Home Lebensweisheit als Hintergrund für überzeugende Entscheidungsregeln

 

 

Unterlagen für einen Volkshochschulkurs „Entscheiden und Verantworten im Alltag“, Sommer 1987

22.6.1987

 

Entscheiden und Verantworten im Alltag VI

 

 

1. Obwohl es Hunderte von Taschenbüchern für Lebenshilfe, Selbstverwirklichung, Überwinden von Angst und Unsicherheit, für Problemlösungen und das Meistern von Lebenskrisen gibt, besteht ein Wunsch nach Entscheidungsregeln.

Das ist paradox, denn viele jammern über die zunehmende Flut von Reglementierungen aller Art.

Der Mensch stellt überhaupt paradoxe Forderungen: mehr Freiheit für sich selber (z. B. Fahren auf dem Trottoir), oder für das Unternehmen (Risikokapital, Sonntagsarbeit), dafür mehr Vorschriften für die andern (Motor abstellen bei Rotlicht) oder für andere Unternehmen (Umweltverträglichkeitsnachweise).

 

2. a) Auch wenn es nicht dieselben Personen wären, die mehr Freiräume für sich und mehr Einschränkungen für die andern fordern, ergibt sich aus den Stimmen vieler doch ein allgemeiner - eben: paradoxer - Trend.

b) Wenn ein und dieselbe Person paradoxe Forderungen stellt, dann kann sie behaupten, sie unterscheide eben zwischen sinnlosen und sinnvollen Reglementierungen. Was wären die Kriterien dafür?

 

3. Der Wunsch nach Entscheidungsregeln rührt vom Traditionsverlust her.

 

4. Was braucht es, damit Entscheidungsregeln überzeugend sind? Sie müssen aus Lebensweisheit und Lebenskunst herausgewachsen sein.

a) Lebensweisheit besteht aus philosophischen Einsichten und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese finden sich in den kollektiven Lebenserfahrungen der Völker und Zeiten sowie in Fachbüchern (aber nicht populären).

b) "Lebenskunst: das sind viele kleine Künste" (Erich Brock).

Sie rührt von Beobachtungen und Gesprächen her. (Früher wurde sie über lebenspraktische Traditionen vermittelt.)

 

5. Viele juristische und soziokulturelle Meta-Regeln (ausser Zeitgeist und manchen Bräuchen) sind Ausdruck "bewährter" Lebensweisheiten. Weil uns diese Weisheiten nicht mehr vertraut sind, verstehen wir Gesetze, Abkommen, Sitten, Eide und dergleichen nicht mehr und nehmen sie nicht mehr ernst.

 

6. Die wichtigsten philosophischen, wissenschaftlichen und dichterischen Einsichten lassen sich in vier Gruppen zusammenfassen und durch Bilder darstellen:

 

a) Polarität und Rhythmus bestimmen vielgestaltig unser Leben.

Der Januskopf zeigt, dass jedes Ding (mindestens) zwei Seiten hat. Die gespaltene Zunge meint unsere Heuchelei ("Wasser predigen und Wein trinken"). Das Pendel beschreibt das Wechselspiel zwischen Spannung und Entspannung, Sonne und Regen, Anpassung und Widerstand im Laufe der Weltgeschichte, im individuellen Leben, ja im Tagesablauf. Ein Abgrund besteht zwischen Sein und Sollen, Können und Wollen, Tier und Mensch, Egoismus und Gemeinwohl. Ferner lässt sich zu fast jedem Bibel- oder Sprichwort eins gegenteilige Aussage finden. Wie bei der Waage muss häufig eine "richtige Mitte" zwischen zwei Extremen gesucht werden. Im Taigitu kommen zwei Unvereinbarkeiten zur Einheit zusammen.

 

b) Wie alles mit allem zusammenhängt (Netz; Interdependenz) untersucht die Systembetrachtung. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile und selber Bestandteil einer höheren Ganzheit (daher: Hierarchie der Betrachtungsebenen).

 

c) Wir denken und erleben vorwiegend in Bildern. Wir sehen die Welt durch eine Brille und deuten das Leben als Spiel auf einer Bühne Nur die Requisiten ändern.

 

d) Wir können nicht alles unter einen Hut bringen. Unsere Bemühungen sind endlich, Stückwerk. Das liegt auch daran, dass die Dinge von verschiedenen Seiten betrachtet werden können.

 

7. Der Mensch als "individuum ineffabile" kann ebenfalls unter diesen vier Hinsichten angesehen werden: Er ist

(a) ein Natur- und Kulturwesen, Schöpfer und Geschöpf der Kultur,

(b) ein biologisches System in Netzen,

(c) "Ebenbild Gottes" und symbolbildendes Wesen,

(d) das "nicht festgestellte Tier", instinktunsicher und weltoffen.

 


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