Home Wende nach innen: Neukonservatismus und New Age

 

Zu Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 (13 Beiträge aus der Zeit 1981-85).

 

Siehe auch:    Innerliche und äusserliche Verwandlungen seit 1939

 

 

Seit etwa 1960 breiteten sich zahlreiche Strömungen aus, die man als technokratisch und sozialtechnologisch bezeichnen kann. D.h. man glaubte an die Durchschaubarkeit wie Gestaltbarkeit von Systemen und Regelungsprozessen.

Dagegen erhoben sich eine Fülle von "Bewegungen", die man unter das Schlagwort "Emanzipation" stellen kann. Dahinter steckte einerseits die Berufung auf Bürgerrechte und Menschenwürde mit dem Wunsch nach Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung, anderseits eine Wiederbelebung der marxistisch-leninistischen Agitation. Die Spannweite reichte von den Blumenkindern der Hippiebewegung bis zum Terrorismus. Es waren zwei ausserordentlich bewegte Jahrzehnte.

 

Die Enttäuschung der 80er Jahre

 

Gegen Ende der 70er Jahre erlahmten die meisten Strömungen, sowohl die technokratischen wie die revolutionären. Die Enttäuschung war so gross, dass man 1980 das Schlagwort "No future" prägen und der neugewählte deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl von einer "geistig-moralischen Krise" sprechen konnte.

 

Einer der Gründe für die Ernüchterung war die Rezession nach dem Ölschock vom Herbst 1973 gewesen, der bald (1980-82) eine weitere folgte. Überdies waren manche des revolutionären Getümmels müde geworden und forderten wieder eine Wende nach innen. Eine solche kann auf zwei Arten geschehen: entweder durch Besinnung auf "die alten Werte", die mehr äusserlich sind, oder durch einen Rückzug auf sich selber, die eigenen Gefühle und die "Spiritualität".

 

So bieten sich seither zwei ähnlich konservative Orientierungshilfen an: Neokonservatismus und New Age. Jürgen Habermas, einst prominenter Vertreter der Kritischen Theorie, ist ein besonders scharfsichtiger Beobachter des Zeitgeistes. In seiner Sammlung von Reden und Aufsätzen unter dem Titel "Die Neue Unübersichtlichkeit" (1985) hat er die neuen Strömungen in scharfen Strichen gezeichnet.

 

Konservative Gruppen

 

In den USA unterscheidet er neben den resignierten Linken und Liberalen drei Gruppen von Konservativen (30):

  • die eher katholisch orientierten,
  • die protestantischen Fundamentalisten - die sich zur Neuen Rechten formiert haben – und
  • die neokonservativ gewordenen Liberalen.

 

Der Neokonservatismus propagiert in der amerikanischen Variante eine Rückverlagerung der Probleme vom Staat auf den Markt, in der deutschen Variante eine Rückbesinnung auf den unverbildeten common sense, die gesunde Tradition und die bindenden Kräfte der Religion. Ähnlich konservativ besitzstandwahrend ist die Sozialdemokratie.

 

New Age und Neue Soziale Bewegungen

 

New Age dagegen kann als "eskapistische Gegenkultur" bezeichnet werden. Ferner "sammeln sich beispielsweise in den Neuen Sozialen Bewegungen der Bundesrepublik Minderheiten der verschiedensten Herkunft zu einer 'antiproduktivistischen Allianz' - Alte und Junge, Frauen und Arbeitslose, Schwule und Behinderte, Gläubige und Ungläubige" (155; vgl. 247). Diesen "Dissidenten der Wachstumsgesellschaft" geht es "um die Unversehrtheit und Autonomie von Lebensstilen, etwa um die Verteidigung traditionell eingewöhnter Subkulturen oder um die Veränderung der Grammatik überlieferter Lebensformen. Für das eine bieten regionalistische Bewegungen, für das andere feministische oder ökologische Bewegungen Beispiele“ (159).

 

In Frankreich hat unter Berufung auf Konrad Lorenz ein "ethologischer Strang" zur Neuen Rechten geführt. Das Gegenstück dazu bildet die "radikale Vernunftkritik". Sie wird von den Poststrukturalisten als Fortsetzung der von Nietzsche geübten Ideologiekritik geübt und gelegentlich übertrieben.

 

Obsoletes Gedankengut

 

Man mag die Neokonservativen und New Age mit Habermas für polar halten. In vielerlei Hinsicht sind sie jedoch ähnlich. So versuchen sie je, ihre Freiheit zu wahren: die einen "oben", in der Industriegesellschaft, die andern "unten", in der Lebenswelt. Und neu sind sie allemal nicht.

Die "geistig-moralische Erneuerung" meint eine Rückkehr hinter das 18. Jahrhundert, behauptet Habermas (65; vgl. 218). New Age geht gar auf die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt zurück, z. B. auf die Gnosis und den Mahayana-Buddhismus.

 

Als neokonservativ kann man das wiedererwachte Suchen nach "Unternehmenskultur", ja Kultur überhaupt betrachten, aber auch die Hochstilisierung von Wettbewerbsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen. Das erinnert an den Sozialdarwinismus des letzten Jahrhunderts. Da liegt der Gedanke der Evolution nicht weit. Dieser hat in den 70er Jahren sowohl die Physik als auch die Systemtheorie infiltriert und machte weder vor der Soziologie noch vor der Kritischen Psychologie halt.

 

Was die heutige geistige Lage so unübersichtlich macht, ist die ausserordentlich vielfältige Zusammensetzung der Strömungen, die unter den Etiketten "New Age" und "Grüne" laufen. Kein geringerer als Fritjof Capra betont immer wieder, "New Age" sei eigentlich die Charakterisierung der Hippiekultur der 60er Jahre. Was ihm vorschwebe sei etwas, das weit darüber hinausgehe, und das er als "Rising Culture" bezeichnen möchte. Die breite Öffentlichkeit ist daher mit der üblichen Verspätung von 10 bis 20 Jahren daran, längst Überholtes neugierig zu bestaunen und sich in ausgewählten Häppchen einzuverleiben.

 

Ähnlich obsoletes Gedankengut findet sich bei den "Grünen". Hier haben sich die aus dem Blickfeld verschwundenen Neuen Linken, die wegen ihrer utopischen oder fehlerhaften Prognosen verlachten Zukunftsforscher, aber auch an ihrem Selbst- und Weltverständnis irre gewordene Liberale und stille Rechte zusammengefunden, die neue Hoffnung schöpfen oder zumindest Morgenluft wittern.

 

Ein frisches Bild des Konservativismus hat einer seiner beredtsten Anwälte in Deutschland, Gerd-Klaus Kaltenbrunner, 1974 gemalt:

 "Konservative Theorie nimmt ihren Ausgang vom Menschen und versteht sich als Beitrag zur Kunst, ein Mensch zu sein.“

 

(Skizze von 1988)

 



Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch