Fragen der interdisziplinären Arbeit
aus einem Manuskript für eine Vorlesung über Interdisziplinarität am INDEL, ETH Zürich, Anfang April 1975; erschienen in „Civitas“, 31. Jg., Nr. 1/2, Oktober 1975, 19-34; hier leicht gekürzt; die Eingangsbetrachtung separt unter dem Titel: „Fragen zur Wissenschaft als Grundlage der interdisziplinären Arbeit“
siehe auch: Frühe Literatur zur Interdisziplinarität (1939-1975)
Was ist eine Disziplin?
... Ist nun die Medizin eine Disziplin, oder sind vielmehr Anatomie, Physiologie, Neurologie, Psychopathologie, Chirurgie, Orthopädie Disziplinen? Oder umgekehrt: Gibt es so etwas wie einen Naturwissenschafter, einen Sozialwissenschafter, einen Geisteswissenschafter; gibt es nicht eher "nur" Meteorologen, Glaziologen oder Genetiker, Mediävisten, Volkskundler oder Psychologen? Damit zusammen hängen die zwei Fragen: Wäre das schon interdisziplinäre Arbeit, wenn ein Physiologe mit einem Psychopathologen zusammenarbeitet? Kann ein einzelner Germanist legitim "die" Geisteswissenschaften, ein Apotheker "die" Naturwissenschaft vertreten?
Von interdisziplinärer Arbeit zu sprechen, ohne solche Fragen zu mindest gestellt zu haben, zeugt von mangelndem Problembewusstsein. Weiter ist zu fragen: Wie viele Vertreter sind notwendig, bis von interdisziplinärer Arbeit gesprochen werden kann und worin besteht diese "Arbeit"? Kann auch ein einzelner interdisziplinär arbeiten? Warum "inter-" und nicht "multi-" oder "con-" oder "meta-", "supra-" oder "pan-"disziplinär?
Die Abgrenzungen von Disziplin, Unterrichts- oder Lehrfach und Forschungsgebiet oder -richtung sind vage, damit müssen wir uns abfinden. Je nach Aufteilung haben wir mit etwa drei bis fünf Dutzend "Grund-" oder "Primär"-disziplinen zu rechnen. Ohne weiteres lassen sich aber auch 100 oder 200 daraus machen. Ähnliches gilt für die Fakultäten, Departemente, Abteilungen, Fachbereiche und dergleichen. Es sind meistens, aber nicht immer, Gruppen von Disziplinen. Sicher ist die historische Entwicklung für die vielen verschiedenen Arten von Unterteilungen und Gruppierungen verantwortlich
Auf die "Vertretung" von Gruppen oder auch nur Disziplinen sollte deshalb wohl verzichtet werden. Es ist doch zweifelhaft, ob ein Biochemiker das ganze Fach Biologie oder Chemie vertritt oder vertreten kann, ja ob ein Testpsychologe auch für den Entwicklungspsychologen oder Tiefenpsychologen sprechen kann. Gegenstand, Methode und Terminologie differieren von Fall zu Fall recht deutlich, Am besten ist es also, diese Vertreter kurzerhand "Spezialisten" oder "Fachleute" zu nennen.
Verflechtung und Zersplitterung
Gegenstand, Methode, Terminologie. Diese drei sind es, die zu einem grossen Teil die je verschiedenen Fächer bestimmen. Freilich ergeben sich da bei einer Unterteilung dieselben Probleme. Der Mensch beispielsweise ist Gegenstand von Medizin, Psychologie und Anthropologie, er ist aber auch bestimmend für Politologie, Soziologie, Ökonomie, Jurisprudenz, usw. Mit den Methoden ist es ähnlich. Zum Teil benützen "verschiedene" Disziplinen dieselben Methoden, beispielsweise Germanistik, Geschichte und Religionswissenschaft die Textinterpretation, seltener aber benützen sie dieselbe Sprache. Da ergeben sich zahlreiche "Verwandtschaften" übers Kreuz und quer durch alle Wissenschaften.
Aus der Einsicht in solche Probleme und Zusammenhänge entstand unter anderem die Forderung nach Interdisziplinarität, und zwar in einem doppelten Sinne als
Die naheliegendste Art solcher Interdisziplinarität findet sich im Bemühen eines einzelnen, sich einen Überblick über alle Wissensgebiete zu verschaffen. Es sei nur an das grosse Ideal der Renaissance, den "uomo universale" erinnert. Im allgemeinen werden Leibniz und Euler als letzte Universalgelehrte betrachtet, doch gibt es auch im 19. Jahrhundert noch zahlreiche umfassend gebildete Menschen wie Auguste Comte, John Stuart Mill, Hermann von Helmholtz und Herbert Spencer, etwas weniger auch Ernst Mach, Henri Poincaré, Wilhelm Wundt und Gustave le Bon. Für das 20. Jahrhundert können etwa Albert Schweitzer, Bertrand Russell, John Dewey, Hans Driesch, Hermann Weyl und Isaak Asimow genannt werden. Doch schon im 19. Jahrhundert war es zusehends schwieriger geworden, sich noch einen Überblick über die zahlreichen Wissensgebiete zu erwerben, nahm doch die Zersplitterung der Wissenschaft rasch ungeahnte Ausmasse an, entstanden viele neue Wissenschaften wie Agrochemie, Physikalische Chemie, Soziologie, Psychologie usw. und wurde schliesslich die praktische Forschung, sei es im chemischen oder physikalischen, im psychologischen oder elektrotechnischen Labor immer bedeutsamer.
Zwar hab es nach der Jahrhundertwende noch mehrere Versuche, die Wissenschaften als Gesamtheit in ein "System" zu bringen, doch die Übersicht ging schnell verloren. Daran konnte auch das Bemühen des sog. "Wiener Kreises" in den dreissiger Jahren um eine "Einheitswissenschaft ", noch die Einführung des "Studium Generale" an den deutschen Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg viel ändern. So begann man sich eben mit der bescheideneren Forderung nach "Team-work" und interdisziplinärer Arbeit zu begnügen. "Bescheiden" bedeutet hierbei keineswegs, dass auch die Projekte, auf die man nun viele "verschiedene" Fachleute ansetzte, klein gewesen seien. Im Gegenteil: Es entstand die sogenannte "Grossforschung".
Grossforschung
Unter Grossforschung ("Big Science") kann man zweierlei verstehen:
Neben den Atomprojekten nennt De Solla Price die Herstellung des Penicillins, die Entwicklung des Radars und der elektronischen Rechenmaschinen als erste Beispiele der Grossforschung, alle datiert um das Jahr 1940. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch schon frühere Ansätze, so etwa die grossen Sternwarten oder die elektrostatischen Generatoren im Holland des 18. Jahrhunderts. Einen Markstein setzte, so können wir ergänzen, das chemische Labor des Justus von Liebig im Giessen der 1830er Jahre.
Handwerkszeug von De Solla Prices Untersuchungen sind statistische Analysen. Dahinter steckt die Beobachtung, dass Wissenschaft exponentiell wächst, also wie ein Kapital mit Zinsen, d. h. sie multipliziert sich in gleichen Zeiträumen mit dem gleichen Faktor. De Solla Price exemplifiziert das an der Zahl von Wissenschaftern wie an der Zahl ihrer Publikationen. Dass diese Grössen nicht ins Uferlose wachsen können, ist ohne weiteres verständlich und begründbar: "Alle die anscheinend exponentiellen Wachstumsgesetze müssen letztlich logistisch werden, und dabei ergibt sich notwendig eine Krisenperiode." Vielleicht stecken wir heute bereits in einer solchen. "Die neue Epoche zeigt alle bekannten Symptome der Sättigung. Hier muss ich hinzufügen, dass dies mehr Hoffnung als Verzweiflung erwecken sollte. Sättigung bedeutet selten Tod, sondern vielmehr, dass wir am Anfang neuer und erregender Arbeitsweisen der Wissenschaft stehen, bei denen man nach ganz neuen Grundsätzen vorgeht" (2).
In unserem Zusammenhang besonders interessant ist die Zunahme kollektiver Arbeiten. Stammten beispielsweise im Jahre 1900 über 80 % der Veröffentlichungen in den "Chemical Abstracts" aus der Feder eines einzigen Autors, so waren es 1959 nur noch etwa 35 %. Der Rest stammt von dem Teamwork von zwei Autoren (15 resp. über 30 %) oder mehr. Sollte dieser Trend weitergehen, gäbe es 1980 keine Aufsätze mehr von nur einem Autor, dafür hätten die Hälfte aller Aufsätze drei und mehr Verfasser (3). Jedenfalls wird Zusammenarbeit immer ausgeprägter.
Bestürzend ist jedoch ein ganz anderer Punkt: das Geld. De Solla Price stellt fest, dass die Ausgaben für die Wissenschaft mit dem Quadrat der Anzahl der Wissenschafter wachsen. In den USA stiegen die Kosten für Forschung und Entwicklung von 1950 bis 1960 von 3 auf 13 Milliarden Dollar, was mehr als eine Verdopplung alle 5 Jahre bedeutet (4).
Das gilt erstaunlicherweise auch für die Schweiz, betrugen doch etwa die Bundesausgaben für "Unterricht und Forschung" 1950 40 Millionen Franken, 1970 gut 16 mal mehr, nämlich 660 Mio. Fr., und für 1975 sind 1536 Mio. budgetiert. In diesen Beiträgen sind die Forschungsaufwendungen der Privatwirtschaft nicht enthalten. Schon 1969 betrugen diese (soweit es multinationale Schweizer Konzerne betrifft, auch im Ausland) 1,5 Milliarden Franken (1974: ca. 2 Mia.), wobei 60 % auf die chemische und über 30 % auf die Maschinenindustrie entfielen. Bekanntlich tragen in der Schweiz die privaten Unternehmen über 80 % der gesamten Forschungsausgaben.
Schuld an dieser exorbitanten Kostensteigerung ist selbstverständlich nicht die interdisziplinäre Arbeit, es sind vielmehr, wie etwa im Gesundheitswesen, die steigenden Personalkosten und der Aufwand für Anlagen und Apparaturen. Im Bereich der Wissenschaft sei nur etwa auf das SIN in Villigen oder das Biozentrum in Basel verwiesen. Auch verläuft die Entwicklung nicht in allen Disziplinen gleich rasant. Religionswissenschaft, Völkerkunde, Kulturtechnik und Vermessung, Sport-, Musik. oder Militärwissenschaft führen bei uns ein Mauerblümchendasein sowohl was die Anzahl der Wissenschafter resp. Studenten als auch die finanziellen und apparativen Aufwendungen betrifft.
Problemorientierte Erforschung komplexer Gegenstände
Dennoch spielt die interdisziplinäre Arbeit eine gewisse Rolle, vor allem - und hier kommen wir wieder zur ersten Auffassung von Grossforschung zurück - weil sich die Forschung zusehends auf ehrgeizige Projekte oder ganze Problembereiche konzentriert und damit ausserordentlich aufwendig wird. Diese Problemorientierung ist eine ganz bedeutsame Entwicklung, welche die Wissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat. Es wird nicht mehr ausschliesslich gefragt: Wie stelle ich eine bestimmte Substanz her, wie baue ich eine Fabrik, wie sind die Gedichte Brechts zu interpretieren oder wie ist ein bestimmter Gesetzesparagraph auszulegen?, sondern man untersucht ganze Problem-"Komplexe", beispielsweise:
Damit lässt sich interdisziplinäre Arbeit bestimmen als Erforsch komplexer Gegenstände durch mehrere Fachleute. Es geht dabei nicht darum, die klassischen Gegenstände, wie etwa "der Mensch" oder die "unbelebte Natur" zu ersetzen, sondern vielmehr werden sie
Somit ist nicht mehr der Mensch unter dem Skalpell des Anatomen, sondern der Mensch als Wesen, das sich ernährt, arbeitet, leidet, kommuniziert, usw. Gegenstand der Forschung, nicht mehr die Natur als anorganisches Sein, sondern die Natur als Rohstoff- und Energielieferant, die Erde als Wohnstätte und Lebensraum des Menschen, seine Existenz bedingend und durch ihn massive Eingriffe erfahrend.
Die moderne Forschung hat sich also mindestens so "hohe" Aufgaben gestellt wie das in früheren Jahrhunderten die Suche nach den "Bausteinen der Materie", den "ewigen Naturgesetzen" oder dem, "was die Welt im Innersten zusammenhält" (Goethe), darstellte. Dabei ist freilich eine gewisse Voreiligkeit nicht zu übersehen. Bevor diese, wenn man will, metaphysischen Fragen eindeutig geklärt und beantwortet worden sind, vor allem, was Gesetze im Bereich des Politischen, Wirtschaftlichen, Sozialen, Seelischen, Künstlerischen betrifft, hat man sich schon auf noch schwierigere gestürzt, heissen sie nun Gesundheit, Bildung oder Lebensqualität, Konjunkturpolitik oder Förderung des Öffentlichen Verkehrs, Welternährung, Umweltschutz oder Friedenssicherung.
Sind uns die Probleme über den Kopf gewachsen?
Interdisziplinäre Arbeit ist hiefür unabdingbare Notwendigkeit. Doch wie soll sie aussehen, wie kann sie überhaupt stattfinden, wenn in vielen Bereichen kaum eine Handvoll gesicherter Erkenntnisse vorhanden ist, nur Bibliotheken voller Hypothesen und Ansätze? Findet interdisziplinäre Arbeit etwa auf dem Niveau eines gepflegten Dilettantismus statt, besteht sie vorwiegend im Debattieren und Beratschlagen in Arbeitsgruppen und Kommissionen, oder ist sie gar ein Alibi für Vernachlässigungen in einzelnen Fachgebieten oder auch im politischen und wirtschaftlichen Sektor? Können wir es uns weiterhin leisten, dass die meisten unserer praktischen Unternehmen den Charakter von Not- oder Scheinlösungen, von Symptombekämpfungen oder Feuerwehrübungen tragen?
Das Problem "interdisziplinäre Arbeit" verweist also auf verschiedene Weise stets auf das Problem Wissenschaft und darüber hinaus auf die Frage nach dem menschlichen Tun und Lassen, Wollen und Können, Sollen und Dürfen zurück. Es ist ein Problem nicht nur der "Wissenschaft von der Wissenschaft", sondern auch ein philosophisches Problem, ebenso sehr wie ein existentielles, nämlich ein solches des "Überlebens".
Interdisziplinäre Einzelarbeit und Zusammenarbeit
Bei dieser Andeutung soll es bleiben. Dennoch soll die Interdisziplinarität noch etwas nähere Betrachtung finden. Dass sie von einem einzelnen ausgeübt werden kann, wurde bereits dargelegt. In unserem Jahrhundert gelang es beispielsweise dem durch seine Affenversuche bekannt gewordene Psychologen Wolfgang Köhler Gestaltprinzipien auch in der Physik nachzuweisen ("Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand", 1920); daraus entwickelte er das Konzept der "Isomorphie", ein zentraler Bestandteil der heutigen Systemwissenschaft.
Recht häufig kommt es vor, dass Mathematiker, Physiker oder Biologen, aber auch Psychologen, Historiker, Juristen und andere Philosophie betreiben oder gar Lehrstühle für Philosophie bekleiden; so war etwa Ernst Mach der Reihe nach Ordinarius für Mathematik, Physik und Philosophie. Carl-Friedrich von Weizsäcker machte sich einen Namen als Atom- und Astrophysiker wie als Philosoph und Friedensforscher. Der Physiker Pascual Jordan wagte sich nicht nur in das Gebiet der Biophysik, sondern auch der Religion und der Tiefenpsychologie vor (z. B. "Verdrängung und Komplementarität", 1947). Eine der besten Schilderungen interdisziplinären Bemühens gab Norbert Wiener in der Einführung zu seiner "Kybernetik" (1948).
Die Zusammenarbeit zweier Forscher ist in diesem Jahrhundert weit verbreitet; genannt seien etwa das Ehepaar Curie, die Mathematiker Hilbert und Minkowski, Russell und Whitehead ("Principia Mathematica", 1910-13), Vater und Sohn Bragg, die Bemühungen von Weyl und Einstein um eine einheitliche Feldtheorie (ab 1918), die Arbeiten auf dem Gebiet der Atomkernumwandlung durch Cockroft und Walton, die Begründung der "One gene - one enzyme"-Theorie durch den Biologen Beadle und den Biochemiker Tatum oder die Zusammenarbeit des Philosophen Karl Jaspers mit dem Biologen Adolf Portmann oder diejenige des Tiefenpsychologen C. G. Jung mit dem Mythenforscher Karl Kérenyi ("Einführung in das Wesen der Mythologie",1941) und dem Physiker Wolfgang Pauli ("Naturerklärung und Psyche", 1952). Je nachdem fanden diese Arbeiten in derselben Disziplin statt oder, wenn man Bezeichnungen aus dem Bereich der Politik nehmen will, "bilateral" oder "paritätisch", je nachdem handelte es sich um persönliche Freundschaften oder Interesse an einer gemeinsamen Aufgabe. Letzteres war auch massgebend für die sogenannten "Social Surveys", für die seit der Jahrhundertwende beträchtliche Mittel aufgewendet wurden.
Solche Zusammenarbeit kann sich ausweiten - man denke etwa an das Quartett Watson-Crick-Wilkins-Franklin - oder sie kann institutionalisiert werden; man spricht dann naheliegenderweise von Instituten. Als erste Grossforschungsinstitute kann man die Labors der petrochemischen und elektrotechnischen Industrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachten, denen dann etwa die Kaiser-Wilhelm-Institute in Deutschland (ab 1911) und das legendäre Cavendish-Laboratorium in Cambridge (GB) folgten. Heute haben sich solche Institute zu riesigen Komplexen ausgewachsen wie etwa das CERN oder das amerikanische Kernforschungszentrum Oak Ridge.
Hinzu kommen die sogenannten "Think Tanks", die zum Teil mehrere Tausend Mitarbeiter beschäftigen und über Jahresbudgets bis zu 60 Millionen Dollar verfügen. Mit weitaus geringeren Mitteln kommen die Institute für "Advanced Studies" (z. B. in Princeton, Dublin und Stanford) aus, da hier vor allem "geistige" Grundlagenforschung betrieben wird.
Damit haben wir freilich schon den Sprung von einem Forscherpaar zu "vielen" verschiedenen Fachleuten gemacht, wobei es selbstverständlich keine Vorschriften für deren Anzahl gibt. Am "Projekt Manhattan" arbeiteten 200'000 Forscher, Ingenieure und Techniker. Das Unternehmen kostete denn auch 1,5 oder 2 Milliarden Dollar. Für das Unternehmen "Mondlandung" wurde noch einiges mehr an Arbeitskräften, Anlagen, Apparaten und Geld eingesetzt.
Wer soll beteiligt sein?
Was ist nun dabei interdisziplinär, und worin besteht die Arbeit? Dem Namen nach findet interdisziplinäre Arbeit nur zwischen Wissenschaftern statt. Da kommt wiederum die Frage der Abgrenzung ins Spiel: Sind einerseits Studenten schon - oder erst Diplomanden und Doktoranden -, Ingenieure und Techniker noch als Wissenschafter zu bezeichnen. Vielleicht ist man geneigt, das zu bejahen. Wie steht es aber mit den Handwerkern, den Mechanikern, Laboranten und Zeichnern, den "Praktikern", die nicht nur "Hilfskräfte" sind? Schon der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal bedurfte für die Herstellung seiner Rechenmaschine (1642) der Hilfe einiger Uhrmacher, und der Ingenieur Werner von Siemens, der Erfinder des Dynamos, tat sich 1847 mit seinem Mechaniker J. G. Halske zusammen - der übrigens auch für den Arzt Emil Du Bois-Reymond Messgeräte baute -, daher der Firmenname "Siemens & Halske ". Einer der fähigsten Mitarbeiter des Schweizer Astrophysikers Fritz Zwicky an den kalifornischen Sternwarten war Maultierführer und Abwart; mit ihm zusammen entdeckte er unter anderem die Humason-Zwicky-Sterne. Daher Zwickys provokative These: "Jeder ein Genie!" (5)
Die Frage der Beteiligten oder "Vertreter" stellt sich also nicht nur bezüglich der Disziplinen, sondern auch bezüglich der ausserwissenschaftlichen Berufsgruppen und Verbände. Kann man den Problemkomplex "Landwirtschaft" ohne Mitarbeit von Bauern und Politikern, aber auch Konsumenten und Naturschützern, den Problemkomplex "Gesundheit" ohne Mitwirkung von Pflanzensammlern, Drogisten, Krankenpflegern, Köchen, Patienten und wiederum Politikern und "gewöhnlich Sterblichen", aber auch Apparatebauern, Sozialarbeitern und Lehrern, usw. angehen?
Gewiss ist die Auswahl der Teilnehmer je anders für ein Hochschul- oder Dienstleistungs-Institut, ein Labor in der Privatwirtschaft, eine Behörde, eine Kommission mit öffentlichem Auftrag oder eine Arbeitsgruppe engagierter Studenten und Assistenten. Auch die Grösse der Gruppe, die Dauer der Arbeit, die Hilfsmittel - auch externe wie z. B. Computerzeit - und Kosten werden je verschieden sein. Beachtung verdient auch die Möglichkeit, externe Mitarbeiter beizuziehen oder sporadische Teilnahme zu erlauben. Richtlinien hiefür lassen sich vorderhand freilich kaum aufstellen.
Organisation, Planung, Ablauf
Die Arten der interdisziplinären Arbeit können ebenfalls weit differieren, kann es sich doch handeln um:
Die ganze Skala klassischer wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer "Arbeit" kann somit "interdisziplinär" durchgeführt werden.
Unbestritten wird sein, dass dies nicht summativ, sondern integrativ erfolgt. Nur Gutachten von Spezialisten aneinander zu reihen oder Referate und Statements in Serie aufzunehmen oder abzugeben, machen noch keine interdisziplinäre Arbeit aus. Es muss also ein integrierendes Prinzip vorhanden sein, und das könnte entweder das Forschungsproiekt oder eine universale Betrachtungsweise wie der System-Ansatz sein.
Wird vom Forschungsprojekt her vorwiegend die Organisation eines interdisziplinären Instituts oder einer Arbeitsgruppe bestimmt werden können, so vom Systemansatz her die Arbeitsmethodik. Für die Organisation sei hier nur auf die drei Schlagworte "Baukastensystem", "Flexibilität" und "kollegiale Leitung unter partnerschaftlichem Beizug eines Beraterteams" hinbewiesen. Was die Arbeitsmethodik betrifft, so ist im vorliegenden Aufsatz bereits manches angedeutet worden. Grundprinzip ist das Fragenstellen in Schritten. Diese, oft geradezu ins Philosophische gehende, ständige Reflexion muss die drei Grundphasen der interdisziplinären Arbeit begleiten:
Damit einher geht die Aufstellung und laufende Revision des Forschungsprogramms, das vor allem den Aufwand in personeller, zeitlicher und finanzieller Hinsicht, die Verfügbarkeit von Hilfsmitteln und den Beizug von Beratern und externen Mitarbeitern sowie die Abstimmung mit andern Forschungsproiekten, aber auch die Möglichkeit der Weiterbildung festlegt. Gerade der letztere Punkt ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, ist es doch für die einzelnen Mitarbeiter wichtig, dass sie sich einerseits über den neuesten Stand ihres eigenen Fachgebiets bezüglich der anfallenden Fragen des interdisziplinären Projekts auf dem laufenden halten und sich anderseits mit der interdisziplinären Arbeit selbst vertraut machen können, was am besten in dieser Arbeit selbst geschieht, jedoch stete Besinnung auf dieses Tun erfordert, nämlich auf den Prozess der gemeinsamen Erkenntnisfindung, welches auch ein Lernprozess ist.
Sowohl der intensive fachliche Erfahrungsaustausch in einer interdisziplinären Gruppe als auch die permanente Reflexion über die Gruppenarbeit, über Vorgehen und Ziele, Schwierigkeiten und Kritik, Enttäuschung und Ungleichgewichte stellen an jeden Mitarbeiter hohe Anforderungen. Sie bedeuten auch eine grosse, häufig auch menschliche Belastung. Es ist wohl nicht einfacher, aber meist leichter, in einem umrissenden Fachgebiet zu arbeiten und nur bei Bedarf - den man selbst bestimmen kann - "über die Grenze zu schauen" als in Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, welche die Fachkompetenz, das Selbstbewusstsein und die Verständigungsbereitschaft auf eine harte Probe stellen (6).
Man könnte sich allerdings vorstellen, dass dies durchaus zum heutigen Wissenschaftsbetrieb gehören müsste. Schliesslich war Wissenschaft noch nie eine Waldspaziergang und kann es angesichts der vielen riesigen anstehenden Probleme erst recht nicht sein. Überdies kann man unter Arbeit sowohl Zusammenarbeit als auch Wettstreit verstehen; vielerorts wird heute die Meinung vertreten, Kooperation und Kompetition gehörten unabdingbar zusammen. Das ist natürlich anstrengend.
Die vier Hauptarten von Interdisziplinarität
Im angelsächsischen Raum wird nun nach Erich Jantsch (7) zwischen mindestens vier Arten von solcher interdisziplinärer Arbeit unterschieden:
1. "pluridisciplinarity": Zusammenarbeit ohne Koordination; z. B. Meinungsaustausch (isolierte Statements), Erfahrungsaustausch und Gespräch (Diskussion, Argumentation), d. h. Begegnung bis Auseinandersetzung beispielsweise an Arbeitssitzungen und Symposien.
2. "crossdisciplinarity": Unterwerfung unter die Axiomatik einer einzelnen Disziplin (wie etwa Physik, Technik, Psychologie, Soziologie, Ökonomie), was die Gefahr eines Physikalismus, Technizismus, Psychologismus, usw, heraufbeschwört, d. h. etwa die Meinung, alles Leben sei allein aus physikalisch-chemischen Gesetzen ableitbar und erklärbar, alle Probleme seien durch eine Verbesserung und gezielteren Einsatz der Technik lösbar, alles sei psychologisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich bedingt. Dieser methodische oder weltanschauliche Hegemonieanspruch einzelner Disziplinen zeigt sich z. B. wenn "externe" Spezialisten nur fallweise als Berater zugezogen werden oder wenn (wie das schon lange der Fall ist) sog. "Hilfsdisziplinen" beigezogen werden.
3. "interdisciplinarity": Koordination mit Hilfe eines höherstufigen Konzepts; das ist die eigentliche interdisziplinäre Arbeit in einen Labor oder Institut. Die Frage ist nur, von wem und wie dieses übergeordnete Konzept ausgearbeitet wird oder bereits festgelegt worden ist.
4. "transdisciplinarity": vielstufige Koordination eines ganzen Bildungs- und Forschungssystems, wobei die beteiligten Wissenschafter zusehends ihre "Identität" als Fachvertreter verlieren. (Johan Galtung behauptet das etwa für den neuesten Stand der Arbeiten im Osloer Institut für Konflikt- und Friedensforschung).
Die ersten drei Arten werden bei uns auch gepflegt.
Kritik und Wünsche der Öffentlichkeit
Nun wird aber der Begriff "interdisziplinär" noch in einer anderen Bedeutung verwendet: Er ist "das Kennwort einer wissenschaftskritischen Einstellung, die vom blossen Unbehagen am Spezialistentum bis zur ausdrücklichen Rückforderung der Einheit der Wissenschaft reicht. In jeder ihrer Formen wird diese Einstellung in stärkerem Mass von der ausserwissenschaftlichen Öffentlichkeit als von den Wissenschaftern selbst und dem sozialen System Wissenschaft, dem sie angehören, getragen" (8). Unter dieser Öffentlichkeit kann man Politiker, politische und wirtschaftliche Gruppierungen und Institutionen sowie Bürger verstehen, die einerseits ihrem Misstrauen über das, was hinter den geschlossenen Türen der Labors und Institute vor sich geht, Ausdruck verleihen möchten, anderseits durch die Fülle der ungelösten und bedrohlichen Probleme in Bildungs- und Gesundheitswesen, im Städtebau, Strafvollzug und Umweltschutz, in der Energieversorgung und Altenbetreuung, usw. beunruhigt wird. Helmut Holzhey spricht vom "allgemeinen Unbehagen am heutigen Verhältnis zwischen Wissenschaft und moderner Gesellschaft". "Durch interdisziplinäre Zusammenarbeit sollen die Wissenschaften ihre 'Lebensbedeutung' zurückgewinnen" (9).
Interdisziplinäre Arbeit ist also nicht nur von bestimmten Problemstellungen her gefordert, sondern die Allgemeinheit überbindet "heute vermehrt Aufgaben, die man für gesellschaftlich relevant erachtet, gerade interdisziplinärer Forschung" (10). Und hier müssen wieder Fragen gestellt werden:
Integration durch "Interdisziplinen"
Es sieht also ganz so aus, als sei das Problem der interdisziplinären Arbeit, vor allem auch in ihrer Beziehung zur Öffentlichkeit, eingebettet in das Problem Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft, selbst ein derart "komplexes" Problem, dass es seinerseits mittels interdisziplinärer Arbeit als Projekt erforscht werden müsste. Als Instrument bietet sich wiederum der System-Ansatz an, da sowohl die Wissenschaft wie die andern Bereiche "Systeme" darstellen.
Neben der Auswahl und näheren Bestimmung der Forschungsgebiete und der Zuständigkeit der Fachleute wäre dabei vor allem das Problem der sprachlichen Verständigung abzuklären (11). Dass früher weit auseinanderliegende Disziplinen zunehmend dieselben Methoden verwenden - beispielsweise die mathematische Behandlung von Problemen oder die Verwendung psychologischer Tests oder die Durchführung von Umfragen - ist noch keine Garantie dafür, dass auch dieselbe Sprache gesprochen wird. Nicht nur so allgemeine Begriffe wie "Bewusstsein", "Reiz" oder "Gleichgewicht" werden in beinahe jeder Disziplin anders verwendet, sondern auch ganz spezifische wie "Isomorphie", "Potential", "Plastizität", usw.
Daher ist es naheliegend, nach einer gemeinsamen terminologischen Basis zu suchen. Auch als eine solche könnte sich der System-Ansatz sehr wohl fruchtbar erweisen. Eine andere Möglichkeit besteht in der Schaffung einer neuen Disziplin wie etwa Kybernetik, Konflikt- und Zukunftsforschung, Semiotik, Bildungs- und Massenkommunikationsforschung, Informations- und Dokumentationswissenschaft, Anthropologie, Biomedizin, Bionik, Umwelt- und Raumforschung, Urbanistik, Humanökologie, Ergonomie, Sozialtechnologie und Sozialarbeit oder gar Systemwissenschaft (als eine Art "Überwissenschaft", welche die andern neuen Gebiete unter sich vereint). Diese neuen Fächern hätten dann die wissenschaftliche Bearbeitung von bisher "zwischen" den festgefügten klassischen Disziplinen gelegenen Problemkomplexen zu leisten.
Statt dass sich also aus Einzelinitiativen oder durch Druck der Öffentlichkeit interdisziplinäre Arbeit ergäbe, hätten diese neuen Disziplinen eine Leitfunktion. Sie wären es, auf deren Veranlassung bisher in ihren Fachgebieten isoliert tätige Spezialisten zusammengebracht würden. Die Vertreter dieses neuen Fachs wären demnach Spezialisten in der Forschungsplanung und Projektführung, Spezialisten aber auch der interdisziplinären Verständigung, indem sie die Fachsprache ihrer neuen Disziplin den lernwilligen Mitarbeitern aus andern Fächern zur Verfügung stellten. In Anlehnung an die Rolle der Philosophen kann man da durchaus von "Spezialisten für das Allgemeine'" sprechen; Aurelio Cerletti übernimmt dafür aus der Harvard Business Review (1967) den Ausdruck des "new management job: the integrator" (12). (Nicht unbedingt einig gehen kann man dabei allerdings mit der Annahme von Helmut Holzhey (13), auf derselben terminologischen Basis könne auch die "populärwissenschaftliche Darstellung von Forschungsprozessen und -resultaten" stattfinden.)
Vielleicht ist das tatsächlich der einzige gangbare Weg. So sehr man eine weitere Verästelung der Wissenschaft in Sonderdisziplinen bedauern mag, so sehr könnte sich die Herausbildung eines Grüppchens von eigenständigen "Interdisziplinen" als notwendig erweisen, welche die bisherigen Disziplinen unter Hinweis auf die eingangs erwähnten "Verflechtungen" aus ihrer Abkapselung lösen und interdisziplinäre Arbeit initiieren und koordinieren. Dies auch deshalb, weil sonst leicht die Gefahr der "crossdisciplinarity" besteht, also die Unterwerfung der Arbeit unter eine "klassische" Disziplin und die Ausrichtung an deren Methoden, Terminologie und Axiomen oder Erkenntnisidealen, was einer in ihrem Endziel neutralen und alle Aspekte berücksichtigende Behandlung grosser Problemkomplexe wenig förderlich ist.
Dass von einer solchen Art der Lenkung interdisziplinärer Arbeit mannigfache Anregungen in die einzelwissenschaftliche Forschung zurück fliessen können, ist dabei nicht Nebensache, sondern unbedingt wünschenswert, vor allem auch, weil damit der zweite Aspekt von Interdisziplinarität, also die Kritik am herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb und liebgewordenen Grundannahmen, wirksam werden kann. Stammen solche Impulse aus dem wissenschaftlichen Bereich selbst, so sind sie in den meisten Fällen lieber gesehen als wenn sie direkt von der "Allgemeinheit" herrühren.
Hinzu kommt, dass das Ziel der interdisziplinären Arbeit nicht primär im Aufstellen neuer Theorien besteht, sondern vielmehr im Finden oder Entwickeln von Anwendungsmöglichkeiten einzelwissenschaftlich bewährter Theorien, Methoden und Mittel. Man kann diese neuen "Interdisziplinen" ja nicht gleich damit überfordern, dass man von ihnen die Erarbeitung ganzer "kognitiver Systeme von Theoriekomplexen und Methoden" verlangt, für die andere Wissenschaften Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte gebraucht haben.
"Science for Mankind"
Gewiss sind, wie schon die kurze Geschichte - etwa seit 1940 - der "Interdisziplinen" zeigt, ihre Ziele und Absichten meist von ausseruniversitären Auftraggebern, etwa vom Militär, von Grossunternehmen oder Verwaltungen gesetzt, doch in zunehmendem Masse sehen auch diese die Bedeutung "gesellschaftlicher Bedürfnisse". Deren Berücksichtigung über den Umweg von Interdisziplinen und der Verzicht dieser "Pufferdisziplinen" auf die Ausarbeitung eigener Methoden und meist auch Theorien - nicht aber einer verbindenden und verbindlichen Terminologie oder "Metasprache" - dürfte es den traditionellen Disziplinen erlauben, ihr Gesicht zu wahren, ohne dabei der Zementierung eines "Fachidiotentums" bezichtigt zu werden. Jede Disziplin hat die Möglichkeit und das Recht, ihre Eigenständigkeit zu behalten. Indem sie jedoch unter Leitung einer "Interdisziplin" einen Beitrag zu den ihr von dieser vermittelten Anliegen der Öffentlichkeit, von Staat und Wirtschaft liefert, erfüllt sie eine legitime, heute sogar notwendige "gesamtgesellschaftliche Funktion". Und dabei macht sich der in einer interdisziplinären Gruppe arbeitende "Fachvertreter" nicht mehr der "Abweichung" schuldig.
Das hat nicht mit einem Deckmantel noch einer Vertuschung von Verantwortlichkeiten zu tun, sondern es ist wohl die einzige Chance, die historisch gewachsenen Ansprüche traditioneller Disziplinen mit den aktuellen Bedürfnissen der Menschen in der technischen Zivilisation zu verbinden. Auf diese Weise kann sich ergeben, was seit einiger Zeit unter den Schlagworten "Humanisierung der Wissenschaft" oder "Science for Mankind" läuft. So wird der Einzelwissenschafter aus der "Enge" seines Gebiets herausgeführt und gleichzeitig der Öffentlichkeit geholfen, Verständnis für den Sinn und die Grenzen wissenschaftlicher Tätigkeit und Einsicht in das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu gewinnen.
Helmut Holzhey formuliert zusammenfassend: "Von interdisziplinärer Forschung wird gerade erwartet, dass sie jene Bereiche wissenschaftlich aufschliesst, die für die Urteilsbildung des Bürgers besonders relevant sind, und dass sie dabei Vor- und Fehlurteile zu korrigieren vermag, die in der einzeldisziplinär organisierten Wissenschaft oder im Bereich der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungen unerkannt beziehungsweise unaufgedeckt gang und gäbe sind" (14).
Dass somit die interdisziplinäre Arbeit ihre Bedeutung für das Ganze des menschlichen Daseins wie für die Entwicklung der so schillernden, ja zersplitterten und dennoch verflochtenen Wissenschaft als Ganzes ernst nehmen muss, ist nicht mehr zu bezweifeln. Es besteht wenig Grund zur Annahme, dass es hierbei, etwa in Wiederaufnahme der Bestrebungen des "Wiener Kreises", zu einer "Einheitswissenschaft" kommen könnte. Es findet höchstenfalls eine Neuorientierung und Umorientierung der Einzeldisziplinen statt, die in ihrer Vielfalt erhalten bleiben - das gilt auch für die "neuen" Disziplinen, selbst wenn sie sich unter dem Etikett "Systemwissenschaft" zusammenfänden -, so wie auch die Probleme der heutigen Gesellschaft in ihrer Komplexität und Zähigkeit, ja Gegenläufigkeit und nie ganz durchschaubaren Verknäuelung nie zu einem "Einheitsproblem" oder "Einheitsprojekt" werden können. Wissenschaft und Gesellschaft im weitesten Sinne sind zu pluralistisch und zu sehr "Big Problems", oder wie sie ein Vertreter der Heidelberger "Studiengruppe für Systemforschung", Horst Rittel, nennt, "bösartige Probleme" (15), als dass sie je über einen Einheitsleisten geschlagen werden könnten. Ob man das mit dem Gefühl des Bedauerns akzeptiert oder als Ansporn zur Auseinandersetzung, wenn nicht als höchsten Ausdruck oder "Sinn" der "Conditio humana" auffasst, das bleibt jedem einzelnen, dem Spezialisten wie dem Bürger, überlassen.
Anmerkungen
1 Derek J. De Solla Price: Little Science, Big Science; Von der Studierstube zur Grossforschung. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1974, 13f. (Die Vorträge stammen aus dem Jahre 1962; sie erschienen 1963 bei der Columbia University Press.) 2 Siehe 1, Seiten 40 u. 42. 3 Siehe 1, Seiten 98ff. 4 Siehe 1, Seiten 103f. 5 Fritz Zwicky: Jeder ein Genie. Bern: Lang, 1971, 113ff. 6 vgl. Martin Lendi : Voraussetzungen interdisziplinärer Forschung. NZZ 14.2.1974, Nr. 74. 7 Erich Jantsch:
Inter- and Transdisciplinary University - A Systems Approach to
Education and Innovation. Policy Sciences
1 (1970), 403-428. Nach Helmut Holzhey: Interdisziplinarität.
NZZ, 18.12.1974, Nr. 520. 8 Helmut Holzhey im Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband "interdisziplinär". Basel: Schwabe 1974, 105. 9 Siehe 8, Seite 106. 10 Siehe 8, Seite 109. 11 Hierzu Gerhard Frey: Methodenprobleme interdisziplinärer Gespräche. Ratio 15 (1973), 153-172. 12 Siehe Aurelio Cerletti: Dringliche Aufgaben für die interdisziplinäre Forschung. In 8, Seiten 78-88, bes. S. 87. 13 Siehe 8, Seite 120. 14 Siehe 8, Seite 119. 15 Horst Rittel: Bemerkungen zur Systemforschung der "ersten und zweiten Generation". Mitteilungen der Studiengruppe für Systemforschung, Heidelberg, Okt. 1971, 19-20.
Erweiterte Literaturliste siehe: Frühe Literatur zur Interdisziplinarität (1939-1975) Dr. phil. Roland Müller,
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