HomeGanzheitliches Denken und Handeln

 

Was beinhaltet diese Forderung?

 

Inhalt

Teil I: Der "ganze Mensch"

Teil II: Gesamtschau

Teil III: Lebensqualität und Umweltschutz

Teil IV: Integrales Vorgehen

 

 

Vier Teile

 

Die Forderung nach "ganzheitlichem Denken und Handeln" enthält bei näherem Hinsehen eine wunderliche Mischung von uralten und neueren Ansätzen. Es sieht so aus, als wäre die Geistesgeschichte als Selbstbedienungsladen benützt worden. Neuerdings betrachten clevere Zeitgenossen ihrerseits das "ganzheitliche Denken" als Supermarkt, dem sie je nach Lust und Laune einzelne Posten resp. Schlagworte entnehmen.

Eine der vielen Schwierigkeiten beim "ganzheitlichen Denken" ist, dass niemand genau weiss, was es ist. Eine andere liegt in der häufigen Vermischung unterschiedlichster Vorstellungen wie

·        das Eine (gr. hén, lat. unum), die Einheit (monás, unitas)

·        das All (pán, universum), die Allheit (universitas), alles (pánta, omnis)

·        das Ganze (hólon, totum)»,;"das Ganze betreffend" (katholikós, universalis); ganz (hólos; totus, integer, solidus)

·        das Allgemeine (katholu), das Gemeinsame (koinón)

·        die Gestalt (morphé, forma; idea, eidos)

·        das Vollkommene; Vollständigkeit; das Vollendete

·        die Gesamtheit, Totalität

·        das Absolute, Unendliche.

 

Daher kann vom Monismus (Einheitslehre; mit Gliederung, Emanation oder Epiphänomenen) in all seinen Spielarten über den Dualismus (mit Negation, Gegensatz und Dialektik oder Polarität, Parallelismus) bis zum Pluralismus (z. B. Leibniz, William James) "alles" unter "ganzheitlichem Denken" auftreten.

Das heutige "ganzheitliche Denken" hat eine lange Geschichte, aber ein kurzes Gedächtnis. Überdies ist es selber selten ganzheitlich, weil es vieles entweder nicht beachtet, bekämpft oder ausschliesst.

 

Hauptprobleme sind, wie bei allen wichtigen Fragen, der Mensch und die Welt. Sie sind nicht nur eines, sondern vieles. Der Mensch ist nicht nur vernünftig, ein biologisches Wesen oder ein Ebenbild Gottes, sondern auch noch anderes und mehr. Was er denkt, tut und gestaltet, hat ebenfalls unterschiedliche Züge, es ist z. T. geplant, hat sich anderseits "so ergeben", es ist ordentlich, aber auch chaotisch, gerecht und ungerecht, hilflos und bewundernswürdig. Auch "die" Welt sieht ähnlich aus.

Es könnte sein, dass der Mensch sich selber viel zu wenig genau kennt, Gesellschaft und Kultur nur teilweise durchschaut und überhaupt die Welt nicht ganz versteht. "Nicht ganz" würde deshalb das Verdikt für das menschliche Streben und Bemühen lauten. Anderseits könnte es "Sternstunden" oder "Gipfelerlebnisse" geben, Momente des "Eins ist Alles", der tiefsten Erfahrung oder höchsten Entrückung. Das "Ganze" würde somit beides umfassen: das "Nicht ganz" über weite Strecken und die Augenblicke des Aufgehens im Einen oder in Allem - oder im Nichts, oder im Licht.

 

Unter dem vielen, das man aus der Geistes- wie Kriegsgeschichte der Menschen lernen kann, sind auch Bescheidenheit und Vorsicht. Was wir behaupten, dokumentiert nur den Stand unseres Unwissens, und was die Herrschaft über uns selber und unser Schicksal betrifft so ist sie oft kleiner als wir denken oder hoffen.

 

Wenn man die seit dem Zweiten Weltkrieg gemachten Vorschläge zum "Ganzheitlichen" übersichtlich zu gruppieren versucht, ergeben sich vier Bereiche, die freilich alle miteinander zusammenhängen. Es finden sich darin eher "altmodische" und "modernere" Ansätze, ferner rationale (kausal deutende und schrittweise planende) und eher irrationale (mystische, radikale). Die allgemeinsten Schlagworte sind:

I. Ein ganzer Mensch sein

II. Gesamtschau

III. Lebensqualität und Umweltschutz

IV. Integrales Vorgehen.

 

 

Teil I: Der "ganze Mensch"

 

 

Der Mensch ist, nach einem Goethewort, ein "individuum ineffabile", d.h. er verfügt über unzählige unterschiedliche Vermögen und Fähigkeiten. Die Hauptforderung lautet nun: alle diese seien zu entfalten, zu üben und aufeinander abzustimmen. Da er weiter über zahlreiche Accessoires verfügt, in psychosozialen Feldern steht und unterschiedliche Aufgaben und Rollen wahrnimmt, soll er versuchen, diese zu integrieren. Anleitung kann er von Erziehung und Bildung erhalten, die er durch Selbsterziehung und Weiterbildung ausbaut und verfeinert.

 

Ratio und Intuitio

 

siehe auch:   Intuition

 

Die gegenwärtige Forderung der Gleichberechtigung von Ratio und Intuitio, oder Vernunft und Gefühl, geht auf Leibniz zurück. Er unterschied fünf Stufen der Erkenntnis, zuerst

(1) Dunkelheit,

(2) Klarheit und

3) "deutliche Erkenntnis". Letztere ist die Kenntnis des Kundigen, die für den praktischen Umgang mit Gegenständen genügt. Doch es ist noch keine angemessene Kenntnis.

Diese (4) "adäquate" Erkenntnis erfordert die Hilfe von Zeichen, z. B. der Mathematik - oder heute: der Systemtheorie. Aber diese "symbolische" Erkenntnis ist noch "blind".

Es braucht noch (5) die "Zusammenschau des Ganzen" (Intuition), welche eine anschauliche Gesamtvorstellung bietet.

 

Damit symbolische und intuitive Erkenntnis möglich werden, braucht Leibniz einen Trick, der an die Mischung der Weltseele aus dem Selbigen und Anderen durch Platons Demiurg (im "Timaios") gemahnt. Die Welt ist durch und durch "einfach" und durch und durch "zusammengesetzt". Zusammengesetztes kann bestenfalls deutlich und symbolisch (4. Stufe) erkannt werden; nur das Einfache ist unmittelbar schaubar (5. Stufe). Weder Einfaches noch Zusammengesetztes sind aber für sich allein anzutreffen, sondern sie sind von Anbeginn ineinander, in "prästabilierter Harmonie".

 

Leibniz knüpfte mit seinem Verständnis von Intuition an die seit dem Neuplatonismus gängige Unterscheidung von diskursiver und intuitiver Erkenntnis an. Allein im Reich des Geistigen ist eine intuitive Erkenntnis möglich, während alles welthafte, an sinnfällige Gegenstände gebundene Erkennen der menschlichen Seele notwendigerweise diskursiv ist. Intuitives Erkennen täuscht nie; Irrtum aber entsteht durch Synthese von Teilen oder Analyse des Ganzen.

Zur Zeit von Idealismus, Klassik und Romantik änderten sich die Vorstellungen. Herder führte die "Einfühlung" (1769) ein. Kant (1790) kritisierte Leibniz, Goethe (1820) wiederum Kant. Der grosse Gestaltseher fand, "anschauende Urteilskraft" sei dem Menschen durchaus möglich und ihm selber sei es gelungen, "dass wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihrer Produktion würdig machten".

Nun rutschte aber die Intuition (oder "intellektuelle Anschauung") langsam ins Unbewusste (Eduard v. Hartmann 1869), und C. G. Jung (1920) wies sie ganz dem Irrationalen zu und stellte sie dem Denken zur Seite.

Henri Bergson (1903) griff die Gegenüberstellung von Leibniz wieder auf, allerdings mit dem Intiutions-Begriff von Herder (und Schelling) als "Sympathie", d.h. Sich-in-etwas-Hineinversetzen.

 

An Goethe wiederum und die mittlerweile entstandene Gestaltpsychologie knüpfte Konrad Lorenz an, als er "die Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis" (1959) pries. Nur durch die "schlichte Wahrnehmung" können wir uns im Getümmel der Welt überhaupt orientieren und kommen zur "Entdeckung einer einigermassen komplexen Regelhaftigkeit" in der Fülle der Geschehnisse. Nachher aber muss das ganze Arsenal rationaler Erkenntnisleistungen das Entdeckte "nachweisen".

 

Weitere Polaritäten

 

Ähnlich kompliziert ist es bei den vielen andern Polaritäten, die der Mensch zusammenbringen sollte, z. B.

·        Spiritualität und Emotionalität

·        bewusst und unbewusst, männlich und weiblich

·        Planen und Geschehenlassen, Ordnung und Unordnung

·        Betrachten und Streben, Merken und Wirken, Versenkung und Tat resp. Vision und Aktion

·        Eigennutz und Altruismus, Arbeit an sich selbst und soziales Engagement

·        Fragen und Antworten, Anpassung und Widerstand

·        Permissivität und Strenge, Toleranz und Kritik, Selbstbewusstsein und Respekt vor anderen, Selbermachen und Delegieren, Raten und sich beraten lassen.

 

Vielfach geht es um ein Wechselspiel, beispielsweise um Anspannung und Erholung (Systole und Diastole). Als kreativer Prozess wird das Alternieren von Phasen des Schweifens (divergent) mit solchen der Konzentration (konvergent) empfohlen. Schon Platon hat mit seinem Bild des Wagenlenkers Gültiges ausgesagt. Er vergleicht die Seele der "zusammengewachsenen Kraft" eines geflügelten Gespanns und seines Lenkers: Die Vernunft muss die beiden Rosse beisammen und im Zaum halten: die ins Masslose und Abseitige drängende Begehrlichkeit und den beherzten Mut, welcher Ehrgeiz mit Besonnenheit und Scham verbindet. Das ganze Gespann soll zum Guten, Schönen, Ewigen emporstreben.

 

Harmonie: Abstimmung zur Einheit

 

Das führt direkt zur Auffassung G. Th. Fechners (1860), wonach der Mensch eine spannungsvolle "psychophysische Ganzheit" ist, bestehend aus Leib und Seele, Verstand und Geist. Die Psychosomatik versucht, dies zu berücksichtigen. Doch das ist noch nicht der "ganze Mensch", er besitzt ja auch noch zahlreiche materielle "Accessoires" wie Kleidung, Haushalt, Hausrat und Besitztümer, gestalterische Leistungen und Werke. Ferner steht er in einem "psychosozialen" Milieu, das gebildet wird aus:

  • Familie, Arbeitsplatz und Klienten, Nachbarschaft, Freundeskreis und Mitgliedschaften
  • Positionen und Rollen, Einfluss und Macht, Leumund und Ruf
  • Rechten und Pflichten, Aufgaben und Verantwortung, Privilegien und Berechtigungen.

 

Das ganze Spannungsfeld von Sein und Haben, Innen und Aussen wurde von der Stressforschung und Psychiatrie zunehmend ernster genommen. Daraus entstand Mitte der 70er Jahre die These von "holistic health".

Schon Wilhelm Dilthey (1883) hatte dies gesehen:

"Das einzelne Individuum ist ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen, welche sich im Verlauf einer fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren. Ja derselbe Lebensakt eines Individuums kann diese Vielseitigkeit zeigen... Dieselbe ungeteilte Person ist zugleich Glied einer Familie, Leiter einer Unternehmung, Gemeindeglied, Staatsbürger, in einem kirchlichen Verbande, dazu etwa Genosse eines Gegenseitigkeitsvereins, eines politischen Vereins ... (oder:) Verschiedene Personen sind in jedem von uns, das Familienglied, der Bürger, der Berufsgenosse; wir finden uns im Zusammenhang sittlicher Verpflichtungen, in einer Rechtsordnung, in einem Zweckzusammenhang des Lebens, der auf Befriedigung gerichtet ist: nur in der Selbstbesinnung finden wir die Lebenseinheit und ihre Kontinuität in uns, welche alle diese Beziehungen trägt und hält."

Aus diesen Einsichten können sich folgende "altmodischen",  aber harten Forderungen ergeben:

  • Übereinstimmung von Denken, Reden, Fordern und Tun
  • keine doppelte Moral in Arbeits-, Privat- und öffentlichem Leben
  • ungeteilte Verantwortung in allen Rollen, z. B. als Wissenschafter oder Geschäftsmann und Erzieher, Bürger, Partner, Nachbar, Vereinsmitglied
  • Abstimmung von Wissen, Können, Wollen und Moral.

 

Sinn, Selbstverwirklichung und Tugenden

 

Als der "Sinn" der Arbeit verschwunden war, entstand das Problem der Motivation, meinte Burkard Sievers neulich. Daher das rührende Bemühen von Psychologen und Managern, Mitarbeiter zu motivieren. Aber auch Schüler und Studenten, Bürger und Wähler, Senioren und Feriengäste müssen motiviert oder animiert werden, weil der "Sinn" verlorengegangen ist.

 

Die Sinnfrage hat mit der Selbstverwirklichung des Menschen, seinem Leben in der Gemeinschaft, mit Schicksal und Sterblichkeit zu tun Darauf hat der Mensch die unterschiedlichsten Antworten gefunden: von "Alles ist in Gott" bis "Tu, was du willst" (Rabelais 1532; Aleister Crowley 1904/25). Eine staunenswerte Mittellösung bot Nikolaus von Cusa um 1450: Der Mensch ist Gott, aber "nicht in absoluter Weise". Und der Mensch ist auch die Welt, aber "eingeschränkterweise". Der Mensch ist folglich eine "menschliche Welt" und ein "menschlicher Gott". Daher ist seine Aufgabe seine schöpferische Selbstentfaltung; sie wird ihm um Gottes und der Welt willen abverlangt. Das "Ganze" soll durch ihn werden, indem er das Menschenmögliche schöpferisch verwirklicht.

Demgegenüber nehmen sich die neueren Bemühungen um Selbstverwirklichung in der Nachfolge von C. G. Jung (1920/28), Abraham Harold Maslow (1943/54) und der "Humanistischen Psychologie" (1962) dürftig aus. Sie rutschen gerne in Solipsismus oder Narzissmus ab. Statt zur Einordnung in die Gesellschaft verführt New Age zum Aufgehen im All.

 

Die platonischen Kardinaltugenden (Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit) hatten, obwohl Charaktertugenden genannt, auch eine soziale Funktion, ähnlich wie die christliche Trias: Glaube, Liebe, Hoffnung. Sowohl im Umgang mit Technik, Computern und Menschen wären auch banalere Tugenden wie Sorgfalt und Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, Geduld, Gelassenheit und Ehrlichkeit heute noch aktuell. "Ehrfurcht vor dem Leben" (Albert Schweitzer 1913) und Demut könnte sich aus dem Nachdenken über die Unverfügbarkeit von Geburt, Leben, Tod und Unsterblichkeit ergeben. Die Forderung nach Askese ist jedoch gefährlich, denn schon die Lohnarbeit (z. B. im Florenz des 14. Jh.), die Arbeit in Manufakturen (17. Jh.) und erst recht im Industriezeitalter erforderte einige "Askese".

Wenn heute das "Selbstwertstreben" (Wilhelm Keller 1963), die Suche nach Identität und der Wunsch nach Selbstbestimmung in die Forderung münden: "Sei 'wesentlich', 'spontan', 'authentisch'", dann ist dem nichts entgegenzuhalten als der Wunsch, auch die andern Menschen möchten als "ganze" respektiert und behandelt werden.

 

Förderung und Bildung

 

Die Forderung nach Allgemeinbildung lässt sich über das humanistische Bildungsideal Wilhelm von Humboldts (1809) und den "uomo universale" der Renaissance (z. B. L. B. Alberti) bis zur "enkyklios paideia" des Altertums zurückverfolgen. Die Akzente waren freilich verschieden gesetzt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich einige Gelehrte wie Karl Jaspers, Philipp Lersch und Theodor Litt um einen Neuaufbau der Universität. Es folgten Studium generale, Education permanente, ja lebenslanges Lernen. Bescheidene konkrete Ansätze im Volksschulbereich boten "ganzheitliches" Lesen, Schreiben und Rechnen. Öfter gefordert wurden Gesundheitserziehung und Sexualkunde, Wirtschafts- und Sozialkunde, Lebenskunde und Ethik, sogar Philosophie, Ideologienlehre oder vergleichende Religionsgeschichte. Das hätte junge Menschen zur Offenheit gegenüber anderen Ansichten und Lebensweisen führen können. Vorurteile hätten abgebaut werden können. Die Pluralität menschlichen Denkens und Handelns, Strebens und Leidens wäre sichtbar geworden. Der im Management verlangte "Generalist" war ein blasses Abbild davon.

 

Vor allem im "Psycho-Boom" der 70er Jahre kamen neue Trainingsformen auf, z. B.

  • emotionale für Erleben, Stressbewältigung, Ausdruck, Trauerarbeit
  • körperliche für Sinnlichkeit, Sensibilität, Körperbewusstsein, Fitness
  • mentale für Problemlösungen, Kreativität, Managementaufgaben, Spitzenleistungen.

 

Noch nicht durchgesetzt hat sich die Schulung des 7. Sinnes (z. B. "Verkehrssinnbildung"), des Deutens und Verstehens ("Hermeneutik"), des Ernstnehmens von Ahnungen (z. B. für die Börse oder Bergtouren) oder des Hinhorchens und Sich-Einfühlens (für Partnerschaft, Erziehung, Beratung, "Motivation"). Jedenfalls ist das Ideal von Pestalozzi, die gleichmässige Förderung und Bildung von Herz und Hand", kaum je gelungen.

 

 

Teil II: Gesamtschau

 

Besonders diese Forderung hat eine rationale und eine irrationale Ausrichtung. Das zeigt sich schon bei Platons "synopsis" (Zusammenschau). Nur wer zusammenschauen kann, also der Systematiker, der zu einem Überblick gelangt, ist der wahre Dialektiker. Die Dialektik "zieht das in einem gewissen barbarischen Schlamme vergrabene Auge der Seele allmählich hervor und führt es aufwärts", und zwar über die rationale Erkenntnis der geometrischen Grundlagen bis zur mystischen Schau der ewigen Ideen Die wandelbare Welt ist "ein einziges Ganzes, welches selbst wieder aus lauter Ganzen besteht". Von daher kommen die Makro-Mikrokosmos-Vorstellungen, die in der Geistesgeschichte vielfältig ausgemalt wurde, desgleichen die zahlreichen Ismen mit der Vorsilbe "Pan-".

Wenig beachtet wurden die vielen schönen Formulierungen in Kaiser Mark Aurels "Wegen zu sich selbst" (180 n. Chr.), z. B.:

eher mystisch: "Es soll als erster Satz gelten, dass ich ein Teil des von der Natur durchwalteten Ganzen bin; zweitens, dass ich irgendwie in innerlicher Verbindung mit den verwandten Teilen stehe..."

eher rational: "Oft erwäge die Verknüpfung von allen Dingen in der Welt und ihre Beziehung. Denn alle Dinge sind gewissermassen miteinander verflochten,...und sozusagen kein Ding ist einem andern fremd; denn es ist eingereiht und ordnet dieselbe Weltordnung mit."

 

Dem von Frederic Vester seit 1976 geforderten "vernetzten Denken" fehlt also die "höhere" Dimension. Dasselbe gilt für das Systemdenken seit dem Zweiten Weltkrieg. Es hat sich geschmückt mit alten und selten definierten Schlüsselwörtern wie:

·                    Interaktionen, Wechselwirkungen, Interdependenzen

·                    Verknüpfungen, Verflechtungen, Netzwerk

·                    hierarchische Ordnung, progressive Differenzierung

·                    Mechanismen, Regelkreise und Rückkopplungen

·                    Struktur, Funktion, Verhalten

·                    Komplexität, Prozess

·                    Finalität, Eigendynamik, Homöostase, Fliessgleichgewicht.

 

Erst in jüngerer Zeit kommt die "participation mystique" (Lucien Lévy-Bruhl; C. G. Jung) wieder zu Ehren (z. B. Morris Berman: "Wiederverzauberung der Welt" 1983; engl. 1981). Davon wiederum eine kuriose Abart sind die Selbstorganisations- oder Evolutionstheorien, die gerne beim Urknall ansetzen und bei den soziokulturellen Systemen oder gar Teilhard de Chardins Punkt Omega enden. Pionier war der Zukunftsforscher Erich Jantsch, der in seinem 1973 geschriebenen Buch "Design for Evolution" (1975) vom Buddhismus und Ilya Prigogines These der "Ordnung durch Fluktuation" ausging und meinte: Weil die Menschheit in den evolutionären Strom des ganzen Kosmos eingebettet ist, macht auch sie eine Evolution durch. Auch das Individuum lebt in der Evolution höherer Ordnungen: "he is sharing in an universal mind, he is immortal as spiritual energy". In seinem 1979 erschienenen Buch "Die Selbstorganisation des Universums" meinte Jantsch:

  • "Evolution verlegt ihren Ursprung und ihr Zentrum in jedes selbstorganisierende System."
  • "In gewissem Sinne konzentriert sich das ganze Universum in zunehmendem Masse im Individuum. Das Individuum seinerseits übernimmt eine immer höhere und weiter gespannte Verantwortung für das Universum."

 

Eine bescheidenere Vision hat in der Nachfolge von Goethes Gestaltschau Gregory Bateson (1979) als Suche nach dem "Muster, das verbindet" bezeichnet. Das erinnert an Ruth Benedicts "Patterns of Culture" (1934) und an die Erforschung der "Pattern-recognition", also das Erkennen von Schemata statt isolierten Elementen (seit 1943). Bateson kannte dies. Joel de Rosnay hat dafür 1975 ein "Makroskop" konstruiert, ein Werkzeug symbolischer Art das die "Gesamtschau" auf Systeme erlaubt. Die Muster der Bilder bleiben jedoch unscharf.

 

Nicht-materielle Realitäten einbeziehen

 

Ein wichtiger Kritikpunkt an den "Grenzen des Wachstums" (1972) war die Vernachlässigung der soziologischen, politischen und psychologischen Faktoren. Mesarović und Pestel haben daher eine Erweiterung zu einem "multilevel world model" unternommen: "Für die zukünftige Gestaltung der Entwicklung der Menschheit brauchen wir eine 'holistische', alle Lebensaspekte umfassende Betrachtungsweise des Weltsystems", meinten sie 1974 (in "Menschheit am Wendepunkt" ).

"Will man also (z. B.) der Ernährungssituation in der Welt mit realistischen Massnahmen begegnen, so muss man Wirtschaft, landwirtschaftliche Technologie, Bevölkerungsentwicklung, Ökologie, unterschiedliche sozio-politische Verhältnisse sowie individuelle Wertvorstellungen und Normen in seine systemaren Betrachtungen einbeziehen. Weniger zu tun würde der Verantwortung, die wir gegenüber den zukünftigen Generationen tragen, nicht gerecht werden."

 

So beherzigenswert dieser Ansatz ist, wie kann man dies alles zusammen auf dem Computer simulieren? Die Erläuterungen zum Berliner "Globus Model" (hrsg. von Stuart A. Bremer 1987) umfassen fast 1000 Seiten.

 

Häufig zu wenig beachtet wird, dass die Einflüsse nicht nur in eine Richtung gehen: Werte, Normen und sozio-politische Verhältnisse beeinflussen nicht nur Bevölkerungsentwicklung, Innovation, Produktion, Konsum und Umweltbelastung, sondern diese wirken auch zurück auf Verhältnisse, Normen und Werte, die sich überdies untereinander beeinflussen. Veränderungen erfolgen ausserdem unregelmässig, manchmal verzögert, vielleicht auch "von selbst".

Wenn man  von einem Mehrebenen-Modell eines Unternehmens (Mesarović 1968) oder der irdischen Welt ausgeht (1974), kann man unten kausale Systeme (Ökologie, Technologie, Wirtschaft, Bevölkerung) und oben zielsuchende oder entscheidungsfindende Systeme sehen. Die oberen möchten die unteren regulieren und tun dies zum Teil. Freilich fehlt es oft am Wissen und Können, mitunter auch am Wollen und an der Moral. Manche Pläne, Strategien und Dispositionen führen nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Häufig sind schon die Ziele unklar, und der Sinn ist fraglich.

 

Eine Kontrolle über die teils freiwilligen, teils unbewussten und teils durch "Sachzwänge" bestimmten Lenkungsversuche oder Aktivitäten böten einige Verfahren. Sie scheinen recht unbeliebt, obgleich sie durchaus rational und keinesfalls sentimental oder wehleidig sind, z. B.:

  • die Abschätzung "sozialer Kosten" (seit K. William Kapps Standardwerk von 1950; dt. von Bruno Fritsch 1958) oder das "Social Impact Assessment" (Wirkungsforschung)
  • die Abschätzung der Folgen neuer Technologien ("Technology Assessment", Emilio Q. Daddario 1965; "Risk Assessment")
  • die kritische Prüfung politischer Entscheidungen und Programme ("Policy Evaluation"; vgl. Carol H. Weiss: "Evaluation Research" 1972; dt. 1974)
  • die Erstellung einer "Sozialbilanz" (Meinolf Dierkes 1974) resp. einer "gesellschaftsbezogenen Unternehmensrechnung" (Peter Eichhorn 1974)
  • "Rechenschaftslegung zur Umweltbelastung und zum Umweltschutz von Industrieunternehmen" (Frank Braun 1974) resp. die Führung einer ökologischen Buchhaltung" (Ruedi Müller-Wenk 1978).

 

Andere Realitäten in der Wissenschaft

 

Unter "anderen Realitäten" in der Wissenschaft kann man zweierlei verstehen: was im Labor nicht sichtbar wird oder das, worin sich der Wissenschafter ausserhalb des Labors bewegt. Für ersteres hat Goethe am Anfang des "Faust" (Prolog im Himmel; Nacht) eine Fülle wunderbarer Formulierungen gefunden. Wir wissen aber heute noch nicht, "was die Welt im Innersten zusammenhält" und "wie alles sich zum Ganzen webt". So spricht der Forscher entweder von "komplex" und "Rätsel" oder flüchtet in Religion (z. B. Berhard Philberth: "Der Dreieine" 1970; Max Thürkauf: "Christuswärts" 1983), Mystik (z. B. R. H. G. Siu: "The Tao of Science" 1957; Fritjof Capra: "The Tao of Physics" 1975) oder Parapsycholoqie (Lawrence LeShan, Stanislav Grof).

 

Nun lebt der Wissenschafter aber auch mitten im "irdischen Jammertal", d.h. auch er hat Familie, Freunde und Kollegen, ist Vereins- und Gemeindemitglied, Staatsbürger, vielleicht sogar Weltbürger, und hat oft eine Reihe weiterer Verpflichtungen. All dies muss mit seiner Forschung und Lehre einen Zusammenhang haben, will er ein "ganzer Mensch" sein. Sonst ist Wissenschaft tatsächlich nur "die Befriedigung persönlicher Neugier mit öffentlichen Mitteln", wie der sowjetische Physiker L. A. Artsimovitch einmal geargwöhnt hat.

 

Wenn Wissenschaft nicht Nabelschau im Elfenbeinturm sein soll, dann steht der Forscher in einem Spannungsfeld: Einerseits möchte er dem Wesen der Dinge auf den Grund gehen, anderseits muss er sich, wie jeder andere Mensch, in der Gesellschaft bewähren. Vielleicht wird beides aber durch die "Wirklichkeit" zusammengehalten. Die meisten Wissenschaften befassen sich ja mit Menschen und anderen Lebewesen, ihrer Geschichte, ihrem Verhalten, ihren Eigenarten und ihren Leistungen. Physik und Astronomie, Chemie und Geologie, Klimakunde und Vermessung können als Grund- oder Hilfswissenschaften dafür betrachtet werden. Die Wissenschaften insgesamt sollen zu etwas dienen, etwa dass die Menschen "maîtres & possesseurs de la nature" (Descartes) werden oder wie Francis Bacon sagte: "Das wahre und gesetzmässige Ziel der Wissenschaft ist es, das menschliche Leben durch neue Entdeckungen und Kräfte zu bereichern."

 

Natur und Mensch stehen im Mittelpunkt der Wissenschaft . Wie gehören sie zusammen? Die unterschiedlichen Antworten auf diese Frage haben zu unterschiedlichen Auffassungen von Wissenschaft und ihrer Anwendung geführt.

Der doppelte Respekt vor dem Untersuchungsobjekt und der Gesellschaft, in der wir alle leben, mag dem Botaniker Philippe Matile vor Augen gestanden haben, als er 1973 an einem ETH-Symposium äusserte:

  • "Das Modewort vom ganzheitlichen Denken bedeutet nichts weniger, als die Umkehrung der gewohnten Denkrichtung, bedeutet die Berücksichtigung von Realitäten, welche nicht auf die stofflichen Prozesse reduzierbar sind. Im Hinblick auf die Biotechnologie bedeutet dies eine gewaltige Einschränkung. Was heute im Geiste der dogmatischen Biologie entworfen wird, muss unter Berücksichtigung der ganzen Wirklichkeit des Lebens überprüft werden. Besonders wichtig sind dabei die den Menschen betreffenden Projekte."
  • "Freiheit und Würde der Individualität müssen zum Massstab für die Bewertung der Zukunftsmodelle, Strategien und Technologien werden, welche heute in grosser Zahl vorgeschlagen werden. Was die Entwicklung der Menschen zur Freiheit in Frage stellt, muss vermieden werden."

Was heisst das für den Forscher im Labor? Die Gründung eines "Instituts für Bioethik" erfolgte Anfang 1989 in Zürich. Wird es einen "Massstab" der Freiheit liefern, der an Forschung, pharmazeutische Produktion und ärztliche Beratung angelegt werden kann?

 

Diese Bewusstseins- oder Horizonterweiterung bedeutet keine Absage an das Spezialistentum. Im Gegenteil: Es wäre wünschenswert, wenn viele Wissenschaftler ihr Fachgebiet ernster nehmen würden. Das hiesse Begriffe sauber definieren, klar und einfach formulieren, Originalquellen suchen und exakt zitieren, nicht schwätzen und schummeln. Auch ein "Fachidiot" müsste die Geschichte und das ganze Spektrum der Modelle des behandelten Gebiets kennen, kontroverse Ansätze berücksichtigen und - vor allem - an den Leser denken.

 

Höchste Vorsicht ist geboten bei der Verallgemeinerung von einzelnen "Erkenntnissen" zu Allgemeinweisheiten, z. B. von Unschärfenrelation (Heisenberg 1927) und Komplementarität (Bohr 1927) oder von "dissipativen Strukturen" (Ilya Prigogine) und "Autopoiese" (H. R. Maturana, F. J. Varela). Ein mit Selbstkritik und Bescheidenheit gepaarter Spezialist wäre so die Voraussetzung für "ganzheitliches Denken".

 

Integration der Perspektiven

 

Die fundamentale Bedeutung der Synthese lehrte Kant (1781). Sie ist zunächst eine Funktion der Einbildungskraft; der Verstand bringt sie hernach "auf Begriffe". Die Verbindung des Mannigfaltigen ist nie sinnlich gegeben, sondern ein Akt der Spontaneität. Wir können uns "nichts als im Objekte verbunden vorstellen..., ohne es vorher selbst verbunden zu haben". Jede Verbindung ist Vorstellung der "synthetischen Einheit des Mannigfaltigen".

 

Eine besondere Bedeutung hatte die Synthese in der Dialektik Hegels. John Stuart Mill sprach von "psychischer Chemie", Wilhelm Wundt von der "schöpferischen Synthese".

In seinem 11bändigen "System of Synthetic Philosophy" (1862-96) führte Herbert Spencer das Wechselspiel von Differenzierung und Integrierung ein. Integration der Perspektiven forderten Nietzsche, der Fiktionalismus (Vaihinger) und Pragmatismus und manch andere Strömungen der Jahrhundertwende. Wenn heute darunter die Zusammenführung und -fügung der verschiedenen wissenschaftlichen Betrachtungsweisen verstanden wird, ist das zu eng. In ganzheitlicher "Perspektive" gilt es, sechserlei zu vereinen:

1. alle Disziplinen der Wissenschaft (Wissenschaft)

2. die Bedürfnisse und Wünsche sämtlicher Bürger (Gesellschaft)

3. die Ansprüche der Dritten Welt (Mitwelt)

4. die "Interessen" der Natur (Umwelt)

5. die möglichen Bedürfnisse kommender Generationen (Nachwelt)

6. Ideen, Absichten und Leistungen unserer Vorgänger. (Vorwelt)

 

Das ist ein gewaltiges Programm. Es wäre die Basis für ganzheitliches Planen, Organisieren und Handeln.

 

 

Teil III: Lebensqualität und Umweltschutz

 

Zu den grössten Sehnsüchten des Menschen gehört das friedliche Zusammenleben mit anderen. Seit Beginn der Hochkulturen vor 5000 Jahren ist die Menschheitsgeschichte aber zu einem grossen Teil Kriegsgeschichte. Ein Grund dafür ist die Habgier, die schon von den alten Ägyptern als unheilbare Krankheit betrachtet wurde (Lehre des Pthahotep, 2400 v. Chr., Maxime 19). Auch Solon, der um 600 in seine Heimat Griechenland zurückkehrte, beklagte hier "Geldgier und herrischen Sinn, der keine Grenzen mehr kennt". Das führte auch zu Eingriffen in die Natur, beginnend mit den Bewässerungsanlagen in Mesopotamien und Rodungen von Wäldern allüberall.

 

In seinem Riesenwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929/32) befand Ludwig Klages: "Die Geschichte der Menschheit ist eine Kette von Greueln." Schon 1913 hatte er in einem Vortrag "Mensch und Erde" in flammenden Worten die Gewaltherrschaft von Maschine und Geschäft angeprangert, basierend auf der These, "dass der Mensch als Träger des Geistes sich mit dem Planeten, der ihn gebar, zerworfen habe": "Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die 'Zivilisation' trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch. So also sehen die Früchte des 'Fortschritts' aus!"

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Warner lange Zeit Rufer in der Wüste, auch wenn ihre  Schriften drastische Titel trugen, z. B.

·     "Die Wüste droht" (Anton Metternich 1947)

  • "Unsere ausgeplünderte Erde (Fairfield Osborn 1950, engl. 1948)
  • "Die Erde rächt sich" (William Vogt 1950; engl.: Road to Survival 1948)
  • "Die letzte Chance für eine Zukunft ohne Not" (Annie Francé-Harrar 1950)
  • "...sonst Untergang" (Erich Hornsmann 1951)
  • "Der Mensch - ein Parasit der Erde?" (Edward Hyams 1956; engl.: Soil and Civilization 1952)
  • "Ketten für Prometheus. Gegen die Natur oder mit ihr?" (Reinhard Demoll 1954; 3. ed. u. d. T.: Bändigt den Menschen 1960)
  • "Des Menschen Thron wankt" (Ernst Hass 1955)
  • "Der Tanz mit dem Teufel" (Günther Schwab 1958, 14. ed. 1985)
  • "Im Würgegriff des Fortschritts" (Bodo Manstein 1961).

 

Erst in den 60er Jahren begann sich allenthalben Widerstand zu regen, wobei die USA den Auslöser spielten, etwa mit Bürgerrechtsbewegungen und Bürgerinitiativen, mit Studentenrevolten (New Left, Radicals) und dem, was wir heute im Rückblick als "New Age" fassen (Esalen, Hippies, spirituelle Gemeinschaften). Bedeutsam wurden aber auch einige Bilder resp. Begriffe, nämlich:

  • "Chancengleichheit" (z. B. Gernot Koneffke 1961; Helmut Schelsky 1961; James S. Coleman: "Equality of Educational Opportunity" 1966; F. Hess et al.: "Die Ungleichheit der Bildungschancen" 1966)
  • "soziale Indikatoren" (UNO 1961; Raymond A. Bauer 1966)
  • "globales Dorf" (global village: M. McLuhan 1962)
  • "Raumschiff Erde" (spacecraft: E. P. Odum 1963; Spaceship Earth: Adlai E. Stevenson 1965, Kenneth E. Boulding 1966, R. Buckminster Fuller 1969)
  • "Lebensqualitat" (Quality of Life, J. K. Galbraith, Dezember 1963; L. B. Johnson, Richard Nixon)
  • "global denken - lokal handeln" (René Dubos 1968)
  • "Umweltschutz" (dt. Ende 1969).

 

In seiner letzten Rede vor dem "Economic and Social Council" in Genf am 9. Juli 1965 formulierte der damalige UNO-Botschafter Adlai E. Stevenson:

"Wir alle reisen zusammen, sind Passagiere eines kleinen Raumschiffs, abhängig von seinen verletzlichen Vorräten an Luft und Boden; unsere Sicherheit ist seiner Sicherheit und seinem Frieden anvertraut; vor der Vernichtung sind wir lediglich durch die Sorgfalt, die Arbeit und, so meine ich, die Liebe geschützt, die wir unserem zerbrechlichen Fahrzeug schenken."

 

"Kann unsere Erde gerettet werden?", fragten im März 1968 Reporter der New York Times den führenden Ökologieprofessor LaMont C. Cole. Seine lapidare Antwort: "Kaum". Umso eifriger griffen Staatsmänner und Politiker, Magnaten und Unternehmer die erwähnten Formeln auf. Höhepunkte stellten sich im "Europäischen Naturschutz-Jahr" 1970 - unterstützt von Richard Nixons "Botschaft zur Lage der Nation" - für "Umweltschutz" und "Umweltvorsorge", 1972 für "Lebensqualität" ein. Leichtgläubige frohlockten bereits, ein "Umdenken" habe stattgefunden. Der Politikwissenschafter Claus Offe meinte allerdings im Sammelband "Lebensqualität?" (1974): "Für das zynisch gewordene Wählerbewusstsein stellt sie (d.h. die Parole 'quality of life') sich als ein besonders plumper Trick dar." Und Helmut Thielicke meinte auf dem Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf 1973, es gebe auch eine soziale Umweltverschmutzung durch Wortmüll.

 

Die durch den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems der freien Wechselkurse (1971-73) und den Ölschock vom Oktober 1973 bewirkte weltweite Rezession kühlte die Gemüter bald ab. Arbeitslosigkeit und Redimensionierungen hielten Politiker und Unternehmer in Atem. Nur unentwegte "professionelle Aufrührer", Alternativler und Weltmodellbastler entwickelten weitere Konzepte, bis Ende der 70er Jahre auch ihr Eifer versiegte. Parallel dazu hatte kurze Zeit eine Diskussion um "Grundwerte" für Aufregung gesorgt. Die von Franz Neumann herausgegebene Buchreihe (1978-80) betraf:

·                    Menschenwürde

·                    Freiheit

·                    Gleichheit

·                    Frieden

·                    Solidarität

·                    Eigentum

·                    Arbeit.

Deutsche Katholiken und Bischöfe hatten 1976 zusätzlich erwogen: Liebe, Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Subsidiarität, ferner: Personsein und Menschlichkeit. Gesundheit und Leben, Bildung und Glück, Demokratie und Marktwirtschaft fehlten. 1980 begann die nächste Rezession.

 

Gemeinsame Ziele oder Aufgaben

 

Desungeachtet lassen sich aus dem Schlachtstaub vergangener Wortgefechte vier gemeinsame Ziele retten. Man könnte sie auch als Erfordernisse der Humanität, öffentliche Förderungs-Aufgaben oder schlicht Grundbedürfnisse des Menschen bezeichnen:

1) Lebensqualität (z. B. messbar durch Sozialindikatoren und die Deckung der "basic needs"; im Idealfall auch Bewältigung der "sozialen Probleme" und die Schaffung einer lebenswerten Welt für alle, die zu Lebensfreude statt Verbitterung und Verzweiflung führt)

2) soziale und regionale Chancengleichheit (für Jung und Alt, Männer und Frauen, Arme, Schwache, Behinderte, Strafentlassene, Ausländer, aber auch für Gemeinden und Regionen; Schlagworte wären: Gleichberechtigung - nicht Gleichheit -, Menschenrechte, Humanität resp. aktive Regionalpolitik)

3) Freiheit, Frieden und Sicherheit für alle (durch gewaltlose Konfliktlösungen, Gerechtigkeit, ausgewogenen Schutz von Interessen, Selbstbestimmung, Demokratie)

4) Umwelterhaltung (Bewahrung resp. Wiederherstellung und Pflege der natürlichen Lebensgrundlagen, schonende Nutzung von Ressourcen, Schutz von Tieren, Pflanzen und Landschaft).

 

Visionen oder Utopien?

 

Das setzt aber noch nichts in Bewegung. Dazu braucht es Menschen und Visionen. Als Vorbild könnte die Wirtschaft dienen. In einem Bericht über das Davoser Management-Symposium 1986 hiess es:

"Gefragt, ja notwendig werde der 'visionäre', der 'pionierhafte' Manager sein. Ein Führer also (sorry: ein leader), der seine Untergebenen (Verzeihung: Mitarbeiter) nicht treibt, sondern mitreisst, nicht bedroht, sondern beflügelt. Denn er wird von einer Idee, von einem Ideal, von einer Vision ausgehen, die ihn und seine Mitstreiter begeistert. Er wird ein Ziel anstreben und nicht nur den nächsten Schritt, und sein Atem, sein Enthusiasmus, wird ein Klima der Einsatzfreude und der Zusammengehörigkeit schaffen."

Analog zu ökonomisch orientierten Visionen - z. B. Spitzenleistungen (excellence), Wettbewerbsfähigkeit, Rentabilität, Gewinn - braucht es also auch "konkrete, kritisierbare gesellschaftliche Utopien", wie der Informatiker Karl Steinbuch 1968 forderte. Obwohl Georg Picht im Jahr darauf den "Mut zur Utopie" forderte, stehen viele Politiker Utopien skeptisch gegenüber. Sie können sich auf Lenins Erkenntnis stützen: "Träumerei ist das Los der Schwachen." Visionen dagegen haben die Massen immer wieder beflügelt, etwa "Deus lo volt" (Papst Urban II, 1095), die freimaurerische (1747) Formel "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" oder die Parole "Am deutschen Wesen wird die Welt genesen".

 

Eine Vision geht von der Frage aus: "Wie soll die Zukunft aussehen?"; eine Utopie beantwortet die Frage: "Wie könnte die Zukunft aussehen?" Fällt die Antwort düster aus, spricht man von einer Gegenutopie (z. B. "Brave New World" oder "1984"). Der grosse Propagandist der Zukunftsforschung Ossip K. Flechtheim meinte im 1969 erschienenen "Wörterbuch der Soziologie": "Je grösser Not und Elend des Menschen sind, um so kühner und optimistischer die Vision der Utopie." Demnach geht es uns heute gut. Trotz dem 68er Motto "L'imagination au pouvoir" nehmen sich die heutigen Entwürfe äusserst kärglich aus (vgl. z. B. den Inhalt des Büchleins mit dem grossspurigen Titel: "Utopien - die mögliche Zukunft" 1982).

 

Der "Traum von der wahren und gerechten Lebensordnung" (Max Horkheimer 1930) bewegt sich zwischen einer Verherrlichung der Technik und einer Huldigung des "Selbst". Dazwischen tüfteln viele an technologischem Kleinkram herum, z. B. Ernest Callenbach ("Ecotopia" 1975; dt. 1978) an Windrädchen oder die Prokol-Gruppe ("Die sanfte Wende" 1976) an sonnenbeheizten Kaffeekochern. Die grosstechnologische Variante verkörperte Alvin M. Weinberg mit seinen AKW-Parks à 50'000 Megawatt und einem (späteren) Sättigungszustand von 30'000 AKWs. Constantin A. Doxiadis' "Ecumenopolis" (1967/74; vgl. auch "Anthropolis" 1974) wird dereinst die ganze Erde über ziehen. Paolo Soleris "Stadt auf dem Tafelberg" (ab 1959) sollte 2 Millionen Einwohnern Raum und Vergnügen bieten; sein "Arcosanti" Projekt (seit 1968) war dann bescheidener, dafür getragen von einer "spirituellen Grundhaltung" (vgl. "Matter Becoming Spirit" 1973 und "Acrosanti" 1983; dt. 1988). Das führt hinüber zur Extrem-Vision des "Selbst": Selbstversorgung, -organisation, -verwaltung, -bestimmung, -befreiung, -hilfe und "natürlich" Selbstverwirklichung. Der jüngste Sprössling hier entstand in Zürich: "bolo 'bolo" von P. M. (1983).

 

Von 1964 bis 1971 gab Robert Jungk mit Hans Josef Mundet die Buchreihe "Modelle für eine neue Welt" heraus, 1969 mit Jan Galtung die Beiträge der 1. Internationalen Futurologenkonferenz in Oslo 1967: "Menschen im Jahr 2000 - eine Übersicht über mögliche Zukünfte". Ebenfalls 1969 veröffentlichte er mit 12 Autoren das Buch "Menschheitsträume" mit dem Untertitel "Visionen verändern die Wirklichkeit". Taten sie das wirklich?

 

"Natürliches" Leben

 

Welche Sehnsüchte stecken hinter den "alternativen" Visionen der vergangenen 20 Jahre? Vier Schlagworte bieten sich an: Natürlichkeit, Überschaubarkeit, Versöhnung, Pluralismus.

Die Idee des "naturgemässen Lebens" stammt von den alten Chinesen einerseits, den alten Griechen anderseits. Insbesondere die Stoiker forderten, dass der Einzelne im Einklang mit dem All zu leben habe. Und da die Natur vom vernünftigen "Nomos" und "Logos" durchwaltet ist, kann der Mensch solches mit seiner Vernunft tätig bewirken.

 

Die "natürliche" Lebensweise ist voller Fallstricke. Der Mensch kommt nackt zur Welt. Schon seine Kleidung richtet sich daher in vierfacher Weise gegen die Natur: Erstens gegen die Ausstattung des Menschen, denn er ist ein unbehaarter Primat; zweitens gegen Unbilden der Natur wie Kälte, Wind, Sonne; drittens wachsen Felle und Textilien nicht auf den Bäumen, müssen also der Natur (Tieren, Pflanzen) abgewonnen werden; viertens erfordert die Herstellung der Kleider Arbeit mit Instrumenten, was beides in der Natur nicht vorkommt. Der Mensch ist also "von Natur" ein Kulturwesen. In dieser Spannung muss er leben.

 

Seit die portugiesischen Seefahrer unter dem "christlichen Ritter" Heinrich 1441 die ersten Sklaven aus Rio de Oro und bald auch aus Guinea nach Hause brachten, waren nicht-weisse Menschen nicht hoch geachtet worden. Erst 300 Jahre später entstand das Klischee von "edlen Wilden". Der Enzyklopädist Diderot hat in einem Anhang zur de Bougainvilles Bericht seiner Reise um die Welt (1767-69) die Tahitier hochstilisiert. Er hielt sie den Europäern überlegen, weil sie in Einklang mit der Natur lebten. Diderots Häuptling der Tahitier "stellt den sexuellen Verdrängungen der christlichen Welt die unverhüllte Sinnlichkeit seines Landes gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass die christliche Moral zu Heuchelei und Verbrechen führe, während die tahitianische Moral Aufrichtigkeit und Glück begünstige" (Peter Gay 1966). Diderots Text durfte erst postum

(1796) erscheinen, und er kam sofort als sittenverderbend in Verruf.

 

Rousseau, dem viele den Ruf "Zurück zur Natur" zuschreiben, war anderer Ansicht. Er sagte wiederholt, dass der Mensch, der einmal in "die" Gesellschaft eingetreten sei, diese niemals wieder verlassen könne; die menschliche Natur könne nicht in den Dschungel zurückkehren. Beim Übergang vom Naturzustand in die Zivilisation trete "Gerechtigkeit" an die Stelle von "Instinkt". Dabei begibt sich freilich der Mensch "mancher Vorzüge, die ihm die Natur geschenkt hat", um dafür andere einzutauschen, die so gross sind, dass er sich immer glücklich preisen könnte, wenn die Gesellschaft nur nicht durch Laster verdorben wäre. Rousseaus "Emile" behandelt eine utopische Erziehung, der "Contrat Social" (1762) eine utopische Gesellschaft, die erfolgreich bestehen könnte, wenn sie aus lauter Emiles bestünde. Die ideale Gesellschaft sei diejenige, in welcher der Mensch die Gesetze selber macht, die er befolgt.

 

Wenn das Modell des Naturmenschen, Primitiven oder Wilden nicht als Leitidee dienen kann, dann liegt noch zweierlei offen:

  • einerseits die orientalischen Kulturen (in der Aufklärung vor allem China, im 19. Jh. Indien),
  • anderseits die Tierwelt.

Die meisten Tiere leben friedlich und spielerisch miteinander. Viel Aufmerksamkeit haben etwa die Bienen-, Ameisen- und Termiten-"Staaten" gefunden, seit dem Zweiten Weltkrieg die Affenhorden. Sowohl die Ausstattung der Tiere wie ihr Sozialverhalten ist aber von derartiger Vielfalt, dass der grosse Basler Zoologe Adolf Portmann 1965 meinte, dass wir "im tierischen Bereich keine Argumente für die Rechtfertigung einer menschlichen Sozialregel finden können".

 

Freilich hat der Mensch von seinen tierischen Vorfahren einiges auf den Weg mitbekommen. Wie alle Organismen schleppen auch wir unsere Geschichte als "historische Belastung" (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) mit uns. Aber was ist das für eine Geschichte? Soziobiologie und Paläoanthropologie versuchen das zu klären: Was konnten und wie lebten die ersten Hominiden, der Neandertaler, der Cro-Magnon-Mensch? Ist er primär ein Wildbeuter oder Jäger, Nomade und Sammler? Einigermassen fest steht, dass der Übergang zur Sesshaftigkeit in dörflichen Gemeinschaften vor rund 10'000 Jahren eine gewaltige Umstellung brachte. Seither lebt der Mensch unter Arbeitsdruck und Stress. Seine biologische und instinktmässige Ausstattung aber konnte sich nicht so rasch ändern.

 

Biotechnik, Bionik, Biokybernetik, biologische Landwirtschaft

 

Ausgerechnet der aus heutiger Sicht als Begründer des "mechanistischen Denkens" angesehene Demokrit (400 v. Chr.) behauptete, der Mensch habe die technischen Verfahren durch Nachahmung der Natur, nämlich der Tiere entwickelt; er habe das Weben und Stopfen von der Spinne gelernt und den Hausbau von der Schwalbe. Das trifft kaum die Realität, und überdies stand Demokrit mit seiner Ansicht allein. Seine Zeitgenossen meinten vielmehr, die technische Mechanik befasse sich mit "unnatürlichen" Vorgängen: "Mechanémeta" sind etwas Widernatürliches (pará phýsin) wie die Ränke des listenreichen Odysseus. Die Mechanik bewirkt ein unnatürliches Verhalten der Dinge, und dieses ist von geringerer Art als das natürliche, mit dem sich die Naturwissenschaft (z. B. die Physik als Theorie) befasst (vgl. "Lexikon der Antike": Mechanik A, Naturwissenschaft C).

 

Eine neue Verbindung von Natur, Technik und Wissenschaft ergab sich erst durch die Einführung des verifizierenden und heuristischen Experiments (um 1580) und nochmals anders um 1870. Damals wies der Schweizer Botaniker Simon Schwendener an Pflanzen nach, dass ihre Festigkeit nach dem Sparsamkeitsprinzip ausgelegt ist. Der Mathematiker und Ingenieurdozent Carl Culmann (ETH-Direktor 1872-75) konnte zeigen, dass der Bau der Spongiosa in den Knochen exakt seinen mathematisch ermittelten Forderungen der architektonischen Statik mit geringstmöglichem Materialverbrauch entsprach. (Der Konstrukteur des Eiffelturms, Maurice Koechlin, hatte von 1873-77 bei Culmann studiert.)

Es war also die Ingenieurtechnik, welche dem Menschen die Augen für die sinnreichen Konstruktionen der Natur öffnete. Auch die Regelmechanismen im menschlichen und tierischen Körper wurden erst entdeckt (z. B. Richard Wagner 1925; Otto F. Ranke, Walter R. Hess, A. v. Muralt), nachdem man solche in der Technik längst kannte (die Entdeckung des Rückkoppelungsprinzip datiert von 1913).Erst durch die Entwicklung der technischen Kybernetik erweiterte sich das Verständnis für die biologische.

 

Das schliesst Bemühungen um eine Orientierung an der Natur nicht aus Leonardo da Vincis Entwürfe erwiesen sich jedoch als unrealisierbar. Ein Flugzeug fliegt anders als ein Vogel, ein Panzer ist kein Muschel. Ob Werkzeuge "Organprojektionen" des Menschen sind, wie Ernst Kapp 1877 nachzuweisen versuchte, darf bezweifelt werden.

 

Eher verhängnisvoll wirkte sich das Prinzip "Natur als Vorbild" im Gefolge von Herbert Spencers (1852) und Darwins (1859) Entwicklungstheorien aus. Neben bekannten und berüchtigten Auswüchsen blieb die "Menschenökonomie" des Wieners Rudolf Goldscheid eher kurzlebig. Er nannte sie 1911 auch "Biotechnik" und "Sozialbiologie":

"Menschenökonomie ist das Bestreben, unsere Kulturerrungenschaften mit einem immer geringeren Verbrauch an Menschenmaterial, mit einer immer geringeren Vergeudung an Menschenleben zu erzielen, ist das Bestreben einer wirtschaftlicheren Ausnützung, einer ökonomischeren Abnützung der menschlichen Arbeitskräfte wie des Menschenlebens überhaupt." Sie drängt auf eine "Technik des Organischen hin", wehrt den "Raubbau am Mutterboden der Produktivität, an den wertschaffenden Kräften" ab.

 

Ein weiterer Wiener, der später als Direktor des "Biologischen Instituts" in München wirkte, Raoul H. Francé, wurde nicht nur durch seine Untersuchungen des "Liebeslebens der Pflanzen" (1905) populär, sondern auch durch sein "biotechnisches" Weltbild (z. B. "Bios. Die Gesetze der Welt" 1921):

Alle Leistungen bei Zelle, Pflanze, Tier und Mensch sind unterworfen den grossen mechanischen Gesetzen, die ihnen Wirkung und Dauer sichern, wenn sie befolgt werden, sie aber der Zerreibung und Haltlosigkeit ausliefern, wenn eine Vielheit sich anders zu regeln versuchte, als nach diesem Zusammenhangschema, das nicht deswegen wirkt, weil es gut ist, sondern das eben die einzige Möglichkeit ist, durch die eine gute Wirkung zustandekommen kann. Da ist ein grosser gemeinschaftlicher Gesichtspunkt gewonnen, unter dem Natur und Kultur zur Einheit zusammenfliesst ..."

 

Weder Bionik (vgl. Lucien Gérardin: "Natur als Vorbild" 1968) noch Biokybernetik (vgl. Felix von Cube: "Technik des Lebendigen" 1970) brachten grundsätzlich Neues.

Auch die "biologisch-dynamische" (Rudolf Steiner 1924), biologische (Sir Albert Howard, 1940, und Lady Eve Balfour, 1942; Raoul Lemaire, 1925, und Jean Boucher, 1963) oder "organisch-biologische" (Hans Peter Rusch, 1950; Hans und Maria Müller, 1946) Landwirtschaft könnte sich auf R. H. Francés Bestseller "Das Edaphon" (1921) und "Das Leben im Ackerboden" (1922) berufen.

 

Frederic Vester hat mehrfach versucht, die "Grundprinzipien des Lebendigen" zusammenzustellen. Dem "kybernetischen Zeitalter" (1974) kann man etwa entnehmen:

  • die Bestimmung des Handelns von der Zukunft (z. B. vom Bauplan) her, nicht von der Vergangenheit oder augenblicklichen Erfordernissen
  • das Regelkreisprinzip der negativen Rückkoppelung, und zwar in offenen Systemen, die miteinander in Wechselbeziehung stehen
  • das Prinzip der Symbiose, der Kombination geeigneter Einzelsysteme zum Zwecke des gegenseitigen Profits durch Stoff-, Energie- und Informationsaustausch
  • das Recycling als Wiedereinführung alles Produzierten und Verbrauchten in einen erneuten Kreislauf
  • Polyvalenz und Pluralismus statt Fixierung und Spezialisierung
  • Übergang von Wachstum in stationäre Phasen mit Differenzierung statt weiterer Vermehrung.

 

Kurz: Die Natur ist und war schon immer kybernetisch; nun muss auch der Mensch in einer "geistigen Evolution" kybernetisch (seit 1976: "vernetzt") denken und handeln lernen. Das bedeutet, die tausendfältigen Regelkreise der Natur nutzen, nicht durch Gen- und Grosstechnologie, Chemie, Beton und Monokulturen zerstören. Doch Produkte, die man der Natur mühevoll abgerungen hat, z. B. Aluminium und Stahl, Zement, Pestizide und Öl lassen sich weder in Natur  zurückverwandeln noch in natürliche Kreisläufe einfügen, Abluft, Abgase sowie Abwässer und Abfälle erst recht nicht. Und ausgerottete Tier- und Pflanzenarten sind nicht mehr zurückzugewinnen.

 

Versöhnung

 

Der Wunsch nach Versöhnung ist grösser als des Menschen Herz. Eine Versöhnung wird gefordert zwischen:

·                    Mensch und Natur

·                    Seele und Technik

·                    Mann und Frau

·                    Ost und West, Nord und Süd

·                    Stadt und Land

·                    Volk und Politiker, Mehrheit und Minderheit

·                    Gesunde und Kranke/Behinderte

·                    Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Herr und Knecht

·                    Lehrer und Schüler, Dozenten und Studenten

·                    Handwerker und Intellektuelle

·                    literarische und naturwissenschaftlich-technische Intelligenz oder Kultur.

 

Dazu käme die Versöhnung der Generationen und Klassen, der Völker und Rassen, der Religionen und Ideologien - eine übermenschliche Aufgabe für alle? Und die grosse Frage bleibt: "Wer versöhnt"? Das kann die allgemeine Menschenliebe oder das gegenseitige Vertrauen sein. Doch das müsste sich in jedem einzelnen Menschen zeigen. Auch die Abschwächung zur Partnerschaft macht die Aufgabe nicht leichter.

 

Dezentralisation, "Kleine Netze" und Sozialdienst

 

Im Gegenzug einerseits zur "Superstruktur" (Arnold Gehlen 1957) oder "Technostruktur" (J. K. Galbraith 1967), , zum "militärisch-industriellen Komplex" (Eisenhower, 20.1.1961) und "Monopolkapital" (P. M. Sweezy, P. A. Baran 1966), anderseits zu den realen Ballungsphänomenen und den architektonischen Visionen vom "verdichteten Bauen" (z. B. "Habitat 67", Terrassentürme) tauchte der Wunsch nach Dezentralisation wieder auf. Als politische und wirtschaftliche Forderung ist er ein Kind des letzten Jahrhunderts. Der Föderalismus ist eine konkrete Form davon.

 

Eine frühe Studie über Dezentralisation lieferte Maurice Hauriou (1892), und Anfang der 20er Jahre gab es einige schüchterne Vorstösse. Forschung und Diskussion liefen erst um 1960 wieder an. Eine nüchterne Übersicht boten Manfred Kochen und Karl W. Deutsch ("Decentralization" 1980). Worum es emotionell geht, hat der Zürcher Ökonom Bruno Fritsch am ETH-Symposium 1973 in unübertrefflicher Kürze formuliert: "Wir müssen dezentralisieren, d. h. wieder übersichtliche Verhältnisse schaffen."

 

Dezentralisation kann vielfältig verstanden werden. Politisch kann sie nach dem Subsidiaritätsprinzip erfolgen, und zwar auf doppelte Weise:

  • Die Entscheidungskompetenz soll auf dem niedrigsten sachlich zutreffenden und gerechtfertigten Niveau liegen.
  • Soziale Hilfe und Unterstützung soll primär als Beistand in kleinen Gemeinschaften erfolgen, als "Selbsthilfe", nicht "von oben" verordnet. Vor allem in der katholischen Soziallehre besteht ein "Recht der kleinen Lebenskreise".
  • Bei der wirtschaftlichen Dezentralisierung kann es sich handeln
  • volkswirtschaftlich um regionale Dezentralisierung von Besiedlung, Industrie, Dienstleistungen, Landwirtschaft und Erholungsräumen
  • unternehmerisch um die Verteilung der Verantwortung und
  • produktionstechnisch um eine regionale bis häusliche Aufteilung der Herstellung resp. Arbeit.

 

Die meisten Forderungen präzisieren aber nicht so genau. So ist etwa im NAWU-Report (1978) pauschal die Rede von einer "Dezentralisierung und Autonomisierung lokaler Gemeinschaften, die ein Gegengewicht gegen die zunehmende internationale Arbeitsteilung und Verflechtung darstellen". Propagiert wird das "qualitative Wachstum". Daher  muss dem zerstörerischen Wachstumszwang des bisherigen Systems entgegengewirkt werden, und zwar durch folgende Strategieelemente:

"Eine neue Dynamik der Wirtschaft muss auf eine zunehmende Dezentralisierung der Produktion im Sinne der 'Kleinen Netze' und auf eine gewisse Renaturalisierung im Sinne des Sozialdienstes hintendieren. Die Strategie soll durch eine neue Eigentumspolitik unterstützt werden, die sich der Konzentration in der Wirtschaft und der Ausbeutung der Erde und der Umweltgüter entgegenstellt. Besondere Beachtung muss dabei der Agrarpolitik geschenkt werden..."

Da werden romantische Vorstellungen deutlich:

"Der strategische Aufbruch zum langen Marsch auf eine umweltgerechte Gesellschaft hin kann wenig spektakulär im 'Kleinen Netz' der Gemeinschaft im Wohnbereich beginnen, wo die Lebensängste gebannt sind und die der heutigen Situation des Menschen entsprechenden Verhaltensweisen eingeübt werden können."

 

Was ist ein 'Kleines Netz'? Eine Ansammlung von 15-20 sog. "Wahlverwandtschafts-Familien", die "im Rahmen einer Siedlungsgemeinschaft einzelne soziale Aufgaben und Gemeinschaftsdienste aus eigener Kraft erfüllen". Der Sozialdienst wäre dabei "weder Verdienst noch Liebesdienst, sondern Dienst auf einer Nichtlohnbasis (also ohne Entgelt), aber prinzipiell auf Gegenseitigkeit (das heisst mit naturaler 'Verrechnung')". Eine ländliche Dorf- oder kleingewerbliche Quartieridylle schwebt manchen dabei vor. Noch deutlicher wird dieses Bedürfnis nach Überschaubarkeit einerseits, kollektiven Lebensformen anderseits in der von Robert Jungk herausgegebenen "Enzyklopädie der Zukunft" (1978), die durchgehend am "sozial-engagierten Menschen" ausgerichtet ist.

 

Pluralismus

 

Als König Friedrich der Grosse 1740 verkündete: "In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden", meinte er damit "nur" die Religionsfreiheit. Viele fassen das heute aber so auf, als handle es sich um die Parole "Chacun à son goût", wie sie in der Operette "Die Fledermaus" (1874) erstmals vorkommt. Leider ist das Leben keine Operette. Dabei handelt es sich weniger um die Sitte ("Eines schickt sich nicht für alle!" Cicero, Goethe) als um die Freiheit jedes einzelnen. Sie stösst immer sehr rasch an die Freiheit vieler anderer Menschen an. Daher wäre eine Balance des gegenseitigen Respekts nötig. Wenn es in der französischen Erklärung der Menschenrechte 1789 hiess: "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet", so greift diese Negativ-Bestimmung zu kurz, weil Schaden von dem definiert wird, der sich die Freiheit herausnimmt.

 

Adam Smith, der mit seinem "Reichtum der Nationen" (1776) die moderne Nationalökonomie - und, wie manche meinen, das Prinzip des laissez-faire und der freien Marktwirtschaft - begründet hat, hielt seine "Theorie der ethischen Gefühle" (1759) stets für wichtiger. Er war ein Moralphilosoph, der die Devise vertrat: "Handle so, dass ein unparteiischer Beobachter mit dir sympathisieren kann." Also verfocht er nicht den nackten Egoismus. Vielmehr sah er das "Selbstinteresse" eingebunden in Pflicht und Verantwortung. Nur auf dieser Basis führt die Erwerbs- und Wettbewerbsfreiheit zum höchsten Gesamtnutzen.

 

Eine andere Lösung des Freiheitsproblem bot der Anarchismus an. Peter Kropotkin hat in seinem Artikel in der "Encyclopaedia Britannica" einen zentralen Gedanken der Kybernetik vorweggenommen, wenn er schreibt:

"Anarchismus ist die Bezeichnung für ein Prinzip oder eine Theorie des Lebens und des Verhaltens, der zufolge man sich die Gesellschaft ohne Regierung vorstellt. In einer solchen Gesellschaft wird die Harmonie nicht durch die Unterordnung unter ein Gesetz oder den Gehorsam gegenüber einer Autorität, sondern durch freie Vereinbarungen zwischen den verschiedenen territorialen und professionellen Gruppen erreicht, die sich zur Regelung der Produktion und des Verbrauchs sowie zur Befriedigung der menschlichen Vielfalt von Bedürfnissen und Wünschen eines zivilisierten Wesens frei zusammenfinden."

Ob Kropotkin wusste, dass derartige Ideen schon den Anfängen der USA zu Gevatter standen? Deren 3. Präsident, Thomas Jefferson, hatte schon kurz nach 1800 gefordert: "Men may be trusted to govern themselves without a master." Und die Parole des 16. Präsidenten, Abraham Lincoln (1861-65), war: "Government of the people, by the people, for the people."

 

Die heutigen Ideen von "Freiheit und Abenteuer" orientieren sich zu einem grossen Teil an der Werbung und am Psychokult. "Selbstverwirklichung" wird oft zum platten Egoismus. Ebenso gefährlich ist das "Recht zum Irrtum oder Fehler zu begehen". Manche, die über eine Gesetzes- und Verordnungsflut jammern, fordern in Bereichen, die sie nicht direkt betreffen, mehr Kontrolle, strengere Vorschriften, härtere Strafen. Und schliesslich meinen viele mit "Handlungsspielräumen" oder "Freiräumen" solche für sich, nicht für andere.

Gemäss der These des Pluralismus müsste es noch andere Auffassungen geben. Kant meinte etwa:

"Dem Egoismus kann nur der Pluralismus entgegengesetzt werden, d.i. die Denkungsart, sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen blossen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten."

 

Um 1900 brachte der amerikanische Pragmatismus den Pluralismus wieder ins Spiel, und zwar als Gegenpol zum Monismus (Haeckel, Ostwald). Grossen Einfluss hatte das Buch von William James "A Pluralistic Universe" (1909; dt. 1914). Manche Vorschläge französischer und englischer "Pluralisten" zielten in Richtung auf Dezentralisation. Sie kritisierten die "Omnikompetenz" (Harold J. Laski 1916) des Staates und verlangten seine "Transformation" (Léon Duguit 1913), und zwar zu einer dienenden Funktion.

Läuft der Pluralismus Gefahr, in Partikularismus (Max Imboden) oder Anarchismus zu entarten? Soziologen bestreiten dies energisch (siehe z. B. Hartfiel Hillmann: "Wörterbuch der Soziologie"): Der Pluralismus schränkt die Freiheitschancen ein, fördert die Diskussion über gesellschaftsgestaltende Zukunftsziele nicht, begünstigt das Balancesystem des gesellschaftlichen status quo und tendiert zum Konformismus.

 

Ein weiteres Problem bleibt im politischen wie wirtschaftlichen Bereich die Bewältigung von Aufgaben, welche über den Horizont von sozialen Gruppen oder Pressure Groups hinausgehen. Schon Adam Smith hat solches gespürt, wenn er schreibt:

"Nach dem System der natürlichen Freiheit beschränkt sich der staatliche Eingriff nur noch auf die Erfüllung dreier Funktionen:

1. die Nation gegen Gewalttätigkeiten und Angriffe zu schützen,

2. jeden einzelnen Vertreter der eigenen Nation vor rechtlichen Übergriffen zu bewahren,

3. bestimmte öffentliche Einrichtungen zu schaffen, deren Errichtung und Unterhalt der privaten Initiative nicht überlassen werden kann."

 

Heute hat sich das Spektrum "herrenloser" Aufgaben oder humanitärer Pflichten gewaltig ausgedehnt, man denke etwa an

·        Menschen- und Bürgerrechte (inkl. Chancengleichheit)

  • Ethik der Forschung (z. B. Atomenergie, SDI. Tierversuche, Tierzucht, Lebensmitteltechnologie, Gentechnologie, Psychopharmakologie)
  • Kunst und Kultur, Information der Bürger
  • Raum- und Siedlungsplanung
  • Konsumenten- und Jugendschutz, Persönlichkeits- und Datenschutz
  • Bildung, Gesundheitsvor- und -fürsorge, Sozial- und Asylpolitik
  • Erschliessung, Versorgung und Entsorgung
  • Heimat-, Ortsbild-, Denkmalschutz
  • Umwelterhaltung, -wiederherstellung, -schutz
  • Währungen, Welthandel und "Entwicklung" der Dritten Welt.

 

Wer sorgt dafür in der freien Marktwirtschaft, wer, wenn alle in "kleinen Netzen" leben? Sowohl das Pochen auf Eigenverantwortung als auch das Bedürfnis nach Wärme und Autonomie, Verständnis und Harmonie zerbrechen an den Ansprüchen des grösseren "Ganzen", das wenige im Auge haben und niemand im Griff hat.

 

 

Teil IV: Integrales Vorgehen

 

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

 

Zur selben Zeit wie systematische Forschung und mechanisierte Produktion entstand auch die empirische Sozialforschunq. Sie war von Anfang an interdisziplinär und problemorientiert. In England wurden seit 1825 von Staats wegen durch parlamentarische Untersuchungskommissionen, den Royal Commissions, und durch beamtete Fabrikinspektoren Erhebungen über die Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiter, zumal der Frauen und Kinder, vorgenommen. Anlass war die erschreckende physische und moralische Verelendung (Pauperismus).

"Das Schwergewicht des Verfahrens lag in der mündlichen Einvernahme von 'Zeugen' und Auskunftspersonen im Kreuzverhör, ... ergänzt durch Gruppenbefragungen und Diskussionen ('Meetings'), schriftliche Berichte von Ärzten und Inspektoren, durch Fragebogen und vor allem sehr häufig durch Erhebungen der Kommission, oder von ihr speziell Beauftragter, an Ort und Stelle", heisst es in einer späteren Zusammenfassung. Die Forschungsergebnisse wurden noch von Marx und Engels benutzt.

 

Bemerkenswert war damals der Einsatz der Ärzte. Manche verstanden sich nach den Worten des berühmten Rudolf von Virchow als "die natürlichen Anwälte der Armen". 1848 brach im Gefolge einer Hungersnot in Oberschlesien eine Typhusepidemie aus. Nach deren Untersuchung meinte Virchow, Epidemien seien "Warnungstafeln, an denen der Staatsmann von grossem Stil lesen kann, dass in dem Entwicklungsgang seines Volkes eine Störung eingetreten ist, welche selbst eine sorglose Politik nicht länger übersehen darf". Die Quittung folgte auf dem Fuss: Virchow wurde von der preussischen Regierung entlassen. In der letzten Nummer seiner Zeitschrift "Die medizinische Reform" schrieb er:

"Kurz vor dem Ziel sind wir durch die Gewalt der politischen Ereignisse gescheitert ... wir können daher nur noch die Aufgabe anerkennen, die Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege, die Fragen von dem täglichen Brot und der qesundheitsmässiqen Existenz in das Volk hineinzutragen, und ihnen durch immer neue Apostel die breitesten Grundlagen für ihre endliche Durchkämpfung zu erringen. Die medizinische Reform, die wir gemeint haben, war eine Reform der Wissenschaft und der Gesellschaft."

 

Empirische Sozialforschung, Sozialstatistik oder Epidemiologie,  die seither überall praktiziert wurden, waren also häufig mit einem reformerischen Impetus verbunden. Die "soziale Frage", d.h. die Not der Land- und Industriearbeiter und ihrer Familien, kümmerte die Wissenschafter. Um sie in ihrer ganzen Breite zu erfassen, wurde ein staunenswertes Spektrum von Befragungs- und Untersuchungsmethoden entwickelt.

 

Zu ersten Ansätzen einer Theorie der interdisziplinären Forschung kam es aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine These von Marcel Mauss wieder aufgegriffen wurde. Dieser hatte in seinem "Essai über das Geschenk" (1923/24) das bei den Indianern Nordamerikas verbreitete "Potlach" als "totales soziales Phänomen" bezeichnet, weil es nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein wirtschaftliches, religiöses, ästhetisches und sozialmorphologisches Phänomen ist. Will man alle Aspekte zusammen erfassen, braucht es eine Aufhebung konventioneller Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen. Deshalb entwickelte Georges Gurvitch (1950/62) eine Tiefensoziologie, welche davon ausgeht, dass als "Momente des sozialen Totalphänomens in seiner unauflösbaren Einheit" nicht weniger als zehn Schichten - resp. Blickwinkel - zu unterscheiden wären.

 

Es verwundert daher nicht, dass die erste "Interdisciplinary Conference" 1947 in New York zum. Thema "Culture and Personality" durchgeführt wurde. Die interdisziplinäre Forschungspraxis machte allerdings nur langsam Fortschritte; sie blieb weitgehend additiv. Noch das "Internationale Jahrbuch für interdisziplinäre Forschung" von 1974 brachte paradoxerweise Berichte einzelner Disziplinen. Die theoretische Diskussion in den 50er Jahren konzentrierte sich auf das Abgleiten von Gurvitch in den Marxismus (resp. in die Hegelsche Dialektik) und die Gegenüberstellung von Individualismus und Holismus, welche in Deutschland durch den 1961 ausgebrochenen "Positivismusstreit" weitergeführt wurde.

 

Die Praxis ging entweder in Richtung Grossforschung oder beruhte auf Einzelinitiativen. Am "Projekt Manhattan" (1940-45) arbeiteten 200'000 Forscher, Ingenieure und Techniker. Andere "Big Science"-Vorhaben dieser Zeit waren die Entwicklung von Radar und Computer sowie die Herstellung von Penicillin. Am andern Ende der Skala steht die Zusammenarbeit des Psychiaters C. G. Jung mit dem Sinologen Richard Wilhelm (1929), dem Mythenforscher Karl Kerényi (1940/41) und dem Physiker Wolfgang Pauli (1952). In seinem Buch "Cybernetics" (1948) berichtete der Mathematiker Norbert Wiener, wie seine neue Wissenschaft aus Begegnungen von Arturo Rosenblueth  (Medizin), M. S. Vallarta (Physik), Julian H. Bigelow (Nachrichtentechnik), Warren McCulloch (Gehirnphysiologie), Walter Pitts (mathematische Logik), John von Neumann (Mathematik und Wirtschaftstheorie) und vielen anderen - darunter das Ehepaar Gregory Bateson und Margaret Mead - hervorging.

 

Im allgemeinen beschritten die Naturwissenschaften jedoch einen andern Weg, indem sie unzählige neue Wissenschaften zwischen die alten schoben, z. B. physikalische Chemie und Biochemie, Neurobiologie, Paläobotanik, Humanökologie und Ergonomie. Diese stehen meist etwas verloren in der Landschaft. Umgekehrt wurden an neue "Überwissenschaften" wie Kybernetik, Systemdenken, Operations Research, Informatik, Zukunftsforschung, Arbeitswissenschaft, Kommunikationswissenschaft oder später Ökologie Ansprüche gestellt, die sie nur zum Teil erfüllen konnten.

 

Um 1970 wurde das Schlagwort "interdisziplinär" ausserhalb der Sozial- und Naturwissenschaften aufgegriffen. War es bislang "Kennwort einer wissenschaftskritischen Einstellung, die vom blossen Unbehagen am Spezialistentum bis zur ausdrücklichen Rückforderung der Einheit der Wissenschaft reichte", so forderte nun die Öffentlichkeit Relevanz. "Durch interdisziplinäre Zusammenarbeit sollen die Wissenschaften ihre 'Lebensbedeutung' zurückgewinnen", meinte Helmut Holzhey 1974.

 

Beteiligung der Betroffenen

 

Das führt nahtlos zu weiteren Formen der geforderten Zusammenarbeit, nämlich zwischen Wissenschaft und Politik, ja zwischen allen "die" Gesellschaft bildenden Gruppen. "Beteiligung der Betroffenen" heisst das in voller Ausweitung des Gedankens. Das würde freilich bedeuten, dass Vertreter von etwa einem Dutzend unterschiedlicher Kulturbereiche zusammensitzen und -arbeiten müssten, wenn es um "Probleme" wie Stadtplanung, Umweltschutz, Gesundheits- und Bildungswesen, Verkehr, Energie und den ganzen Komplex der "sozialen Probleme" (Armut, Arbeitslosigkeit, Überalterung, Behinderte, Minderheiten, Süchte, Kriminalität, Gewalt) ginge.

Das Hauptproblem dabei stellt einerseits die Definition der "Probleme" selber dar, anderseits die Organisation, gilt es doch etwa folgende Gruppierungen unter einen Hut zu bringen:

  • Wissenschaft, Mathematik, Philosophie (samt Logik und Ethik)
  • Kirchen, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen, Medien
  • Kunst, Kunsthandwerk, Design, Kleinkunst, Unterhaltung, Sport
  • Politiker, Stäbe, Kommissionen, Bürokratie, Parteien
  • Militär, Polizei, Justiz
  • Beratungsfirmen und -stellen, Architektur- und Planungsbüros
  • Unternehmen (samt Multis), wirtschaftliche Organisationen, Branchen-Verbände, Gewerkschaften
  • Vereinigungen, Organisationen und Verbände aller Art
  • Bürger, Randgruppen, Minderheiten ohne Vertretung usw.

 

"Offene Planung", "Mitsprache des Volkes", Mitbestimmung am Arbeitsplatz", im Quartier, in der Schule, im Spital oder gar in der Wissenschaft (Paul K. Feyerabend) sind leichter zu fordern als demokratisch zu organisieren. Früher hiessen Parlamentarier "Volksvertreter". Müsste man etwa dieses Konzept wieder reaktivieren und es mit "Interessenvertretern", Funktionären und Lobbies zu einer neuen Einheit bringen?

 

Internationale Zusammenarbeit

 

Doch damit nicht genug: Globale Zusammenarbeit ist spätestens seit der ersten Weltwirtschaftskrise (1857) immer mehr institutionalisiert worden.

Wichtige Etappen waren etwa das IKRK (1864), die 1. Internationale (1864) und die Int. Telegraphen-Union (1865), der Internationale Frauenrat (1888) und die Friedenskonferenz von 1899 mit der Gründung des Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshofes in Den Haag. 1913 fand die erste Internationale Naturschutzkonferenz in Bern mit Delegierten aus 18 Ländern statt. Völkerbund, ILO und Internationale Handelskammer folgten 1919, das Internationale Naturschutzbüro 1928.

 

Die UNO (1945) umgab sich mit einem ganzen Kranz von Sonderorganisationen; die Generalversammlung proklamierte 1964 zum "Jahr der Weltzusammenarbeit". 1968 berief die UNESCO die erste Biosphären-Konferenz ein, an der 60 Staaten und mehrere internationale Organisationen durch 250 Delegierte vertreten waren. "Uns alle erfüllt jetzt die Furcht, ob wir die Verhältnisse noch in den Griff bekommen", bekannte der wissenschaftliche Direktor der US-Naturschutzbehörde damals. Andrei D. Sacharow meinte im selben Jahr, dass "nur universale Zusammenarbeit die Zivilisation bewahren" werde.

 

Gesamtkonzepte

 

An die Seite von Grossprojekten wie Flughäfen, Raffinerien, Atomkraftwerke, automatisierte Fabriken, Einkaufs- und Freizeitzentren musste daher etwas noch Grösseres treten: Gesamtkonzepte oder -planungen, und zwar sowohl auf kommunaler, nationaler wie globaler Ebene.

Im Jahre 1963 beschloss z. B. die Stadt München einen Stadtentwicklungs- und Gesamtverkehrsplan. Dass er nicht der Weisheit letzten Schluss darstellte, erhellt daraus, dass fünf Jahre später kritische Architekten das "Münchner Diskussionsforum für Entwicklungsfragen" einrichteten. "Es will allen Bürgern die Möglichkeit geben, ihre Vorschläge zur Stadtplanung in die Entscheidung der Verwaltung und des Stadtrates einfliessen zu lassen ... Letzten Endes geht es darum, den Menschen an der Bestimmunq seiner Umwelt zu beteiliqen, in der Hoffnung, damit eine befriedigendere Umwelt zu erreichen."

 

1964 versuchte das Bundesland Hessen, zu einem "empfehlenden", an langfristigen Zielsetzungen orientierten, integrierten Entwicklungsprogramm zu gelangen. Dieser "Grosse Hessenplan" bot "eine einheitliche Gesamtkonzeption für alle Kräfte, die in irgendeiner Form die Entwicklung des Landes beeinflussen". Das erforderte neue Formen der Zusammenarbeit über die hierarchische Verwaltungsorganisation und über das Ressortprinzip hinweg. Die Schweiz versuchte es später mit der Erarbeitung der "landesplanerischen Leitbilder"(1968-73), wobei 10 unterschiedliche Varianten künftiger Entwicklung berücksichtigt wurden. Daraus ergab sich eine Gesamtverkehrskonzeption (GVK-CH, 1977) und eine Gesamtenergiekonzeption (GEK-CH, 1978). Dann war der Elan verflogen.

 

Im globalen Rahmen bereiteten seit 1966 eine Arbeitsgruppe unter Jan Tinbergen und das "United Nations Development Program" (UNDP) den zweiten Zehnjahres-Entwicklungsplan (1970-80) vor. Die FAO veröffentlichte 1969 nach mehrjähriger Arbeit einen "Indikativen Weltplan für die landwirtschaftliche Entwicklung". Das Echo war zunächst gering. Immerhin waren die 70er Jahre von Konferenzen und Berichten erfüllt, z. B. Welt-Umweltschutz- (1972), -bevölkerungs- (1974), -ernährungs- (1974), -frauen (1975,1980) und -beschäftigungs- (1976)-Konferenz, UNCTAD III-V (1972, 76, 79), die Tokio-Runde des GATT (1973-79) oder die 2. und 3. UNIDO-Generalkonferenz (1975, 80). Das entwicklungspolitische Programm der OECD von 1976 nannte als vorrangige Ziele die "Überwindung der absoluten Armut" in den Entwicklungsländern und die "Befriedigung der Grundbedürfnisse" der dort lebenden Menschen. Die letzten grossen Zusammenfassungen stammen aus den Jahren1979/80: die OECD-Studie "Interfutures", der Bericht der Brandt-Kommission ("Nord-Süd"), der von Jimmy Carter in Auftrag gegebene Report "Global 2000" und die "World Conservation Strategy" (1978ff) der IUCN.

 

Warum pflegen solche Appelle zu verpuffen, "ganzheitliche" Unterfangen überhaupt zu scheitern? Der Hauptgrund liegt in den "partikulären Interessen" (engl. auch: "vested interests"). Sie tauchen schon bei der Zusammensetzung von Kommissionen auf und werden umso deutlicher, je genauer man die Ziele sowie Mittel und Wege zu deren Erreichung festlegen will. Das führt zu Verwässerungen des ursprünglichen Ansatzes und kann so weit lähmen, dass am Schluss blosse Grundsätze und Absichtserklärungen übrig bleiben. Allenfalls formulierte Verpflichtungen oder Beschränkungen werden von einigen Seiten glatt ignoriert. Anders ausgedrückt: Privilegierte, Mächtige und Reiche versuchen, ihre Positionen auszuspielen und zu halten, im Mittelfeld schwanken die Gekränkten, und die Schwachen und Habenichtse haben ohnehin nichts zu sagen.

Ein weiterer Grund liegt in den unterschiedlichen Ansichten, welche dreierlei betreffen:

  • die Einschätzung der gegenwärtigen Lage (von "besser als je", "tragbar"" "halb so schlimm" bis "misslich" und "kritisch")
  • die Gründe dafür (Fleiss und Leistung; menschliche Schwächen und Unzulänglichkeiten; Hochmut und Ausbeutung)
  • die Mittel zur weiteren Verbesserung des Erreichten oder zur Behebung von Fehlerquellen resp. die Auswege aus der Misere.

 

Seit den 50er Jahren wurde beispielsweise die "Bevölkerungsexplosion" als Risiko, bald auch als globale Bedrohung gesehen. Geburtenkontrolle resp. Familienplanung waren Schlagworte der 60er Jahre. Gleichzeitig wurden die ersten Umweltschäden und -vergiftungen (z. B. durch DDT) sichtbar, und Hungersnöte traten auf (z. B. in Indien 1965/66). Doch die langsam anlaufenden Verbote resp. die "Grüne Revolution" (um 1970) brachten keine längerfristige Erleichterung.

Andere Erklärungen boten: Wirtschaftsgesinnung (mit "Überflussgesellschaft" und "sanften Verführern"), Kolonialismus (mit Spätfolgen), Industrialisierung und Technisierung, Militarisierung und Nationalismus (bis zum Imperialismus). Als Abhilfe sah man Systemdenken oder eine Revolution von unten ("Grass Roots"), mehr Technik oder Alternative Technik, Sparen für die Reichen und "Hilfe zur Selbsthilfe" für die Armen, Nahrung aus dem Meer oder biologische Landwirtschaft, Kern- oder Sonnenenergie, mehr Wachstum oder Null-Wachstum, Marktwirtschaft oder Sozialismus, Rückkehr zu alten Werten oder Kreativität.

 

Das sind Meinungen, Ansichten, Behauptungen. Was bewirken sie? Konflikte, Verwirrung, Lethargie. Abhilfe könnte schaffen: die Einigung auf gemeinsame Ziele oder die Orientierung an gemeinsamen Visionen. Das "Gemeinwohl" (von "salus publica" bis zu "welfare economics") oder das "Grösste Glück der grössten Zahl" (Francis Hutcheson, Jeremy Bentham) steht heute nicht mehr so hoch im Kurs. Aber (1) Lebensqualität, (2) Chancengleichheit, (3) Freiheit, Frieden, Sicherheit und (4) Umweltschutz dürften einigende Kraft besitzen. Doch wie gewinnen diese Ziele Verbindlichkeit für das Handeln? Müsste der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", welche 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet wurde, eine "Globale Garantie der Lebenschancen für alle Menschen und die Natur" an die Seite treten?

 

Integrale Planung

 

Damit es nicht bei blossen Lippenbekenntnissen bliebe, müssten die Ausführungsbestimmungen unter die Leitidee der "ganzheitlichen Praxis" gestellt werden. Die Forderungen hiefür betreffen entweder die Planung, die Organisation oder das Handeln selbst. Der Religionsphilosoph Georg Picht ist 1967 zu tiefsinnigen Erkenntnissen gekommen, z. B.

"Die Vielzahl der im Prozess der Planung zu koordinierenden Arbeitsvorgänge ist potentiell so reich wie die Vielzahl der Gestalten menschlicher Praxis überhaupt. Daraus ergibt sich, dass bei jeder pragmatischen Planung nicht nur die Formulierung gemeinsamer Ziele, also die Utopie, als Integrator sozialer Gruppen wirkt, sondern dass der Prozess der Planung selbst nur als Prozess sozialer Integration überhaupt möglich ist."

"Die Faktoren, von denen die Ausführung eines Planes abhängig ist, konstituieren aber schon die Planung selbst; denn eine Planung ist nur rational, wenn sie die Voraussetzungen für ihre Realisierung mit einbezieht."

 

Planung kann daher weder ein Monopol der Wissenschafter und technischen Spezialisten noch der Grossindustrie, bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder politischer Instanzen sein. Auf diesem Hintergrund lassen sich einige aktuelle Forderungen an die Planung besser verstehen:

·     Grundlage ist die Integration der Perspektiven (von Wissenschaftern, Bürgern, Dritter Welt und Natur, Nachkommen und Vorfahren).

  • Sowohl alle Faktoren (Ein- und Auswirkungen) als auch alle (direkt oder mittelbar) Betroffenen sind einzubeziehen.
  • Mehrere Ebenen müssen gesehen werden (Makro-, Mikro-; individuell, kollektiv, aggregiert). Die Betrachtung muss multidimensional, synoptisch und global sein.
  • Unterschiedliche Ziele sind gleichzeitig ins Auge zu fassen (Polytelie). Anderseits sind Ereignisse oder Eigenschaften als Wirkungen mehrerer Ursachen zu sehen (Multikausalität).
  • Alternativen sind zu sehen, zu suchen und auszuarbeiten.
  • Es muss alles von Grund auf und zu Ende gedacht werden.
  • Die Planung soll weitsichtig und langfristig, aber dennoch flexibel sein.
  • Alles hat mutig, dynamisch, kreativ, innovativ zu erfolgen.

 

Diese Blütenlese führt rasch zu zwei Erfahrungssätzen: "Qui trop embrasse, mal étreint" und: "Viele Köche verderben den Brei". Zudem tauchen zahlreiche Fragen auf: Soll überhaupt geplant werden oder kann man die Entwicklung sozialen und Marktkräften überlassen? Ist "geplanter Wandel" überhaupt möglich? Kann man Gesellschaft und Wirtschaft lenken, ohne sie durchschaut und verstanden zu haben? Sind nicht, wie Georg Picht meint, "die grössten Planungserfolge der wissenschaftlich-technischen Welt aus irrationalen Impulsen und aus weitgehend irrationalen Prozessen hervorgegangen"? Gibt es Instanzen, die kompetent und berechtigt sind, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen?

 

Methoden des Systemdenkens

 

Ziemlich unbelastet von solchen Skrupeln haben Mathematiker und Ökonomen seit dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Methoden ausgetüftelt, die man unter dem Namen "Systemdenken" zusammenfassen kann. Mit viel Enthusiasmus in die Praxis "implementiert", konnten diese Instrumente jedoch selten die Erwartungen erfüllen - ausser in Teilbereichen. Legendäre Beispiele sind etwa Operations Research (Unternehmensforschung), Netzplantechnik (z. B. CPM und PERT), Systems Engineering (oder Systemanalyse), Entscheidungs- und Spieltheorie, Human Engineering (oder Ergonomie), Kosten-Nutzen-Analyse und das PPBS (Planning, Programming, Budgeting System). Eine "ganzheitliche" Auffassung der Systemtheorie durch den OR-Pionier C. West Churchman (1968/79) und Sir Geoffrey Vickers (1968/70) setzte sich nicht durch.

 

In den 70er Jahren wurde "Strategie" zum Modewort, wobei sich der Akzent in der Wirtschaft (seit H. Igor Ansoff 1973) von der Planung auf das "Strategische Management" verlagerte. Die schon 1971 vom Direktor der Reisehochschule Zürich, Arthur Gloor, geforderte Einrichtung eines "Frühwarnsystems" für technologische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen fand keinen Anklang. Die Zukunftsforschung verschwand um 1980 aus dem öffentlichen Interessenbereich.

Was heute übriggeblieben ist, zeigt in entgegengesetzte Richtungen. Einerseits wird der Mut zum Experiment, zum spielerischen Entwerfen und Ausprobieren neuer Konstruktions-, Bau-, Wirtschafts- und Lebensformen verlangt, anderseits wird die Ausarbeitung von Massnahmenbündeln, in abgeschwächter Form zumindest von "flankierenden Massnahmen", gefordert.

 

Anders organisieren

 

Viele Aufforderungen zum ganzheitlichen Handeln beinhalten eine radikale Änderung unserer Lebensart und Gesellschaftsstruktur. Der Ruf nach Einkehr und Umkehr hallte freilich durch die Jahrtausende. "Umdenken - Umschwenken" war 1975 die Parole der Zürcher Studenten und Dozenten.

Ein Ansatzpunkt ist das Ernstnehmen des Begriffs "Ökonomie". Ökonomisch heisst "haushälterisch", sparsam, nicht expansiv. Daraus leitet sich die Forderung nach einem haushälterischen und schonenden Umgang mit Menschen, Dingen und der Natur ab. Schädigungen und schädigende Produkte sollen vermieden werden. "Qualität statt Quantität" sollte für die meisten Bereiche gelten. Die Wirtschaft soll am Menschen orientiert sein, nicht an der Maschine und am Profit; die Politik soll am Leben orientiert sein, nicht an der Macht und an Privilegien.

 

Zahlreich sind die Vorschläge für eine andere Organisation der Wirtschaft:

  • Bedarfs- statt Verschwendungswirtschaft, Kreislauf- statt Durchlaufwirtschaft
  • Eindämmung der Geld- und Erwerbswirtschaft
  • Naturalwirtschaft, Eigenarbeit
  • Humanisierung der Arbeitswelt, Reduktion der Arbeitszeit, flexible Arbeitszeiten, Heimarbeit, Bildungsurlaub
  • Herstellung längerlebiger und reparierbarer Güter
  • ökologische Produktion in dreifacher Weise: (a) mit möglichst geringem Ressourcenverzehr und minimaler Umweltbelastung, (b) von umweltverträglichen oder leicht abbaubaren Produkten (c) Wiederverwertung von Altmaterial
  • genossenschaftliche Wirtschafts- und Lebensformen, Korporationen.

 

Im politischen Bereich gehen die Forderungen diametral auseinander:

  • Abbau bürokratischer Hemmnisse/schärfere Vorschriften und Kontrollen
  • Kollegialitätsprinzip/Koordination
  • weniger Steuern/Verbrauchs- und Lenkungsabgaben
  • Kontinuität/Moratorium
  • Eigentumsgarantie/Revision von Boden- und Erbrecht
  • Sicherung/Umverteilung von Einkommen und Vermögen
  • Friedenssicherung/Abrüstung.

 

Nach der Analyse von über einem Dutzend Weltmodellen der 70er Jahre kam der Direktor des Gottlieb Duttweiler Instituts, Christian Lutz, der "sich der neoliberalen Schule zugehörig fühlt", 1983 zu 18 Konsequenzen für eine weltweite Langfriststrategie. Darunter findet sich etwa:

"Wohl die höchste Priorität verdient der Kampf gegen die Unterernährung, und zwar mit Mitteln, die an den richtigen Hebeln ansetzen: Anhebung der Kaufkraft durch finanzielle Direkthilfe und Umverteilungspolitik, Beseitigung der strukturellen Hindernisse einer von der Agrarbevölkerung getragenen Landwirtschaft mit steigenden Hektarerträgen, Stabilisierung und Stützung der Weltmarktpreise auch mit Hilfe der Agrarpolitik der Industrieländer usw. Hier dürfte auch der Hauptansatzpunkt zur Lösung der Wasserversorgungsprobleme und zur Verhinderung einer weiteren Zerstörung der Waldbestände liegen."

"Zweite Priorität...beansprucht die Abkoppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachstum durch einen höheren Energienutzungsgrad, durch energieärmere Produktions- und Konsumptionsmethoden und - vor allem in den Industrieländern - durch Verlagerung auf weniger energieintensive Wirtschaftszweige. Hauptinstrument einer solchen Politik dürfte die Preispolitik sein."

 

Der Lebensqualität und persönlichen Lebensgestaltung wird zunehmende Bedeutung beigemessen. Diese Tendenz "geht einher mit zunehmendem 'Bürgersinn', d.h. Selbstverantwortung und Solidarität mit der Um- und Nachwelt, und diese Grundhaltung schafft die Erwartung zunehmender Partizipation des Einzelnen an den Sachentscheidungen in Politik und Wirtschaft". Diese Lebenshaltung "begünstigt kleinräumige, dezentralisierte Strukturen".

"Eine hohe Toleranz gegenüber neuen oder andersartigen Denk- und Verhaltensweisen, gepaart mit ausgeprägtem Solidaritätsempfinden, verleihen der Gesellschaft eine unübertroffene Integrationskraft, so dass jede Ghettoisierung von Randgruppen ausbleibt und eine ständige lebendige Auseinandersetzung mit anderen Kulturen stattfindet."

Dies alles erleichtert "auch eine sinnvolle Aussenwirtschaftspolitik der Industrieländer", die Schaffung einer "neuen Weltwirtschaftsordnung" und den "Übergang zu einer multipolaren Welt, die gemeinsame Probleme kooperativ löst".

 

Ganzheitliches Handeln

 

Die Anweisungen zum ganzheitlichen Handeln sind spärlich. Konkrete Vorschläge lauten etwa:

·        sparen, z. B. beim Rohstoff-, Wasser-, Energie- und Papierverbrauch; nicht jede Mode mitmachen; Ausgabendisziplin

  • besser nutzen, z. B. Sachen länger benützen, sorgfältiger warten, reparieren; Angebrochenes aufbrauchen; für's Leben statt nur für die Schule lernen
  • substituieren, z. B. Auto und Flugzeug durch Gehen, Velofahren, Benützung öffentlicher Verkehrsmittel; Ferien auf exotischen Inseln durch Abenteuer im eigenen Land; Fernsehkonsum durch Gespräche, Konsum durch Eigenaktivität
  • Wirkungsgrad verbessern, z. B. bei Energieerzeugungsanlagen, Motoren, Apparaten; mehr Geniessen beim Essen, in Freizeit und Ferien
  • einfacher leben, z. B. nicht alles haben wollen; nach Klarheit des Ausdrucks suchen; sich an kleinen Ereignissen freuen; kleine Fehler ertragen; Selbstversorgung
  • soziales Engagement, z. B. für Nachbarschaft, Kranke und Behinderte, Alte, Jugendliche; selber Hand anlegen; Respekt vor anderen Meinungen; Partnerschaft im Privat- und Arbeitsleben; Fairness resp. Rücksicht üben; Hilfsbereitschaft
  • sich zusammenschliessen mit Gleichgesinnten zu gemeinsamen Aktionen; sich für das Gute einsetzen, auch wenn es schwierig ist; gemeinschaftliche Nutzung von Geräten und Anlagen aller Art.
  • etwas über den Tag und die eigene Nasenspitze hinausschauen; z. B. sich mögliche Folgen ausmalen ohne in Angst zu verfallen; sich in andere Menschen versetzen.

 

Die Möglichkeiten sind im einzelnen gross. Freilich lauert überall die Gefahr der Schulmeisterei. Und plötzlich klingen einem die uralten elterlichen Ermahnungen im Ohr: "Sind lieb zunenand; hebed de Sache sorg; passed guet uf; immer schön hübscheli; dänked au a die andere; bhüeti Gott."

 

Transparenz und Redlichkeit

 

Zwei grundlegende Voraussetzungen für ganzheitliches Planen, Organisieren und Handeln sind: Transparenz der Machtverteilung und Entscheidungsmechanismen sowie, eng damit verbunden, Redlichkeit der Absichten und Bemühungen. Das eine verweist über den Wunsch nach Überschaubarkeit zurück bis zur Triebkraft der wissenschaftlichen Forschung, nämlich herauszufinden versuchen, wie etwas funktioniert. Das andere ist ein Grunderfordernis des "ganzen Menschen" und damit auch des Experten, Wissenschafters, Lehrers, Vorgesetzten, Politikers. Die individuellen wie kollektiven Widerstände dagegen sind oft gross. Ihre Überwindung erfordert einen Lernprozess.

 

Die Lerngesellschaft

 

Goethe hat mit seinen vielen Skizzen zur Morphologie die Grundlagen für eine Ganzheitslehre gelegt. Er ging dabei von den organischen Gestalten aus, die in ständiger Bildung und Umbildung leben. 1807 schrieb er:

"Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermassen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht."

 

Damit hat er das Prinzip der "Education permanente" oder des "lebenslangen Lernens" beschrieben, das etwa 1970 ins öffentliche Bewusstsein drang. Lange vorangegangen waren Bemühungen um Arbeiterbildung (z. B. Grütliverein), Volksbildung (z. B. Fritz Wartenweiler) resp. Erwachsenenbildung. Neue Impulse kamen seit 1960 aus Lateinamerika (Paulo Freire, Dom Helder Câmara, Ivan Illich) und Italien (Danilo Dolci, Ettore Gelpi). Das Gegenstück kam aus den USA. Der Vorstoss von Computer, Fernsehen und Lernmaschinen führte z. B. 1967 die Futurologen Herman Kahn und Anthony J. Wiener in ihrem Rahmen für Spekulationen bis zum "Year 2000" dazu, die nachindustrielle Gesellschaft als eine "Lerngesellschaft" zu bezeichnen. Flugs bemächtigte sich der unermüdliche Bildungspolitiker und ehemalige Präsident der University of Chicago, Robert M. Hutchins, dieser Formel ("The Learning Society" 1968).

 

Seit 1976 versuchten Chris Argyris und Donald A. Schon der Wirtschaftswelt das "organizational learning" (1978) schmackhaft zu machen (erste Ansätze dazu gab es schon 1965 von V. E. Cangelosi und W. R. Dill), und im Jahr darauf entwickelte der Münchner Betriebswirtschafter Werner Kirsch die "Idee der fortschrittsfähigen Organisation". Präzisiert hat er sie im 5. Kapitel der "Bausteine eines Strategischen Managements" (1983): Ein Unternehmen ist innovativ, wenn es

·                    Handlungsfähigkeit

·                    Fähigkeit zum Erkenntnisfortschritt

·                    Empfänglichkeit und

·                    ästhetischen Sinn

vereint.

 

Auch der Club of Rome nahm sich des Themas an (James W. Botkin et al.: "No limits to learning. 1979; dt.: Das menschliche Dilemma. Zukunft und Lernen. 1979). Im Vorwort dazu schrieb Aurelio Peccei:

"... dass die Lösungen zur Überwindung des menschlichen Dilemmas und die Garantien für die Zukunft des Menschen einzig in uns selbst zu suchen sind. Wir alle müssen lernen, unsere verborgenen Kräfte zu wecken und sie in Zukunft sinnvoll und umsichtig zu nutzen."

"Eine unübersichtliche Menge sich gegenseitig verstärkender alter und neuer Problemkreise - zu komplex, um mit den gegenwärtigen analytischen Methoden erfasst zu werden, und zu schwierig, um mit traditionellen Massnahmen und Strategien bekämpft zu werden - akkumuliert sich und plagt heute alle Nationen ... Während die Menschheit sich scheinbar weiterentwickelt, verliert sie in Wirklichkeit an Boden und durchläuft eine kulturelle, geistige und ethische, wenn nicht gar existenzbedrohende Phase des Abstiegs."

 

"Wir müssen einen völlig neuen Kurs einschlagen."

Die Schlagworte des Berichts lauteten: innovatives Lernen, Antizipation und Partizipation. Aurelio Peccei hat 1984 mit seiner Schrift "Noch ist es nicht zu spät" nachgedoppelt. Haben wir die Chance genutzt?

 

(am 20. März 1989 an die "Schweizer Monatshefte" geschickt; wegen zu grossen Umfangs nicht erschienen)

 




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