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geschrieben im November-Dezember 1974; erschienen in «Schweizer Monatshefte», 54. Jahr, Heft 11, Februar 1975, 829-840
siehe auch: Ein Lehrstuhl für Methodologie an der ETH Zürich; Eingabe vom Juli 1975 Zur Diskussion: Wissenschaft und Forschung Fragen der interdisziplinären Arbeit Methoden (Übersichten) Ungeheuer emsig, aber zielblind
rot = einige wenige handschriftliche Ergänzungen auf einem Durchschlag
Der Schweizerische Wissenschaftsrat ist ein beratendes Organ des Bundesrates. Seit seiner Einsetzung 1965 hat er den Hauptteil seiner Arbeit einerseits an die Hochschulpolitik, anderseits an die Forschungspolitik gewendet. Er ist von den Bundesbehörden mit einer grossen Anzahl von Gutachten über allgemeine Probleme und Stellungnahmen zu konkreten Fragen beauftragt worden.
Am 1. Januar 1969 trat das Hochschulförderungsgesetz in Kraft, das die Aufgabe des Wissenschaftsrates wie folgt bestimmt: «Er beschafft und überprüft die Grundlagen für eine gesamtschweizerische Wissenschafts- und Forschungspolitik und schlägt die zu ihrer Verwirklichung nötigen Massnahmen vor.» Seither hat sich der Wissenschaftsrat zu allen Subventionsgesuchen zu äussern. Ja, es gibt keine Sitzung, an der nicht Anträge oder Empfehlungen zuhanden des Bundesrates verabschiedet werden. Das ist deshalb so wichtig, weil seit der Annahme des Forschungsartikels (BV 27sexies) sowohl die Förderung der Forschung als auch eine mit Mass und Ziel betriebene Koordination zu den in der Verfassung verankerten Aufgaben des Bundes gehören. Forschungspolitik ist somit heute ein Teil der Staatspolitik.
Der Bericht des Wissenschaftsrates
Zur Hochschulpolitik hat sich der Wissenschaftsrat in zwei Ausbauberichten 1967 und 1972 geäussert. Sie stiessen, wie er selbst feststellen muss, «nicht überall auf Gegenliebe». «Auch die Notwendigkeit einer nationalen Forschungspolitik ist innerhalb und ausserhalb der Hochschulen noch nicht unbestritten.» Gerade deshalb soll das Ende Herbst 1973 vorgelegte zweibändige Dokument über die Forschung an den schweizerischen Hochschulen «abgesehen von den konkreten Empfehlungen ... dazu beitragen, dass das Verständnis für die Notwendigkeit einer nationalen Forschungspolitik zunimmt».
Es gibt in unserem Land keine Stelle, die über den Stand der Forschung umfassend Auskunft zu geben vermöchte. Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, 1952 durch Bundesbeschluss geschaffen, verfügt nur über Kenntnisse der ihm eingereichten Gesuche, die kein vollständiges oder systematisches Bild der Forschungstätigkeit und -vorhaben ergeben.
Deshalb entschloss sich der Wissenschaftsrat anfangs 1970 zu einer «Ermittlung der dringlichen Forschungsbedürfnisse in der Schweiz». 2500 Persönlichkeiten, Institutionen oder Vereinigungen wurden in einer schriftlichen Umfrage zur Mitarbeit aufgefordert; mehr als die Hälfte sandte einen oder mehrere ausgefüllte Fragebogen ein. In 38 Gebieten wurden sodann erste Auswertungen vorgenommen und diese Berichte an etwa 250 wissenschaftliche Experten, hauptsächlich Hochschuldozenten, zur Begutachtung gesandt. 150 davon äusserten sich insbesondere zur Frage, «in welchem Masse einem Problembereich eine Schlüsselfunktion für die Entwicklung des Erkenntnisstandes in der zugehörigen oder in benachbarten Disziplinen zugeordnet werden müsse und welche Bedeutung bestimmten Forschungspostulaten für die Befriedigung wichtiger Anliegen der Öffentlichkeit zukomme».
Diese Gutachten wurden mehrfach innerhalb der Expertengruppen ausgetauscht und diskutiert. Das Endergebnis liegt als fast vierhundertseitiger Band des Forschungsberichtes unter dem Titel «Sektorielle Expertenberichte» vor. Dieses im Frühjahr 1972 abgeschlossene Unternehmen diente nun dem Wissenschaftsrat als Ausgangspunkt zur Erarbeitung eines eigenen Berichts, in dem vor allem die teils konvergierenden, teils völlig disparaten Postulate aufeinander abgestimmt und mit den personellen und finanziellen Möglichkeiten der Schweiz konfrontiert werden mussten. Nur so konnte der Wissenschaftsrat einen Prioritätenkatalog und praktische Massnahmen vorschlagen.
Im gut zweihundertseitigen ersten Band des «Forschungsberichts» sind also die Bedürfnisse eingestuft und Empfehlungen ausformuliert. Damit haben sich nun alle Verantwortlichen auseinanderzusetzen, stellt doch dieser Bericht eine in ihrer Art einmalige Grundlage für künftige Entscheide der politischen Behörden und für den Alltag der wissenschaftspolitischen Organe dar.
Forschungslücke Wissenschaftsforschung
«Die Grenzen, die einer schweizerischen Forschungspolitik gesetzt sind, lassen relativ wenig Spielraum» sagte der Präsident des Wissenschaftsrats, Prof. Dr. Hugo Aebi, kurz nach der Veröffentlichung des Berichts. «Um so mehr besteht Veranlassung, diesen Spielraum voll auszunützen. Die Forschungspolitik von morgen wird gekennzeichnet sein durch eine vermehrte Konzentration der Kräfte auf Schwergewichte, durch den Verzicht auf Entbehrliches, aber auch, so paradox dies tönt, durch gezielte Förderungsmassnahmen, wie zum Beispiel die Schliessung störender Lücken. Dies ist gerade dort notwendig, wo es im Interesse des Landes gilt, Versäumtes nachzuholen.»
Eine dieser Lücken ist die Wissenschaftsforschung. Mit sicherem Gespür die Problematik und ihre Bedeutung erkennend, hat deshalb der Wissenschaftsrat in seinem Forschungsbericht einen Bereich «Wissenschaftsforschung/ allgemeine Systemwissenschaften» aus dem etwa drei Dutzend Wissensgebiete umfassenden Fächer der akademischen Disziplinen ausgesondert.
Wegen der, wie er schreibt, «offensichtlichen Diskrepanz zwischen der Relevanz der Wissenschaftsforschung und ihrem Stand» setzte der Wissenschaftsrat aus eigenem Antrieb eine Expertengruppe ein, die im Gegensatz zu allen andern Expertengruppen nicht in der Lage war, einen abschliessenden Bericht oder auch nur Empfehlungen zu Händen der Bundesverwaltung (Abteilung für Wissenschaft und Forschung), des Nationalfonds, der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft sowie der Hochschulträger und Hochschulen auszuarbeiten. Für andere, zum Teil recht neue Wissenschaftsgebiete wie Computerwissenschaft, Bauforschung, Bildungsforschung, Massenkommunikationsforschung, Dokumentation, Soziale Arbeit und Zukunftsforschung haben jedoch andere Expertengruppen zumeist sehr ausführliche Berichte zu verfassen gewusst. Immerhin hatten, so notiert der Wissenschaftsrat, die Experten des Bereiches «Philosophie» überzeugend dargetan, dass die Wissenschaftstheorie besondere Förderung erheischt, «denn ihr fällt es insbesondere zu, die methodologischen Voraussetzungen jeglicher Wissenschaftsarbeit klarzulegen».
Methodologie und Erkenntnistheorie
Nun ist neben dem Wort Wissenschaftsforschung das Wort Wissenschaftstheorie gefallen. Das gibt uns Anlass zu näheren Begriffsbestimmungen. Ein kurzer Blick zurück kann da etwas Klarheit schaffen und gleichzeitig andere wichtige Bereiche einführen helfen.
Bis zum Beginn der Neuzeit pflegte man zwischen Wissenschaft und wissenschaftlicher Methode nicht zu unterscheiden. Bahnbrecher einer Methodenbetrachtung waren im 17. Jahrhundert Bacon, Galilei und Descartes, doch erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt man sich auf wissenschaftliche Weise mit den Methoden zu befassen (zum Beispiel Mill, Avenarius, Mach, Poincaré, Duhem). Diese Methodologie oder Methodenlehre (bei Kant neben der Elementarlehre ein Teil der Logik) untersucht Denkwege sowie - im Idealfall planmässige – Forschungs- und Lehrverfahren, also die verschiedenen Weisen, wie man überhaupt etwas untersuchen, wie man unterrichten kann, neuerdings auch wie man lernen und sich anpassen, planen, prognostizieren, organisieren, führen und kontrollieren, etwas herstellen und behandeln kann. Darüberhinaus widmet sie sich der Begründung und systematischen Zusammenfassung der Methoden, die in den Einzelwissenschaften selbständig ausgebildet werden.
An die Erkenntnisse von Kant knüpften etwa an: Johann Joachim Eschenburg: Lehrbuch der Wissenschaftskunde. 1792; mehrere Aufl. bis 1813 Carl Christian Erhard Schmid: Allgemeine Encyklopädie und Methodologie der Wissenschaften. 1810 Carl August Schaller: Encyklopädie und Methodologie der Wissenschaften, bearbeitet zum Gebrauch für angehende Studirende. 1812.
Um das Jahr 1700 wandte man sich in der Philosophie in besonderem Masse dem Erkenntnisproblem zu. Bekannte Philosophen der Erkenntniskritik sind Locke (1690), Berkeley (1710) und Leibniz (1704), später Wolff, Hume und Kant. Diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Einzel- oder gar Grunddisziplin der Philosophie gewordenen und die «erste Philosophie» oder «Metaphysik» ablösenden Untersuchungen über die Fähigkeit von Sinnen, Verstand und Vernunft zu «wahrer» Erkenntnis zu gelangen, was vor allem im Fragen nach Möglichkeit, Umfang und Grenzen, Ursprung, Zustandekommen, Sinn, Wesen und Ziel, Arten, Gesetzmässigkeiten und Wahrheit, Sicherheit, Gewissheit oder Gültigkeit der Erkenntnis besteht, heisst, ohne dass man begrifflich genauer differenziert, einmal Erkenntnistheorie (diesen Begriff prägte Eduard Zeller, 1862) oder Erkenntnislehre, einmal Philosophie oder theoretische Wissenschaft von der Erkenntnis oder gar Erkenntnismetaphysik.
Jean Piagets «genetische Erkenntnistheorie»
Im französischen und angelsächsischen Sprachgebrauch heisst dies «Epistemologie» (was genaugenommen Wissenschaftslehre oder Wissenslehre heisst, sich jedoch vor allem auf die Erkenntnis bezieht). Die vom Genfer Jean Piaget entwickelte «genetische Erkenntnistheorie» (deutsch für: «épistémologie génétique» und «Genetic Epistemology») fragt weniger im philosophisch-spekulativen Sinne nach der Natur und den Möglichkeiten der Erkenntnis, sondern nach ihrem Zustandekommen, versucht also Erkenntnis psychologisch-empirisch durch ihre Bildung und Entwicklung zu erklären.
Mit Piagets Worten: «Die genetische Erkenntnistheorie versucht, Erkennen, insbesondere wissenschaftliches Erkennen, durch seine Geschichte, seine Soziogenese und vor allem die psychologischen Ursprünge der Begriffe und Operationen, auf denen es beruht, zu erklären. Diese Begriffe und Operationen stammen zum grossen Teil aus dem Alltagsbewusstsein, so dass ihre Ursprünge ihre Bedeutung für das und im Erkennen auf einer höheren Stufe erhellen können. Wo immer möglich, zieht die genetische Erkenntnistheorie auch Formalisierungen in Betracht - insbesondere logische Formalisierungen, die sich auf äquilibrierte Denkstrukturen und in bestimmten Fällen auf Transformationen von der einen zur nächsten Stufe in der Entwicklung des Denkens beziehen» (Anm. 1, S. 7).
«Lassen Sie mich noch einmal wiederholen, dass wir nicht sagen können: auf der einen Seite gibt es die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens und auf der anderen das wissenschaftliche Denken in seiner heutigen Form; es gibt nur eine kontinuierliche Transformation, eine kontinuierliche Reorganisation. Und diese Tatsache scheint mir darauf hinzudeuten, dass die historischen und psychologischen Faktoren in diesen Veränderungen für den Versuch, die Natur wissenschaftlicher Erkenntnis zu verstehen, von Bedeutung sind.»
«Eine andere, in philosophischen Kreisen oft vertretene Ansicht besagt, dass die Erkenntnistheorie im wesentlichen die Frage der Geltung der Wissenschaft, die Kriterien dieser Geltung und ihre Rechtfertigung untersucht. Gegen diesen Standpunkt wenden wir ein, dass die Untersuchung der Wissenschaft wie sie ist - als einer Tatsache - im Grunde belanglos ist. Die genetische Erkenntnistheorie, wie wir sie auffassen, versucht im Gegensatz zu jener Ansicht die Trennung von Normen und Tatsachen, von Wertung und Beschreibung aufzuheben. Wir glauben, dass sich die impliziten Werte und Normen, die die Wissenschaften bestimmen, inspirieren und lenken, nur in der wirklichen Entwicklung der Wissenschaften selbst entdecken lassen. Jede andere Einstellung, so scheint uns, führt dazu, der Erkenntnis relativ willkürlich die persönlichen Anschauungen eines isolierten Beobachters überzustülpen» (Anm. 1, S. 10).
Von der Wissenschaftslehre zur Wissenschaftstheorie
Um das Jahr 1800 bezeichnete der deutsche Philosoph Fichte seine Philosophie als Wissenschaftslehre und fasste sie als Metaphysik des Wissens auf. Etwas später galt dem Prager Philosophen und Mathematiker Bernhard Bolzano die Wissenschaftslehre (1837) als ontologische Logik. Der Philosophiehistoriker und Hegelianer Kuno Fischer schrieb 1852 ein Werk unter dem Titel «System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre». Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist Wissenschaftslehre in einem neutraleren Sinn die Lehre vom Wesen, den Methoden und der Klassifikation (Einteilung) der Wissenschaften, von ihren Grundlagen, Voraussetzungen, Prinzipien (auch Erkenntnisprinzipien) und Zielen (Anm. 2).
In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war es dann nach Dingler und Weyl, Whitehead, Campbell und Burtt vor allem der jüngere, neue oder logische Positivismus, unter anderem repräsentiert durch Wittgenstein, Reichenbach und den «Wiener Kreis» (Schlick, Neurath, Carnap), der die Philosophie, vorwiegend auf der Basis von Sprach- und Begriffsanalyse einerseits, mathematischer und formaler Logik anderseits zur Wissenschaftslogik ausbaute. Diese Bewegung, auch «Logischer Empirismus» oder «Analytische Philosophie» genannt, wandte sich gegen die herkömmliche Erkenntnistheorie und führte über Karl Raimund Poppers „Logik der Forschung“ (1934) und Charles William Morris’ „Theory of Signs“ (1938) zu dem, was wir heute Wissenschaftstheorie nennen. Da darin Wissenschaft vorwiegend als «System von Aussagen», «Sprachkonstruktion» oder «System von Erkenntnissen» betrachtet wird, ist diese Wissenschaftstheorie eine
Nur in einem beschränkten Sinne lässt sich deshalb die Wissenschaftstheorie als Nachfolgerin der Methodologie und Erkenntnistheorie ansehen oder mit ihnen gleichsetzen. Befasst sich schliesslich die Wissenschaftstheorie nicht nur mit dem, was in der Wissenschaft geschieht, sondern reflektiert sie über die Wissenschaften, ist sie Philosophie der Wissenschaften, im Englischen «Philosophy of Science». (So heisst auch der Titel einer Buchreihe, die seit 1934 in Baltimore herauskommt.) Vor allem in den fünfziger und beginnenden sechziger Jahren erlebte diese «Philosophy of Science» einen ungeahnten Aufschwung.
Der Beitrag der empirischen Wissenschaften
Seit den zwanziger Jahren gibt es auch die sogenannte «Wissenssoziologie» die von Max Weber („Wissenschaft als Beruf“, 1917) und Erich von Kahler („Der Beruf der Wissenschaft“, 1920), vor allem aber von Max Scheler und Karl Mannheim begründet wurde. Es ist naheliegend, dass sich daraus auch eine Wissenschaftssoziologie (Robert King Merton, Pitirim Aleksandrovich Sorokin, Gerard DeGré, Bernard Barber) herausbildete, welche unter anderem die soziale Funktion der Wissenschaft (J. D. Bernal, 1939) und die Rolle des Wissenschafters untersuchte (F. Znaniecki, 1940)
Nicht zu vergessen sind auch die Bemühungen um die sogenannte «Wissenschaftskunde», die - zum Teil im Rückgriff auf die enzyklopädischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts - kurz nach der Jahrhundertwende einsetzten und sich einerseits mit den Einteilungen der Wissenschaften, anderseits mit dem Zusammenhang ihrer Fächer und deren Eingliederung in ein System befassten und in der Nachfolge von Dilthey, Windelband und Rickert um die Unterschiede von Natur- und Geisteswissenschaften rangen.
Welche Bezeichnungen auch immer wir bisher verwendet haben - ausser der genetischen Erkenntnistheorie Piagets und der Wissenssoziologie sowie in Ansätzen der Wissenschaftskunde -: wir bewegen uns fast immer im Bereiche der Philosophie und Logik, zum Teil auch der Linguistik und Mathematik. Und von der Tradition her ist diese Art von Untersuchungen von Wissenschaft, Erkenntnis, Methode und Wahrheit vorwiegend durch die «Anstrengung des Begriffs» (Hegel), durch theoretische Betrachtung bestimmt und auf besondere Aspekte von Wissenschaft beschränkt.
Nun können aber auch die empirischen Wissenschaften selbst Beiträge zur Beantwortung der Frage «Was ist und kann, wozu dient, wie vollzieht und womit beschäftigt sich Wissenschaft?» liefern. Zusätzlich zur Philosophie der Wissenschaften, zur philosophischen Erkenntnistheorie, Methodologie und Wahrheitslehre braucht es also den Beitrag der Einzelwissenschaften, die mit ihrem Rüstzeug und ihrer Erfahrung die biologischen, ökonomischen, politischen, historischen, psychologischen und soziologischen Aspekte der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Tätigkeit, der Wissenschafter und Institutionen in doppelter Hinsicht behandeln: einerseits in ihrer Entstehung und in ihrem Funktionieren, anderseits in ihren Auswirkungen und in ihrer Rolle in der menschlichen Gemeinschaft und im Leben des einzelnen, in der Kultur oder Zivilisation wie in der Natur. Dabei handelt es sich stets sowohl um «die» Wissenschaft als auch um alle Einzelwissenschaften.
Die «Wissenschaft von der Wissenschaft»
Alle diese Bemühungen zusammengenommen machen nun erst das aus, was man «Wissenschaft von der Wissenschaft» - englisch «Science of science» - oder eben «Wissenschaftsforschung» im umfassenden Sinn nennen kann.
«Unterricht und Forschung in Wissenschaftstheorie haben in der Gegenwart besondere Bedeutung erlangt, weil interdisziplinäres Zusammenarbeiten ein Mindestmass an theoretischem Verständnis der Arbeitsweisen in verschiedenen Wissenschaftsbereichen voraussetzt», schreibt der Wissenschaftsrat im Abschnitt Philosophie.
Weit über diese Aufgabe hinaus, «die methodologischen Voraussetzungen jeglicher Wissenschaftsarbeit klarzulegen», hat jedoch nun die Wissenschaftsforschung zahlreiche andere Funktionen zu übernehmen. Das sei nochmals zusammengefasst:
1. Sie erforscht nicht nur die Methoden, Aussagen und Theorien aller Einzelwissenschaften für sich, sondern auch in Hinsicht auf gemeinsame Strukturen und Probleme (zum Beispiel Erkennen und Bestimmen, Verstehen und Erklären, Deduktion und Induktion, Analyse und Synthese, Kausalität und Finalität, Verifikation und Falsifikation, Begründung und Bewertung, Sprache und Metasprache, usw.).
2. Sie erforscht die wissenschaftlichen Denk-, Erkenntnis- und Forschungsprozesse nicht nur in ihren linguistischen, sondern auch in den oben erwähnten andern Aspekten sowie in neurologischer, physiologischer, ethologischer und kulturgeschichtlicher wie -politischer Hinsicht.
3. Sie erforscht die Wirkungen des wissenschaftlichen Handelns, der Wissensproduktion, -organisation und -vermittlung, aber auch der Wissenschaftspolitik auf Gesellschaft und Staat, Wirtschaft und Technik, Bau und Industrie einerseits, die Natur, Bio- oder Ökosphäre anderseits.
So hat der Wissenschaftsrat mit gutem Recht die Wissenschaftsforschung aus dem übrigen Bereich der Disziplinen ausgesondert, ist sie doch eine interdisziplinäre Angelegenheit par excellence im zweifachen Sinne als Versammlung der unterschiedlichsten Disziplinen unter einem Hut und als Hilfe für ebendiese verschiedenen Disziplinen.
Die vielfache Relevanz der Wissenschaftsforschung
Wenn man dieses übergreifende und grundlegende Bemühen der Wissenschaftsforschung noch etwas weiter ausfaltet, kann man mehrfache Bedeutungen festhalten, die miteinander eng verflochten sind:
1. Die
gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaftsforschung ergibt sich aus
der Tatsache, dass «die» Wissenschaft, ihre Ergebnisse und Wirkungen in den
letzten Jahrzehnten eine zentrale Bedeutung für die Gesellschaft erlangt
hat, determiniert sie doch die gesellschaftliche Entwicklung weitgehend -
«einerseits dadurch, dass nur mit ihrer Hilfe die komplexen Probleme unserer
Gesellschaft lösbar werden und anderseits, indem durch die überstürzte,
kurzsichtige und zum Teil rücksichtslose Anwendung ihrer Produkte noch grössere
Probleme geschaffen werden.
2. Die wissenschaftsorganisatorische Relevanz beruht darauf, dass Forschen nicht nur eine intellektuelle, sondern ebensosehr eine psychologische und soziologische Angelegenheit ist. Die Motive des Forschens und die Ansichten, welche eine Gruppe von Spezialisten stillschweigend teilt, der Verkehr der Forscher untereinander und die Abstimmung ihrer Projekte, Austausch, Auswahl und Auswertung von Informationen und Dokumenten spielen für den wissenschaftlichen Fortschritt eine oft unterschätzte Rolle.
3. «Als Ergänzung zur fortschreitenden
Spezialisierung erhält die integrierende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen
Einzeldisziplinen immer grössere Bedeutung.» Die Experten des Bereichs
Philosophie sind derselben Ansicht, wenn sie schreiben: «La spécialisation
toujour plus poussée exige en compensation un effort de synthèse. Une
attention particulière devrait être accordée ä l'épistémologie dans la collaboration
interdisciplinaire.»
4. Die methodologische oder forschungstechnische Relevanz zeigt sich darin, dass einerseits derselbe Problemkomplex in zunehmendem Masse von verschiedenen Disziplinen behandelt werden muss, anderseits zahlreiche historisch getrennt gewachsene Disziplinen gleiche oder ähnliche Methoden und Apparaturen verwenden. Die Bewusstmachung der bisher unreflektiert angewendeten einschlägigen methodischen Verfahren ist also vordringlich.
5. Die integrierende Zusammenarbeit bedarf nicht nur eines gemeinsamen Zieles, sondern auch einer gemeinsamen Sprache. So gehört neben der Erforschung der Erkenntnisprozesse auch die Untersuchung der Terminologien zur Aufgabe der Wissenschaftsforschung, womit diese linguistische Relevanz erhält.
6. Schliesslich ist auch die ökonomische Relevanz nicht gering einzuschätzen. Der Einsatz finanzieller Mittel und von Personal, aber auch der oftmals ausserordentlich kostspieligen Instrumente und Apparate, der Auf- und Ausbau von Instituten und Dokumentationszentren sowie die Durchführung von Sonderkursen und der Nachdiplomausbildung, ja schon die Zusammenstellung von Arbeitsgruppen und die Ausarbeitung und Publikation von Forschungsergebnissen sowie deren Verwertung erfordert eingehende Abklärungen, die nur unter Mithilfe einer institutionalisierten Wissenschaftsforschung durchzuführen sind.
7. Wissenschaftsforschung hat sowohl inter-
wie intradisziplinäre Relevanz auch im Sinne einer Vermittlung zwischen
Geistes- und Naturwissenschaften, Sozial- und Wirtschafts-, Kunst-, politischen
und technischen Wissenschaften, Mathematik, Logik, Medizin und
Planungswissenschaften.
Das Fehlen einer ausgebauten Wissenschaftsforschung hat nun auch dem Wissenschaftsrat selbst eine beträchtliche Mehrarbeit aufgebürdet. Bei der Prüfung und Auswertung der umfangreichen «Sektoriellen Expertenberichte» - was selbst einen Beitrag zur Wissenschaftsforschung darstellt - musste er nämlich feststellen, «dass die Wissenschaftsforschung heute noch keine dieser Evaluationsaufgabe angemessene Verfahren anbieten kann».
Dieses konkrete Beispiel der dringlichen Förderungswürdigkeit zeigt nicht nur sehr deutlich die Verknüpfung aller Relevanzen, insbesondere der ökonomischen, methodologischen und gesellschaftlichen, sondern darüber hinaus, welche politische Bedeutung die Wissenschaftsforschung hat: Sie ist von bildungs- und forschungspolitischer Relevanz, was wiederum nichts anderes heisst, als auch von wirtschafts- und gesellschaftspolitischer und damit, um den Reigen zu schliessen, von staatspolitischer Relevanz. Dass darunter in besonderem Masse die Erforschung der Auswirkungen der Wissenschaft auf die Technik und im Verein damit auf die ökologischen Gleichgewichte fällt, sei der Aktualität wie der Vollständigkeit halber nochmals betont. Man kann damit durchaus - um die letzten Relevanzen zu benennen - auch von der umweltpolitischen und ökologischen Relevanz der Wissenschaftsforschung sprechen, von Relevanz, die nationale Grenzen überwindet, also von globaler Relevanz.
Die Reflexivität der Wissenschaftsforschung
Dass sich bei dieser Wissenschaftsforschung zahlreich reflexive oder zurücklaufende Prozesse abspielen, ist leicht ersichtlich. Schon etwa die Methodologie, welche Untersuchungsverfahren und -instrumente untersucht, muss zu diesem Behuf selbst bestimmte Verfahren und Instrumente einzusetzen wissen; Erkenntnistheorie basiert selbst auf Erkenntnisfortschritten über Erkenntnis; und die «Wissenschaft von der Wissenschaft», so sie selbst eine Wissenschaft ist, hätte sich auch mit sich selbst zu befassen. Dabei stösst freilich eine Selbstdefinition durch Gegenstandsbereich, Methode und Instrumentarium, Terminologie und Theoriebildung, Erkenntnisziel und Ergebnis auf ausserordentliche Schwierigkeiten.
Auch das Problem der Relevanz ist verzwickt. Von welcher Warte kann denn überhaupt die Relevanz einer Wissenschaftsforschung beurteilt werden, wenn dies wohl nur aufgrund von Erkenntnissen der Wissenschaftsforschung selbst geschehen kann - wobei diese Forschung aber noch in den Kinderschuhen steckt. Eine Wissenschaft, die sowohl ihre eigene Relevanz, wie auch die Relevanzen aller andern Wissenschaften im Gesamtrahmen von Kultur und Natur zu bestimmen, begründen und bewerten hat, das ist wahrlich eine Universalwissenschaft.
Was können die einzelnen Wissenschaften zur Lösung gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher, ökologischer, aber auch seelischer Probleme beitragen, wo bestehen gravierende Lücken, die im Interesse der Allgemeinheit unbedingt geschlossen werden müssen, welche Disziplinen sind untervertreten oder gar unterentwickelt, wie sind Prioritäten zu setzen und Leitbilder auszuarbeiten, wie kann Wissen am effizientesten erarbeitet, auf dem neuesten Stand der Forschung gehalten und weitervermittelt werden, wie kann die Forschungsinfrastruktur, -praxis und -förderung sinnvoll, wirkungsvoll und den einsetzbaren Mitteln entsprechend optimal gestaltet werden? Alle diese Fragen zu beantworten erfordert den raschmöglichsten Ausbau der Wissenschaftsforschung.
Schwieriger Ausbau von Forschung und Lehre
Wegen ihrer unbestreitbaren vielfältigen Relevanz und ihres «komplexen Forschungsgegenstandes» stellt diese «Überwissenschaft» freilich ganz besondere Probleme an die Forschungsorganisation und die Lehre. Wer soll und kann denn überhaupt Wissenschaft von den Wissenschaften betreiben? Doch nur die einzelnen Disziplinen in ihren Seminarien und Forschungsinstituten. Auch die Lehre in den Spezialdisziplinen der Wissenschaftssoziologie, -ökonomie, -geschichte, -psychologie - unter Beizug von Biologie, Physiologie, Neurologie, Kommunikationsforschung, Ethologie, Politologie und Linguistik - muss von den «Mutterdisziplinen» übernommen werden. Besonders ist dabei natürlich auf die Koordination der Forschung zu achten, die von einer übergeordneten Stelle zu leisten wäre. Wie aber konstituiert sich eine solche und wer stattet sie mit den notwendigen Kompetenzen aus?
Umgekehrt stellt sich die Frage, wer in den einzelnen Disziplinen die methodologischen und organisatorischen, linguistischen und psychologischen, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen vermittelt. Wo und von wem werden die Lehrer ausgebildet, die über Kenntnisse einerseits des einzelnen Fachgebiets, anderseits der von ihnen zu vermittelnden wissenschaftlichen Grundprobleme verfügen müssen? Wenn beispielsweise auf der Nachdiplomstufe Spezialwissenschafter mit den tausend Fragen der «Wissenschaft von der Wissenschaft» vertraut gemacht werden sollen, wer kann vorgängig dieses umfassende Wissen vermitteln, das von den also doppelt «gebildeten» Hybridwesen mit dem Etikett «Spezialist/ Generalist» in die einzelnen Fächer hineingetragen wird?
Es sieht so aus, als müsste diese «übergeordnete Stelle» nicht nur ein «Führungs»-Gremium, sondern gleichzeitig ein Forschungs- und Lehrinstitut sein, nicht nur eine Schalt- und Dokumentationsstelle, sondern auch eine Bildungsstätte. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage nach dem Zeitfaktor. Wie lange dauert es, wie lange darf es dauern, bis fundierte und konsolidierte Ergebnisse der «Wissenschaft von der Wissenschaft» vorhanden und Methodologen, Wissenschaftstheoretiker, Epistemologen, Modelltheoretiker oder Terminologen ausgebildet sind?
Eine gesamtschweizerische Aufgabe!
Es ist nach alledem nicht verwunderlich, wenn der Wissenschaftsrat sich nicht nur die Anliegen der Einzeldisziplinen nach mehr Grundlagen- wie empirischer Forschung, nach der Errichtung von Instituten, Datenbanken und Methodenzentren und der Durchführung von Seminarien sowie nach mehr Information und Koordination zu eigen macht, sondern eine systematische Wissenschaftsforschung zur gesamtschweizerischen Aufgabe erhebt.
Dabei bedauert er, dass bislang nur eine einzige institutionalisierte Gruppe - unter Professor Jean Piaget in Genf - sich mit Teilen dieses Fragenkomplexes befasst. Auch gingen die Wünsche nicht in Erfüllung, dass die Arbeit der oben erwähnten eigens für die Wissenschaftsforschung zusammengesetzten Expertengruppe weitergeführt werde - obwohl sie sich «über die hohe Relevanz dieser Forschungsrichtung einig» war - und «auf nationaler Ebene die notwendigen Schritte zur Förderung der Wissenschaftsforschung unternommen werden sollten». Ebenso ist die Schaffung einer Studiengruppe für Wissenschaftsforschung, der auch führende ausländische Fachspezialisten angehören sollten, frühestens dann möglich, wenn der Bundesrat die Mittel zur Sonderförderung bereitgestellt und deren Verteilungsschlüssel genehmigt hat.
Eine wahrlich grosse Aufgabe harrt noch der weiteren Abklärung und der tatkräftigen Inangriffnahme.
Anmerkungen
1 Jean Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 6, Frankfurt am Main 1973 (aus dem Englischen, 4 Vorträge an der Columbia-Universität, 1968). 2 Obwohl der «Szienti(fi)smus» oft als «Lehre» von der erfahrungswissenschaftlichen Begründungsmöglichkeit einer Wahrheit betrachtet wird, ist er viel eher eine Haltung, die in einer Überbewertung von Wissen oder Wissenschaft (lat. «scientia») alles auf wissenschaftlichem Wege zu erklären und zu beweisen sucht. Sein Gegenstück, der Fideismus, verabsolutiert freilich ebenso einseitig den Glaubens- oder Vertrauensstandpunkt.
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