HomeWas bewirkt eigentlich den technischen Fortschritt?

 

Inhalt

Berichte aus dem Altertum

Erste technische Lehrbücher

"Moderne Technikgeschichte" (1975)

Verschiedene Einflussfaktoren

Behauptungen der Wissenschaft

Technology-push und demand-pull am Beispiel der Textilindustrie

 

 

Berichte aus dem Altertum

 

Schon im Altertum wurde über wirtschaftliche und militärische Neuerungen sowie technische Erfindungen berichtet.

  • Herodot und Thukydides (5. Jh. v. Chr.)
  • Xenophon und Aineias Taktikos (4. Jh. v. Chr.)
  • die aristotelischen «mechanischen Probleme», die «Mechanike syntaxis» von Philon und die Schriften von Archimedes (3. Jh. v. Chr.)
  • Polybios (2. Jh. v. Chr.)
  • Diodor, Livius und Vitruv (1. Jh. v. Chr.)
  • Frontinus, Tacitus und Heron (um 100 n. Chr.)

legen je auf eigene Weise für die Antike Zeugnis ab.

 

Spätere Zusammenfassungen gaben etwa Polyainos in seiner «Strategika» (162 n. Chr.), Pappos in seiner «Synagoge» (um 300 n. Chr.) und Vegetius Renatus in seiner «Epitoma rei militari» (um 400 n. Chr.).

 

Erste technische Lehrbücher

 

Roger von Helmarshausen (alias Theophilus Presbyter) stellte 1122/23 die "Diversium artium schedula" zusammen, ein imposantes Handbuch der Verfahrenstechnik. Unter den frühesten bildhaften technischen Darstellungen finden sich auch solche von Klosterfrauen wie Hildegard von Bingen und Herrad von Landsperg (beide um 1170). Bald entstanden die Musterbücher von Rein und Wolfenbüttel und das Bauhüttenbuch von Villard d'Honnecourt (1235).

Um 1350 fasste Konrad von Megenberg das Wissen seiner Zeit im «Buch der Natur» und in der «Oeconomica» zusammen.

Die Bildnissammlung der Nürnberger Zwölfbrüderstiftung von Konrad Mendel (ab 1388) gibt Einblick in die Verrichtungen des Handwerkers.

 

Eine Fundgrube für viele Generationen bildeten die grosse kriegstechnische Bilderhandschrift «Bellifortis» von Konrad Kyeser (1405) und ähnliche Werke von Jacopo Mariano (1438).

Das Aufkommen des Buchdrucks leitete eine ganze Folge von illustrierten Darstellungen ein. Für die Illustrationen des ersten Drucks von Vegetius (1476) wurden dieselben Holzschnitte wie für das kriegstechnische Maschinenbuch von Roberto Valturio (1472) verwendet.

1509 erschien Luca Paciolis «Divina Proportione» mit Zeichnungen von Leonardo da Vinci, zwei Jahre später die erste Vitruv-Ausgabe mit Abbildungen.

Als erste technische Lehrbücher gelten Biringuccios «Pirotechnia» (1540) und Agricolas «De re metallica» (Basel, 1556).

 

Nun lösten einander Maschinenbücher und «Beschreibungen» unaufhörlich ab, und im 18. Jahrhundert wurde das gesamte Wissen der Zeit über Wissenschaften, Künste, Gewerbe und Handwerke in umfangreichen Enzyklopädien gesammelt (Abb.1).

 

Wir machen uns heute kaum mehr eine richtige Vorstellung davon, was für eine gewaltige gesellschaftliche Wirkung von diesen Publikationen ausging. Insbesondere die grosse französische «Encyclopédie» schlug wie eine Bombe ein: «Jeder Band rief bei seinem Erscheinen in ganz Europa eine Sensation hervor. Der Hof, die Kirche, die Richterschaft waren ausser sich vor Empörung; die Zahl der Subskribenten, ursprünglich eintausend, stieg auf viertausend. 1759 wurden die sieben bis dahin erschienenen Bände vom französischen Generalstaatsanwalt verboten und vom Papst verdammt. … Bis 1780 … waren wenigstens sieben Raubausgaben der Encyclopédie in Genf, Bern, Lausanne, Yverdon, Lucca und Livorno herausgekommen.» (Carter, J., Muir, P. H.: Bücher die die Welt verändern. München 1968; Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1969, S. 372f.).

 

Unter dem Eindruck der technologischen Veröffentlichungen taufte Johann Georg Krünitz seine seit 1773 in Berlin erscheinende "oeconomische" 11 Jahre später in "ökonomisch-technologische Encyclopädie" um. Friedrich Schiller wurde durch einen Hinweis darauf zu seinem Gedicht auf die Glocke inspiriert.

 

"Moderne Technikgeschichte" (1975)

 

Der Sammelband «Moderne Technikgeschichte» (1975) enthält verblüffend ungeschminkte Aufsätze Thema «Erfindung und Innovation». Erstaunlich im Ganzen ist:

 

  1. die Diskrepanz zwischen gesichertem Wissen und Behauptungen oder gar Theorien;
  2. die Erwartung, durch weitere und genügend Forschung liessen sich zutreffendere Einsichten gewinnen;
  3. die Hoffnung, aus Studien Kenntnisse und Anregungen für die Lösung aktueller, praktischer Probleme zu erhalten.

 

Jahrzehntelang war die Technikgeschichte eine blosse Neben- oder Altersbeschäftigung technischer Praktiker. Ausnahmen waren

  • Conrad Matschoss, Direktor in der Geschäftsstelle des Vereins deutscher Ingenieure (VDI), bekannt durch seine «Entwicklung der Dampfmaschine» (1901/08) und «Grosse Ingenieure» (1937)
  • A. P. Usher mit seiner «History of Mechanical Inventions» (1929)
  • Lewis Mumford mit «Technics and Civilization» (1934) und «The Myth of the Machine» (1967)
  • Roger Burlingame mit «March of the Iron Men» (1938) und «Backgrounds of Power» (1949).

Erst seit den späten 50er Jahren, insbesondere auch vom Sputnik-Schock (1957) angeregt, wandten sich auch die Fachwissenschaften, also Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie mit erneutem und beharrlicherem Interesse der Technikgeschichte zu:

 

· Wirtschaftswissenschafter hofften, mehr über den technischen Fortschritt als Wachstumsfaktor zu erfahren,

· Soziologen meinten in der Geschichte der Technik ein Feld zu finden, in dem sie die Triebkräfte und Funktionsweisen des sozialen Wandels erforschen zu können glaubten, und

· die Historiker schliesslich begannen, dem technologischen Wandel eine zentrale Bedeutung für den Prozess der historischen Entwicklung zuzumessen,

· wobei die marxistisch-leninistische Richtung in der Entwicklung der Produktivkräfte den Schlüssel für die übrige gesellschaftliche Entwicklung sieht.

 

Das Interesse hat sich also von Erfinderbiographien auf «anonyme» Verbesserungen und von Erfindungs- und Konstruktionsgeschichte auf die praktische Durchsetzung technischer Neuerungen in der Produktion, ferner auf gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Ursachen und Wirkungen verlagert. Statt Daten sammeln, möchte man Zusammenhänge erklären. Technik wird nicht länger nur als «angewandte Naturwissenschaft», sondern als soziales Phänomen gesehen.

 

Die Fragen, welche dabei auftauchten, sind weit davon entfernt, geklärt zu sein. Manche Historiker finden aber, es sei schon sehr beachtlich, dass diese Fragen überhaupt gestellt werden.

 

Verschiedene Einflussfaktoren

 

In der Technikgeschichte betreffen wichtige Fragen das Mit- oder Neben-, Gegen- und Zueinander von Technik und

 

  1. Mathematik, Mechanik, Naturwissenschaften
  2. Wirtschaft, z. B. Landwirtschaft, Gewerbe und industrielle Produktion, Art der Ressourcen, Arbeitsorganisation und Produktionsverhältnisse
  3. Gesellschaft samt Ausbildung, Hierarchien und Bedürfnissen
  4. Politik, Staat, Verwaltung, Recht, Krieg
  5. Geistesgeschichte, Religion, Zivilisation, Kultur.

 

Entwickeln sich diese fünf Bereiche völlig unabhängig voneinander (parallel oder synchron) oder beeinflussen sie einander, sind sie voneinander abhängig? Wenn ja, wie und welcher Bereich ist stärker, welcher reagiert empfindlicher? Oder gehen sämtliche Bereiche auf einen gemeinsamen Bereich zurück, etwa den «Zeitgeist» oder «Volksgeist» oder einen geheimnisvollen, vielleicht sogar göttlichen Entwicklungsplan?

 

Technik kann also kaum isoliert betrachtet werden, genausowenig wie die andern Bereiche. Irgendwie und zeitlich erst noch variierend hängen sie alle zusammen. Anderseits führen sie alle ein reichhaltiges «Innenleben», d. h. sie zerfallen in Unterbereiche.

Technik ist nicht etwa eine homogene Erscheinung, gibt es doch mechanische und chemische, biologische und industrielle Technik. Im einen Teilbereich mag der Entwicklungsstand ganz anders sein als in einem anderen. Demnach könnten auch Wirkungen der Teilbereiche untereinander in vielfältiger Weise vorhanden sein. Und diese könnten auch nur mit Teilbereichen der Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft in Zusammenhang stehen. Kein Wunder, dass das über 30seitige Literaturverzeichnis der «Modernen Technikgeschichte» in über dreissig Themenbereiche gegliedert ist.

 

Behauptungen der Wissenschaft

 

Je länger man dies betrachtet, desto komplizierter scheint die simple Frage nach der «Geschichte der Technik» zu werden. Daher fallen die Antworten der Theoretiker und Forscher auf diesem Gebiet auch so unterschiedlich aus.

 

Da wird etwa behauptet

[Literaturangaben aus Karin Hausen, Reinhard Rürup, 1975]:

 

· Die «in die Geschichte eingezeichneten Bedürfnisse der Menschen» (J.-L. Maunoury, 40) gehen den Mitteln zu ihrer Befriedigung voran.

 

· Jacob Schmookler sieht den Erfinder daher als ökonomisch scharfblickenden Menschen, der den Nutzen und den Markt für sein Produkt einschätzt (51). Er kam nach der Untersuchung einiger Industrien zum Schluss, «dass die Erfindertätigkeit direkt mit dem Output der Warengattung variiert, für die die Erfindertätigkeit eine Verbesserung bringen soll, wobei die Erfindung leicht hinter dem Output zurückbleibt. Wachsende Verkaufsziffern für eine Warengattung bewirkten durchgehend eine Steigerung der Erfindungen, die zu dieser Gattung gehörten; sinkende Verkaufsziffern hatten eine Abnahme der Erfindungen zur Folge» (52; vgl. 136ff)

 

· In vielen Bereichen «ist die Technik den Bedürfnissen vorangegangen». Maurice Daumas (40) nennt Funkverkehr, Elektrometallurgie, Nuklearenergie und Raumschiffe.

Schon W. F. Ogburn meinte (52), dass Erfindungen nicht sozialen Bedürfnissen entspringen müssen, sondern einfach Produkt des wissenschaftlichen Fortschritts sein können, ja sogar mit mechanischer Zwangsläufigkeit von der Gesellschaft fortwährend hervorgebracht werden (122).

 

· Die Technik entwickelt sich nach einer ihr eigenen Logik (J.-L. Maunoury, 41).

 

· Technologie ist die treibende Kraft in der amerikanischen Zivilisation, die wirksamste Kraft zur Schaffung der nationalen Einheit (R. Burlingame, 47).

 

· Keine einzelne technologische Innovation hat jemals die Richtung, in die sich die Gesellschaft schon vorher bewegte, verändert. Vielmehr bestimmt die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft den Charakter ihrer technologischen Innovationen (George H. Daniels, 48).

 

· Ein sozialer Prozess, z. B. die Emanzipation der Frau, nützt «geeignete Erfindungen» aus, sobald sie auftauchen. George H. Daniels (49) nennt die Konservendose und die Empfängnisverhütungsmittel. Nach seiner Auffassung bestand in vielen Fällen «die tatsächliche Wirkung der technischen Innovation darin, den Amerikanern zu helfen, Dinge, die zu tun sie schon immer eine deutliche Neigung gezeigt hatten, besser zu tun» (50).

 

· Derek J. de Solla Price (52) behauptete, Wissenschaft und Technologie entwickelten sich unabhängig voneinander.

 

· Es gibt Erfindungen, welche die Industrie, für die sie geschaffen wurden, kaum beeinflusst haben, jedoch oft grosse Bedeutung für ganz andere Industrien erlangten (Nathan Rosenberg, 53).

 

· Technische Veränderungen, die zu erhöhter Effizienz führten, wurden nicht durch grössere Innovationen, sondern durch kleinere, vom technischen Hilfspersonal am Arbeitsplatz eingeführte Verbesserungen bewirkt (Samuel Hollander, 54).

Ähnlich meint Peter Mathias (83): «Der tatsächliche Fortschritt einer jeden grösseren Erfindung hing nicht nur von grundlegenden Fortschritten berühmter Personen ab, sondern auch von unzähligen kleineren Verbesserungen seitens Unbekannter» (128).

 

· Für den Aufstieg des «Amerikanischen Systems» werden einerseits die «Offenheit und Grosszügigkeit» der amerikanischen Unternehmer (58), anderseits die «Einfuhr ausgebildeter Arbeitskräfte und Techniken» (59) namhaft gemacht. Dazu gehörte vor allem das Schmuggeln von Maschinen aus Frankreich und England sowie die «Entführung» von Handwerkern (59). Hinzu kommt, «dass die Amerikaner bei Erfindungen dazu neigten, sich auf Erfindungen mit sofort ausnutzbaren Verkaufsmöglichkeiten zu konzentrieren» (George H. Daniels, 61).

 

· Ob früher der technische Fortschritt den Naturwissenschaften wenig verdanke, sondern vielmehr auf wirtschaftliche Anreize und Zwänge sowie handwerkliche Fähigkeiten und praktische Versuche zurückzuführen sei, bleibt umstritten (68). Heute jedoch durchdringen sich Wissenschaft und Technik, Universitäts- und Industrieforschung, Grundlagen-, Auftrags- und angewandte Forschung immer mehr (70).

 

· Verblüffend ist oft der zeitliche Verzug zwischen der Erfindung und ihrer Einführung in den Produktionsprozess. Leonardo da Vinci hat bereits die Drehbank skizziert. Kurz vor 1800 erfand sie Maudlsay nochmals. Die 1709 erstmals in einer englischen Fabrik verwendete Seidenzwirnmaschine wurde schon 100 Jahre zuvor in Italien benutzt, usw. «Gleich grosse Zeitunterschiede existieren auch umgekehrt zwischen den erfahrungsbedingten Verbesserungen in der Technik und dem Beginn des wissenschaftlichen Interesses, sie zu erklären» (A. R. Hall und T. S. Kuhn, 82).

 

· In wie grossem Masse das wirtschaftliche Wachstum auf Kapitalerhöhung oder technischen Fortschritt zurückzuführen sei, wird seit 1954 diskutiert. Fabricant, Abramovitz und Solow schätzten die Wirkung der Kapitalerhöhung gering ein (119), Helmut Walter und J. D. Gould bezweifelten jedoch diese Ergebnisse (124), und die Diskussion darüber führte zu einem «wahren Theorielabyrinth». Weitgehend unberücksichtigt blieben dabei die negativen Wirkungen des technischen Fortschritts, nämlich die Entwertung des Kapitals durch veraltete Maschinen (121).

 

· Erst wenn die Arbeitsteilung so weit entwickelt ist, dass Menschen sich einem einzigen Produkt oder Produktionsverfahren widmen, können Erfindungen heranreifen (T. S. Ashton, 129).

Dieser welthistorisch ausgerichteten Perspektive stellt George H. Daniels die Beobachtung in Amerika gegenüber, dass eine «frühzeitige Arbeitsteilung» ein «wirklicher Nachteil» sein könne, weil dann kein «Gefühl für den gesamten Arbeitsvorgang» entwickelt werden kann (62).

 

Angesichts so vieler auseinandergehender Behauptungen und Erkenntnisse scheuen sich die Technikforscher nicht, zuzugeben: Der Zusammenhang zwischen der Verbreitung der Technologie und dem wirtschaftlichen Wachstum «dürfte mysteriöser als je zuvor» sein (George H. Daniels, 55).

Und William und Helga Woodruff (1966), die sich mit der Weltgeschichte von 1860-1960 befassten, meinten, wie schon Simon Kuznets (1961), je mehr man forsche, umso unklarer werde das Problem, ob die Länder, die industrialisierten, reich wurden, weil sie industrialisierten, oder ob sie industrialisiert wurden, weil sie reich waren (55).

 

Was bleibt ist, wie stets, die Hoffnung, «weitere Untersuchungen» würden darüber Aufschluss geben (61).

 

 

Technology-push und demand-pull am Beispiel der Textilindustrie

 

«Der Wandel erzeugt den Wandel» meint David S. Landes in seinem Buch "The Unbound Prometheus" (1968).

 

Was zeigt ein Blick in die Geschichte?

 

  • Viele Erfindungen und Verbesserungen gingen auf äusseren Bedarf zurück, doch gibt es auch Erfindungen, die den Bedarf erst schufen.
  • Viele Erfindungen wurden von Handwerkern gemacht, die ausserhalb der Zünfte standen. Zunftvorschriften hemmten oft den technischen Fortschritt.
  • Oft musste die Zeit erst reif sein, bis eine Erfindung genutzt wurde. Häufig lagen Erfindungen in der Luft und wurden von vielen Pröblern unabhängig voneinander gemacht.
  • Manche wichtigen Erfindungen sind nicht auf einen einzigen Erfinder zurückzuführen und nur ungefähr zu datieren.
  • Manche Erfindungen erzeugen Disproportionalitäten, d.h. sie erhöhen den Ausstoss eines Gutes, das in der grösseren Menge erst weiterver- oder -bearbeitet werden kann, wenn neue Erfindungen dafür gemacht worden sind.

 

Motor des Fortschritts sind also Ungleichgewichte zwischen erhöhter Nachfrage und Überangebot, und zwar intern wie extern.

 

Ein gutes Beispiel bietet die Textilindustrie.

 

1000-1500: Mechanisierung der Produktion

 

Das mit dem Jahr 1000 einsetzende Bevölkerungswachstum mit dem Handelswesen und dem dazu gehörigen Repräsentationsbedürfnis schufen eine zunehmende Nachfrage nach den verschiedensten Gütern, darunter auch Tuch und Kleidung. Rationalisierung tat also not.

Zuerst nutzte man die Wasserkraft von Walkmühlen. Schon im Jahre 1040 ersetzte eine solche in Grenoble die Arbeit von 24 Menschen. Im 12. Jahrhundert gelangte wie viele andere mechanischen Geräte auch der Trittwebstuhl mit zwei Schäften aus China nach Europa.

An leistungsfähigen Spinnvorrichtungen wurden vor 1300 das Handspinnrad und 150 Jahre später das Tretrad eingeführt.

Damit begann nicht nur die Mechanisierung der textilen Produktion, sondern auch neue Formen der Organisation wurden möglich. Schon 1338 beschäftigten einige Grossunternehmer in Florenz in ungefähr 200 Textilwerkstätten unterschiedlicher Grösse 30 000 Menschen.

Als im 15. Jahrhundert die Tuchmanufakturen in Flandern steigende Nachfrage nach Wolle zeigten, wurde in England immer mehr Ackerland in Schafweiden umgewandelt und eingehegt. So konnte die begehrte Wolle auf den Inseln erzeugt und hernach mit hohem Profit in Flandern verkauft werden.

 

1500-1825: Spinnen, Stricken, Weben

 

Der unerschöpfliche Erfinder und Zeichner Leonardo da Vinci entwarf bereits eine Spinnmaschine mit automatischer Spindel und andere Textilmaschinen. Die 1589 vom englischen Geistlichen William Lee erfundene Strickmaschine und der 1719 konstruierte Strumpfwirkstuhl mechanisierten einen weiteren Prozess.

 

Im 17. und 18. Jahrhundert war die Weberei der Produktionszweig mit der grössten Perspektive. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in England (Lancashire) Baumwolle verarbeitet. Dies erforderte neue Produktionstechniken und war nicht wie die Woll- und Leinenproduktion an traditionelle Überlieferungen gefesselt.

 

Die Verwendung des 1733 von John Kay eingeführten Schnellschützen brachte zunächst eine enorme Nachfrage nach Garn, welche die Leistungsfähigkeit der Handspinnereien bei weitem übertraf. Sofort wurden Streckwalzen eingeführt, und nachdem 1764 der Weber James Hargreaves mit seiner «Spinning Jenny» die Handspinnerei durch Maschinenarbeit zu ersetzen begann, setzte eine rasante technische Entwicklung ein, die 1825 mit dem «Selfactor» oder Selbstspinner ihren Höhepunkt erreichte. Diese Mechanisierung hatte ungeahnte Folgen auf vor- und nachgelagerte Prozesse.

 

Die Nachfrage nach Baumwolle stieg; also musste Eli Whitney eine Entkernungsmaschine erfinden (1793). Richard Arkwirght, der schon 1769 für das Spinnen den Kettenstuhl erfunden hatte, trug auch massgeblich zur Konstruktion der mechanischen Krempel und der Vorspinnmaschine bei. Da nun mehr Garn produziert wurde als manuell verarbeitet werden konnte, mussten mechanische Webstühle geschaffen werden. 1803 konnte der Landpfarrer Edmund Cartwright eine einwandfrei funktionierende Webmaschine vorführen, die er in 18jähriger Pröbelei entwickelt hatte. Mit Hilfe der Lochkartensteuerung von Jacquard (1802) konnten auf ihr erstmals gemusterte Gewebe hergestellt werden.

Für die Vorarbeiten zur Weberei mussten nun ebenfalls Spezialmaschinen entwickelt werden; und die nachgelagerten Prozesse erforderten ebenfalls eine Mechanisierung.

 

Ab 1775: Mechanisierung von Bedrucken, Bleichen und Färben

 

Für das Bedrucken ersetzte 1785 Bell die herkömmliche Holzform des Zeug- oder Kattundrucks durch rotierende Kupferzylinder. Eine weitere Mechanisierung brachte 1834 der Perrotinendruck.

 

Blieb das Bedürfnis, die Monate dauernde Rasenbleiche zu ersetzen. Daher setzte die Französische Akademie der Wissenschaften schon 1775 einen Preis für die Herstellung «künstlicher» Soda aus. 15 Jahre später stellte der Ingenieur und Chemiker Nicolas Leblanc erstmals Soda industriell her. Sein Verfahren war auch für die organisch-chemische Industrie wichtig, weil es die Entwicklung zahlreicher neuer Apparaturen und die Ausarbeitung neuer Methoden verlangte. Gleichzeitig wurde die grosstechnische Herstellung von Chlorkalk in die Wege geleitet.

 

Die künstlichen Farbstoffe jedoch beruhen nicht auf den Bedürfnissen der Textilindustrie, sondern auf einem Überangebot an Steinkohlen-Teer, der als lästiger «Abfall» bei der rasch zunehmenden Verkokung von Steinkohle entstand. Zahlreiche Chemiker rückten diesem Problem mit Destillation zu Leibe, und bald nach 1856 konnten synthetische Farbstoffe (wie Mauvein, Fuchsin und Alizarin) grosstechnisch hergestellt werden.

 

Ab 1850: Private und industrielle Nähmaschinen

 

Ebenfalls seit etwa 1850 sind Nähmaschinen zur Kleiderherstellung in Gebrauch, seit der Jahrhundertwende Zuschneidemaschinen und Dampfbügelpressen sowie elektrische Bügeleisen. Diese Geräte wurden bereits selber von Maschinen hergestellt (wobei zu bemerken ist, dass die maschinelle Herstellung beliebiger Maschinen seit etwa 1840 aus der Herstellung von Textilmaschinen - und Schusswaffen - hervorgegangen ist).

 

Insbesondere die Nähmaschine wurde dadurch zum Massenartikel, der nicht nur in Kleiderfabriken, sondern zunehmend auch in Privathaushalten Verwendung fand. Schon vor 1900 trugen aber die meisten amerikanischen Männer und die Hälfte der Frauen und Kinder industriell hergestellte Fertigkleidung. Bald wurde auch die mechanische Fliessfertigung angewendet.

 

Ab 1890: Kunstfasern und Textilveredelung

 

Schon vor der Jahrhundertwende tauchen auch die ersten Chemiefasern auf. In Frankreich errichtete 1890 Graf de Chardonnet die erste Fabrik zur Fertigung künstlicher Fäden, die nach dem Nitratverfahren hergestellt wurden. Bald eroberte sich Kunstseide den Markt. Sie besteht aus zellulosischen Fasern, Viskosefäden (Zellwolle/Reyon), Cupro- (Glanzstoff) und Acetatfäden, die aus Düsen gesponnen werden. 1913 wurde etwa die Hälfte der Kunstseideproduktion in Strumpffabriken verarbeitet.

 

Für die Textilveredelung wurden im Laufe der Zeit eine ganze Reihe physikalischer und chemischer Verfahren entwickelt. Seit der Jahrhundertwende hat das Mercerisieren eine grosse Bedeutung; hierbei werden Baumwollgarne und -gewebe unter Spannung mit Alkali behandelt. Seit 1926 werden zur Knitterechtausrüstung Kunstharze in die Fasern eingebracht.

 

Ab 1830: allerlei aus Gummi

 

Seit 1780 war Kautschuk zum Imprägnieren von Stoffen verwendet worden. 50 Jahre später begann die Fertigung von Gummibändern (elastic), und um 1840 gelang Goodyear und Hancock das Vulkanisieren. Seither wurden die verschiedensten Gegenstände aus Hartgummi und elastischem Gummi hergestellt.

Als der Bedarf stieg, versuchte man, Kautschuk künstlich herzustellen, doch erst um 1910 war das technisch möglich. In den 30er Jahren waren Buna-, Neopren- und Lastex-Produkte weit verbreitet.

 

Ab 1930: erste vollsynthetische Fasern

 

Auch Plexiglas (Polyacryl), Polyurethane, PVC und Schaumgummi bestimmten dieses Jahrzehnt. Am bedeutendsten erwiesen sich allerdings die ersten vollsynthetischen Fasern aus Polyamid: Nylon und Perlon. Sie erforderten wieder die Konstruktion von neuen Maschinen zu ihrer Verarbeitung.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Lederersatz, Lurex und Kunstfasern aus Polyester (Terylene, Diolen, Trevira, Dacron), Polyurethan (Lycra) und Acryl (Orlon) usw.

 

 

Literatur

 

siehe auch:    Der Unterschied zwischen Erfinder und Unternehmer

                        Literatur: Technik

                        Literatur: Invention/ Erfindung

                        Literatur: Innovation/ Neuerung

                        Literatur zu: Erfindungen von 1 bis 1500

 

 

Abramovitz, M.: Resource and Output Trends in the United States Since 1870. American Economic Review 46, 1956, S. 5-23.

Ashton, T. S.: The Industrial Revolution. Oxford 1948, 13-16.

Burlingame, Roger: March of the Iron Men. New York 1938.

Burlingame, Roger: Engines of Democracy. New York 1940.

De Solla Price, Derek J.: Is Technology Historically Independent of Science? A Study in Statisitcal Historiography. Technology and Culture 6, 1965, 553.

Fabricant, Solomon: Economic Progress and Economic Change. New York: National Bureau of Economic Research 1954.

Gould, J. D.: Economic Growth in History. Survey and Analysis. London 1972, 295-303.

Hall, A. R., Kuhn, T. S. in M. Clagett: Critical Problems in the History of Science. Madison, Wisc. 1959, 16-17.

Hausen, Karin/ Rürup, Reinhard (Hrsg.): Moderne Technikgeschichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975; darin insbesondere
die Einleitung, 11-24;
Maurice Daumas: Technikgeschichte: ihr Gegenstand, ihre Grenzen, ihre Methoden, 31-45;
George H. Daniels: Hauptfragen der amerikanischen Technikgeschichte, 46-65;
Peter Mathias: Wer entfesselte Prometheus? Naturwissenschaft und technischer Wandel von 1600 bis 1800, 73-95;
Vorbemerkung zum Dritten Teil, 119-124;
R. M. Hartwell: Technik und industrielle Revolution, 125-135;
Jacob Schmookler: Ökonomische Ursachen der Erfindungstätigkeit, 136-157;
Nathan Rosenberg: Technischer Fortschritt in der Werkzeugmaschinenindustrie 1840-1910, 216-242.

Hobsbawm, Eric J.: Industry and empire. An economic history of Britain since 1750. New York: Pantheon / London: Weidenfeld & Nicolson 1968; Harmondsworth: Penguin Books 1969;
dt.: Industrie und Empire.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969.

Hollander, Samuel: The Sources of Increased Efficiency. A Study of Dupont Rayon Plants. Cambridge, Mass. 1965.

Krafft, Fritz: Mechanik. In. Lexikon der Alten Welt. Zürich: Artemis 1965; als dtv-Taschenbuchausgabe 1969.

Landes, David S.: The Unbound Prometheus. Cambridge: Cambridge University Press 1968 (1954 begonnen); mehrere Aufl. bis 2005;
dt.: Der entfesselte Prometheus. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1973; München: dtv wissenschaft 1983.

Maunoury, Jean-Louis: Las genèse des innovations. La création technique dans l'activite de la firme. Paris 1968.

Schmookler, Jacob: Invention and Economic Growth. 1966.

Solow, R. M.: Technical Change and the Aggregate Production Function. Review of Economics and Statistics 39, 1957, S. 312-320.

Walter, Helmut: Der technische Fortschritt in der neueren ökonomischen Theorie. Versuch einer Systematik. Berlin 1969, 118f.

Woodruff, William und Helga: Economic Growth: Myth and Reality - The Interrelatedness of Continents and the Diffusion of Technology, 1860-1960. Technology and Culture 7, 1966, 453-474.

 

Geschrieben im Oktober 1984 (1. Teil) und im Herbst 1985 (Textilindustrie)

[Abgedruckt im Sammelband: Innovation gewinnt. Kulturgeschichte und Erfolgsrezepte. Zürich: Orell Füssli 1997, als Kap. 3: „Geschichte der Technik: Die Gelehrten streiten sich“, 35-41, und Kap. 4: „Der Motor der Innovation: Technology-push und demand-pull“, 41-47]

 



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