischen und im kosmischen Bereich. (1969 erwähnte er, dass man auch noch die Vorgänge unter Elementarteilchen hinzufügen könnte.) In der Natur finden viele solcher Umwandlungen statt, wie uns einerseits die Supernovae und die Sonne, anderseits Physiologie, Meteorologie und Geochemie oder Photsynthese und Chemiluminiszenz etc. lehren.

 

Die dritte Frage gilt der "zweckbestimmten Ausnutzung der verschiedenen Arten von Energien durch den Menschen". Dabei kann man

A)    die Geräte und Maschinen zur Energieumwandlung, und

B)    die Energieträger unterscheiden:

 

Zu A)

 

Energieumwandlungen können zu Mess-, Kontroll- und Verbindungszwecken benutzt werden oder aber zur Erzeugung von elektrischer oder mechanischer Energie. Hier spielen vor allem die Wärmekraftmaschinen eine wichtige Rolle, bei denen stationäre und bewegte zu unterscheiden sind.

Für beide Arten hat Zwicky schon 1946 die Matrizen aufgezeichnet:

- Zu den stationären Maschinen ("stationary power plants") gehören die Dampfmaschinen und Dampfturbinen, die Verbrennungsmotoren und Gasturbinen. (Andere Energiewandler sind Wasserkraftmaschinen, Generatoren und Elektromotoren, galvanische Elemente und Akkumulatoren.)

- "Unter den typischen bewegten Wärmekraftmaschinen verdienen besondere Aufmerksamkeit diejenigen, aus denen durch geeignete Düsen die heissen Verbrennungsgase mit grossen Geschwindigkeiten ausgepufft werden und die daher Fahrzeuge verschiedenster Art wie Flugzeuge, Raketen, Torpedos, Unterseeboote und andere durch Rückstoss beschleunigen" ("Entdecken, Erfinden, Forschen", S. 157). Dies sind die Strahltriebwerke ("jet engines"), für die Zwicky seinen bekannten morphologischen Kasten entwickelt hat.

- Je nachdem stationär oder bewegt sind die Kampfgeräte, die Zwicky in "Morphologische Forschung" (S. 94-99) vorgestellt hat: Flammenwerfer, unbewegte und bewegte Kanonen, Raketen, Hohlladungen und "morphologische Wurfgeräte". Einen "Zwicky-Launcher" hat er durch "naive morphologische Generalisation (Methode der Feldüberdeckung)" entwickelt und 1961 zum Patent angemeldet.

 

In den "Helvetica Physica Acta" (1948) hat er folgende Strahltriebwerke genauer beschrieben:

1. Aerodukt (ramjet, athodyd), dt. Staustrahltriebwerk

2. Aeroturbojet, dt. Aeroturbostrahler, das heute gebräuchliche Düsentriebwerk

3. Aeropuls, auf den Zwicky die grössten Hoffnungen setzte, da er flexibler und ökonomischer als das Düsentriebwerk arbeitet. Er ist verwandt, aber nicht zu verwechseln mit dem Aeroresonator ("V-1 buzz bomb engine", Schmidt-Argus-Rohr, ungenau auch als pulsejet bezeichnet).

 

1947 hatte er auch Schemata für den einfachen und doppelrohrigen Hydroturbojet vorgelegt.

 

Patente reichte er u. a. 1944 für den Hydrodukt und den Hydropuls, 1945 für eine Verbesserung des Aeroresonators (nämlich durch den Aeropuls) und 1950 für einen "umgekehrten Hydropuls" ein, aber nicht für den seit 1948 immer wieder beschriebenen "Terrajet". Er erwähnt ihn, wie auch die andern Triebwerke und den "interplanetarischen Aerodukt" (1951) in "Morphologische Forschung" (S. 69-76).

 

Zu B)

 

Naheliegenderweise befasste sich Zwicky auch mit Triebstoffchemie aber auch Explosivstoffen und Kernenergie. Seine ersten Aufgaben bei der Aerojet waren ja praktischer Art: z.B. die Ersetzung von Asphalt (als Brennstoff) neben Kaliumperchlorat (als Oxydator) - bei den Starthilferaketen (JATO - jet assisted take-off) durch eine besser definierte Substanz.

 

1945 konnten die ersten Feststoffraketen mit Paraplex-Triebstoff erfolgreich abgefeuert werden. Als flüssigen Triebstoff schlug Zwicky Nitromethan vor; sein 1944 eingereichtes Patentgesuch ist das erste in den USA für einen Monotriebstoff. Zusammen mit weniger als 1% Diaethylamin ist es aber als Explosivstoff (Aerojet-Patent "Jet-X") verwendbar. Das zeigt die enge Verbindung von Trieb- und Explosivstoffen (vgl. "Morphologische Forschung", S. 70f, 78f).

 

Für den Antrieb von Hydrostrahlmaschinen empfahl er Borhydride der leichten Elemente, für Terrapulse entweder Fluor als Oxydations- oder Lithium als Reduktionsmittel.

Wie Zwicky bei diesen Unternehmungen im Gebiet der Chemie genau vorging, hat er nicht beschrieben. Was er einzig bereits Anfang der 50er Jahre klärte, war die Unterscheidung in

1. Hochenergie-Triebstoffchemie (die bereits erwähnten Triebstoffe),

2. Fragmentchemie, d. h. die Stabilisierung von chemischen Radikalen in makroskopischer Dichte, und

3. Metachemie als Studium und Stabilisierung von quantenmechanisch metastabilen Zuständen in makroskopischer Dichte.

 

Erläuterungen dazu finden sich in "Morphologische Forschung" ( S. 76-79) und "Entdecken, Erfinden, Forschen" (S. 159, 202-204).

 

Der erste Schuss in den Weltraum

 

Schon Anfang 1946 hat sich Zwicky mit dem Gedanken getragen, aus Hohlladungen "künstliche Meteore" abzuschiessen.

Ein erster Versuch mit solchen, die in die Nase einer V-2-Rakete montiert waren, schlug am 17. Dezember 1946 fehl; erst elf Jahre später, zwölf Tage nachdem Sputnik I auf die Erdumlaufbahn geschossen worden war, konnte ein kleines Einlageteilchen in einer Jet-X-Hohlladung von der Spitze einer Aerobee-Rakete aus "als erstes von Menschen verfertigtes Objekt auf Nimmerwiedersehen von der Erde weg in den Weltraum" geschossen werden ("Entdecken, Erfinden, Forschen", S. 180).

 

Vorangegangen waren mehrjährige Pröbeleien mit Einlagen (slugs), für die Zwicky 1955 die Bezeichnung "Koruskativstoffe" erfand. Für solche Wärmedetonatoren - deren Erfindung er auf die Anwendung der Methode der Negation und Konstruktion zurückführte - sah er ein weites Anwendungsfeld, vom Sprengen und Ölbohren bis zu Unterwasserantrieben und "kolloidalen Jets" (1951), womit beispielsweise Kernfusionsreaktionen gezündet werden könnten (S. 177-185, 237f).

 

Viele Anregungen fanden kein Echo

 

Ebenfalls bereits 1946 hatte er die Verwendung von Kernenergie zu Antriebszwecken ins Auge gefasst. Im Sammelband "Morphology of Propulsive Power" (1962, S. 337f, 348f, 362f, vgl.38, 58, 113) hat er erstmals detailliertere Hinweise darauf gegeben (vgl. auch "Entdecken, Erfinden, Forschen", S. 159-161, 237f).

 

Sowohl bei den Triebstoffen wie bei der Kernenergie beschäftigten Zwicky insbesondere die grossen Probleme der Zündung und der Kühlung, beide noch nicht systematisch erforscht. Dasselbe gilt für die vielen notwendigen Hilfsgeräte (z. B. Pumpen).

Ganz besonderes Augenmerk hat er schliesslich auf die isothermen Energieumwandlungen gerichtet. Auch hiefür hat er schon 1946 den "isothermen Hydrodukt" und 1951 die "isotherme Rakete" vorgeschlagen. 1952 schrieb er darüber im "Journal of the American Rocket Society" (Vol. 22, S. 339-342).

 

In "Morphologische Forschung" (S. 75f) und "Entdecken, Erfinden, Forschen" (S. 199f) beschreibt er die "Triebstoff-Flussbatterien", die vor allem zwei hervorstechende Eigenschaften aufweisen: hoher Wirkungsgrad in der Erzeugung von Strom und keine giftigen Auspuffgase. Doch die Forschung liess diese Vorschläge links liegen, worüber sich Zwicky 1973 im "Morphologischen Mosaik" (S. 70ff) in deutlichen Worten äusserte.

 

Auch sein Vorschlag eines "Kalten Reaktors", "in dem als Sekundäreffekte der Kernreaktionen Radikale und angeregte metastabile Moleküle produziert und 'kalt' herausgebracht werden, worauf sie dann in stationären Kraftmaschinen oder in Strahltriebwerken ihre potentiell gelagerte Energie abgeben" ("Morphologische Forschung", S. 80) wurde nicht aufgenommen.

 

Ein Grund mag sein, dass Zwicky es nicht verstanden hat, für das Gebiet der Chemie resp. Energie ebenso anschauliche und eindrückliche morphologische Kasten vorzulegen wie für die Strahltriebwerke.

 

Es ist bedauerlich, dass gerade die vielen Anregungen Zwickys für die Praxis, für Technik und Chemie genauso wie für Kommunikation und Erziehung nicht das Echo fanden, das sie verdienten. Es scheint, als sei er mit seinem Vertrauen in

·        das Genie des Menschen

·        die Unausschöpfbarkeit der Aspekte des Lebens und

·        die gerichtete Intuition

weitgehend allein gestanden.

Dies hat er wohl gespürt, denn die letzten 30 Lebensjahre wollte er ständig von seinen Erfahrungen in einem Buch "Operation Lone Wolf" berichten. Er übersetzte den Titel am Anfang mit "Operation Alleingänger", wenige Wochen vor seinem Tod mit "Hartgesottener Alleingänger".

 



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