Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel (1989; it. 1988)
Was hat dieses Werk uns zu sagen?
(geschrieben im Sommer 1990)
Siehe auch: Esoterik bis 1700 Begriffsklärungen im Umkreis von Esoterik, usw. Die phantastische Vergangenheit der Freimaurerei Unwahrscheinliche und wahrscheinliche Wurzeln der Freimaurerei
Inhalt Ein 750seitiger Roman zum Esoterikfimmel Die Freimaurerei als „Mummenschanz“ Drei Hauptpersonen und weitere Figuren Die Story Der Hauptdarsteller in Nöten Umberto Eco ist ein gelehrter Spötter Der „Grosse Plan“: Spuren der Templer finden Hie Fakten, da überbordende Phantasie Eine skurrile Geschichte wird plötzlich Realität Der Hauptdarsteller denkt nach Literaturempfehlungen
Dem Vernehmen nach hat Umberto Eco acht Jahre an seinem neuen Buch geschrieben. Ob sich dieser Aufwand gelohnt hat, untersucht der nachfolgende Artikel. Er nimmt kritisch Stellung und zeichnet in groben Zügen den Inhalt des Werkes nach.
Ein 750seitiger Roman zum Esoterikfimmel
Das neue Buch von Umberto Eco ist ein dickes Buch. Es umfasst etwas mehr als 750 Seiten, Dabei hat es fast keine Anmerkungen; alles ist Text. Ich brauchte vier ganze Tage, um es zu lesen. Das Buch ist deklariert als „Roman“. Bevor ich es gelesen hatte, war ich, nach dem, was ich bisher von Eco gehört hatte, skeptisch. Ich dachte, es werde wohl gewiss kein Roman sein. Doch jetzt muss ich zugeben: Es ist ein Roman. Was heisst das? Es ist eine lange und langatmige Geschichte, in die zahlreiche Fäden verwoben sind. Vom Erzählerischen her ist Ecos Roman weder neu noch ungewöhnlich; Aufbau und Konstruktion halten sich im traditionellen Rahmen. Eco bedient sich einer sehr einfachen, geradlinigen Erzählweise; die verschiedenen Ebenen der Story sind gut überblickbar. Das heisst auch: Es ist kein schludrig gemachtes Buch, sondern ein sehr sorgfältig konstruiertes und geschriebenes. Sauberes Handwerk.
Worum dreht sich Ecos Roman? Ich würde sagen: um den Esoterikfimmel der letzten zwanzig Jahre. Es ist, in meinen Augen, eine bitterböse Zeitsatire. Es ist also kein historischer Roman, kein Bericht über Altertum, Mittelalter und Barock. Sondern es ist ein Buch über unsere Gegenwart - wenn auch viel Historisches als Thema darin auftaucht. Aber es geht Eco nicht um die Vergangenheit. Es geht ihm um den Umgang, den wir heute damit pflegen. Und der ist absolut skrupellos.
Daraus wird schon deutlich, dass es kein „leichtes“ Buch ist. Ich würde sagen: Es ist ein Buch, von einem typischen Intellektuellen für andere Intellektuelle geschrieben. Es ist nicht für die breite Masse gedacht. Es ist gehobene Unterhaltung für Akademiker. Es ist leidlich interessant. Doch es könnte besser sein - allerdings auch schlechter. Das heisst, in meinen Augen, es ist weder gut noch schlecht; jedenfalls ist zu lang, als dass sich die Lektüre unbedingt aufdrängen würde. Aber es hat durchaus auch lustige, amüsante Kapitel darin. Einzelne Stellen sind sogar ausserordentlich bissig - besonders was das Verlagswesen betrifft -, andere sind komisch oder witzig. Doch mehrheitlich ist der Text enorm trocken; die Zeichnungen der Menschen sind blutleer. Es handelt sich um Figuren, nicht um Personen. Frauen spielen keine Rolle, sie „kommen vor“.
Ich muss gestehen, dass mir die Absicht des Ecoschen Werks unklar geblieben ist. Wenn ich versuche, die Botschaft herauszudestillieren, würde ich sagen, sie laute: Es ist alles Mist, oder genauer: Alles, was der Mensch denkt, redet und tut, ist Mist. Und: Es gibt kein Geheimnis. Das mag für manchen eine herbe Enttäuschung sein. Doch ich finde, man kommt um diese Formulierungen nicht herum.
Die Freimaurerei als „Mummenschanz“
Die Freimaurerei kommt in diesem Riesenwerk etwa ein halbes Dutzend Mal vor. Die deutlichste Bezeichnung Ecos dafür ist: „Mummenschanz“ (502). Zweimal bemüht er sogar den Film „Casablanca“: Er schreibt: „Die Freimaurerei als so was wie Ricks Café Américain in Casablanca ... Das Gegenteil dessen, was man gemeinhin glaubt. Die Freimaurerei ist kein Geheimbund. Nein wirklich nicht, nur ein Freihafen, wie Macao. Eine Fassade. Das Geheimnis ist woanders. Arme Maurer“ (510). An anderer Stelle heisst es, die Baconianer hätten um 1600 die Freimaurerei „als ein Gewusel à la Ricks Café Américain in Casablanca erfunden“, aber später habe der jesuitische Neutemplerismus ihre Erfindung zunichte gemacht (559). Die Chronik der Freimaurerei schliesslich, die Eco mit vielen Jahreszahlen auf mehr als vier Buchseiten seit 1645 ausbreitet, umfasst schwerpunktmässig eher dubiose Figuren und Ereignisse, etwa den Grafen von Saint-Germain, Willermoz, Pasqually, Pernety, Casanova, Thomé, Cagliostro, usw. (495-500), also gerade nicht das, was den Freimaurern wichtig ist.
Man muss also festhalten, was Eco von der Freimaurerei vorträgt, enthüllt nicht viel Sympathie dafür. Jedenfalls geht es, finde ich, Eco nicht darum, das Wesentliche, das Besondere der Freimaurerei herauszuarbeiten. Er ist ein Chronist, mehr nicht. Die Widergabe dessen, was bekannt ist, erfolgt korrekt, wenn auch sehr einseitig. Von Verständnis keine Spur.
Drei Hauptpersonen und weitere Figuren
Nun muss ich aber endlich etwas konkreter werden. Die Haupterzählung des Romans spielt in Mailand, hauptsächlich in einem Verlag, in den Jahren etwa von 1970 bis 1984.
Die drei Hauptpersonen sind:
Dazu gibt es etwa ein halbes Dutzend wichtige weitere Figuren, etwa den Besitzer des Verlags (283) oder einige skurrile Personen, Abenteurer, Schwätzer, Schwadroneure, z. B.:
Die Story
Etwa ein Jahr, nachdem Casaubon erstmals mit dem Lektor Belbo in Kontakt gekommen war, führt sie der Zufall erneut zusammen (143). Ein mysteriöser Mord ereignet sich (179). Danach arbeitet Casaubon noch ein weiteres Jahr an seiner Arbeit und „füllte zweihundertfünfzig Ordner mit Material über den Templerprozess“ (188). Mit einer Freundin zieht er hernach für zwei Jahre nach Brasilien (189-253), wo er sich mit den modernen Rosenkreuzern einlässt. Ein Professor Bramanti (238) gibt Auskunft und behauptet, die „wahren Herren der Welt“ seien woanders zu suchen; diese wüssten, dass es ein Geheimnis gebe (244). Nach seiner Rückkehr aus Brasilien beschliesst Casaubon, „eine Agentur für Bildungsauskünfte“ zu eröffnen, „so etwas wie eine Detektei des Wissens“ (263). Nach weiteren zwei Jahren begegnet er erneut dem Verlagslektor Belbo (267), der ihn dazu gewinnt, einen Nachmittag pro Woche im Verlag mitzuarbeiten. Gleich am ersten Tag passiere zwei bedeutsame Dinge: Ein Computer wird installiert (er heisst Abulafia, 31, vgl. 44) und Belbo beschreibt Casaubon das Foucaultsche Pendel (277).
Langsam nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Professor Bramanti hat beim Verlagsboss Garamond vorgesprochen und behauptet, „es sei der rechte Moment für einen gewitzten Verlag mit Gespür für den Zeitgeist, eine Buchreihe zum Thema okkulte Wissenschaften zu initiieren“ (301). „Die Zeit ist reif für eine Neubewertung der Kultur der Inaktualität, nach dem Scheitern der Utopien der modernen Welt“, sagte Bramanti.
Wie ironisch Eco dies auffasst, geht aus seiner Aufzählung der möglichen Themen für diese Buchreihe hervor: „Nekromantik und Hexerei der nicht-weissen Rassen, Onomantie, prophetische Raserei, freiwillige Thaumaturgie, Autosuggestion, Yoga, Hypnotik, Somnambulismus, merkuriale Chemie...“, usw. Garamond ist begeistert. „Es handelt sich um eine Goldader. Mir ist klargeworden, dass diese Leute alles fressen, solange es nur hermetisch ist ..., solange es nur das Gegenteil dessen besagt, was in den Schulbüchern steht“ (306). Also wird das sogenannte Hermes-Projekt gestartet: In zwei Reihen, „Entschleierte Isis“ und „Reihe Hermetik“, sollen nun esoterische (vgl. 332) Bücher auf den Markt geworfen werden. Die Vorbereitungen führen zu ausgedehnten Gesprächen, oder Schwätzereien, über Gott und die Welt. Ein Ausflug führt in eine Villa in den Turiner Hügeln (374 -420), wo eine multimediale Séance (401ff) - später als „alchimistische Fête“ (596) bezeichnet - stattfindet.
Der Hauptdarsteller in Nöten
All diese Erlebnisse hatten für Casaubon dramatische Folgen. Er berichtet: „Es fiel mir immer schwerer, die Welt der Magie von dem zu trennen, was wir heute das Universum der Präzision und Exaktheit nennen. Ich fand Personen wieder, die mir in der Schule als Träger des Lichts der Mathematik und Physik inmitten der Finsternis des Aberglaubens nahegebracht worden waren, und entdeckte, dass sie bei ihrer Arbeit im Laboratorium mit einem Fuss in der Kabbala gestanden hatten. War ich womöglich dabei, die ganze Geschichte mit den Augen unserer Diaboliker [das sind die Ratgeber und Autoren des Verlags für Esoterik] neu zu lesen? Ich riss mich zusammen, aber dann fand ich unverdächtige Texte, die mir erzählten, wie die positivistischen Physiker, sobald sie abends die Universität verliessen, eiligst hingingen, um sich in telepathische Séancen und astrologische Tafelrunden zu stürzen, und wie Newton zu den Gesetzen der universalen Gravitation gelangt war, weil er an die Existenz okkulter Kräfte glaubte ... Ich hatte mir die Ungläubigkeit zu einer wissenschaftlichen Pflicht gemacht, aber nun musste ich auch den Meistern misstrauen, die mich gelehrt hatten, ungläubig zu werden ... Und ich ertappte mich beim Nachdenken darüber, dass die Höhe der Grossen Pyramide im Grunde ja wirklich ein Milliardstel der Entfernung Erde-Sonne betrug, oder dass es ja tatsächlich Analogien zwischen keltischer und indianischer Mythologie gab. Und so begann ich, alles und jedes, was mich umgab, zu befragen, die Häuser, die Firmenschilder, die Wolken am Himmel und die Abbildungen in den Büchern, um ihnen nicht ihre eigentliche Geschichte, sondern eine andere zu entlocken, eine, die sie gewiss verbargen, aber die sie letztlich gerade aufgrund und kraft ihrer mysteriösen Ähnlichkeiten enthüllten“ (421f).
Casaubon fängt also die „spielerische Umwälzung des grossen Textes der Welt“ (431) an und entwickelt bald mit seinen Verlagskollegen ein neues Projekt: den Grossen Plan. Wie sieht der aus und wie ging das vor sich? Casaubon berichtet: „Unter den Diabolikern bewegte ich mich inzwischen mit der Unbefangenheit eines Psychiaters, der seinen Patienten zugetan ist und die Brisen balsamisch findet, die durch den weiten Park seiner Privatklinik wehen. Nach einer Weile beginnt er, Texte über den Wahn zu schreiben, dann wahnhafte Texte. Er merkt nicht, dass seine Kranken ihn angesteckt haben - er glaubt, er wäre ein Künstler geworden. So entstand die Idee des Grossen Plans. Diotallevi macht des Spiel mit, da es für ihn eine Form des Gebetes war. Was Belbo anging, glaubte ich damals, dass er sich genauso wie ich amüsierte. Erst jetzt begreife ich, dass er kein echtes Vergnügen daran fand. Er machte mit, so wie einer Nägel kaut“ (432, vgl. 68f. 295f).
Die Werkzeuge für den Grossen Plan sind einerseits eine übersprudelnde Phantasie, anderseits ein Wühlen in den Archiven und Dokumenten aus alter Zeit, und drittens der Computer, mit dem man alles mit allem in Beziehung setzen kann. Wie das vor sich geht, schildert Eco als durchaus vergnügliches Kombinationsspiel. Dabei gelingen ihm zahlreiche Kabinettstücklein, beispielsweise die Proportionen eines Kiosks (336f) oder die Kabbalistik des Autos (442ff).
Umberto Eco ist ein gelehrter Spötter
Umberto Eco ist ein Spötter. Er ist kein Schriftsteller, sondern ein Gelehrter. Die Geschichte ist gespickt mit Lesefrüchten, Anspielungen, ein akademisches Pingpong mit Bildungsfragmenten. Wer daran Spass hat, kann sich an dieser Artistik ergötzen und sich bestätigen, dass er selber doch auch ein Tausendsassa sei, weil er so viele Hinweise verstehe. Für die anderen ist es blosse Gelehrtenarroganz, saloppe Schwätzerei. Dabei kann man sich fragen, ob Eco möglicherweise die Gelehrten- und Verlagswelt karikieren möchte. Ich finde, er tut dies mit soviel Lust, dass er selbst wohl auch unter dieser Krankheit des intellektuellen Jonglierens leidet.
Der „Grosse Plan“: Spuren der Templer finden
Der Grosse Plan besteht, darin, nach den Spuren der Templer zu suchen, die um 1310 so grausam ausgerottet worden sind. Einige wenige sollen aber überlebt haben und einander alle 120 Jahre an verschiedenen Orten getroffen haben.
Eco zieht diese Spurensuche als reines und absurdes Spiel auf, das muss man sich immer wieder vor Augen halten. Er lässt z. B. Casaubon sagen: „Natürlich handelt es sich nicht darum, das Geheimnis der Templer zu entdecken, sondern es zu konstruieren“ (449; ähnlich 475, 508ff, 528, 635, 731). Oder: „Wir machen hier einen Fälschung“ (459).
Dazu dienen Phantasie und Assoziationsketten. Casaubon sagt: „Was Assoziationsketten betraf, war ich mittlerweile unschlagbar geworden. Mir genügt ein beliebiger Ausgangspunkt, und schon legte ich los. Schottland, Highlands, druidische Riten, Johannisnacht, Goldener Zweig. ...„ (450). Später berichtet er: „Wir formten und feilten weiter an dem Grossen Plan, der sich wie weicher Ton unserer Fabulierlust fügte“ (529). Nochmals in aller Schärfe: Umberto Eco und seine Romanfiguren machen sich über die Entzifferer von geheimen Botschaften lustig (vgl. 626).
Freimaurer können fragen, was denn Eco eigentlich für ein Geheimnis im Auge hat. Es ist, meiner Ansicht nach, nicht das Geheimnis der Freimaurerei, nichts von dem, was sich hinter dem Buchstaben G verbirgt. Es ist also auch nicht das Geheimnis der Bauleute des Mittelalters, also Geometrie, Proportionenlehre, Statik, Baukunst. Nein, bei Eco betrifft das Geheimnis die Weltherrschaft. Und das, würde ich sagen, ist ein Aspekt, der bei den Freimaurern jedenfalls nicht im Zentrum steht.
Nun hat Eco für diese Art von Geheimnis eine originelle Idee. Weltherrschaft hat etwas mit Kraft zu tun, und diese sitzt im Inneren der Erde. Es gibt da unterirdische Kraftströme (521). Eine der mysteriösen Figuren im Roman fragt rhetorisch: „Warum haben die Kelten sich Heiligtümer im Innern der Erde gegraben, mit unterirdischen Gängen zu einen heiligen Brunnen? Der Brunnen reichte in radioaktive Schichten hinunter, das ist bekannt. Wie ist Glastonbury angelegt? Und war's etwa nicht die Insel Avalon, von der die Gralssage stammt? ... Alle Kathedralen sind dort gebaut worden, wo die Kelten ihre Menhire hatten. Warum haben die Kelten so grosse Steine errichtet, mit all der Mühe, die das machte?
Warum haben sich die Ägypter so viel Mühe mit den Pyramiden gemacht? Eben! Das waren Antennen, Thermometer, Sonden, Nadeln wie die der chinesischen Ärzte, in die neuralgischen Punkte gesteckt, wo der Körper reagiert, in die Knotenpunkte. Im Zentrum der Erde gibt es einen glühenden Kern, so etwas Ähnliches wie die Sonne, oder nein, eine richtige Sonne, um die sich etwas dreht, auf verschiedenen Bahnen. Umlaufbahnen von tellurischen Strömen, auch Erdstrahlen genannt. Die Kelten wussten, wo sie zu finden sind und wie man sie beherrscht. Und Dante, was war mit Dante? Was wollte er uns erzählen mit der Geschichte von seiner Höllenfahrt? Verstehen Sie nun, lieber Freund?“ (522).
In diesem Zusammenhang erhält nun das Foucaultsche Pendel eine Funktion. Es zeigt auf den Nabel der Welt (auf den Umbilicus Telluris, 533).
Hie Fakten, da überbordende Phantasie
Man kann es Eco zugute halten, dass er bei seinen erschöpfenden Forschungsarbeiten über die Geschichte der Geheimgesellschaften und angeblicher Geheimnisse sehr sauber zwischen Fakten und Fiktionen trennt. Fakten, das sind die Angaben, die von der ernsthaften, modernen Wissenschaft als einigermassen gesichert akzeptiert werden, also was sich auf Dokumente und vergleichende Forschung stützt. Alles andere ist pure Phantasie, und es gibt kein Kriterium, eine Konstruktion für wahrscheinlicher zu halten als die anderen. Es ist und bleibt Spielerei, faszinierend für die einen, müssig für die andern.
Wie gefährlich das ist, berichtet Casaubon: „Wenn wir einander die Resultate unserer Phantastereien berichteten, schien uns - und sicher zu Recht -, dass wir mit unzulässigen Assoziationen und aussergewöhnlichen Kurzschlussverbindungen operierten, denen Glauben zu schenken wir uns geschämt hätten, hätte man sie uns vorgehalten. Was uns ermunterte, war das gemeinsame Einverständnis - stillschweigend, wie es die Etikette der Ironie verlangt -, dass wir die Logik der anderen parodierten. Doch in den langen Zwischenzeiten, wenn jeder von uns Beweisstücke für die nächste Dreiersitzung sammelte, überzeugt, Mosaiksteinchen für die Parodie eines Mosaiks zu sammeln, gewöhnte sich unser Hirn allmählich daran, alles und jedes mit allem und jedem in Verbindung zu bringen, und um das automatisch tun zu können, musste es feste Gewohnheiten annehmen. Ich glaube, an einen bestimmten Punkt macht es keinen Unterschied mehr, ob man sich daran gewöhnt, so zu tun, als ob man glaubte, oder ob man sich daran gewöhnt, wirklich zu glauben“ (548).
Das unermüdliche Suche nach dem Geheimnis durch die Jahrhunderte seit 1310 bekommt den drei Männern im Verlag nicht gut. Diotallevi kriegt Bauchschmerzen (599, 602), muss ins Krankenhaus und stirbt an Krebs (662-666, 721). Belbo gerät in Verwirrung: „Er benutzte den Plan, dessen Irrealität ihm bewusst war, um einen Rivalen zu schlagen, den er für real hielt. Und als er dann merkte, dass der Plan ihn erfasste und nicht mehr losliess, als ob er tatsächlich existierte, oder als ob Belbo aus demselben Stoff gemacht wäre wie sein Plan, da fuhr er nach Paris wie zu einer Enthüllung, einer Revanche“ (624).
Eine skurrile Geschichte wird plötzlich Realität
Was heisst das? Eine intellektuelle Abenteuerreise, also eine skurrile Geschichte, die sich bisher nur in den Köpfen von Menschen abgespielt hat, wird plötzlich Realität. Es gibt Personen, die den Unsinn ernst nehmen, die Gedanken in der Praxis realisieren. Das mag für Politiker und Unternehmer statthaft, ja erforderlich sein, im Geistesleben ist das gefährlich.
In Paris wird also Belbo von einer rätselhaften Gruppe, die Casaubons Fiktionen ernst genommen hat, verschleppt, unmittelbar nachdem er Casaubon angerufen hat, um ihn um Hilfe zu bitten (668, vgl. 31). Casaubon folgt dem Hilferuf nach Paris, beginnt den Freund zu suchen und verbringt nach der Besichtigung des Foucaultschen Pendels eine Nacht im Conservatoire des Arts et Métiers. Er wird Zeuge einer geheimen Zusammenkunft (682-705) der rätselhaften Gruppe mit viel okkultem Zirkus. Dabei findet Belbo am Foucaultschen Pendel aufgehängt den Tod (700).
Casaubon fliegt nach Mailand zurück und hält Rückschau: „Wir hatten einen nicht-existenten Plan erfunden, und SIE hatten ihn nicht nur für wahr und real gehalten, sondern sich auch eingeredet, selber schon lange Teil dieses Planes gewesen zu sein, beziehungsweise sie hatten die Fragmente ihrer krausen Vorstellungen und konfusen Projekte als Teile unseres Plans identifiziert, zusammengefügt nach einer unwiderleglichen Logik der Analogie, der Ähnlichkeit und des Verdachts. Aber wenn man einen Plan erfindet, und die anderen führen ihn aus, dann ist es als ob der Plan existierte. Beziehungsweise dann existiert er wirklich“ (727).
Der Hauptdarsteller denkt nach
Auch über das Geheimnis denkt er nach. Dabei knüpft er an folgende Beobachtung an: „'Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles.' Aber ALLES ist kein grösseres Geheimnis. Es gibt überhaupt keine 'grösseren Geheimnisse', denn kaum sind sie aufgedeckt, erscheinen sie klein. Es gibt nur ein leeres Geheimnis. Ein Geheimnis, das einem ständig wegrutscht.
Das Geheimnis der Orchidee ist, dass ihr Namen Hoden bedeutet und sie auf die Hoden einwirkt, aber die Hoden bedeuten ein Tierkreiszeichen und dieses eine Hierarchie der Engel und diese eine Tonleiter und diese ein Verhältnis zwischen den Säften und so weiter. Initiation heisst lernen, nie innezuhalten, man pellt das Universum wie eine Zwiebel, und eine Zwiebel ist nichts anderes als Pelle, denken wir uns eine endlose Zwiebel, die ihr Zentrum überall hat und ihre Aussenhaut nirgends. Initiation ist endlos wie ein Möbiussches Band. Der wahre Initiierte ist der, der weiss, dass das mächtigste Geheimnis ein Geheimnis ohne Inhalt ist, denn kein Feind kann ihn zwingen, es zu enthüllen, und kein Gläubiger kann es ihm wegnehmen“ (730).
Und schliesslich reflektiert Casaubon auf das, was er und seine zwei Kollegen im Verlag taten: „Und wir sind hingegangen, um ihre Begierde zu wecken, um ihnen ein Geheimnis anzubieten, das leerer nicht sein konnte, denn wir kannten es nicht nur selber nicht, wir wussten auch, dass es falsch war“ (731).
Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. Roman. München: Hanser 1989, 767 Seiten (italienisch 1988).
Literaturempfehlungen
Alternative als Roman:
Albert Vigoleis Thelen: Die Insel
des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis.
Düsseldorf: Diederichs 1953, 990 Seiten;
Alternative als Sachbuch:
Norbert Bischof: Das Rätsel Oedipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München: Piper 1985, als Taschenbuch in der Serie Piper 1989, über 6oo Seiten.
Zu „Geheimnis“, Geheimgesellschaften, Magie: Taschenbücher:
Horst E. Miers: Lexikon des Geheimwissens. Goldmann Sachbuch 1976 (zuerst Freiburg: Bauer 1970) ausgezeichnet und unentbehrlich. Hans Biedermann: Handlexikon der magischen Künste. Knaur Taschenbuch 1976 (zuerst Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1968) wichtige Ergänzung zu Miers. Friedrich Doucet: Geschichte der Geheimwissenschaften. Magie, Alchemie, Okkultismus. Heyne Taschenbuch 1982. Leider unkritische Verschmelzung von Facts und Fiktionen. Als Übersicht über die populären Auffassungen brauchbar. Hans Biedermann: Das verlorene Meisterwort. Bausteine zu einer Kultur- und Geistesgeschichte des Freimaurertums. Heyne Taschenbuch 1988 (zuerst Graz: Böhlaus Nachfolger 1986). Fragwürdige, konfuse und gefährliche Vermischung. Brauchbar wie Doucet als Einführung in die gängigen Themen.
Unentbehrliche Sachbücher:
Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Freiburg, München: Alber 1959, als suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1973 (Habil. -schrift, hervorgegangen aus der Diss. 1954). Enthält wichtige Klarstellungen zur Frühgeschichte der Freimaurerei während der Aufklärungszeit, S. 49-81. Ludwig Hammerstein: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert. Genese - Historiographie -Forschungsprobleme. In Eva H. Balazs (Hrsg. ): Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Berlin: Camen 1979, 9-68. Karl H. Frick: Die Erleuchteten. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt. 1973 (zur Freimaurerei 164-200, aber auch sonst unentbehrlich). Ergänzungsband 3: Satan und die Satanisten. 1986 (zum aktuellsten Verhältnis der katholischen Kirche zur Freimaurerei, 126-129). Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 1776-1945. Bern: Lang 1978. Unentbehrlich Klarstellungen, auch zu den „Protokollen der Weisen von Zion“. Michael W. Fischer: Die Aufklärung und ihr Gegenteil. Die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik. Habil.-Schrift. Univ. Salzburg 1981; Berlin: Duncker & Humblot 1982. Ausführlich über die Rosenkreuzer nach 1600. Fama und Confessio sind im Anhang abgedruckt. Interessant und faktenreich.
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