Home Zeitdiagnose 1970: Hilflosigkeit und Unsicherheit

 

geschrieben im Winter 1970/71

erschienen in den Basler Nachrichten, 26. September 1971

unter dem Titel: „Vom Fernsehversuchbetrieb zum quecksilbervergifteten Thon“

 

siehe auch:    Innerliche und äusserliche Verwandlungen seit 1939

 

 

(der erste Absatz siehe:
„Erinnern Sie sich noch an die Anfänge des helvetischen Fernsehens?“)

 

 

Wie gross ist die Veränderung?

 

... Hat die stürmische Entwicklung seit dem letzten Weltkrieg, die wir hauptsächlich der Chemie, der Elektrotechnik und der Ingenieurkunst verdanken, überhaupt Ihresgleichen in früheren Zeiten?

Eine beträchtliche Anzahl der uns heute vertrauten Geräte ist schon vor der Jahrhundertwende, vorab von Edison, erfunden worden; der Beginn des Ersten Weltkriegs markierte den Untergang einer grossen Epoche der Weltgeschichte, das Ende der Neuzeit.

Und schliesslich bedeutete die Hektik am Beginn der Industriellen Revolution (z. B. 1818-1848) für viele Menschen sicherlich genauso starke seelische Belastungen und Wandlung wie die Umwälzungen der letzten 25 Jahre.

 

Die Entwicklung hat sich aber beschleunigt. Zwar wird seit Jahrtausenden gemordet und Land urbar gemacht, gibt es Schmutz, Völkerwanderungen und Monumentalunternehmungen wie Städte- und Pyramidenbau, Klassengesellschaften, Fanatismen und Illusionen, doch in solchem Ausmass und stürmischem Wechsel noch nie. Wie schnell ist auch das Britische Empire zerfallen und haben sich die ehemaligen Kolonialvölker sonder Zahl selbständig gemacht.

 

Die Dialektik von Aufbau und Zerstörung

 

Enorm beschleunigt hat sich die Dialektik von Aufbau und Zerstörung. Der "Baslerhof" wurde nicht 50 Jahre "alt", der Wohnkomplex Wasserwerkstrasse/Neumühlequai in Zürich nicht 30 Jahre; jetzt wird dort ein Bührle-Hotelhochhaus gebaut. Für den Nationalstrassenbau musste ein ganzes Einfamilienhausquartier in Neuenhof bei Baden geschleift werden. Die Parkgarage an der Steinentorstrasse schloss nach zehn Jahren bereits wieder ihre Tore - dafür hat das "Provisorium" des Zürcher Hauptbahnhofs nun 100 Jahre auf dem Buckel und steht zum Teil unter Denkmalschutz,

 

Es scheint, wir seien mit unserer Weisheit am Ende. Das bereits vor sechzig Jahren festgestellte Hintennachhinken des moralischen Stands hinter dem technischen Fortschreiten ist nicht geringer geworden. Der Segen der Zivilisation brachte ebensoviel Unsegen mit sich. Zwar sind die Aufbaumöglichkeiten mit Hilfe der Technik - von der Betonmischmaschine bis zur Netzplantechnik und X-art, von der elektronischen Steuerung bis zur Chemotherapie (Salvarsan 1909), Herz-Lungen-Maschine und Gehirnchirurgie - gewaltig gestiegen, doch genausosehr die Zerstörungsmöglichkeiten mit Bulldozer, Motorsägen, Satellitenbomben und Psychodrogen, mit Überschallknall, Lebensmittelvergiftung, globaler Meeresverseuchung und Urbanisierung - die Stadtregion von Boston-Washington umfasst viermal, diejenige von Tokio-Jokohama doppelt soviel Einwohner wie die Schweiz.

 

Viele Schädigungen, die wir heute veranstalten und die uns schlagen, sind irreversibel, Wie. das Rad der Zeit sich nicht zurückdrehen lässt, lässt sich manches nicht mehr ungeschehen machen. Einmal ist das Mass voll. Oder unterschätzen wir das Regenerationsvermögen der Natur und die Anpassungsfähigkeit des Menschen?

 

Überforderung bewirkt Hilflosigkeit und verwischt Grenzen

 

Die sachlichen Verflechtungen werden immer verwirrender, komplexer. Jeder einzelne müsste heute Spezialist sein, dem man Vertrauen schenken kann, und gleichzeitig die Fähigkeit zu Teamwork, Berufskombinationen und -wechsel haben, Doch was geschieht, wenn ihn Arbeit und vielgestaltige Nebenbeschäftigungen, oft in unzähligen Kommissionen, aufzehren? Rationalisierung und Automatisierung kann die geistige und schöpferische Arbeit ja nicht verringern, nur erleichtern.

 

Alternativen aufzustellen, Varianten zu konfrontieren und Vorhaben zu überprüfen stösst auf Schwierigkeiten, wenn, wie etwa bei der Flugzeugbeschaffung, irrationale Faktoren die Computer-Evaluation zunichte machen. Lobbies können Projekte durchsetzen oder verhindern, desgleichen die Stimmbürger durch ihre Abstinenz - oder indem sie Referenden ergreifen und Volksbegehren lancieren.

 

Diese weitverbreitete Hilflosigkeit ruft heftige, gern "emotionell gefärbte" genannte Diskussionen mit oft keinen andern Ergebnissen als Resolutionen und Entrüstung, Ermahnungen und Verurteilungen hervor und spaltet Verantwortliche und Bürger in entgegengesetzte Lager. Die immer stärkere Vermischung von Politik und Wirtschaft wird beklagt. Tatsächlich verwischen sich heute die Grenzen allenthalben - obwohl sich die Fronten verhärten -, sei es zwischen Gut und Böse, Wahr und Falsch, Utopie und Realität oder zwischen den einzelnen Wissenschaften, Berufen und Kunstrichtungen, zwischen männlichen und weiblichen Lebensstilen und Werktätigkeiten, sei es zwischen ethischen, religiösen und politischen Motiven bei Dienstverweigerern oder Kommunemitgliedern.

 

Die Unklarheit wird noch erhöht durch die Klage, wir hätten heute keine anerkannten Leitbilder mehr. Dabei sind vorderhand noch recht wirksam: Geschäft, Besitz, Macht und Prestige, ergänzt von Fortschritt, Neuheit, Nutzen und Wettbewerb, "Stabilität und Wachstum", "auspolarisiert" durch die Appelle von Masshalten, Gleichgewicht, "keine Experimente" sowie "Ruhe und Ordnung", "Sicherheit und Recht".

Dass andere, christliche wie humanistische Ideale nicht ungeteilte Zustimmung finden, liegt wohl daran, dass sie gar nie praktiziert wurden, jedenfalls keine genügend breite Basis hatten. Seit Jahrtausenden wiederum zeigt sich bis zum heutigen Tag - ausser beim Ernstmachen mit Intrigen, Übervorteilung, Querulieren, Schikanen und Terror - doch nur die gähnende Kluft zwischen "schönen" Worten und Taten, dem Nachleben der vielfach katalogisierten Empfehlungen, Manifeste und Maximen, Der "gute Wille" genügt jedenfalls heute nicht mehr, die Geister, die wir riefen, zu bannen.

 

Wenigstens in der nachindustriellen Gesellschaft sind Kutschen, Kohle, Gaslicht, Kachelöfen und Holzherde, Dreschflegel, Spitzenklöppeln und Redisfeder, Schnürmieder, Ohnmachten, Riechsalz und Pompadour, Alabaster, Kammerzofen, Kolonialwaren und Mercerieläden, deutsche Druck- und Schreibschriften sowie Malthus’ wie Marxens Verelendungstheorie passé. Tabus fallen, neue tauchen auf. Moden verschwinden so schnell wie sie auftauchen. "Eherne Prinzipien“ sind fragwürdig geworden, an "heiligen Gütern" wird gerüttelt.

 

Wer aber kann uns sagen, was nicht mehr oder nur noch bedingt gültig ist, den "Anforderungen der Zeit" nicht mehr genügt, und in welche Richtung wir unser Bemühen lenken, wie anders und nach welchen Wertmassstäben und Normen wir handeln sollen? Wer definiert die Ziele, formuliert die Programme und Strategien, erlässt die Richtlinien und schafft die notwendigen Verfassungs- und Gesetzesgrundlagen?

Sind Demokratisierung - von der Schule über die innenbetriebliche Mitbestimmung bis zur Stadtplanung - wünschenswert, wenn dem einzelnen je länger je mehr der Einblick in die Zusammenhänge fehlt oder verwehrt ist? Kommen hierdurch nur neue Konfusionen zu den bestehenden hinzu?

 

Unsicherheit trotz Überinformation und Erfahrungsschatz

 

Ohne in Panik zu machen, kann man sagen, die Besorgnis des Menschen um den Menschen sei deshalb gewachsen, Überall steigt aus den Tiefen des Unbehagens die Frage: "Eigentlich müsste man ... ja, was müsste man eigentlich?" Es gibt kein Gebiet, auf dem nicht Reformen oder Revisionen als dringend erachtet werden, kein Thema, das nicht zum Umdenken zwänge.

Noch nie gab es soviel Information wie heute, doch die Unsicherheit war ebenfalls noch nie so gross. Wir sind trotz Massenmedien und Publikationen vom Flugblatt bis hin zum Handbuch voll Aufklärungen und seitenlangen Tabellen schlecht und ungenügend, also einseitig und lückenhaft informiert, Es kann passieren, dass Reisende des renommierten TEE-Zuges nicht darüber aufgeklärt werden, weshalb er zwei Stunden Verspätung hat.

 

Wir verfügen gewiss über einen beträchtlichen Erfahrungsschatz, doch droht er durch Manipulationen, Verallgemeinerungen und Fehlinterpretationen verschüttet zu werden oder durch dubioses Seilziehen und Schubladisieren - von "Lehren aus der Vergangenheit", von Gutachten und Vorschlägen - in Vergessenheit zu geraten.

Wir haben verzerrte Bilder von uns selbst, unserer Stellung in Gesellschaft, Wirtschaft und Beruf; wir haben aber auch falsche Bilder von den andern. Nicht nur von der Werbung her ist einigermassen bekannt, wie unrichtig "Images" sein können; wie manche Firma ist um die Verbesserung ihres angeschlagenen Ansehens bemüht. "Transparenz" steht jedoch selten als Leitgedanke dahinter, dafür sind es andere durchsichtige Gründe.

 

Die Wissenschaft liefert keine widerspruchsfreien Ergebnisse und Rezepte

 

Immer häufiger taucht in den Gazetten das Wort "Schizophrenie" auf. Mag dieser psychiatrische Begriff in mancher Hinsicht zutreffen, soll man ihn dennoch nicht missbrauchen. Sprechen wir besser von Widersprüchen oder Paradoxien, vielleicht sogar von Aporien, Ausweglosigkeiten. Solche gibt es auch in der von manchen als letzte Rettung betrachteten "Wissenschaft". Die Forschungen nehmen zu, ergeben aber kein einheitliches Bild, so oft dies auch gewünscht und. angestrebt wird.

 

Zur Gefährlichkeit irgendeiner Neuerung oder Einrichtung - vom audiovisuellen Unterricht bis zum Atomkraftwerk - lassen sich gleich viele Experten zitieren wie für deren Notwendigkeit und Ungefährlichkeit - und das Fatale ist: Meist haben beide Seiten recht. Die Fachleute sind sich in jeder entscheidenden Frage uneins, und deshalb fällt das Entscheiden so schwer. Schon die Entscheidung für einen Aufschub der Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen, die wiederum nicht abzusehen sind.

 

Es ist allerdings zu präzisieren: Thesen, Teilmodelle und Methoden wie auch Prognosen sind zwar reichlich vorhanden, doch ihre Anwendung ist schwierig, hängt sie doch nicht nur von der Fragestellung und rechtlichen Voraussetzungen ab, sondern unterliegt unberechenbaren Einflüssen, geschieht es doch oft, dass derselbe Wissenschafter, dieselbe Behörde verschiedene Ansichten vertreten - je nachdem, an welchem Ort oder Anlass sie sprechen. In diesem Dilemma verlangt man lautstark, die Verzweiflung überdeckend, nicht nur Bestandesaufnahmen, sondern noch mehr Grundlagen-, Ursachen- und angewandte Forschung sowie Planung - und benützt das als Alibi für ein Weitermachen im gewohnten Trott.

 

Es mangelt an Arbeitskräften, Geld und Zeit

 

Für die Planung stehen gesicherte und allgemein anerkannte Unterlagen aus. Für Analysen, die solche liefern könnten, fehlt es, woran es überall fehlt: an qualifizierten Arbeitskräften, Geld und Zeit.

 

Die unheimliche Bevölkerungsexplosion vermag den Personal- und Nachwuchsmangel nicht zu mildern - nicht nur bei uns, sondern auch in den Entwicklungsländer. Es heisst, wir lebten in einer Wohlstands- und Überflussgesellschaft, weshalb die EWG 1970 über eine halbe Million Tonnen Früchte und Gemüse vernichten konnte, und doch sind keine Geldmittel für lebenswichtige Massnahmen, Bauten und Forschungen vorhanden und können Projekte nicht genügend gefördert werden.

 

Nicht zu unterschätzen ist auch der Zeitfaktor. Bedenkt man, dass die Dauer für die Entdeckung und Erprobung eines einzigen neuen Medikaments fünf bis zehn Jahre beträgt, scheint es fraglich, ob Untersuchungen am wohl kompliziertesten Gebilde, das wir kennen, am Menschen, an seinem Körper und Geist und an seiner Seele sowie an seinem Leben in einer immer verwirrenderen und bedrohteren Umwelt, ebenso "schnell" zu Resultaten führen werden. Wohl noch für längere Zeit bleiben Welt und Mensch dem Menschen - Mitmenschen oder Forscher - das grösste Rätsel.

 

Statt Resignation Mut und Mitmenschlichkeit

 

Bleibt uns also nur noch stille Resignation, soll sich der Pessimist vom Optimisten Einsichtslosigkeit vorwerfen lassen oder soll der Gläubige gebeten werden, doch seine Augen weit in die Welt hinaus zu öffnen? Konnte man denn nicht schon immer fragen: "Muss das sein?", vom "Widerstreit der Meinungen und Interessen" sprechen und schreiben: "Indien (oder Ghana oder Kanada oder die Schweiz) - das Land der Gegensätze"?

 

Was not tut, wäre jedenfalls Selbstbesinnung - die zwar nicht Geld, aber viel Zeit in Anspruch nimmt, lind wenn der einzelne nicht mehr aus noch ein wüsste, so bliebe ihm doch auf der einen Seite, sich mutig - vergleichbar einem tüchtigen Unternehmer - für die Lösung derjenigen Probleme einzusetzen, die er noch überblicken kann, auf der andern Seite aber der Rückzug auf die Menschlichkeit. Zumindest viel Leid und Not könnte verhindert werden, träten wir dem Mitmenschen mit Achtung und Herzlichkeit gegenüber. Die "Liebe" in ihrem weitesten Sinn hat sicher noch nicht ausgespielt.

 

Wir dürfen der Ratlosigkeit nicht nachgeben: Es braucht ein "Trotzdem". Das wäre ein Wegweiser: Nicht die Welt gibt uns Hoffnung, aber Hoffnung gibt uns die Welt. Ob wir damit aber nicht einem neuen "Biedermeier" entgegengehen? Uns geht’s ja noch gut. Was aber, wenn das, was vorderhand nur in "Subkulturen" und unter der Oberfläche des treuherzigen und genügsamen Bürgeridylls gärt, sich Luft macht?

 

Das Dilemma des einzelnen am Beispiel des Redaktors

 

Der tatkräftige Einsatz eines jeden in seinem ureigensten Wirkungsbereich - ein treffender Name - stösst aber sofort auf Schwierigkeiten. Es herrscht heute gewiss eine Tendenz zu Dramatisierungen, genauso aber eine entgegengesetzte des Vogel-Strauss-Gebarens und des Beschönigens.

 

Das führt soweit, dass man sich über den Strom von kritischen Darstellungen, zersetzenden Provokationen und negativen Zukunftsaussichten in den Massenmedien beklagt und den Journalisten - wie auch den Wissenschaftern und manchen Politikern - Missbrauch von Sensationen sowie unzulässige und gefährliche Verzeichnung der Wirklichkeit vorwirft. Mit scheinbarer Besorgnis würden Behörden und Institutionen angegriffen, werde gegen ein Land, sogar das eigene, gehetzt und jedermann in seinem Glauben an den möglichen Sieg des Guten systematisch irregemacht.

Der Redaktor gerät dadurch in ein Dilemma, Soll er die täglichen Meldungen über verschmutzte Gewässer und Giftablagerungen, Unruhen und Krisen, Gewalttaten und Katastrophen in seinem Medium, bringen oder einfach in den Papierkorb werfen?

 

Ein winziges Beispiel: Am 17. Dezember letzten Jahres empfahl ein Professor der amerikanischen Lebensmittelbehörde, alle ungeprüften Thon-Konserven - in andern Meldungen war auch von Schwertfisch die Rede - aus dem Handel zu ziehen, das sie nach seinen Untersuchungen einen gefährlich hohen Quecksilbergehalt aufwiesen. Die Fische hatten das Gift aus Industrieabfällen mit ihrer Nahrung aufgenommen. Wenn man nur einmal in der Woche von diesem Fisch ässe, sei freilich keine Gefahr gegeben. Dennoch zog die Lebensmittelverwaltung eine Million Büchsen vom Markt zurück.

Publiziert ein Redaktor diese Meldung, wirft man ihm Bangemache vor, und er ruft die schweizerischen und internationalen Vereinigungen der Fabrikanten von Konserven und Importeure von Fischprodukten auf den Plan, die Gegenexpertisen anfordern werden. Bringt er die Nachricht nicht, so unterschlägt er eine immerhin ernste Warnung, welche eine mögliche Bedrohung der öffentlichen Gesundheit aufzeigt.

 

Was nun? Mut! Aber zu welcher Aktion?

 



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