Der Unterschied zwischen Erfinder
und Unternehmer
Historische Betrachtungen und
Begriffsklärungen können oft mithelfen, Diskussionen
fruchtbarer zu machen.
Joseph Alois Schumpeter hat 1912 Erfinder
und Unternehmer, Invention und Innovation scharf auseinander
dividiert. Ob er damit recht hatte, ist bis heute heftig
umstritten. Was ein Blick in die Geschichte enthüllt, sei im
folgenden kurz skizziert.
Ist Erfinden etwas anderes als Entdecken ?
«Columbus hat America
erfunden», konnte man noch um das Jahr 1700 sagen. Das
bedeutet, dass man damals noch nicht zwischen
«Erfinden» und «Entdecken» unterschied.
Erst im 18. Jahrhundert begann man, auch in Frankreich und England,
zu unterscheiden.
·
Erfinden bedeutet: durch eigenes Nachsinnen Dinge und
Vorstellungen hervorbringen, die bisher noch nicht oder nicht auf
die gleiche Art existierten.
·
Entdecken heisst: nach einem zumeist planmässigen
Suchen eine ausserhalb von uns liegende, bereits existierende, aber
bisher verborgene Sache erkennen oder auffinden.
Ob sich diese sprachlich saubere
Unterscheidung auch sachlich halten lässt, ist fraglich. Zwar
hat der in der Französischen Revolution durch Gift gestorbene
Marquis de Condorcet Erfindungen den Künstlern und Technikern
zugewiesen, Entdeckungen den Wissenschaftern. Aber schon bald sah
man, dass auch wissenschaftliche Theorien, solange sie
unbestätigt bleiben, Erfindungen sind. Ferner zeigt sich bei
genauerem Hinsehen:
· Die
Technik erfindet nicht Produkte, sondern Erzeugungs- und
Herstellungsverfahren für materielle Produkte, die nach dem
Nutzen für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse
patentierbar sind.
· Ein
Künstler schafft nicht neue Dinge, sondern denkt sich
verschiedene Möglichkeiten aus, von denen er die
ästhetisch interessanteste auswählt.
Finden - Beurteilen - Bewerten - Verwerten
Im Griechischen
«heuresis» und dessen lat. Übersetzung
durch Cicero, «inventio», fällt noch
zusammen, was die modernen europäischen Sprachen seit 1700 mit
Erfindung und Entdeckung auseinanderhalten.
Der Begriff Heuresis, resp.
Invention hat seit Platon eine grosse Tradition:
·
Einerseits in der Rhetorik, Poetik und Ästhetik, und zwar
stets in Verbindung mit «ingenium», (Genie), und
häufig auch der «Formung»; seit 1600 ergab sich
eine Verbindung mit «Einbildung», seit 1700 mit dem
deutschen Begriff «Genie».
·
Ebenso alt ist die Tradition der Invention in der Mathematik und
Logik, und zwar von Anfang an in Zusammenhang mit der
«Methode».
Aus dem Blickwinkel der Neuzeit
unterscheidet man im Bereich der Erkenntnis
· das
Finden (inventio)
· vom
Beurteilen (iudicium), den Entdeckungs- vom
Begründungszusammenhang, die Hypothese von der
Verifikation.
·
Hinzu kommt als Drittes die Bewertung
· und
als Viertes die Verwertung.
Da die Philosophen des Altertums und
des Mittelalters anders dachten und in einer andern geistigen Welt
lebten als der neuzeitliche Mensch, sind diese Unterscheidungen
erst im Laufe der Zeit deutlich geworden.
Ob eine Invention auf Genie (genius,
ingenium) oder Zufall, Methode oder Inspiration, Imagination oder
Intuition usw. beruht, ist, verglichen mit der Verwertung, von
zweitrangiger Bedeutung. Das zeigt sich sowohl bei
wissenschaftlichen Theorien als auch bei Kunstwerken, bei
Patentverfahren ebenso wie bei Verbesserungsvorschlägen in
Betrieben.
Der Erfinder: von der Hölle ins Labor
In Labors pröbelten, tüftelten
und bastelten schon die Alchemisten und Mediziner des Altertums.
Seit etwa dem Jahr 1000 wurde in den ersten ärztlichen
Hochschulen erneut im Labor gearbeitet.
Von 1200 bis 1300 entstand eine
eigenständige "europäische" Alchemie, die auch an den
eben neu gegründeten Universitäten z. B. als Grundlage
der Medizinerausbildung gelehrt wurde. Doch dann wurde die Alchemie
von den Hochschulen ausgeschlossen und in die Praxis gedrängt.
An weltlichen Höfen waren nun Goldmacher erwünscht.
Labors schossen überall aus dem Boden.
Der legendäre Mönch Berthold
Schwarz soll um 1354 oder 1380 bei Gelegenheit alchemistischer
Experimente das Schiesspulver erfunden haben (allerdings war es
schon längst bekannt). Um 1477 behauptete der Alchemist Thomas
Norton aus Bristol, er habe einen Vielzweck-Ofen erfunden, in dem
nicht weniger als 60 Operationen zur gleichen Zeit - jede bei einer
anderen Feuertemperatur - vorgenommen werden konnten.
Das Experiment als
Forschungsmethode forderten und praktizierten schon im 13.
Jahrhundert Roger Bacon, Albertus Magnus und Arnoldus von
Villanova. Doch erst in der Hochblüte der Renaissance gab es
eine erste experimentelle Welle. Berühmte Namen sind:
·
Paracelsus, Fracastoro und Vesalius, Fernel und Paré
·
Tartaglias "Ballistik", Biringuccios "Pirotechnia", Agricolas "De
re metallica"
·
Cardano, Benedetti, Palissy und della Porta.
Noch 1521 verwünschte Ludovico
Ariosto in seinem Werk "Orlando Furioso" den Erfinder (der
Feuerwaffe) in die tiefste Hölle. Aber schon ein halbes
Jahrhundert später fing der Fortschrittsglaube an (z. B. mit
Jean Bodin), sich seine zunehmend breiter werdende Bahn zu
brechen.
Seit etwa 1580 hatten mit den
mechanischen Werk- und Forschungsstätten - z. B. bei Galilei
und Gilbert - auch die chemischen und medizinischen Laboratorien
einen Aufschwung genommen: Andreas Libavius und Angelus Sala,
Santoro, J. B. van Helmont und Harvey.
Den deutschen Jesuiten Athanasius
Kircher verschlugen die Wirren des Dreissigjährigen Kriegs
schliesslich nach Rom (1633), wo er von seinem Orden bald mehrere
Gehilfen und Mitarbeiter für das von ihm errichtete
naturkundliche Museum sowie für chemische und physikalische
Forschungs- und Experimentierlaboratorien - die ersten
grösseren ihrer Art - zugebilligt erhielt.
Um 1660 konnte Frans de la Boë
Sylvius die Verwaltung der Universität Leyden dazu bewegen,
ihm ein chemisches Laboratorium für seine Untersuchungen
einzurichten. Wenige Jahre später wird darüber berichtet,
wie Isaac Newton in Cambridge sich jeweils im Frühling und
Herbst wochenlang mit Versuchen in sein Labor eingeschlossen habe,
über die er aber zu niemandem sprach.
Ums Jahr 1683 wurde Ambrose Godfrey
Assistent des grossen Chemikers Robert Boyle. Sein eigenes Labor
richtete er 1706 ein. Die Ausrüstung mit Geräten und
Apparaten war so hervorragend, dass jeder Besucher von London, der
an Wissenschaft interessiert war, die Southampton Street aufsuchte,
an der sich Godfrey als Apotheker niedergelassen hatte.
Empirismus und Rationalismus
Man kann den Beginn der modernen
Naturforschung um das Jahr 1581 sehen, als Galilei im Dom zu Pisa
beim Beobachten eines schwingenden Kronleuchters die Pendelgesetze
entdeckte. Nunmehr riss der Faden der Forschung nicht mehr ab. War
bisher die Theorie der Praxis vorausgeeilt, so drehte sich dies nun
um: Erst 1620 begründete Francis Bacon den methodischen
Empirismus, erst 1637 René Descartes den methodischen
Rationalismus. Beide trugen fortan unter der Fahne des "richtigen
Verstandesgebrauches" Forschung und wissenschaftliches Denken
weiter. Denn "Rationalismus und Empirismus sind verschiedene
Antworten auf die gleichen Fragen" (G. Gawlick).
Das methodische und anwendungsorientierte
Denken wurde fortan in zwei Richtungen ausgebaut: "Der ideale
Rationalist glaubt an die Stärke des natürlichen Lichtes
der Vernunft, das ihm weit über die Leistung der Sinne hinaus
... Gewissheit garantierende Evidenz vermittelt ... Der ideale
Empirist neigt demgegenüber dazu, ... allein die nach
verbindlichen Regeln überprüfte Erkenntnis von
Einzeltatsachen für gewiss zu halten und zu unterstellen, dass
die menschliche Vernunft nicht in der Lage ist, irgendwelche
darüber hinausgehenden nichttrivialen Gewissheiten zu
vermitteln" (R. Specht, vgl. auch G. Gawlick).
Die meisten Rationalisten wie Empiristen
waren Denker und Forscher, welche einen weiten Horizont
überschauten. Descartes schrieb nicht nur über
analytische Geometrie, Physik, Philosophie und Kosmologie, sondern
auch über Physiologie und die "Leidenschaften der Seele".
Hobbes' Erkenntnis- und
Motivationstheorie waren ebenso umstritten wie seine Rechts- und
Staatsphilosophie. Blaise Pascal, der Bedeutendes für
Mathematik, Physik und Religionsphilosophie leistete, konstruierte
auch Rechenmaschinen. Er war sich auch nicht zu gut, auf Anfragen
eines Glücksspielers einzugehen und daraus die
Wahrscheinlichkeitstheorie zu entwickeln. Angeregt durch einen
Briefwechsel mit Pascal und Pierre Fermat entwarf der Mathematiker,
Physiker und Astronom Christian Huygens eine vollständige
Theorie des Würfelspiels (1657).
1668 begründete der Geistliche
Glanvill in seiner Rechtfertigungsschrift für die eben
gegründete Royal Society den Vorrang technischer Fragen
für die Entwicklung der Wissenschaft durch «Plus
ultra».
Industrieeigene Forschung und unzählige
anonyme Verbesserungen
Im chemischen und metallurgischen Sektor
taucht die erste «industrieeigene» Forschung auf. Eine
der ersten Fabriken war die 1679 in der Münchner Vorstadt Au
errichtete «Churfürstliche Fabrica Wollwerck».
Schon 1690 beschäftigte diese Tuchmanufaktur 2000 Personen. In
solchen Grossbetrieben musste man sich gewiss schon mit Fragen der
Spinn- und Webetechnik sowie des Färbens und Veredelns
abgeben. Jedenfalls ist einige Zeit später von der
Porzellanfabrik in Sèvres (seit 1756) bekannt, dass sie eine
«Forschungsabteilung» aufwies, «in der an
Glasuren, Emaillen und Farben gearbeitet wurde» (Peter
Mathias).
Mag die Bezeichnung Forschungsabteilung
auch hoch gegriffen sein, naheliegend ist jedenfalls, dass seit
alters in Werkstätten oder Privathäusern, an Hochschulen
oder am Arbeitsplatz gepröbelt und gebastelt wurde. Wenn wir
nämlich gebannt auf einzelne Erfinder-Genies oder
Institutionen schauen, übersehen wir etwas Wichtiges:
·
«Der tatsächliche Fortschritt einer jeden grösseren
Erfindung hing nicht nur von grundlegenden Fortschritten
berühmter Personen ab, sondern auch von unzähligen
kleineren Verbesserungen seitens Unbekannter» (Peter
Mathias, 128; vgl. 83, 86). Oder:
·
Technische Veränderungen, die zu erhöhter Effizienz
führten, wurden nicht nur durch grössere Innovationen,
sondern durch kleinere, vom technischen Hilfspersonal am
Arbeitsplatz eingeführte Verbesserung bewirkt (nach Samuel
Hollander, 53).
Solches gilt für den Bergbau und das
Hüttenwesen so gut wie für die Textil- und
Maschinenindustrie.
Research and Development
Als James Watt 1763/65 im Museum der
Universität Glasgow ein Modell der Newcomen-Dampfmaschine
reparieren sollte, bastelte er einige Zeit daran herum. Als er auf
die Idee kam, den Dampf ausserhalb des Zylinders zum Kondensieren
zu bringen, ging es schnell. In drei Tagen hatte er ein
funktionsfähiges Modell einer Apparatur hergestellt, bei
welcher der Arbeitszylinder vom Kondensator getrennt war. ("In
three days, I had a model at work nearly as perfect.") Aber bis die
erste richtige Dampfmaschine installiert werden konnte, brauchte es
noch elf Jahre hartnäckiger Entwicklungsarbeit mit insgesamt
60 Mannjahren Aufwand.
Inzwischen hatte Watt mit dem
Eisenindustriellen Dr. John Roebuck (Carron) einen Teilhaber
gefunden, der ihn 1768 mit dem Konstrukteur und Unternehmer Matthew
Boulton bekannt machte. Dieser hatte sechs Jahre zuvor seine
Metallwarenfabrik von Birmingham nach dem benachbarten Soho
verlegt. Es kam zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit, und Watt
siedelte 1774 nach Soho über. F. M. Scherer meint, die Firma
Boulton & Watt habe zu dieser Zeit bereits «the
equivalent of a research and development laboratory»
gehabt.
Michael Faraday wurde 1825 schon Direktor
des Laboratoriums der Royal Institution. Justus von Liebig
richtete, bald nachdem er mit 21 Jahren Professor in Giessen
geworden war (1824), dort eines der ersten
Universitäts-Laboratorien für den Unterricht ein.
Aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts
wuchsen aus Werkstätten und Bastelstuben so etwas wie
Industrielabors heraus. Um 1850 liess Alfred Krupp in einer streng
vom übrigen Betrieb abgeteilten Werkstatt - sinnigerweise von
den Mitarbeitern «Sibirien» genannt - Versuche zur
Entwicklung einer nahtlosen Radbandage für Eisenbahnräder
herstellen. Ferner lässt sich verfolgen, wie aus dem in den
1850er Jahren bei Siemens & Halske eingerichteten
«Experimentierzimmer» um 1868 ein erstes Laboratorium
entstand.
Das war im selben Jahr, als auch die
Farbwerke Hoechst und BASF systematisch Chemiker mit
Universitätsausbildung einzustellen begannen und für sie
Laboratorien einrichteten.
Bald folgte die Schweiz mit Geigy und
CIBA. Die Franzosen und Briten unterliessen dies jedoch, weshalb
ihre organische und feinchemische Industrie bis zum Ersten
Weltkrieg zur Unbedeutsamkeit schrumpfte.
Die Amerikaner setzen die erste
Einrichtung eines Research-and-Development-Laboratoriums auf das
Jahr 1876 an, als Thomas Alva Edison sein berühmtes Labor in
Menlo Park und Alexander Graham Bell ein analoges in Boston
einrichtete.
Neuerungen führen zu Aufruhr
Schon im «Fegefeuer» (von
Dante) ist von «innovare» die Rede. Machiavelli - wen
wundert's? - erfand den «innovatore», Shakespeare den
«innovator» - und übrigens auch den
«manager» und die nicht-göttliche, also
menschliche «creation». (Auf Shakespeare wurde
umgekehrt 1875 zum ersten Mal der Begriff «poetic
creativity» angewandt.)
Bereits vor Shakespeare wurde Innovation
mit politischer Revolution gleichgesetzt. Er selber hat sie im
«Henry IV.» mit «tumultösem Aufruhr»
('hurly burly innovation') in Beziehung gesetzt.
Zur selben Zeit machte sich Francis Bacon
Gedanken «über Aufstände und öffentliche
Unruhen» und meinte: «Die Ursachen und Beweggründe
zu Aufständen sind Neuerungen in der Religion, Steuern,
Änderungen an Gesetzen und Herkommen, Entziehung von
Gerechtsamen, allgemeine Unterdrückung, Beförderung
unwürdiger Personen und Fremder, Hungersnot, entlassene Heere,
zur Verzweiflung getriebener Parteien und was sonst noch das
aufgebrachte Volk zu gemeinschaftlicher Sache vereinigt und
zusammenknüpft...
Die vornehmste Verhütungsmassnahme
besteht darin, dass man auf jede erdenkliche Art und Weise die
tatsächliche Ursache zu Unruhen, wovon wir sprachen, aus dem
Wege räumt, nämlich Not und Armut im Reiche.»
Wandel durch Wechsel
Aber auch die «Wandelbarkeit der
Dinge» fand Bacons Beachtung. «Die grösste
Wandelbarkeit alles Menschlichen» beispielsweise zeigt sich
seiner Ansicht nach «im Wechsel der Sekten und
Religionen». Wechsel und Unbeständigkeit kommen ferner
im Krieg häufig vor, «besonders aber in drei
Fällen: Wechsel des Kriegsschauplatzes, der Waffen und der Art
der Kriegsführung».
Damit ist schon ums Jahr 1600
vorgezeichnet, was dann seit Comte, Tocqueville und Marx
geschichtsphilosophisch und soziologisch untersucht wurde. Das
Augenmerk richtet sich dabei vor allem auf «Konflikte»,
die soziale Randstellung der Neuerer und das Aufbrechen von
Traditionen, sozialer Kontrolle und Institutionen. Auch die
Ausbreitung von Neuerungen durch Diffusion und Kulturkontakt,
Akzeptanz und Akkulturation findet seit bald hundert Jahren
zunehmend Beachtung, seit dem Zweiten Weltkrieg auch in
Entwicklungsländern.
Der Mensch hinkt der Technik hintennach
Bekannt geworden ist William F. Ogburns
These vom «cultural lag» von 1922: «Changes in
material culture precede changes in adaptive culture.» Die
meisten seiner Beobachtungen beziehen sich auf das
Auseinanderklaffen zwischen technischen Möglichkeiten und
Entwicklungen einerseits und den ihnen nicht mehr angemessenen
menschlichen Verhaltensweisen andererseits.
Diese Auffassung wurde später
ausgeweitet: Jede kulturelle Gegenwart weist gleichzeitig
Einstellungen, Moralvorstellungen und Praktiken auf, die zu
verschiedenen Zeiten einmal Geltung hatten. Das zeigt sich etwa in
unterschiedlichen Lebensstilen, in Gesetzgebung und Rechtsprechung
und in der Meinung, Krieg sei auch heute noch ein legitimes oder
sinnvolles Instrument der Konfliktlösung.
Ein «cultural lag» kann sogar
in ein und demselben Menschen vorkommen, der bezüglich
verschiedener Werte und Erkenntnisse progressive wie traditionelle
Haltungen einnimmt, z. B. ein Physiker, welcher der christlichen
oder östlichen Mystik anhängt, oder ein Manager, der sich
auf Astrologie oder magische Praktiken stützt.
Verpasste Anpassung bewirkt Störungen im
ganzen System
Ogburn hat bereits eine Systemtheorie
für den sozialen Wandel aufgestellt. Er ging davon aus, dass
jeder Teil und Vorgang einer Kultur mit jedem anderen
zusammenhängt. Wenn also in einem Teil der Kultur, der sich
einer neuen technisch oder wirtschaftlich bedingten Lage anzupassen
sucht, «lags» oder Reibungen auftreten, oder wenn die
Anpassung nicht glückt, weil sie zu spät kommt, obwohl
sie angemessen oder zweckentsprechend gewesen wäre, dann
pflanzen sich diese Störungen auch in andere Gebiete einer
Kultur fort, die zunächst von dem Problem nicht berührt
wurden.
So kann sich die Einführung eines
neuen Mediums (Telephon, Schallplatte, Film, Radio, Tonband,
Fernsehen) oder Werkzeugs (Auto, Flugzeug, Automat, Computer)
über die Veränderung von Lebensgewohnheiten, sozialen
Beziehungen und Arbeitsformen bis in die Veränderung von
Denkstrukturen, Weltanschauungen und Glaubensinhalten auswirken.
1933 konnten Ogburn und S. C. Gilfillan 150 verschiedene
Einflüsse der Erfindung des Radios nachweisen, und 1946
zählte Ogburn über hundert «Impulse», die vom
Flugzeug ausgegangen sind.
Was tut der dynamische Unternehmer?
Ebenso umstritten wie Ogburns These blieb
die vom österreichischen Nationalökonomen Joseph Alois
Schumpeter entwickelte «Theorie der wirtschaftlichen
Entwicklung» (1912). Er setzt 1905 beim Krisenproblem an und
hat nach seiner Überzeugung als erster eine Theorie der
«dynamischen» (statt statischen) Wirtschaft
aufgestellt. Die Entwicklung beruht auf «schöpferischem
Neugestalten», und dieses erfolgt durch den
«dynamischen Typus des Handelns». Verkörpert wird
er durch den Unternehmer. Solche Persönlichkeiten haben, u. a.
Energie des Handelns, Freude an sozialer Machtstellung und Freude
am schöpferischen Gestalten.
Ihre Betätigungen «bestehen in
der Durchsetzung neuer Kombinationen der vorhandenen
wirtschaftlichen Möglichkeiten». D.h., es muss
«Neues», also «Neuartiges» geschaffen
werden. Das ist etwa
·
«die Produktion eines bisher noch nicht bekannten
Gutes», z. B. «das vorhandene und schon bisher
befriedigte Bedürfnisse besser befriedigt»
·
«die Einführung einer neuen Qualität eines
Gutes»
·
eine «neue Verwendung eines bereits bekannten»
Gutes
·
die «Ersetzung sei es eines Produktionsgutes oder eines
Genussgutes durch ein anderes..., das dasselbe oder annähernd
dasselbe leistet, aber billiger ist»
·
«eine neue Produktionsmethode», samt der
«Einführung von Maschinen»
·
die «Erschliessung eines neuen Marktes», also das
«Aufsuchen neuer Absatzorte», usw.
·
die «Änderung der wirtschaftlichen Organisation»,
samt «Neuerungen in den kommerziellen Kombinationen»,
z. B. «die Wahl einer neuen billigeren Bezugsquelle für
Produktionsmittel, etwa einen Rohstoff»
·
«die Gründung einer neuen Unternehmung».
Aufgreifen und Realisieren von «neuen
Kombinationen»
Und nun Schumpeters Credo: «Die
neuen Kombinationen kann man immer haben, aber das Unentbehrliche
und Entscheidende ist die Tat und die Kraft zur Tat.» Die
neuen Kombinationen bestehen zunächst nur «im
Bewusstsein einiger Leute» und sind vorerst «so
bedeutungslos wie die Kanäle im Mars». Das ändert
sich erst, wenn sie von jemandem, der «nicht ängstlich
auf das Risiko blickt», aufgegriffen und realisiert
werden.
«Der Unternehmer ist unser Mann
der Tat auf wirtschaftlichem Gebiete. Er ist der wirtschaftliche
Führer, ein wirklicher, nicht bloss scheinbarer Leiter wie der
statische Wirt.»
Auf diesem Hintergrund wird Schumpeters
legendär gewordene Trennung von Unternehmer und
Erfinder (Abb. 1) verständlich. In der zweiten Auflage der
«Theorie der wissenschaftlichen Entwicklung», 1926, hat
er erneut betont: «Die Funktion des Erfinders oder
überhaupt Technikers und die des Unternehmers fallen nicht
zusammen. Der Unternehmer kann auch Erfinder sein und umgekehrt,
aber grundsätzlich nur zufälligerweise.»
Diese Thesen hat er dann unter dem
Eindruck der Untersuchungen von Ogburn, Gilfillan und dem jungen
Robert King Merton 1939 in seinem Buch
«Konjunkturzyklen» (dt. 1961) als «Theorie der
Innovation» ausgebaut. Hier sieht er Entdeckung und Erfindung
als «äussere Faktoren», Innovation dagegen als
«inneren Faktor», der eine «reine Sache des
unternehmerischen Verhaltens» ist. Daher der sonst
befremdlich klingende Satz: «Innovation ist möglich ohne
irgendeine Tätigkeit, die sich als Erfindung bezeichnen
lässt, und Erfindung löst nicht notwendig Innovation
aus.»
Ähnlich wie Schumpeter 1912
unterschied zwei Jahre später Friedrich von
Gottl-Ottlilienfeld in seiner Abhandlung "Wirtschaft und Technik"
die Erfindung von ihrer "wirtschaftlichen Rezeption", welch
letztere er als "technischen Ausbau der Produktion" fasste. Und er
meinte: "So mühevoll das eigene Werden der Erfindung ist, vom
Standpunkt der Wirtschaft aus ist die Erfindung doch bloss der
leichte Gedanke, ihr gegenüber erst der Ausbau die schwere
Tat."
Seit wann gibt es kommerziell erfolgreiche
Erfinder?
Was zeigt ein Blick in die Geschichte (Abb.
2)?
Die meisten "Erfinder" des 15.
Jahrhunderts waren noch nicht kommerziell erfolgreich. Johannes
Gutenberg beispielsweise verlor nach dem Druck seiner Bibel Hab und
Gut, starb als gebrochener Mann und war bald vergessen.
Auch der geniale Leonardo da Vinci ( seit
1480) und seine Nachfolger am französischen Hof, Jacques
Besson und Agostino Ramelli, beides Verfasser berühmter
"Maschinenbücher" (um 1565, ersch. 1578; und 1588), der
Ingenieur und Automatenbauer Juanelo Turriano am spanischen Hof (um
1560), sowie Jacopo de Strada an den Höfen von Wien und Prag
oder der vielseitige Napolitaner Giambattista della Porta wurden
nicht als Krösusse berühmt. Selbst von den genialen
Feinmechanikern in Augsburg und Nürnberg, welche wunderbare
kleine Kunstwerke, Apparate und Automaten bauten, ist nichts von
übermässigem Reichtum bekannt.
Erst im Barock scheint es einigen
kleveren Köpfen gelungen sein, Profit aus Ihren Entdeckungen
oder Erfindungen zu schlagen. Etwa zur gleichen Zeit wie die
moderne Naturwissenschaft entstand um 1580 als praktisches
Gegengewicht der Beruf des "Projektemachers" , auch "undertaker" genannt
(vgl. dazu:
Ein Manager ist kein Unternehmer!). Ben Johnson schrieb ein
Theaterstück zum Thema "What is a Projector?" Thomas Brugis
beschrieb 1641 "The discovery of a Proiector".
Frühe Projektemacher waren etwa die
Niederländer Simon Stevin und Cornelius Drebbel. Der
vielseitige Mathematiker, Physiker und Ingenieur Stevin baute das
erste mit einem Windsegel versehene Landfahrzeug(1599). Der
Tausendsassa Drebbel baute auch den ersten alchemistischen Ofen mit
automatischer Temperaturregelung (1610). Sein Unterseeboot soll bei
einer Probefahrt in der Themse funktioniert haben (1624). Das
Geschäft machte er jedoch durch die Einführung einer
scharlachroten Farbe.
Der Chemiker Johann Rudolf Glauber war
Erfinder und Produzent in einer Person. Um 1650 stellte er in
seinem Labor eine ganze Reihe Mineralsäuren und organische
Verbindungen wie Azeton, Benzol und Phenol dar, und verkaufte sie
auch mit Erfolg. Ähnliches Geschick, wissenschaftliche Eifer
und kaufmännisches Talent zu verbinden zeigte um 1700 der Arzt
Friedrich Hoffmann. Neben seinen "Tropfen" erfand er eine ganze
Reihe neuer Arzneien.
Die Pendeluhr des grossen Wissenschafters
Christian Huygens wurde 1657 von den Generalstaaten patentiert.
Seine Erfindung des Torsionspendels (1675) erlaubte erstmals die
Herstellung von Schiffschronometern. Schon ein paar Tage nachdem er
es der französischen Akademie der Wissenschaften
vorgeführt hatte, erhielt er die alleinigen
Herstellungsrechte. Sie machten ihn bald zum reichen Mann. (Sigvar
Strandh)
Der Arzt William Petty war ein
Multitalent und unermüdlicher Projektemacher. Er gehörte
1662 zu den Gründern der Royal Society und bereicherte die von
König Charles II. ins Leben gerufenen Segelregatten mit der
Konstruktion der ersten Katamarane (1662). Weniger Glück hatte
zur gleichen Zeit der Alchemist, Pädagoge, Arzt und
unermüdliche Erfinder Johann Joachim Becher. Er beriet um 1670
Kaiser Leopold I.
Immerhin lässt sich sagen, dass seit
dieser Zeit die Verbindung Erfinder-Unternehmer immer
häufiger anzutreffen ist. Der Bogen spannt sich dabei von Sir
Ambrose Crowley (1682/90), Sir Thomas Lombe (1709), Abraham Darby
(1709), Thomas Newcomen (1712), John Roebuck (1746), Richard
Arkwright (1769), John Wilkinson, James Watt (1774) und Eli Whitney
über Henry Maudslay, Georg Stephenson (1832), Samuel Colt
(1836), Isaak Singer, Georg Armstrong, Henry Bessemer (1856) und
Werner Siemens bis Alfred Nobel, Graham Bell, Thomas Alva Edison
und Guglielmo Marconi (1897).
Auf ganz anderen Gebieten waren
wirtschaftlich erfolgreiche Pioniere z. B.: Johann Jakob
Astor (Gastronomie), Maximilian Berlitz (Sprache), F. A. Brockhaus
(Lexikon), Buffalo Bill (Zirkus), Thomas Cook (Reisen), Julius
Maggi (Suppen) und G. M. Pullmann (Eisenbahn).
Zu den eher seltenen Fällen, in
denen Wissenschafter als Unternehmer tätig waren,
gehören Joseph von Fraunhofer (gest. 1826) - der als
Glasschleifer sowohl zu wissenschaftlichen Ehren kam wie auch seine
optische Werkstätte gänzlich strengen wissenschaftlichen
Theorien unterstellte - und Charles Parsons, der Erfinder der
Dampfturbine (1884).
Noch seltener kommt es vor, dass ein
Erfinder keine Patente anmeldet und seine Produkte
uneigennützig der Allgemeinheit zur Auswertung
überlässt. Wilhelm Conrad Röntgen tat dies. Er starb
an den Folgen einer langjährigen Unterernährung.
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Wagner, F.: Weg und Abweg der
Naturwissenschaft. München: C. H. Beck 1970 (kürzere
Fassung von: Die Wissenschaft und die gefährdete Welt. Eine
Wissenschaftssoziologie der Atomphysik. 1964, 1969.
(geschrieben im Oktober 1984;
unter dem Titel: "Sind innovative
Unternehmer tatsächlich Aufrührer? - Über Erfinder
und Unternehmer im Laufe der Geschichte", erschienen: io Management
Zeitschrift 56 (1987), Nr. 9, 436-440)
[Nachgedruckt im Sammelband: Innovation gewinnt. Kulturgeschichte und Erfolgsrezepte. Zürich: Orell Füssli 1997, als Kap. 5: "Erfinder und Forscher, Aufrührer und Unternehmer", 49-68]