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Von Goethes "Metamorphose der Pflanzen" (1790) zur Zwicky-Software "Morphos" (1989)

 

erschienen in den "Schweizer Monatsheften", 70 (Oktober 1990), H. 10, S. 822-828

 

(Die Zitate und Seitenangaben stammen aus dem Dünndruckband:

Goethe: Schriften zur Morphologie; hrsg. Dorothea Kuhn. Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 27, Frankfurt am Main 1987)

 

 

Einem Gefangenen muss man nicht erklären, was Freiheit ist. Aber es ist sehr schwierig, einem Blinden zu erklären, was Farben sind. Ähnlich schwierig ist es, Morphologie zu erklären. Denn sie hat es mit dem Sehen zu tun, z. B. Entstehen, Verwandlung und Vergehen von Formen (so die Version Goethe) oder Strukturen, Zusammenhänge, neue Lösungen (in der Version Zwicky).

 

"Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre"

 

Angewandtes morphologisches Denken ist 200 Jahre alt. 1790 veröffentlichte der Dichter und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe seinen "Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären". Der erste Satz lautet: "Ein jeder, der nur das Wachstum der Pflanzen einigermassen beobachtet, wird leicht bemerken, dass gewisse äussere Teile derselben, sich manchmal verwandeln und in die Gestalt der nächstliegenden Teile bald ganz, bald mehr oder weniger übergehen" (109). Morphologie ist also eine auf geduldiger Beobachtung aufgebaute dynamische Betrachtungsweise. Goethe definierte später:

 

"Die Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur" (349).

 

"Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten sie gehört daher zu den Naturwissenschaften" (365).

 

"Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen, dergestalt gewahr werden, dass wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können ... Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben ... Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äussern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermassen zu beherrschen" (391).

 

Mit einem aktuellen Begriff kann man Goethes Bemerkungen als "ganzheitliches Denken" bezeichnen. Es geht um Inhalte, die sich in Formen ausdrücken, um innere wie äussere Einflüsse und um die Gesetze der Entfaltung und des Wandels.

 

"Zusammenschau des Ganzen"

 

siehe auch:   Intuition

 

Ganzheitliches Denken findet sich im Laufe der Menschheitsgeschichte von den Weltbildern der frühen Hochkulturen über Platon und Mark Aurel bis zur Renaissance mit ihrem letzten leidenschaftlichen Heroen Giordano Bruno, der 1600 wegen der Verbreitung von Irrlehren auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

Der Universalgelehrte Leibniz hat Brunos Lehre in seiner "Monadologie" (1714) ausgebaut. Er versuchte, die eben entstandene quantitative Weltanschauung mit der qualitativen zu versöhnen, die mechanistische Denkweise mit der teleologischen zu verbinden. Dafür unterschied er fünf Stufen des Denkens.

 

Grundstufe ist die "Dunkelheit" der vagen Vorstellungen. Sie kann sukzessive aufgehellt werden, zuerst zur

(2.) "Klarheit", dann mittels Reflexion zur

(3.) "Deutlichkeit". Das genügt für die Praxis. Für die richtige Erkenntnis sind aber noch zwei weitere Stufen zu durchlaufen: nämlich

(4.) die "adäquate", d. h. angemessene Erkenntnis mit Hilfe von "Zeichen", z. B. der Mathematik oder heute: der Systemtheorie. Doch diese "symbolische" Erkenntnis ist noch "blind". Es braucht noch

(5.) die "Zusammenschau des Ganzen" (Intuition), welche eine anschauliche Gesamtvorstellung bietet.

 

Der grosse Philosoph Immanuel Kant hat allerlei umgekrempelt, nicht nur das Verhältnis von Vernunft und Verstand, sondern auch das Verständnis von Intuition. Er kritisierte 1790 z. B. Leibniz und erklärte die Entgegensetzung von symbolischer und intuitiver Erkenntnis für falsch. Gegenüber der Möglichkeit eines intuitiven Verstandes beim Menschen war er skeptisch. Es wird sogar behauptet, er habe ihn als "intellectus archetypus" allein den Göttern zugeschrieben.

Goethe bezeichnete diese Auffassung des "Alten vom Königsberge" dreissig Jahre später als "schalkhaft ironisch". Er fand "anschauende Urteilskraft" sei dem Menschen durchaus verliehen und ihm selber sei es gelungen, "dass wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten" (448).

 

Dieses Anschauen macht die Morphologie aus. Es ergänzt und korrigiert die übrigen wissenschaftlichen Bemühungen. "Wissenschaften entfernen sich im Ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück." Diese Rückkehr bietet die Morphologie. Physiker und Chemiker sind "Zergliederer": Den Physiker interessieren "nur die allgemeinen Verhältnisse der Kräfte und ihrer Stellung und Lage in dem gegebenen Weltraum"; der Chemiker hebt "Gestalt und Struktur" auf und hat bloss acht "auf die Eigenschaften der Stoffe und auf die Verhältnisse ihrer Mischungen" (366).

 

Die Morphologen dagegen haben die Tendenz, "von einer Einheit auszugehen, aus ihr die Teile zu entwickeln und die Teile darauf wieder unmittelbar zurück zu führen" (367). Sie versuchen durch "Anschauung des Äusseren zur Einsicht in das Innerste" zu gelangen, den Gesetzen nachzuspüren, "nach welchen die Natur verfährt" und so herauszufinden, "was die Welt im Innersten zusammenhält" (Faust).

 

Da nun in der Natur alles "sogleich wieder umgebildet" wird, ist fünferlei zu beachten:

 

1.   "Wir haben uns, wenn wir einigermassen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht" (392).

 

2.   Mit dem Wort "Gestalt" abstrahiert man gerade vom Beweglichen, "nimmt an, dass ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei" (392). Wenn wir von Gestalt sprechen, dürfen wir uns daher "nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken" (392).

 

3.    Die Idee, die sich in allem Wandel durchhält, ist die "Grundgestalt", das "Urphänomen", der "Typus".

 

4.    Wer diesem vorbildlichen "Leitfaden", der ideellen "Vorzeichnung", dem "innewohnenden" Entwurf nachspüren will, muss "der Natur auf ihren Schritten so bedachtsam als möglich" folgen (137).

 

5.    Jedoch: "Geheimnisvoll am lichten Tag / Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben."

 

Ein Gedicht von 1820 mag etwas von Ernst und Freude dieses Bemühens ahnen lassen:

 

"Freudig war, vor vielen Jahren,

Eifrig so der Geist bestrebt,

Zu erforschen zu erfahren,

Wie Natur im Schaffen lebt.

Und es ist das ewig Eine,

Das sich vielfach offenbart;

Klein das Grosse, gross das Kleine,

Alles nach der eignen Art.

Immer wechselnd, fest sich haltend,

Nah und fern und fern und nah;

So gestaltend, umgestaltend. -

Zum Erstaunen bin ich da." (507)

 

Begriff "Morphologie" und erste Ausbreitung

 

"Morphologie" ist eines der Kunstwörter, wie sie seit der Renaissance vielfältig gebildet worden sind. Es taucht 1796 erstmals in einer Tagebuchnotiz von Goethe auf. Unabhängig davon hat der Mediziner Carl Friedrich Burdach in seinen Publikationen seit 1800 dieselbe Wortprägung verwendet (und gleichzeitig das Wort "Biologie" = Lebenslehre). Burdach fand damit allerdings keine Beachtung.

 

Am 17. Juli 1817 erschien das erste Heft von Goethes Schriftenreihe "Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie". Kurz darauf verfasste Burdach zur Gründung des Anatomischen Instituts in Königsberg eine Eröffnungsschrift "Über die Aufgabe der Morphologie", in welcher er auf dieses Heft Bezug nahm. Nun wurde der Begriff und die damit verbundene Betrachtungsweise rasch salonfähig.

 

In mitunter recht statischer Auffassung als blosse Formbeschreibung hielt die Morphologie vorerst Einzug in die

 

Botanik (z. B. Chr. G. Nees von Esenbeck 1820/24; H. F. Link 1824; Fr. P. Cassel 1820; J. H. Schmidt 1825),

 

Zoologie (Ducrotay H. M. de Blainville 1822; K. E. von Baer 1828 u. 1837),

 

Medizin (neben Burdach J. H. Schmidt 1831) und

 

Geologie (W. von Schütz 1821-23; K. E. Ad. von Hoff 1822-1841; K. F. Naumann 1849-54).

 

1818 entdeckte Eilhard Mitscherlich den Isomorphismus als Gestaltgleichheit bei Kristallen.

 

30 Jahre später präzisierte Richard Owen die für die Biologie so wichtige Unterscheidung von Analogie und Homologie.

 

Für lange Zeit grundlegende Werke blieben das Lehrbuch von Auguste de Saint-Hilaire "Leçons de botanique comprenant...la morphologie végétale" (1840) und später Ernst Haeckels "Generelle Morphologie" (1866).

 

Auch in Kultur und Sozialwissenschaften

 

Seit Mitte des Jahrhunderts breitete sich das morphologische Denken auch in den Geistes- oder Kulturwissenschaften aus. Gemäss Johann Gustav Droysen wendet sich die "Historik" (erste Fassung 1857) auf das Morphologische: "Die Art der historischen Forschung ist bestimmt durch den morphologischen Charakter ihres Materials. Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen. ... Das Einzelne wird verstanden im Ganzen und das Ganze aus dem Einzelnen ... Die sittliche Welt unter dem Gesichtspunkt ihres Werdens und Wachsens betrachtet, ist die Geschichte ... Jede Zeit ist ein Komplex von Gestaltungen aller sittlichen Ideen, wie hoch oder niedrig ihre Entfaltung sein mag."

 

Eine Morphologie der Sprache begründeten August Schleicher (1859), Friedrich Max Müller (1861) und F. W. Farrar (1865/70), zur Morphologie in Kunst und Architektur führten die Werke von Owen Jones ("The Grammar of Ornament" 1856) und R. Zimmermann "Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft" 1865).

 

Just nach dem Stossseufzer von Emil DuBois-Reymond "Goethe und kein Ende" (1882) ergab sich so etwas wie eine morphologische Mode, die bis zum Zweiten Weltkrieg anhielt und auch Soziologie und Psychologie, ab 1920 auch Literaturwissenschaft (z. B. die russischen Formalisten), Ökonomie (z. B. H. Schack 1927, F. Lehmann 1925) und Mathematik (z. B. für die quantitative Biologie) erfasste.

 

Gestalt und Ganzheit, Typus und Form, Struktur und Funktion wurden zu Leitbegriffen. Breitenwirkung hatten die 1890 von Christian von Ehrenfels begründete Gestaltpsychologie, die bald darauf von Emile Durkheim und Marcel Maus praktizierte "soziale Morphologie" - die später in die Humanökologie aufgenommen wurde - und die "Kulturmorphologie" von Leo Frobenius, Eduard Spranger, Oswald Spengler und Arnold J. Toynbee.

 

Daneben blühten eher sektiererische Bewegungen wie "Monismus" (ca. 1880-1920), "Universalismus" (ca. 1910-40) und "Neu-Vitalismus" oder "Organizismus" (ca. 1880-1940) sowie Versuche, eine "idealistische" Naturphilosophie wiederzubeleben.

 

Das heutige Systemdenken, das nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, verdankt diesen Strömungen manches, insbesondere der Berliner Schule der Gestaltpsychologie ("Gestalttheorie", z. B. Wolfgang Köhler, Kurt Lewin) und der organismischen Biologie von Ludwig von Bertalanffy. Verloren ging dabei freilich die "Zusammenschau des Ganzen".

 

Fritz Zwicky gegen partikuläres Leben und Denken

 

Ziemlich unbelastet davon machte sich das "enfant terrible" der Astrophysik, der Glarner Fritz Zwicky (1898-1974)"in den dreissiger Jahren daran, das "morphologische Denken und Vorgehen" sowohl in sein Privatleben wie in die Wissenschaft einzuführen. Schon während seiner Studienzeit - 1916-20 - an der ETH Zürich ist er, "vor allem wegen meiner Beteiligung an internationalen und lokalen Schweizer Aktivitäten zur Förderung des Friedens, auf die Idee gekommen, dass es allgemeinere Dinge gibt als bloss partikuläre Berufungen und Nebenbeschäftigungen". Er unternahm allerlei unkonventionelle Exkurse.

 

"Etwa 1930 kam ich auf den Gedanken, dass jedes Individuum nur in einem Beruf zufrieden sein könne, der irgendwie seinen eigenen und sehr spezifischen Eigenarten entspricht. Das führte mich zur Idee, dass jede Person in Wirklichkeit einzigartig, unvergleichlich und unersetzlich ist, oder, in andern Worten, dass jede Person ein potentielles Genie hat, das, wenn nicht richtig entfaltet, zu Frustration und Unglücklichkeit seines Trägers führt

.

Der passende Beruf für mich selber musste allerdings offensichtlich erst noch erfunden werden, und sein Gegenstand musste ein universeller sein, der alle grundlegenden Aspekte menschlicher Bestrebungen umfasst. Der Gegenstand dieses Berufes musste die Struktur von Körpern, Erscheinungen und Tätigkeiten einschliessen. Und da die Struktur aller dieser Gebiete eine Rolle spielt, nannte ich meine neue Aktivität Morphologie, das bedeutet, das Studium der Strukturen aller Dinge und Ideen und die Anwendung der Ergebnisse dieser Untersuchungen ..."

 

Morphologie für Problemlösungen und Astrophysik

 

Die ersten praktischen Arbeiten in dieser Richtung waren eine "Morphologie des totalen Kriegs" (1940), das legendär gewordene Bücherhilfeprogramm für kriegsgeschädigte Bibliotheken in aller Welt (1942-61), sein Einsatz im Zivilschutz von Pasadena (1941-44) und die Morphologie der Triebwerke, die er erstmals im September 1946 an einem internationalen Kongress in Paris vorstellte.

 

Daneben hat er ganz im Goetheschen Sinne der Schöpfung nachgespürt und in gut naturwissenschaftlicher Tradition den Begriff "Morphologie" erstmals 1940 in der Astrophysik verwendet, als er in der "Physical Review" (Vol. 58, S.478) eine Notiz über "Hydrodynamics and the Morphology of Nebulae" erscheinen liess. Vorangegangen waren zahlreiche Diskussionen mit seinem Freund Theodore von Kármán. 1948 prägte Zwicky für seine Halley-Lecture in Oxford den Begriff "Morphological Astronomy"; ein umfangreiches Buch erschien unter diesem Titel 1957.

 

Um 1950 entwickelte er für die Kosmologie die "dimensionslose Morphologie", von der Albert Einstein meinte, sie sei "äusserst geistreich und die 'kompakteste Methode'". Die "XIth Cracow Summer School of Cosmology" vom 22.- 30.August 1988 wurde zum Gedenken an Zwickys 90. Geburtstag unter den Titel "Morphological Cosmology" gestellt (Proceedings, hrsg. von P. Flin, W. H. Duerbeck, Springer-Verlag 1989).

 

Die Verwendung des Begriffs "Morphologie" für Problemlösungsmethoden empörte viele Naturwissenschafter.

So berichtet etwa der bekannte Zürcher Botaniker Albert Frey-Wyssling in seinen "Autobiographischen Erinnerungen" (1984), er habe sich mit Zwicky wiederholt "herumgestritten, weil er den Terminus 'Morphologie' für sein Verfahren usurpiert hat, komplizierte Probleme durch experimentelle Durchtestung oder Durchrechnung aller sich bietenden Möglichkeiten zu lösen. Er meinte, der grosse personelle und finanzielle Aufwand, der hierfür nötig sei, mache sich bezahlt, da man die Lösung unfehlbar finden werde. Warum er den Fachausdruck für die biologische Gestaltlehre übernommen hat, konnte er mir jedoch nicht erklären."

 

Tabellen bei Goethe

 

Abgesehen davon, dass Goethe die Morphologie keineswegs für die Biologie reservierte  man denke an seine Geologie und Meteorologie - hat er selber die tabellarische Methode propagiert. Tabellen begleiten schon 1796 seine "Versuche über die Einwirkung des Lichts auf das Wachstum der Pflanzen". 20 Jahre später schrieb er:

"Als ich mir genugsame Fertigkeit erworben, das organische Wandeln und Umwandeln der Pflanzenwelt in den meisten Fällen zu beurteilen, die Gestaltenfolge zu erkennen und abzuleiten, fühlte ich mich gedrungen die Metamorphose der Insekten gleichfalls näher zu kennen ... und ich brauchte nur ein Schema tabellarisch auszubilden, wornach man die einzelnen Erfahrungen folgerecht aufreihen, und den wunderbaren Lebensgang solcher Geschöpfe deutlich überschauen konnte" (402).

 

Noch ähnlicher der Zwicky-Box sieht die Tabelle aus, die im 2. Heft "Zur Morphologie" (1820) erschienen ist.

Goethe fuhr ja "unermüdet fort zu beobachten, zu denken und zu ordnen, wodurch sich die Gegenstände immer mehr vor mir aufklärten" (492). Er wurde durch eine "produktive Leidenschaft in diese schwerste aller Aufgaben getrieben" und versuchte, alle Vorteile "zu nutzen, die sich beim Absondern und Unterscheiden gern und willig darbieten und unsäglich fördern, wenn wir nur nicht zu weit gehen und zu rechter Zeit wieder zu verknüpfen wissen". Er suchte, wie er schon 1795 formuliert hatte, nach einem allgemeinen Schema, "worauf das Mechanische der Arbeit durch eine Tabelle befördert werden könnte, welche jeder bei seiner Arbeit zugrunde legte" (230).

 

Es ging Goethe dabei um die "tierische Organisation", d. h. den Zusammenhang und Vergleich der Knochenpartien. "Indem ich nun, ihrer Natur nach innerlich gleiche, in der Erscheinung aber völlig ungleiche organische Teile parallelisieren sollte, hielt ich an dem Gedanken fest: man solle die Bestimmung jedes Teils für sich und sein Verhältnis zum Ganzen zu erforschen trachten, das eigene Recht jedes Einzelnen anerkennen und die Einwirkung aufs übrige zugleich im Auge behalten, wodurch denn zuletzt Notwendiges, Nützliches und Zweckmässiges am lebendigen Wesen müsste zum Vorschein kommen" (493).

 

Eine dieser Tabellen, welche so entstand, betraf die Knochen von Löwe, Biber und Dromedar. Er führte sie auf Reisen mit sich und hat "dadurch manches mit späteren Beobachtungen Übereinstimmendes, oder durch dieselben zu Rektifizierendes gewonnen, wodurch eine allgemeine Übersicht erleichtert und eine künftige General-Tabelle vorbereitet wurde. Wollte man sodann ein Tier in sich selbst vergleichen, so durfte man nur die Kolonne perpendikular herunter lesen, sollte die Vergleichung mit andern Tieren geschehen, so las man in horizontaler Richtung und die Gestalten wechselten ohne Beschwerde vor unserer Einbildungskraft" (496).

 

Für Zwickys Morphologie als Totalitätsforschung hat Goethe schliesslich den Wahlspruch geliefert:

 

"Willst du ins Unendliche schreiten,

Geh im Endlichen nach allen Seiten" (441).

 

Kreativität von Natur und Mensch

 

Hundert Jahre später waren es vorwiegend die Gestaltheoretiker, welche sich als erste mit dem "produktiven Denken" (z. B. Max Wertheimer, Karl Duncker) resp. Problemlösen (z. B. Wolfgang Köhler) grundlegend auseinandersetzten.

 

Jedenfalls haben sich Zwickys unter dem Namen "Morphologie" versammelten Methoden einerseits zu anerkannten Kreativitätsmethoden neben Brainstorming und Synectics entwickelt.

Anderseits fanden sie seit Erich Jantschs OECD-Report "Technological Forecasting in Perspective" (1967) auch Anerkennung in der wissenschaftlichen Welt. Wenn sich für Goethe Morphologie mit der Kreativität der Natur befasst, so ist sie für Zwicky Ausdruck oder Leitung der Kreativität des Menschen. Beides gehört zusammen, zum "schöpferischen Ganzen". Morphologie enthüllt, wie Natur und Mensch im Schaffen leben, nämlich sich gestaltend umgestaltend.

 

Mittlerweile hat sich auch die Computerwelt der Tabellenkalkulation angenommen. Seit 1976 haben Daniel Bricklin und Robert Frankston das Programm "VisiCalc" entwickelt. 1982 wurde es als die bestverkaufte Softwareanwendung ausgezeichnet.

 

1989 kam das Programm "Morphos" in den Handel, "das den Anwender bei der systematischen und vollständigen Lösung von Innovationsproblemen am Bildschirm unterstützt. Morphos beherrscht die erprobten Verfahren morphologischer Kasten, morphologische Matrix und Konfliktmorphologie."

Der Name ist wieder einmal eine un-griechische Neuschöpfung. Weder Goethe noch Zwicky werden in der Werbung erwähnt. Wie sagte doch Goethe: "Der Undank ist immer eine Art Schwäche. Ich habe nie gesehen, dass tüchtige Menschen wären undankbar gewesen."

 

 

Literatur

 

Artikel "Morphologie" in Joachim Ritter et al. (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe, Bd. 6, 1984, Sp. 200-211.

Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Königstein/Ts.: Athenäum Bd. 1, 1982, Bd. 2, 1985; als Fischer Taschenbücher 1988, 1140 Seiten.

Goethes Naturwissenschaftliche Schriften; hrsg. Rudolf Steiner, 5 Bde., 1883-1897; Nachdruck Dornach: Rudolf Steiner Verlag 1975.

Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft (Leopoldina-Ausgabe). 1. Abteilung: Bd. 9, 1954, Bd. 10, 1964; 2. Abteilung: Bd. 9A, 1977, Bd. 9B, 1986.

Goethe: Schriften zur Morphologie; hrsg. Dorothea Kuhn. Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 27, Frankfurt am Main 1987; Dünndruckausgabe 1342 Seiten.

Goethe: Schriften zur Naturwissenschaft; hrsg. Michael Böhler. Stuttgart: Reclam (Universalbibliothek Nr. 9866) 1977.

Goethe: Anschauendes Denken. Goethes Schriften zur Naturwissenschaft in einer Auswahl hrsg. von Horst Günther. Frankfurt am Main: insel taschenbuch 550, 1981.

Fritz Zwicky: Morphologische Forschung. Wesen und Wandel materieller und geistiger struktureller Zusammenhänge. Winterthur 1959; 2. Aufl. Glarus: Baeschlin 1989.

Fritz Zwicky: Entdecken, Erfinden, Forschen im Morphologischen Weltbild. München: Droemer Knaur 1966; Taschenbuchausgabe 1971; 2. Aufl. Glarus: Baeschlin 1989.

Roland Müller: Fritz Zwicky Leben und Werk des grossen Schweizer Astrophysikers, Raketenforschers und Morphologen. Glarus: Baeschlin 1986; zu bestellen bei:

http://www.lesestoff.ch/start

PC-Software MORPHOS: Vogel Buchverlag, Postfach 6740, D-8700 Würzburg 1.

 

 


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