Home Intuition: zwischen geistiger Schau und unbewusster Seelenfunktion

 

Eine chronologische Zusammenstellung von Notizen aus dem Jahre 1988 (ergänzt mit einigen Zeilen vom Oktober 1984)

 

Dazu: Literatur:          Intuition/ Anschauung (1782-2000)

Siehe auch:                Methoden, wie man zur wahren Erkenntnis gelangen kann

Techne - Episteme - Phronesis - Nous - Sophia

                                    Genius, Ingenium, Inspiration, Intuition, usw.

                                    Ganzheitliches Denken und Handeln

                                    Denkarten

 

 

Zur Einleitung

 

Das wichtigste Hilfsmittel bei der Beschreibung eines Ganzen ist die Beachtung des Gegenteils.

Der Lauf der seelischen und geistigen Menschheitsgeschichte ist ja nichts anderes als eine ständige Auseinandersetzung von ganzheitlichem mit nicht-ganzheitlichem Denken und Fühlen, Streben und Handeln. Das liegt einerseits daran, dass wir die Welt grundsätzlich auf unterschiedliche Weise auffassen und deuten können. Anderseits gibt es verschiedene Menschentypen: ganzheitsorientierte und elementaristische, gestaltsichtige und gestaltblinde, Generalisten und Spezialisten.

 

Das ganzheitliche Denken und sein Gegenteil hängen also eng mit den Fähigkeiten und Temperamenten des Menschen zusammen. Weder das eine noch das andere fällt vom Himmel oder lässt sich jemandem aufzwingen. Aber man kann beides blockieren oder fördern, verlernen oder schulen. Daran sind bekanntlich Anlage und Umwelt, also Erbe und Herkunft, Milieu und Gesellschaft beteiligt, aber auch die Selbsterziehung,  d. h. das, was der Mensch aus sich selber macht.

 

Seit Platon: „höhere Schau“ über dem gewöhnlichen Sehen

 

Von den Mysterien her nahm Platon (ca. 370 v. Chr.) seine Unterscheidung von „höherer Schau“ und gewöhnlichem Sehen.

Und nun begann die Verwirrung. Wer schaut? Ist es der neuentdeckte Geist oder die „alte“ Seele oder der Körper in der Liebe?

Alle Varianten wurden in allen nur möglichen Schattierungen in West und Ost durchgespielt. Das ging von der Ideen- oder Wesensschau über Kontemplation, Meditation und Versenkung, Ekstase, Erleuchtung und Einfühlung bis zu Tanz, Rausch und Orgien und Sexualmagie.

 

Seit Aristoteles: Diskursives und intuitives Erkennen

 

„Von den Grundgegebenheiten (oder Prinzipien) werden die einen durch Induktion erkannt; andere durch Intuition (unmittelbare Empfindung), oder der Mensch kommt auf sie durch eine ihm vorher schon zur Gewohnheit gewordene Denkungsart“

Aristoteles: Nikomachische Ethik , I, 7

Zur Induktion auch VI, 3 und 6 (von Sokrates übernommen)

 

 

Zwei uralte Themen der Philosophiegeschichte seit Aristoteles sind das Wechselspiel

- von analytischer und synthetischer Methode und

- von diskursiver und intuitiver Erkenntnis.

Beide Gegenüberstellungen wurden allerdings erst kurz nach der Zeitwende formuliert und zwar durch Galen resp. Philon. Zusammen kommen beide erst bei Pappus (300) vor.

Dabei lag das Interesse eher bei der Analyse und dem diskursiven Vorgehen.

Die Auffassungen wechselten im Laufe der Zeit vielfach.

 

Analyse und Synthese machen das diskursive Erkennen aus. Dem steht nun die Intuition als das "schlagartige Erfassen" des Ganzen oder Einfachen gegenüber.

 

Intuition (oder: intuitus) ist die lateinische Übersetzung für das griechische Wort „epibolé“. Es bedeutete zuerst (bei Epikur, 300 v. Chr.) "das schlagartige Erfassen des ganzen Erkenntnisgegenstandes" im Unterschied zur "partiellen Erkenntnis".

 

200-500 Neuplatonismus: Erkenntnis im Reich des Geistigen

 

Die Intuition spielte vor allem im Neuplatonismus (200-500) eine gewisse Rolle.

Plotin (um 250) stellte die geistige Schau dem diskursiven - d h. durch Überlegungen und Schlüsse erfolgenden - Erkennen gegenüber.

Allein im Reich des Geistigen ist eine intuitive Erkenntnis möglich, während alles welthafte, an sinnfällige Gegenstände gebundene Erkennen der menschlichen Seele notwendigerweise diskursiv ist. Intuitives Erkennen täuscht sich nie, Irrtum aber entsteht durch Synthese von Teilen oder Analyse des Ganzen.

 

2. Jh. Galen: natürliche Analyse als Leistung der Erkenntnis

 

Die Analyse wurde besonders im Bereich der Logik und Mathematik gepflegt. Ihre Anwendung auf reale Objekte war selten.

Eine Ausnahme findet sich beim Arzt Galen (2. Jh.). Er meinte, wie die Baukunst durch Analyse des fertigen Hauses die zum Bau benötigten Teile bestimme, so müsse der Arzt in der Analyse des Körpers dessen Teile, deren Tätigkeiten und Funktionen kennen. Diese „natürliche Analyse“ ist offensichtlich keine chemische, sondern eine Leistung der Erkenntnis. Der Praktiker oder Könner versucht im Geistigen, das Zusammengesetztere in das Einfachere aufzulösen.

 

Später bürgerte sich folgende Bestimmung ein:

  • Die Analyse geht von etwas Vorliegendem oder Vorgelegtem aus, löst es in seine Bestandteile auf und führt es auf seine „Prinzipien“ zurück.
  • Synthese dagegen bedeutet, allgemeine und einfache Prinzipien auf das Besondere und Zusammengesetzte applizieren (Thomas von Aquin).

In einer Formel: Die Analyse führt vom Besonderen zum Allgemeinen, die Synthese schreitet vom Allgemeinen zum Besonderen fort.

 

1270 Thomas von Aquin: zwei Wege der Wahrheitserkenntnis

 

Thomas von Aquin teilt das diskursive Denken anders auf:

  • Der analytische Weg der Wahrheitserkenntnis führt vom Ganzen zum Teil resp. löst Zusammengesetzteres in Einfacheres auf (resolutiva).
  • Durch  den gegenläufigen synthetischen Weg wird die Erkenntnis der Wahrheit vollendet, indem sie vom Teil zum Ganzen gelangt (compositio).

 

1300 Duns Scotus: diskursiv = abstraktiv

 

Johannes Duns Scotus stellte das abstraktive Erkennen dem intuitiven Erkennen gegenüber.

 

1450 Nikolaus von Kues

 

Das Diskursive Denken läuft also „hin und her". Nur auf der höchsten Erkenntnisstufe ist "alles eins" - so etwa bei Nikolaus von Kues, der diese Stufe als "intellektuelle Anschauung" fasste.

 

1578 Jacopo Zabarella: kontemplative vs praktische Wissenschaften

 

In der späten Renaissance lautete eine dritte Version der Analyse-Synthese Dualität:

  • Analytische Forschung geht von der Kenntnis der Zwecke oder Wirkungen aus und fragt nach dem, „was auf den Zweck abzielt“, z. B. Ursachen,  Prinzipien.
  • Das synthetische Vorgehen geht von den Ursachen oder „ersten Prinzipien“ auf den Zweck oder die Wirkung.

 

Wie auch immer, jedenfalls hat Jacopo Zabrella 1578 festgestellt, dass die kontemplativen oder spekulativen Wissenschaften synthetisch verfahren; in ihnen wird das Wissen um seiner selbst willen erworben. Die praktischen Wissenschaften - Naturwissenschaften – bedienen sich demgegenüber der Analyse; in ihnen wird Wissen erworben, um etwas zu bewirken oder zu erreichen.

 

Galilei hat diese Überlegungen fast wörtlich übernommen. Er taufte nur die Analyse in Induktion und die Synthese in Deduktion um. Neu waren bei ihm allerdings die Hypothesensetzung, das reale Experiment und die Mathematisierung.

 

In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bahnte sich also eine Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften an.

Das zeigt sich auch darin, dass damals auch eigenständige Methoden für die Pädagogik, Jurisprudenz, Philologie und Geschichtswissenschaft (Bodin, 1566) entwickelt wurden.

 

Nur kurze Zeit später wies Descartes diese Bemühungen als unwissenschaftlich zurück: Rhetorik, Poetik und Geschichte führen bloss zu „Meinungen“ (opiniones). Nur die Wissenschaft, die rational vorgeht und zu mathematisch-geometrischer Evidenz führt, bietet die Wahrheit.

 

Von daher rührt also der Hochmut der Naturwissenschafter. Diese typisch neuzeitliche Denkweise  bleibt aber „hinter der Renaissance zurück“ (Stephan Otto, 23). Die kartesische Philosophie hat einen unsinnlichen Zug: Die „wahre Wissenserzeugung“  entfremdet sich von der Wahrheitssuche sprach- und geschichtsbewusster Kultur. „Die Liebe der Renaissance zur Welt und Natur ist sinnenbewusst und bleibt deshalb offen für die sinnliche und ästhetische Form des Wissens, die doxa oder ‚Meinung’ – und damit auch für Dichtung, Sprache und Geschichte“ (Stephan Otto, 26).

 

[ Otto, Stephan in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 3: Renaissance und frühe Neuzeit. Stuttgart: Reclam 1984]

 

1580 Giordano Bruno: „Wir suchen Gott in der Schönheit der Dinge“

 

Eine Grundlage für das ganzheitliche Denken legte der Dichter, Logiker, Lehrer und Naturphilosoph Giordano Bruno in seinen Werken der 1580er Jahre.

 

Aus heutiger Sicht könnten wir ihn als letzten Renaissancemenschen oder einen der ersten "Grünen" bezeichnen. Denn die Natur, die von der mittelalterlichen Philosophie und Theologie so oft verachtet oder gering geschätzt wurde, war ihm das Höchste: Sie ist göttlich, ja - als "natura naturans", als immerwährende Schöpfung - Gott selbst. Gott ist der Inbegriff aller Gegensätze, er ist das Grösste und das Kleinste, unendlich und unteilbar, Möglichkeit und Wirklichkeit in einem.

 

Man hat früher Brunos Auffassung als organischen, naturalistischen Pantheismus bezeichnet. Das Universum ist eine lebendige Einheit, deren Leben in allem wirkt und an der alles nur eine "Modifikation" ist. Der Mensch ist ein Mikrokosmos, ein Spiegel des Universums. Seine Seele ist eine Modifikation der Weltseele, die alles durchdringt und alles harmonisch-zweckmässig zu höchster Schönheit zusammenfasst (Rudolf Eisler, 1912).

 

Eine solche dürre Schilderung kann nichts von der Begeisterung und Leidenschaftlichkeit vermitteln, die Bruno erfüllte. Das kann nur die Lektüre seiner Schriften selber, z. B. "Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen" (1977) oder "Über die heroischen Leidenschaften" (1950).

Zwei Zitate:

  • "Wir suchen Gott in dem unveränderlichen, unbeugsamen Naturgesetze, in der ehrfurchtsvollen Stimmung eines nach diesem Gesetze sich richtenden Gemütes, wir suchen ihn im Glanz der Sonne, in der Schönheit der Dinge, die aus dem Schosse dieser unserer Mutter Erde hervorgehen, in dem wahren Abglanz seines Wesens, dem Anblick unzähliger Gestirne, die am unermesslichen Saume des einen Himmels leuchten, leben, fühlen, denken und dem Allgütigen, All-Einen und Höchsten lobsingen."

 

  • "Mich lehren Sinne, Denken und Erwägen,
    Dass in der Tat kein Messen und kein Zählen
    Die Lebenskraft, die Anzahl und die Fülle
    Erfasst, die sich allseitig drängend regt."

 

1637 Descartes geht von der Evidenz aus

 

Siehe auch:    Descartes möchte das „Wohl aller Menschen“ befördern

 

Descartes stellt seine Methode der sicheren Deduktion (1637) auf die Basis einer Evidenz (intuitus mentis).

Seine vier Regeln setzen bei der intuitiven Gewissheit an, nämlich bei dem, "was sich meinem Denken... so klar und deutlich darstellt, dass ich keinen Anlass habe, daran zu zweifeln". Dann erst

(2.) wird das Problem in Teile zerlegt und hernach ein

(3.) ordentlicher und

(4.) möglichst vollständiger Aufbau vorgenommen.

 

Andernorts (um 1628) schildert Descartes das Verfahren der Analyse genauer:

Die Teile müssen auf schon Bekanntes zurückgeführt werden, um so zum jeweils "Einfacheren" zu gelangen. Die Endglieder dieser Vereinfachungsreihe (Deduktion) sind "simplex" und daher ebenfalls durch Intuition fassbar.

 

Leibniz hat die erste Art von Descartes' Intuition, das "clare et distincte" nicht akzeptiert.

 

1714 Leibniz: Das Denken strebt zur Zusammenschau

 

Der Universalgelehrte Leibniz hat Brunos Lehre in seiner "Monadologie" (1714) ausgebaut. Er versuchte, die qualitative mit der quantitativen, die teleologische mit der mechanistischen Weltanschauung zu vereinigen. "Wenn ich auch in der metaphysischen Deutung der Natur so etwas wie ein Parteigänger der Scholastik bin", schrieb er einmal, "so vertrete ich doch auch die korpuskulare Anschauung, wie man es bei der Erklärung physikalischer Phänomene tun muss."

 

Ganzheitliches Denken bei Leibniz bedeutet auch, andere Ansichten ernst nehmen. "Ich finde, dass die meisten Philosophen in einem guten Teil von dem, was sie behaupten, recht haben; nicht jedoch im selben Masse in dem, was sie ablehnen."

Wenn man will, kann man bei Leibniz bereits die "Kraft des positiven Denkens" finden. Dieses Denken ist dynamisch, "strebende Aktivität", und zwar des "ichlich integrierten Weltseins" (H. Glockner 1958).

 

[Hermann Glockner: Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1958]

 

Leibniz hat Descartes („klar und deutlich“) und Spinoza („adäquat“) präzisiert. Das Denken hat nach ihm fünf Stufen:

(1.) Grundstufe ist die "Dunkelheit" der vagen Vorstellungen. Sie kann sukzessive aufgehellt werden, zuerst zur

(2.) "Klarheit", wo die Vorstellung schon Merkmale der Gegenstände betrifft und speichert. Aber da kann noch beträchtliche "Verworrenheit" (Confusion) herrschen, weil noch nicht sauber unterschieden wird. Erst die Reflexion führt zur

(3.) "deutlichen Erkenntnis" (cognitio distincta). Solche haben die Fachleute, z. B. ein Münzwardein, der sich beim Anblick einer Münze nicht nur darüber "klar" ist, dass es sich um ein Goldstück handelt, sondern der die Merkmale des Goldes genau kennt und anzugeben weiss.
Doch die Kenntnisse des Kundigen sind dem Gegenstand noch nicht angemessen; die Unterscheidung wurde nur soweit getrieben, als praktisch notwendig war. Es wären noch zwei weitere Stufen zu durchlaufen:

(4.) nämlich die "adäquate", d. h. angemessene Erkenntnis mit Hilfe von "Zeichen" z. B. der Mathematik - oder heute: der Systemtheorie.
Doch diese "symbolische" Erkenntnis ist noch "blind". Es brauch noch die

(5.) "Zusammenschau des Ganzen" (Intuition), welche eine anschauliche Gesamtvorstellung bietet.

 

Nun ist es aber nicht so, dass die Intuition einfach als Krönung zur adäquaten Distinktheit hinzutritt. "Zusammengesetztes" kann bestenfalls deutlich und symbolisch (4. Stufe) erkannt werden. Nur das "Einfache" ist unmittelbar schaubar (5. Stufe). Was heisst das?

 Leibniz hielt es nicht für einen Widerspruch zu behaupten, die Welt sei durch und durch "einfach" und durch und durch "zusammengesetzt". Dafür brauchte er einen Trick: Er behauptete, weder "Einfaches" noch "Zusammengesetztes" seien für sich allein anzutreffen, sondern sie seien von Anbeginn ineinander, sie stünden in "prästabilierter Harmonie".

 

Unter der „Methode Leibniz“ läuft auch das Motto: Du sollst apperzipieren, d. h. dich nicht einfach früherer Tatsachen oder Wirkungen erinnern, sondern vernünftig schlussfolgern, also „eine unzweifelhafte Verknüpfung der Ideen und unfehlbare Folgerungen herstellen“!

 

1713 Shaftesbury: „Ästhetik der Intuition“

 

Shaftesbury (1713) erarbeitete im Rahmen der Lehre von der Spontaneität des künstlerischen Schaffens eine "Ästhetik der Intuition" und nahm dabei Bezug auf Plotins Schrift "Über das Schöne".

 

1747 Crusius: anschauende Erkenntnis

 

1747 brachte Christian August Crusius den deutschen Begriff «Anschauung» (ursprünglich für lat. contemplatio gebraucht) ins Spiel: «Es ist also die anschauende Erkenntnis diejenige, da man sich ein Ding durch dasjenige vorstellet, was es an sich selbst ist.»

 

Im weiteren unterschied Crusius die mathematische von der philosophischen Methodik.

 

1790 Kant: Nur die Götter haben den intuitiven Verstand

 

Kant hat allerlei umgekrempelt, nicht nur das Verhältnis von Vernunft und Verstand, sondern auch das Verständnis von Intuition. Er kritisierte 1790 z. B. Leibniz und erklärte die Entgegensetzung von symbolischer und intuitiver Erkenntnis für falsch, "denn die symbolische ist nur eine Art der intuitiven"; die andere ist die schematische (KU § 59). Kant meinte, dass durch eine symbolische „Darstellung“ ein Vernunftbegriff auf „analoge“ Weise „zur Anschauung“ komme.

 

Kant behauptete, Analyse setze Synthese voraus, „denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen“ (KU, 150).

 

Im selben Buch (§ 77) verwendet er Intuition nochmals anders: Den Verstand, der "vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besonderen" geht, nennt er diskursiv; denjenigen aber, der "vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als solchen) zum Besonderen geht, d. i. vom Ganzen zu den Teilen", nennt er intuitiv.

 

Es wird behauptet, Kant habe den intuitiven Verstand - als "intellectus archetypus" - allein den Göttern zugeschrieben.

 

1790 Goethe benützt die schauende Urteilskraft

 

Siehe auch:    200 Jahre Morphologie

 

Jedenfalls bezeichnet Goethe diese Auffassung des "Alten vom Königsberge" dreissig Jahre später (1820) als "schalkhaft ironisch".

Er fand, "anschauende Urteilskraft" sei dem Menschen durchaus möglich und ihm selber sei es gelungen, "dass wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihrer Produktion würdig machten".

 

Goethe knüpfte in manchem an Bruno und Leibniz an.

 

Goethe war ja nicht nur der grosse Dichterfürst, sondern zeitlebens auch ein leidenschaftlicher Naturforscher. Schon bevor er 1790 mit seiner Untersuchung über die "Metamorphose der Pflanzen" die Morphologie begründete, schrieb er: "Ich habe eine Vermutung, dass sie (die Griechen) nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin."

 

Der Schöpfung nachspüren, herausfinden, "was die Welt im Innersten zusammenhält", durch "Anschauung des Äusseren zur Einsicht in das Innerste" zu gelangen, das war Goethes Bestreben.

 

Goethe unterschied die übrigen wissenschaftlichen Bemühungen von der Morphologie: "Wissenschaften entfernen sich im Ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück." Diese Rückkehr bietet die Morphologie.

Goethe sah ganz klar, "dass alles Faktische schon Theorie ist", denn: "Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt." Theorien aber "sind gewöhnlich Übertreibungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gerne los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt."

 

Physik und Chemie glauben, "am besten durch Trennung der Teile" zu Kenntnissen zu gelangen. Damit ist zwar das Lebendige in Elemente zerlegt, "aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben". Die Morphologie läst die Kenntnisse der Physiker und Chemiker "nicht ausser Augen", bietet aber mehr, nämlich Ordnung und Ganzheit. Den Physiker interessieren "nur die allgemeinen Verhältnisse der Kräfte und ihrer Stellung und Lage in dem gegebenen Weltraum"; der Chemiker hebt "Gestalt und Struktur" auf und hat bloss acht "auf die Eigenschaften der Stoffe und auf die Verhältnisse ihrer Mischungen“.

 

Die Morphologen dagegen haben die Tendenz, "von der Einheit auszugehen, aus ihr die Teile zu entwickeln und die Teile darauf wieder unmittelbar zurückzuführen". Ja, es ist nicht nur eine Tendenz, sondern ein Trieb, "die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äussern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermassen zu beherrschen."

 

[J. W. von Goethe: Anschauende Urteilskraft. In: Zur Morphologie, Bd. I, Heft 2, 1820. Zusammen mit zahlreichen weiteren Schriften zur Naturwissenschaft, hrsg. von Horst Günther u. d. T.: Anschauendes Denken. Frankfurt: Insel Taschenbuch 1981]

 

Goethes Morphologie breitete sich bald in zahlreiche Wissenschaften aus, wenn auch bloss als Formenlehre und nicht als Gestaltwahrnehmung. Erst im 20. Jahrhundert gelangte sie als "idealistische" Morphologie wieder zu Ehren, vorab bei Biologen, von Adolf Meyer-Abich und Wilhelm Troll bis Adolf Portmann.

 

1769 Herder: Sich in das Angeschaute hinein setzen

 

Ein anderer Gedanken entstand ebenfalls zur Goethezeit. In der Kunsttheorie wurde die „Einfühlung“ in  etwas anderes beschrieben. Sie erlaubt das „Verstehen“.

 

Bei Herder und auch in der Romantik bedeute „Einfühlung“ eine „panpsychische Einsfühlung mit der sinnlichen Natur“, vermerkt das Historische Wörterbuch der Philosophie.

Bei Herder  - im 4. Abschnitt der Plastik“ (1769) – heisst es aber: „... nur innere Sympathie, d. i. Gefühl und Versetzung unseres ganzen menschlichen Ichs in die durchtastete Gestalt, ist Lehrerin und Handhabe der Schönheit“.

 

Bei Schelling (1802) setzt sich das anschauende Subjekt in der „intellektuellen Anschauung“ ausser sich, nämlich in das Angeschaute hinein.

 

Rudolf Hermann Lotze (in „Mikrokosmus“, 1854) sprach von der „Mitfühlung“ in den Dingen.

 

Henri Bergson (1903) lehnte sich wieder an Leibniz an und nahm den Gedanken der Einfühlung auf: Im Unterschied zur symbolischen Erkenntnis oder der Analyse, die "den Gegenstand auf schon bekannte, also diesem und anderen Gegenständen gemeinsame Elemente zurückführt"

  • ist die Intuition "la sympathie par laquelle on se transporte à l'interieur d'un objekt pour coïncider avec ce qu'il a d'unique et par conséquent d'inexprimable".

Auch hier ist also die An-schauung zu einem andern Vorgang geworden: Sich-in-etwas-Hineinversetzen, Ein- oder Eins-fühlung.

 

1801 Fries über die intellektuelle Anschauung

 

Jakob Friedrich Fries habilitierte sich 1801 mit einer Schrift "de intuitu intellectuali". Posthum erschien von ihm die Klarstellung: "Über den Unterschied zwischen Anschauung und Denken" (1847).

 

1869: Eduard von Hartmann verlegt die Intuition ins Unbewusste

 

Im Gegensatz dazu verlegte Eduard von Hartmann (1869) die Intuition ins "Unbewusste"; sie ist ihm „der Pegasusflug des Unbewussten“. Nun ist sie nicht mehr gegen Irrtum gefeit.

Dieses Unbewusste entspricht freilich nicht demjenigen der späteren Psychoanalyse, stellt es doch noch eine Verbindung des irrationalen "Willens" (Schopenhauer) mit der "Idee" (Hegel) dar, also eine Einheit von Trieb und Vernunft als zweckvoll wirkende Urkraft, als Einheit von A-Logischem und Logischem.

 

Zur selben Zeit (1858) brachte Johann Gustav Droysen das „Verstehen“ mit der Intuition zusammen. Bergson knüpfte daran an.

Das Verstehen als Kunst oder Methode heisst „Hermeneutik“ (Schleiermacher).

 

In seiner psychologischen Typenlehre (1921) hat dann C. G. Jung die Intuition ganz dem Irrationalen zugewiesen und dem Denken zur Seite gestellt.

 

1892 Hans Larsson: Prinzip aller dichterischen Erkenntnisse

 

1892 erhob der schwedische Philosophieprofessor Hans Larsson die Intuition zum Prinzip aller dichterischen und auch gewisser wissenschaftlicher Erkenntnisse. Er fasste das Denken als dreistufigen Prozess: Wahrnehmung, Abstraktion, Intuition.

Bei Edmund Husserl ist Intuition „reine Wesensschau“.

Max Scheler behauptete: „Intuitive Erkenntnis ist eine contradictio in adjecto.“

 

1959 Konrad Lorenz: die Gestaltwahrnehmung

 

siehe dazu: Literatur: Zur Unentbehrlichkeit der Gestaltwahrnehmung

 

In einem schönen Aufsatz hat Konrad Lorenz 1959 die "Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis" beschrieben. Sie steht am Anfang und am Ende der Arbeit eines Forschers, bildet also eine Klammer für das rationale Denken. Warum? Ohne Einsicht in die Struktur "ganzheitlicher Systeme" kann man nicht zum Verständnis der Funktionen gelangen, aber auch nicht zu ihrer Gestaltung oder Regulierung.

 

Die Natur hat uns in Jahrmillionen der Evolution mit wunderbaren und für das Überleben unersetzlichen Fähigkeiten ausgestattet, nämlich mit

  • der schlichten Wahrnehmung mit ihren Konstanzmechanismen und den Mechanismen der Gestaltwahrnehmung. Nur durch sie können wir uns im Getümmel der Welt überhaupt orientieren und kommen zur "Entdeckung einer einigermassen komplexen Regelhaftigkeit" in der Fülle der Geschehnisse.
  • Nachher muss das ganze Arsenal der rationalen Erkenntnisleistungen das Entdeckte "nachweisen", also durch Vergleich und Kombination ordnen und begründen, durch Messung und Berechnung nutzen.

 

Sowohl die Darstellung der rational be- und verarbeiteten Gestaltwahrnehmungen als auch die sinnvolle Anwendung in der Praxis erfordert Bildung, „Gestaltungskraft“ (Ludwig Klages, 1913) und Verantwortung, die wiederum nicht rational sind.

Ergebnis sollte die „gute Form“ sein.

 

Das verlangt bereits den „ganzen“ Menschen. Dieser schaut und kalkuliert, reagiert und gestaltet.

 



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