Die ethisch inspirierte Anthropologie der Freimaurerei
Giuliano di Bernardo: Filosofia della Massoneria. Venezia: Marsilio
1987;
siehe auch: Die Grundauffassungen der Freimaurerei Freimaurerei und Kirche, New Age und Frieden sowie: Freimaurerische Tugenden, Untugenden und sittliche Strebungen Die Tugendlehre von Shaftesbury?
Der Autor: ein Dissidenter
Giuliano di Bernardo (*1939) lehrt Philosophie der Wissenschaft an der Universität von Trient. Er ist seit 1960 Freimaurer. 1993 gründete er als dissidenter Grossmeister des italienischen Grossorients die „Grande Loggia Regolare d’Italia“, die bis heute darauf pocht, die allein „reguläre“ Grossloge in Italien, d. h. von der United Grand Lodge of England anerkannt, zu sein. Die Bernardo gab sein Amt 2001 ab und gründete bald darauf erneut eine eigenen Organisation, die „Accademia Internazionale degli Illuminati“ in Rom. http://umsoi.org/2009/06/04/gli-illuminati-chi-sono/
http://polaris.unitn.it/view_curricula.php?idu=2463 http://www.soc.unitn.it/sus/membri_del_dipartimento/pagine_personali/dibernardo/main_dibernardo.htm
Der Übersetzer: ein Chirurg
Zur Biographie von Walter Hess. http://www.saez.ch/pdf/2003/2003-51/2003-51-mitteilungen.PDF
Der Zürcher Walter Hess (1918-2002) war ein bekannter Chirurg in Basel und Zürich. Den Freimaurern ist er unter anderem durch seine ausführliche und akribische „Geschichte des Rektifizierten Schottischen Ritus“ vertraut, die knapp vor seinem Tod erschien. Er hat die knapp 200seitige Studie übersetzt. Dass er „Schürzen“ (180) schreibt, ist erstaunlich.
Die Freimaurerei verfolgt ethische Ziele
Die flüssige und leicht lesbare Übersetzung verleitet zu einer schnellen Lektüre. Der Gehalt der etwas verklausulierten Gedankenführung erschliesst sich jedoch erst beim langsamen Lesen, beim Innehalten, Zurückblättern, nochmals Lesen. Kurz: er erschliesst sich erst allmählich.
Das Buch ist anspruchsvoll. Der Autor kann seine Schulung in Logik nicht verleugnen. Dadurch klärt er vieles, das in Nachschlagewerken nicht einsichtig wird. Er steckt auch manchen Freimaurern ein Licht auf.
Di Bernardo beginnt mit einer knappen Skizze der explosiven Ausbreitung der Freimaurerei über die ganze Welt im 18. Jahrhundert (21-32) – sie erfolgte Hand in Hand mit dem Deismus (69). (Eine weitere Skizze der Ausbreitung bis heute bringt das letzte Kapitel, 173-187.) Hernach definiert er Freimaurerei als „ein Menschenverständnis, das ethische Ziele verfolgt und geleitet wird von einem durch die Initiationshandlung vermittelten transzendenten Bewusstsein“ (33; ähnl. 16, 64, 106, 125, 142). Oder anders formuliert: Die Freimaurerei vertritt „eine ganz bestimmte, ethisch inspirierte Anthropologie …, deren symbolische Darstellung die maurerischen Rituale sind“ (159).
Nur durch Initiation wird die maurerische Anthropologie erworben
Es handelt sich genaugenommen nicht - wie der Titel des Buches anzeigt - um die Philosophie der Freimaurer, sondern um einen Teilbereich, die philosophische Anthropologie, eben: das Menschenbild (ausführlich erörtert in der Schlussbetrachtung, 189ff). Noch genauer: Alle Erörterungen und Folgerungen kreisen um das Gottesbild der Freimaurer.
Basis sind vier profane, aber für die Freimaurerei enorm wichtige Grundbegriffe: Freiheit, Toleranz, Brüderlichkeit, Transzendenz (33ff; vgl. 119, 190). Dazu kommt nun noch ein spezifisch freimaurerisches Element: das „initiatische Geheimnis“. Das bedeutet, „dass der vollständige Gehalt der maurerischen philosophischen Anthropologie nur erworben wird durch die Initiationsriten“ (47). Bei diesem Ritual unterwirft sich der profane Kandidat der Autorität des Meisters vom Stuhl, bekennt sich zu den Grundsätzen der Freimaurerei in Gegenwart des „Allmächtigen Baumeisters aller Welten“ und schwört, nie das Geheimnis der Initiation preiszugeben (52; ähnl. 73, 117; vgl. 162-165).
Alle Grundbegriffe der Freimaurerei werden durch Symbole ausgedrückt (55ff), beispielsweise: Moralgesetz durch das „heilige Buch“ und „das Licht über uns“, allumfassende Bruderliebe durch den Zirkel und „das Licht um uns“, Recht und Gerechtigkeit durch das Winkelmass und „das Licht in uns“. Nur durch die Initiation tritt der Suchende in eine neue ethische Welt, in der er die Symbole verstehen lernt. Manche kommen – laut di Bernardo (60) – aus der Alchemie.
Und die späteren Rituale? Es „sind Werkzeuge, mit denen die ethische Vervollkommnung schrittweise und kontinuierlich herbeigeführt wird“ (122).
Weiter hinten präzisiert di Bernardo mehrmals, dass die „initiatischen Geheimnisse“ nicht etwas zum bisher Erwähnten Zusätzliches sind, also keine „geheimen Erkenntnisse“. Sie bestehen bloss darin, „die Erkennungszeichen geheim zu halten und die Prinzipien der Freimaurerei zu befolgen“ (106, 100) oder, in anderer Sicht, „die konkreten rituellen Modalitäten der Initiation zur ethischen Vervollkommnung des Maurers“ (162-163; ähnl. 164, 193).
Zusammenhänge: Deismus und Theismus – Konstitutionen und Landmarken - Hochgrade
Recht anschaulich (61ff) erklärt di Bernardo, dass das sogenannte“ moralisch Gute“ welches die menschliche Freiheit beschränkt, nur fundiert ist, wenn sich der Mensch „in seiner Beziehung zu einem Höchsten, Absoluten sieht, das durch den Allmächtigen Baumeister der Welten verkörpert ist“ (65).
Nun stand die frühe Freimaurerei im frühen 18. Jahrhundert unter dem Einfluss eine „offiziellen Entchristlichung“ (88; vgl. 66, 74, 77-78; auch 157), nämlich des Deismus. Das ist eine „natürliche“ (67) und daher „universale Religion auf der Grundlage der menschlichen Vernunft“ (102). Der Deismus trägt vor allem den Toleranzgedanken (67) und die „Ablehnung eines jeden Dogmatismus“ (71), jedoch nicht die moralischen Werte. Dafür braucht es nach di Bernardo eine Transzendenz. Er nennt es, in Anlehnung an Kant, die „regulative Idee“ des A. B. A. W. (70-71).
Bis hierher ist die Schilderung der grundlegenden Züge der Freimaurerei sehr klar und knapp. Nun gerät di Bernardo auf Seitengeleise, denn auf die Erläuterung der „Alten Pflichten“ von 1723 und 1738 (73-82) und der sogenannten „Landmarken“ (82-86) folgt eine Schilderung des Hochgrades, der gar keiner ist, des „Royal Arch“ (87-91; nochmals 124-127), welcher ein Versuch war, wieder mehr Christliches in die Freimaurerei zu bringen.
Unnötig detailliert schildert anschliessend di Bernardo das Hochgradsystem des „Alten und Angenommen Schottischen Ritus“ (91-97), verpasst es aber, dessen Wesen deutlich herauszuarbeiten. Es geht offenbar um eine stufenweise „initiatische Vervollkommnung“ (91) des Maurers, bis ihm „das Höchste Geheimnis“ im 33. Grad enthüllt ist (96-97).
Was folgt daraus? Die Entwicklung der Hochgrade wie auch die Änderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse (vgl. 79-80, 175, 197) seit damals veranlassen di Bernardo, eine Revision der Konstitutionen von 1723 zu fordern (97; vgl. 74, 80, 176).
Die Freimaurer glauben an ein „Höchstes Wesen“
Nun erfolgt ein Sprung in die jüngere Gegenwart. Im Juni 1985 (nicht: 1983) veröffentlichte die Vereinigte Grossloge von England ein Dokument mit pointierten Klarstellungen zum Verhältnis von „Freimaurerei und Religion“ (99-101). http://www.sphinxlodge.org/freemas_rel.htm http://www.guigue.org/guitex57.htm
Bemerkenswert darin ist unter anderem der Satz: „Es gibt keinen besonderen freimaurerischen Gott; der Gott eines Freimaurers bleibt der Gott des Bekenntnisses, dem er angehört“ (100).
Wer mit den Landmarken der Freimaurerei vertraut ist, weiss, dass bereits in den ältesten Landmarken von 1856 steht: “1. That belief in the Supreme Being, ‘The Great Architect of the Universe,’ who will punish vice and reward virtue, is an indispensable prerequisite to admission to Masonry.“
Im selben Jahr forderte Rob Morris: “3. The Law of God is the rule and limit of Masonry.“
Etwas päter hielt Albert Gallatin Mackey unter Punkt 19 fest: „Glaube an Gott als den Allmächtigen Baumeister aller Welten.“
Auch der Harvard-Professor Roscoe Pound verlangte in einem Buch über „Masonic Jurisprudence“ (1919, 40) als erste Landmarke knapp: „Belief in God“.
Die Vereinigte Grossloge von England verlangte in ihren „Basic Principles“ 1929: „a belief in the G. A. O. T. U. and His revealed will“ 1949 in den „Aims and Relationships of the Craft“: „a belief in the Supreme Being“ Das wurde in die Revision der „Basic Principles“ von 1989 übernommen: „Freemasons … must believe in a Supreme Being.“
Die Freimaurerei ist keine Religion, aber vereinbar mit jeder
Die Unvereinbarkeit von Freimaurerei und Religion wird also einseitig von der Katholischen Kirche behauptet (103). Die Freimaurerei steht der Religion nicht feindlich gegenüber, sondern sieht „sie im Gegenteil als wesentlich für die Entwicklung des Menschen“ an (107):
Nun wird di Bernardo wieder ausschweifend und verfolgt auf 20 Seiten sein Lieblingsthema: den A. B. A. W. als „regulatives Ideal“ (108-127). Was bedeutet das? „Die Auffassung des Höchsten Wesens als regulatives Ideal bedeutet, das Höchste Wesen als ein Prinzip darzustellen, welches der moralischen Anspannung des Menschen Sinn (und Wert) verleiht, als ein Prinzip, das die Vollkommenheit verkörpert, nach der der Mensch in seinem moralischen Wirken dauernd strebt“ (109; ähnl. 118, 121, 191-193).
Di Bernardos These vom „nicht-exklusiven Regulativismus“ erlaubt, dass zweierlei stimmt: Freimaurerei ist keine Religion, aber der einzelne Maurer kann einen religiösen Glauben haben (113; ähnl. 111, 157, 192-195). Das bedeutet auch, dass er beispielsweise die Gebote seiner Religion (Gebete, Feiertage) einhalten kann und dennoch an seiner „maurerischen Vervollkommnung“ – die der Kern seines maurerischen, nicht religiösen Handelns ist – arbeiten kann (115-116; ähnl. 159).
Di Bernardo wird nicht müde zu betonen: „Die maurerische
Anthropologie befasst sich nur mit den Aspekten des Menschen, die ihn zum
Maurer machen, währen die religiös inspirierte Anthropologie ein umfassendes
Bild des Menschen vorstellt.
Die Freimaurerei ist mit dem Positivismus unvereinbar
Währende die Freimaurerei also durchaus mit Religion oder einem religiösen leben des Menschen vereinbar ist, verträgt sie sich nicht mit dem Positivismus. Denn für diesen gibt es keine Wertvorstellungen (133, 136, 138), keinen Sinn von Handlungen (134, 139), keine Verhaltensweisen, die „gut“ oder „schlecht“ sind (136, 141), keinen „Plan einer initiatischen Selbstvervollkommnung“ (139), keine Transzendenz (142). Freilich hat der Positivismus manche Freimaurer angezogen, weil er ein pädagogisches Programm hat. Es ist angetrieben vom wissenschaftlichen Universalismus, verkündet die „Prinzipien der Freiheit und Toleranz“ und „lehnt jede Art von Rassismus oder Autoritarismus ab“ (143). Er kämpft gegen den Irrationalismus, der das gesellschaftliche Leben stört (137) oder erschwert (145).
Das grösste Problem aber ist die Verantwortung (145-150). Di Bernardo meint, und hält das auch für die Auffassung der Freimaurerei: „Die Wissenschaft ist nicht an und für sich gut (wie der Positivismus behauptet), sondern wird nur gut, wenn sie in Beziehung gesetzt wird zum Menschen, zu seinem Überleben und seiner weltweiten Vervollkommnung, oder genauer zu seinem ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen, ästhetischen, ethischen und geistigen Fortschritt“ (148; ähnl. 1949-150, 158, 161).
Die Angst der Katholischen Kirche vor der Freimaurerei ist unbegründet
Braucht es noch ein ganzes Kapitel zur Angst der Römisch-katholischen Kirche vor der Freimaurerei? Ja, weil am 26. November 1983 der damalige Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan, Josef Kardinal Ratzinger, erklärt hat, die Grundsätze der Freimaurerei seien „immer als unvereinbar mit der Lehre der Kirche betrachtet worden“ (152). Ein gutes Jahr später publizierte der „Osservatore Romano“ einen Artikel, worin des langen und breiten die „Unvereinbarkeit zwischen dem christlichen Glauben und der Freimaurerei“ dargestellt wurde. Di Bernardo zerpflückt ihn auf über einem Dutzend Seiten nach allen Regeln der Kunst. Sehr zurückhaltend drückt er aus, dass das Dokument „in seinen Annahmen wenig fundiert erscheint“ (165). Er unterlässt es auch nicht, auf die zahlreichen Versöhnungsbemühungen zwischen Katholizismus und Freimaurerei seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einzugehen (168-171).
Im ersten Teil seiner „Schlussbetrachtung“ nimmt er den Faden der Versöhnung nochmals auf und stellt ausführlich dar, dass der einzelne Freimaurer den A. B. A. W. entweder als „regulatives Prinzip der ethischen Ordnung“ ansehen kann oder aber „mit dem Gott seines Glaubensbekenntnisses“ identifizieren kann (191-192). Er darf aber weder ein erklärter Atheist noch ein Integralist sein. Letzterer vertritt entweder die Auffassung, dass das freimaurerische Gedankengut das einzig richtige sei, dem alles einzuordnen sei, oder aber umgekehrt, dass die ethische Ebene in die religiöse integriert sei (194-195).
Nur despotische Staaten verfolgen die Freimaurer
In gedrängter Form erklärt die Bernardo schliesslich das Verhältnis von Freimaurerei und Staat. Es ist unbestritten, dass die Freimaurerei einen wesentlichen Einfluss auf die Bildung der modernen Gesellschaft hatte. Sie half mit, „das staatliche Leben auf der Grundlage von Freiheit, Toleranz und Recht zu organisieren“ (173). Die Freimaurerei wurde „zu einem unversöhnlichen Feind des Absolutismus und verschrieb sich mit allen ihren Kräften dem Aufbau und der Sicherung des parlamentarischen Systems“ (174). Freimaurer haben „überall in der Welt … zu jeder Zeitepoche gegen die Tyrannei gekämpft“ (176).
Kein Wunder, dass despotische Regimes die Freimaurerei ihrerseits bekämpften, „weil sie sich zu den Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Toleranz bekannte“ (177). England und die USA verurteilten die Freimaurerei nie, weil sie diese Grundsätze und das Angebot zur Zusammenarbeit annahmen (179-181). Jedoch viele europäische und aussereuropäische Staaten sahen in den Freimaurern keine Verbündeten. Naheliegenderweis geht di Bernardo auf den Vernichtungsfeldzug der Faschisten gegen die Freimaurer seit 1923 in Italien ein. „Als man die Freimaurerei für den Kurssturz der Lira verantwortlich machte, wurden in Florenz, Brindisi und vielen anderen Städten die Freimaurer aus ihren Büros gezerrt und blutig geschlagen, Geschäfte zerstört und Logen verwüstet“ (184). Vierzig Freimaurer wurden schwer verletzt, 18 getötet.
Nicht alle berühmten Männer waren Freimaurer …
Eine kleine Schlussbemerkung zu diesem ausserordentlich informativen und klugen Buch. Die Italiener sind of grosszügig damit, berühmte Persönlichkeiten zu den Freimaurern zu zählen, auch di Bernardo. Denn keine Freimaurer waren (26-27): Diderot, d’Alembert und Danton; fraglich sind Condorcet, Holbach und Mirabeau. Interessant dagegen ist der Hinweis auf den deutschen Dichter und Priester Zacharias Werner (29 – im Personenverzeichnis steht allerdings R. L. Werner). Dass der Patriarch der Orthodoxen Kirche, Athenagoras, Freimaurer war (171), wurde bisher nicht offiziell bestätigt (er kommt auch im Personenregister nicht vor, auch nicht der Erzbischof von Canterbury, Lord Geoffrey Fisher). Dass sechzehn Präsidenten der USA Freimaurer waren (180), ist um einen oder zwei zu hoch gegriffen.
Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved Webmaster by best4web.ch |