Mueller Science - Individuation: Umwege zum eigenen Ich
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                     Gedanken und Zitate zur Individuation

 

(Vortrag, 28.November 1979)

 

Bitte dazu die tabellarische Übersicht öffnen

 

siehe auch:    C. G. Jungs Sicht der Psychologie

                        Literatur: Individuation

                        Literatur: Erfolgstraining/ Lebenskunst/ Überzeugen/ Sich Durchsetzen/ Selbstbehauptungstraining

 

vgl. ferner:

Die Selbstkenntniß des Freymaurers

Von Ignaz Aurelius Fessler, 1784

  

Inhalt

Der Lebensweg als aufsteigende Spirale

Der edle achtfache Pfad des Buddhismus

Das Verhältnis zur Welt, zum Mitmenschen und sich selber

Die Psychologie glaubt an die Wandelbarkeit des Menschen

1. Selbstbesinnung entzündet sich in der Auseinandersetzung mit Mitmenschen

1.1. Selbsterforschung in der Meditation

1.2. Selbstprüfung der Bilder

1.3. Selbsterkenntnis: Aus Leiden werden Lehren

2. Selbsterziehung: Einsicht muss in Taten umgesetzt werden

2.1. Selbstkritik: Zu Fehlern stehen und daraus lernen

2.2. Selbstüberwindung von Gelüsten, Trägheit und Bösem

2.3. Die Selbstbeherrschung gegenüber den Mitmenschen u. dem eigenen Leben

3. Stärke als Grundlage für die Selbstentfaltung

3.1. Selbstvervollkommnung: Kompetenz, Bildung, Reife

3.2. Selbstveredelung in Harmonie

3.3. Die Selbstverwirklichung ist nie ganz erreichbar

 

 

 

"Ein sechzigjähr'ger Mann ward unlängst beigesetzt; er kam auf diese Welt, ass, trank, schlief, starb zuletzt."

 

Dieses Epigramm stammt von Christian Gryphius. Man kann es noch kürzer fassen. Christian Fürchtegott Gellert, tat das ein paar Jahrzehnte später in seiner Erzählung "Der Greis". Er beschloss sie mit dem lapidaren Satz: "Er lebte, nahm ein Weib und starb."

 

Wenn das alles Wesentliche ist, was sich über ein Menschenleben aussagen lässt, dann ist es nicht viel. Eine solche Bilanz ist dürftig. Sie könnte freilich eine ironische Form des Eingeständnisses darstellen, dass wir das Leben nicht mit Worten fassen können. Auch zehn dicke Bände würden nicht ausreichen, seine Unermesslichkeit, Grossartigkeit, aber auch Ungeheuerlichkeit zu beschreiben.

 

Der Lebensweg als aufsteigende Spirale

 

Immerhin kann man versuchen, in Bildern zu sprechen. So lässt sich der Lebensweg des Menschen mit einer aufsteigenden Spirale vergleichen. Es sind immer wieder dieselben oder ähnliche Probleme, vor die der Mensch gestellt wird; aber jedesmal hat er einen andern Standort. Dadurch kann er sie aus einer andern Richtung, unter einem veränderten Blickwinkel, von einer höheren Warte aus betrachten.

Das ist die Selbstentwicklung des Menschen. Die Achse, um die sich diese Spirale windet, ist das persönliche Ich. Es ist nie ganz erreichbar, aber man kann sich dieser gedachten Mitte nähern. Der Weg zieht seine wechselnden Kreise rund um das eigene Ich, er ist ein Um-weg zum eigenen Ich.

 

Über diesem Weg leuchtet das ewige Licht göttlichen Ursprungs, das Licht der zeitlosen Wahrheit, der freien Vernunft. Auf diesem Weg warten Freude und Beglückung. Aber es "lauern Schlangen im Grase“ (Vergil), es drohen Gefahren. Felder, die reiche Ernte tragen, und schattige Auen wechseln mit Ödnissen und Karrenfeldern ab, wo weit und breit kein labendes Nass zu finden ist. Manchmal sticht die Sonne, manchmal treten Unwetter auf. Mancher trägt eine schwere Last. Oft steht man wie Herkules am Scheidewege, vor unbezwingbaren Wänden oder dunklen Abgründen. Fehltritte sind möglich; wir können straucheln und fallen.

Es sind aber gerade die "Steine des Anstosses" (Jes. 8, 14), die den Menschen zur Selbstbesinnung nötigen. Aus dieser Selbstbesinnung soll die Selbsterziehung hervorgehen, welche dann in der Selbstentfaltung aufgeht.

 

Es sind somit drei Stufen der inneren Entwicklung, die auf dem Lebensweg immer wieder errungen werden müssen, wofür jedes Mal drei verschiedene, rechte Schritte notwendig sind. Mit dem erstmaligen Erreichen einer Stufe oder des Vollziehens eines Schrittes liegt das Problem noch nicht endgültig hinter einem; die ganze Schrittfolge ist immer und immer wieder zu durchlaufen.

Wie der römische Dichter Vergil sagte: "Die unablässige Arbeit besiegt alles." Und für unser Bild vom Weg gilt der Spruch des alten Griechen Hesiod: "Schweiss verlangen die Götter, bevor wir die Tugend erreichen; lang und steil ist der Pfad, der uns zu dem Gipfel hinanführt."

 

Der edle achtfache Pfad des Buddhismus

 

Wir müssen uns bewusst sein, dass wir den Gipfel als Mensch nie ganz erreichen. Auch die Vollendung der dritten Stufe mit dem neunten Schritt, der Selbstverwirklichung, kann nie eine ganze sein. Es ist dem Menschen in seinem Erdenleben verwehrt, sich selbst ganz zu erreichen und als Ganzheit zu verwirklichen. Das Leben ist grösser als der Mensch.

 

Diese Auffassung ist mindestens zweieinhalb Jahrtausende alt. Ein Ausdruck davon ist die buddhistische Lehre. Sie geht bekanntlich davon aus, dass alles Leben leidvoll sei. Dieses Leiden hat seine Ursache in unwissendem Begehren. Das ist nicht etwa die sinnliche Begierde, wie vielfach geschrieben wird, sondern es ist der dem Menschen eigentümliche Irrtum zu glauben, seine Vorstellungen entsprächen der Wirklichkeit, wo sie doch nur Schöpfungen des Verstandes und der Konvention sind.

 

Und im Bereich dieses Nicht-wissens hegt er Wünsche und Erwartungen, hofft und ängstigt er sich. Nun kann die Überwindung des Leidens erreicht werden. Die Befreiung aus dem Bann des Nichtwissens und den davon geleiteten Begierden geschieht auf dem edlen (oder heilige) achtfachen (oder achtteilige) Pfad. Er verlangt die folgenden Schritte:

-         rechtes Glauben

-         rechtes Denken

-         rechtes Reden

-         rechtes Handeln

-         rechtes Leben

-         rechtes Streben

-         rechtes Gedenken

-         rechtes Sich-Versenken.

 

Es geht bei unserer Schrittfolge nicht um die Übernahme dieser buddhistischen Philosophie. Aber sehr vieles kann in verwandelter Form aufgenommen werden, sind es doch allgemeine menschliche Erfordernisse, die von jedem Strebenden beachtet werden müssen.

 

Das Verhältnis zur Welt, zum Mitmenschen und zu sich selber

 

Der Lebensweg führt an drei steilen Flanken vorbei, die den Suchenden, den Wanderer und Kletterer stets vor neue Probleme stellen. Diese Probleme betreffen

  • das Verhältnis zur Welt der Sachen, Ereignisse und Ideen,
  • den Umgang mit den Mitmenschen und
  • das Auskommen mit sich selbst.

 

In ihrer individuellen Entwicklung von der Geburt an müssen sich Säugling, Kleinkind, Kind und Jugendlicher mit diesen drei Problembereichen auseinandersetzen und zwar in der angeführten Reihenfolge: Welt, Mitmensch, Ich.

 

… Mein Weltbild bestimmt nicht nur mein Verhältnis zu den Sachen, Ereignissen und Ideen, sondern auch meinen Umgang mit den Mitmenschen und mit mir selber. Das Weltbild aber wird wiederum wesentlich dadurch bestimmt, was ich von mir selber und den Mitmenschen halte, was ich an mir selber und in der Auseinandersetzung mit andern Menschen, deren Taten, Unterlassungen und Schöpfungen, deren Besitz, Ansichten und Idealen, erfahren habe. Und schliesslich beeinflusst bereits mein unreflektierter Umgang mit mir selber mein Verhalten gegenüber Mitmenschen wie den Aufbau meines Weltbildes.

 

Aus psychologischer Sicht sieht die Sache folgendermassen aus: Ich erkenne mich selber erst in der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit dem Mitmenschen und aus der Beobachtung seines Verhaltens, seiner Reaktionen auf mein Verhalten.

Und ich verstehe mein Verhältnis zu mir selber erst in der Besinnung auf mein Verhältnis zu der von einer nicht-menschlichen Macht, von den andern Menschen und mir selber geschaffenen Welt. Das bedeutet: Weder die Zusammenarbeit mit Menschen noch die Arbeit am Weltbild kann von der Arbeit an sich selber getrennt werden.

 

Die Psychologie glaubt an die Wandelbarkeit des Menschen

 

Über Ideen und Erkenntnisse verfügen reicht aber noch nicht aus. Der Mensch muss auch tatsächlich arbeiten. Betrifft die Arbeit die eigene Person, so sprechen wir von Selbsterziehung. In früheren Zeiten waren es vor allem drei Institutionen, welche diese Erziehung zu begleiten und fördern versuchten: das Gesetz, die Kirche und die Philosophie.

In neuerer Zeit hat sich auch die Psychologie eingeschaltet. Sie versteht sich zu einem grossen Teil nicht nur als Wissenschaft, welche die Hintergründe und Äusserungsformen des menschlichen Erlebens und Verhaltens erforscht oder das Individuum auf seine Fähigkeiten und Tauglichkeiten hin durchleuchtet, sondern auch als Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist geradezu eine Berufspflicht des Psychologen, an die Wandelbarkeit des Menschen und damit an seine Lernfähigkeit, an seine Erziehbarkeit und an sein Vermögen zur Einsicht zu glauben.

 

Nicht nur etwa die Psychotherapie wird von diesem dreifältigen Glauben getragen, sondern auch die Schulpsychologie und die Unternehmensberatung. Wo immer Psychologen Ratschläge erteilen, Kurse geben, Übungen durchführen oder Gruppen betreuen., stets steht dahinter die Auffassung, der Mensch könne mit Lernwillen, Einsicht und Ausdauer sich selber etwas weiter bringen.

Kein Psychologe ist aber so vermessen zu glauben, in einigen wenigen Unterrichts- oder Beratungsstunden könne ein Mensch verändert werden. Er ist sich bewusst, dass er bestenfalls Anstösse zur Arbeit an sich selbst geben kann; er vermag nur anzuleiten, wie etwas besser gemacht werden könnte; er kann zeigen, was eher Erfolg verspricht und was tunlichst zu unterlassen wäre. Er gibt in vielen Fällen "Nachhilfestunden", solange bis sich der Klient, der Ratsuchende oder Kursteilnehmer aus eigener Kraft, eigenem Können und eigenem Antrieb auf seinem Weg wieder zurechtfindet, besser zurechtfindet, weiterkommt.

 

Der Psychologe vertritt also wie Eltern, Lehrer und Lehrmeister, wie Richter, Pfarrer und Philosophen das "Prinzip Hoffnung" (Ernst Bloch). Es gibt ihm die Kraft, sich an die Betreuung von sprachgestörten Kindern, Drogensüchtigen und Lebensmüden heranzuwagen, es leitet seine Bemühungen in der Ehetherapie, in der Behandlung von Neurosen und in der Vorbereitung auf das sog. Dritte Alter. Von dieser Kraft der Hoffnung versucht er, den andern Menschen etwas abzugeben, auf dass sie in diesen selber wachse.

 

Nun ist aber gerade auch die Psychologie selber, die entdeckt hat, wie wenig sie selber ausrichten kann, wenn der Ratsuchende, Leidende oder Patient nicht mitmacht, nicht gewillt ist, an sich selber zu arbeiten. Es braucht nicht nur die Bereitschaft, sich helfen zu lassen, sondern auch das Bedürfnis, an sich und seiner Lebenssituation etwas ändern zu wollen und schliesslich die Energie, eine Änderung auch durchzuführen. Der Klient muss Mit-Arbeiter werden. Grundlage dafür ist die Selbstbesinnung.

 

1. Selbstbesinnung entzündet sich in der Auseinandersetzung mit Mitmenschen

 

Diese Selbstbesinnung, die je und je durch die Selbsterziehung in die Selbstentfaltung münden soll, wird nicht vom Psychologen ausgelöst. Vielmehr entzündet sie sich stets und nur an drastischen Ereignissen. Das kann ein Konflikt mit Mitmenschen sein, ein Unfall oder eine Krankheit, ein Versagen oder eine schwere Enttäuschung, der Verlust eines geliebten Menschen oder einer wertvollen Sache.

Vielfach müssen sogar mehrere Ereignisse zusammenkommen, bis man einsieht, dass man sein eigenes Weltbild oder sein Verhältnis zu sich selber in Frage zu stellen hat, d.h. bis man realisiert, dass nicht immer nur bei den andern Menschen oder bei den "Verhältnissen" etwas nicht stimmt, sondern bei einem selber.

 

Der wirksamste Auslöser der Selbstbesinnung ist gewiss ein Konflikt mit Mitmenschen. Der Umgang mit Mitmenschen ist überhaupt das zentrale Spannungsfeld, welches das Verhältnis zur Welt und zu sich selber bestimmt. Er ist aber noch aus andern Gründen wichtig.

Wir sind von Geburt an auf die andern Menschen angewiesen, auf Eltern und Erzieher, auf den Bauer, der die Felder bestellt und auf den Beck, der das Brot bäckt, auf den Lehrmeister und Ehepartner, auf Lieferanten und Kunden, Behörden und öffentliche Dienste. Kurz: Wir brauchen materielle, seelische und geistige Unterstützung aller Art.

Hinzu kommt als drittes, was schon Cicero festgestellt hat: "Anteilnehmende Freundschaft macht das Glück strahlender und erleichtert das Unglück."

 

Was die Beziehung zum Mitmenschen für die Selbsterkenntnis bedeutet, hat schon der greise Goethe gesehen: "Ich habe ... in reiferen Jahren grosse Aufmerksamkeit gehegt, inwiefern andre mich wohl erkennen möchten, damit ich in und an ihnen wie an so viel Spiegeln über mich selbst ...deutlicher werden könnte." Goethe verwendet damit ein Bild, das schon in der Bibel vorkommt: "Wie im Wasser das Gesicht spiegelt, so das Herz des einen in dem des andern“ (Sprüche 27, 19).

 

Doch das ist noch etwas ungenau. Der Psychologe Ludwig Klages hat das noch differenziert, indem er vier Tatbestände auseinanderhält:

 

1. "Eigenschaften, die uns bewusst werden sollen, müssen wirksam geworden sein, und es werden grade die wichtigsten nur unter Menschen wirksam."

 

2. "Jeder vermutet im andern zunächst die Beweggründe, die ihn selber im gleichen Falle leiten würden, und hat damit schon die Eigenschaften des eigenen Charakters im Fremdcharakter vorausgesetzt.
Der bösartige Selbstsüchtige ist misstrauisch und argwöhnisch, weil er auch den Nebenmenschen für bösartig selbstsüchtig hält; der Uneigennützige und Gutmütige neigt zur Vertrauensseligkeit, weil er dieselbe Gutherzigkeit in den Nebenmenschen hineinträgt."
Das kann man in die Formel fassen: "Den Stoff zur Erkenntnis fremde Wesen liefert das eigene Wesen".

 

3. Doch das ist nur ein Teil, lässt sich doch auch noch etwas anderes feststellen: "Wenn im alltäglichen Leben mehr oder minder jeder mit Fremdeigenschaften rechnet, welche die seinigen grade nicht sind, der Faule mit der Arbeitsamkeit des Fleissigen, der Übermütige mit der Geduld des Nachsichtigen, der Schlaue mit der Einfalt des Redlichen, ... so bilden Unähnlichkeiten ersichtlich keine Schranke einer wenigstens instinktiv treffenden Auffassung.“
Hier ist das Wort "instinktiv" wichtig. Es bedeutet, dass die Auffassung fremdseelischer Eigenschaften, wie Klages nachgewiesen hat, derjenigen eigener Charakterzüge vorausgeht.

 

4. Was braucht es denn zur Erkenntnis der eigenen Charakterzüge? Hören wir nochmals Klages: "Den Stoff des Fremdwesens liefert das eigene Wesen; aber wir müssen diesen Leitsatz jetzt folgendermassen ergänzen: es sind Störungen durch fremde Wesen, was uns zur Besinnung auf das eigene Wesen verhilft, Störungen zumal durch gegensätzliche Charakterzüge, denen wir das Bewusstsein der unsrigen verdanken.“
Klages gibt dafür ein Beispiel: "Damit der Offenherzige, der seiner Offenheit gemäss handelt, von ihr wissen könne, muss er wenigstens ein Mal belogen sein. Den Lügner, so paradox es klinge, begreift er vermöge seiner Offenheit, und auf die wiederum fällt ein Licht vom Verständnis der Lüge."

 

Friedrich Schiller hat es ganz ähnlich ausgedrückt: "Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz."

 

1.1. Selbsterforschung in der Meditation

 

Der erste Schritt zur Selbstbesinnung besteht somit in der Selbsterforschung. Wie stelle ich eine solche an?

Ein Mittel dazu ist die Meditation, die in Zusammenhang mit der buddhistischen Stufe des "rechten Sich-versenkens" gesehen werden kann.

Sie soll im täglichen Leben systematisch praktiziert werden, beispielsweise am Morgen oder vor der Nachtruhe, an einem stillen Ort. Die Übung mag sich zuerst einem Beliebigen zuwenden, mit der Zeit aber ist sie auf die positiven Seiten unseres Gefühlslebens überzuleiten, auf Fragen: Wie habe ich den heutigen Tag zugebracht? Was habe ich recht getan? Was habe ich gefehlt? Wo habe ich Übles getan? Warum? Wie meide ich solches in Zukunft?

 

1.2. Selbstprüfung der Bilder

 

Das führt bald zum zweiten Schritt, zur Selbstprüfung. Aus psychologischer Sicht geht es hierbei um die Prüfung von Bildern. Beispielsweise: Ist das Bild, das ich mir von mir selber mache, zutreffend oder gaukle ich mir etwas vor?

Wir können aber noch weiter fragen: Stimmt das Bild, von dem ich vermute, dass es jemand anders von mir hat, mit meinem Selbstbild überein?

Und drittens: Deckt sich das Bild, das ich mir vom andern mache, mit seinem Selbstbild?

 

Es geht also darum zu prüfen, ob das, was ich von mir und andern glaube, richtig sei, damit ich die buddhistische Stufe des "rechten Glaubens" erreiche. Ich muss Selbsttäuschungen durchschauen, auf dass ich weder einer Selbstüberschätzung noch einer Selbstunterschätzung erliege. Ich frage mich: Was bin ich? Was kann ich? Was habe ich?

 

1.3. Selbsterkenntnis: Aus Leiden werden Lehren

 

Doch auch indem ich solche Fragen stelle, ist die Selbstbesinnung noch nicht abgeschlossen, denn es muss eine Erkenntnis, das buddhistisch. "rechte Denken" daraus resultieren.

 

Zumal wenn der Druck der erwähnten drastischen Ereignisse - die Psychologen nennen es Leidensdruck -, wenn dieser Druck nicht stark genug ist, dann kann man bei der Selbsterforschung und -prüfung stehen bleiben und zum Schluss kommen, es sei an einem selbst nichts zu ändern, das Geschehene sei "Schicksal" gewesen oder "infolge widriger Umstände" eingetreten, die Bilder stimmten, seien echt und richtig.

 

Erst wenn man Fehler, Irrtümer oder Fehleinschätzungen einzusehen beginnt, setzt die Selbsterkenntnis ein. Die Inschrift auf dem Apollotempel in Delphi, "Erkenne dich selbst", bedeutet dann wie der Fabeldichter Äsop forderte, aus "Leiden Lehren" zu ziehen. Das heisst bemerken, dass es nicht immer nur an den andern Menschen oder bei den Gegebenheiten liegt, wenn etwas nicht stimmt, sondern bei einem selber.

 

Es bedeutet aber auch oft, sein Nichtwissen zu erkennen, was nach alter Auffassung der erste Schritt zur Weisheit ist.

 

2. Selbsterziehung: Einsicht muss in Taten umgesetzt werden

 

Damit ist aber erst die Vorstufe für die Arbeit an sich selbst erreicht: Der "Umweg zum eigenen Ich" ist noch weit. Die Arbeit muss nun auch in der Realität ausgeführt werden. "Es ist leichter, zehn Bände über Philosophie zu schreiben als einen Grundsatz in die Tat umzusetzen", schrieb der russische Dichter Leo Tolstoj.

 

Kurt Tucholsky, fragte: "Wozu führen denn letzten Endes die Erkenntnisse des Geistes, wenn man nicht einmal von den Höhen der Weisheit herunterkletterte ihre Erlebnisse auf das tägliche Leben anwendet und das zu formen versucht nach ihrem Ebenbilde?"

 

Wichtig ist also das Tun. In der buddhistischen Lehre steht dafür der Name "Karma". Es ist das "Werk", die fruchtbringende "Tat" des Menschen, die seine Existenzform, sein Dasein bestimmt.

 

Einsicht in Taten umzusetzen ist nach dem Bild aus der "Odyssee" eine Sisyphusarbeit. Seneca hat schon die Formel geprägt: "Leben heisst kämpfen." Dabei aber gilt, wie Hesiod festgehalten hat: "Arbeit schändet nicht." Und Goethe hat vor den 1. Teil seiner Selbstbiographie ein noch drastischeres antikes Motto gestellt: "Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen."

 

Selbsterziehung ist also notwendig.

 

2.1. Selbstkritik: Zu Fehlern stehen und daraus lernen

 

Der erste Schritt in der Selbsterziehung besteht in Selbstkritik. Dazu muss man sich innerlich einen Ruck geben. Es ist nämlich leicht, seine Fehleinschätzungen oder Schwächen mit einer Ausrede abzutun, etwa mit der Behauptung: "Ich bin nun mal so, nehmt mich wie ich bin". Viel schwieriger ist das öffentliche Bekenntnis seiner Fehler, das Eingeständnis, gefehlt zu haben.

Es gilt nicht nur das Sprichwort: "Aller Anfang ist schwer", sondern auch das von Aristoteles: "Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen."

 

Es geht aber bei der Selbstkritik nicht um eine Zurschaustellung und Selbstanklage oder gar Selbstquälerei in der Haltung des Zerknirschten, des armen Sünders oder des Märtyrers. Es geht vielmehr um das buddhistische "rechte Reden".

 

Zu begangenem Fehler stehen bedeutet nun nicht, dabei stehen zu bleiben. Schon Cicero formulierte: "Jeder Mensch kann irren, aber nur der Dumme verharrt in seinem Irrtum."

Die Blockierung durch einen Irrtum, die Erstarrung nach einem begangenen Fehltritt kann durchbrochen werden durch die alte Weisheit: Aus Fehlern kann man lernen. Lernen heisst nun nach einer schönen Definition der Psychologie: "Sehen, dass etwas möglich ist."

Möglich sind nicht nur Problemlösungen, Konfliktbewältigung und die Beseitigung von Hindernissen auf dem Weg, sondern möglich ist, sich selber zu wandeln. Leider kennen wir das vielfach nur im negativen Sinne: jemand kommt uns plötzlich verändert vor, er ist missmutig, übellaunig, mürrisch. Er macht einen gequälten oder gehetzten Eindruck, sein Frohsinn scheint ihm abhanden gekommen zu sein, er lässt sich gehen, er verficht abwegige Ideen, er schimpft über alles und jedes.

 

Wandlung ist aber auch im positiven Sinn möglich.

 

2.2. Selbstüberwindung von Gelüsten, Trägheit und Bösem

 

Seelische und geistige Erneuerung ist immer wieder möglich. Sie umfasst die Schritte Überwindung und Beherrschung.

Was kann man überwinden? Zum einen die Neigungen und Gelüste, aus welchen man Fehler begeht. Wir erinnern uns auch an das Begehren aus Nicht-wissen, das nach buddhistischer Auffassung der Grund allen Leidens ist.

 

Nun geht es aber nicht darum, Begierden einfach abzutöten, denn Verkümmerungen führten nicht zur Befreiung zu wahrem Menschsein. Schon die Evangelisten (Mat. 12, 43-45; Luk. 11, 24-26) haben bemerkt, dass der einmal vertriebene Dämon, der "unreine Geist" mit sieben schlimmeren zurückkommt.

Es geht vielmehr darum, sich die Energie dieser Begierden nutzbar zu machen, indem man sie sammelt, eindämmt und umleitet. Die Tiefenpsychologie seit Freud spricht von "Sublimierung der Triebimpulse". Manchmal bedeutet das Verzicht, aber Verzicht im Interesse einer höheren Sache, sich selber, den Mitmenschen oder gar der Welt gegenüber. Man denke etwa an die Freude über ein in konzentrierter Arbeit geschaffenes Werk. "Jede gut gemachte Arbeit veredelt", meinte der Schriftsteller Robert Musil. "Denn mit ihr steigt die Unlust über das Fahrlässige, die Lust am Vervollkommneten."

Aus der Überwindung kann sich aber auch eine tragfähige Beziehung zu einem geliebten Menschen ergeben, aus dem Verzicht die Erhaltung unseres Planeten als einer lebenswerten Wohnstätte des Menschen.

 

Überwunden werden muss aber auch die Trägheit des Herzens. Wieviel unterlassen wir an Hilfeleistungen und Unterstützung - in buddhistischer Sprache: "Wohlwollen" -, weil wir zu bequem dafür sind.

Wir müssen also Kräfte mobilisieren, auch etwas mehr zu tun, als was nur gerade unsere Pflicht wäre oder was wir gerade noch tun möchten. Wir müssen manchmal Unangenehmes auf uns nehmen, und wir dürfen Schwierigkeiten nicht aus dem Weg gehen. Wir dürfen, wie im Gleichnis vom "barmherzigen Samariter" (Luk. 10, 30-37), den Kopf nicht vom Notleidenden am Wegesrand abwenden.

Weder Verzicht noch Hilfsbereitschaft dürfen freilich in Selbstverleugnung oder Selbstaufopferung ausarten. Leitlinie für das buddhistische "richtige Streben" ist ja der "mittlere Pfad". Wir kennen auch die Formel: "Alles mit Mass und Ziel", eine Erweiterung der römischen "aurea mediocritas" (Horaz), des "goldenen Mittelmasses".

 

Am schwierigsten ist die Überwindung des Bösen. Der Philosoph Immanuel Kant sieht das im Zusammenhang mit der Freiheit. Gerade weil der Mensch frei ist, ist er auch frei zum Bösen. Als freies Wesen hat er die Fähigkeit zur Wahl: Er kann das Gute, aber auch das Böse wählen. Diese Freiheit der Wahl ist ihm angeboren, er ist also für die Fähigkeit, sich entscheiden zu können, nicht verantwortlich. Verantwortlich ist er dagegen für seine tatsächliche Entscheidung. Entscheidet er sich für das Böse, so hat er seine Freiheit missbraucht. Das kann durchaus ein einmaliger Fehltritt sein.

Das bedeutet nach Kant: Der Stand der Unschuld bleibt unbefleckbar, der Sündenfall ist durch jede gute Tat jederzeit erneut revidierbar, denn die Anlage zum Guten kann nicht verkümmern. "Der Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen" ist jederzeit erneut möglich.

 

Der Mensch ist damit in die radikale Selbstverantwortung gestellt. Er ist nicht in das Joch der Erbsünde gespannt. Schuldig wird er nur von Fall zu Fall, wenn er durch die Entscheidung zur bösen Tat die bessere Möglichkeit verraten hat. Über diese bessere Möglichkeit aber weiss der Mensch nach Kant durch die "Vorschriften der Pflicht, wie sie ursprünglich ins Herz des Menschen durch die Vernunft geschrieben sind".

Kants Religion ist damit keine Stifter- oder Offenbarungsreligion, sondern eine Vernunftreligion.

Es ist auch Kant, dem wir die schönste Definition für Aufklärung verdanken: Sie ist der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Mündige Menschen aber vermögen das Böse zu überwinden.

 

2.3. Die Selbstbeherrschung gegenüber den Mitmenschen und dem eigenen Leben

 

Nicht minder schwierig ist der dritte Schritt der Selbsterziehung: die Selbstbeherrschung. Gerade Menschen, die von Natur aus spontan, offen und direkt sind, fällt sie manchmal besonders schwer. Sie ist aber vonnöten, wenn nicht andere Menschen unter dieser Direktheit leiden sollen. Hier gilt die Maxime aus den Apokryphen: "Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu" (vgl. Tobias 4, 16).

 

Schon ein Rabbi, der vor der Zeitwende lebte, hat es noch deutlicher formuliert: "Was dir unlieb ist, füge deinem Nebenmenschen nicht zu; das ist das ganze Gesetz." Und wiederum ist es Kant, der daraus den kategorischen Imperativ der Sittlichkeit gemacht hat: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Damit verbunden ist wiederum eine Weisheit aus dem Evangelium (Luk. 6, 38): "Mit dem Mass, da ihr messet, wird man euch wieder messen".

 

Spott, Zynismus und Schadenfreude gehen einem manchmal leicht von der Hand. Wie aber sind wir verletzt, wenn jemand über uns lacht, an uns zweifelt oder mit uns spielt. Dann verlangen wir mit Entrüstung Selbstbeherrschung vom andern. Deshalb haben die Evangelisten (Mat. 7, 12; Luk. 6, 31) das apokryphe Wort umgedreht: "Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, ebenso sollt auch ihr ihnen tun." Das erinnert wiederum an das mosaische Gebot: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."

 

Ist diese Art des buddhistischen "rechten Handelns" auf das Verhältnis zum Mitmenschen bezogen, so gibt es noch eine andere, die sich auf das eigene Leben bezieht, und zwar auf zweierlei Weise.

Der Fabeldichter Äsop (Fab. 45) meinte: "Klugen Leuten ziemt es, zunächst das Ende eines Unternehmens ins Auge zu fassen und es erst dann also ins Werk zu setzen."

Nun kann man dieses Ende aber auch als Ende des Lebenswegs sehen. Jesus Sirach (7, 36; 18, 24; 28, 6) hat mehrfach betont: "Was du tust, bedenke das Ende." Der eingangs erwähnte Christian Fürchtegott Gellert hat daraus gemacht: "Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst gelebt zu haben."

 

Verlangt die Philosophie und mit ihr die neuere Psychologie für die Selbsterziehung etwas, was am besten mit "Einfühlung in den andern", "kluger Voraussicht" und "weiser Beschränkung" umschreibt, so sind die Ansprüche mancher Religionen viel strenger. Das geht auf der einen Seite bis zu Askese, Selbstkasteiung und Martyrium; auf der andern Seite gipfelt die Forderung nach Selbstzügelung und -zucht etwa im japanischen Samurai-Ethos.

 

Solche Extremformen sind uns heute fremd. Was uns aber heute noch wünschbar und möglich scheint, ist Disziplin in einer Ausrichtung auf das Ganze der Gesellschaft, der Wirtschaft und Kultur, unter Berücksichtigung persönlicher, mitmenschlicher und weltweiter Folgen.

Auch Buddha ist übrigens nicht durch siebenjährige strengste Askese zum Heil gelangt. Vielmehr erwarb er es auf einsamer Wanderschaft, in meditativen Bemühungen und durch Standhaftigkeit gegen die Verführungen von Sinneslust, Werdelust, d. h. Sehnsucht und Unwissenheit resp. Begierde.

 

3. Stärke als Grundlage für die Selbstentfaltung

 

Während die drei Schritte der Selbstbesinnung eine seelische und geistige Auseinandersetzung mit sich selber und der persönlichen Eigenart darstellen, verlangen die drei Schritte der Selbsterziehung ein gehöriges Mass an seelischer Stärke.

 

Der reife Mensch kommt aber nicht darum herum, stark zu sein, sei es als Vorgesetzter, als Ehepartner oder Elternteil. Insbesondere durch Selbstüberwindung und Selbstbeherrschung kann diese Stärke auch wachsen. "Es wächst der Mensch mit seinen grössern Zwecken", heisst es in Schillers "Wallenstein".

Aber auch in der Gemeinschaftsarbeit steigt die Stärke, nicht zuletzt in der Arbeit im Geschäftsleben, in einem Gremium oder in einem Verein. Allerdings gilt die Mahnung von Horaz: "Kraft ohne Weisheit stürzt durch die eigne Wucht."

 

Ist nun die Selbsterziehung mit einiger Dauerhaftigkeit erfolgt, so bietet sie ein tragfähiges Fundament für die Selbstentfaltung, die letzte Stufe der Arbeit an sich selbst. Es wäre ja traurig, wenn es nur darum ginge, sich selber Zwang anzutun und gegen gewisse Seiten seines Naturells anzukämpfen.

Als Gegengewicht dazu braucht es auch eine Entfaltung aller guten Möglichkeiten, die im Menschen angelegt sind.

 

3.1. Selbstvervollkommnung: Kompetenz, Bildung, Reife

 

Der erste Schritt in dieser Richtung heisst Selbstvervollkommung. Sie besteht in der breiten Nutzung der Begabungen durch die Übung von Fähigkeiten, den Erwerb von Kenntnissen und die Ausbildung des Gemüts. Im Idealfass werden damit drei Ziele erreicht: berufliche Kompetenz, welterfahrene Bildung, seelische Reife.

 

Hier, bei der Selbstvervollkommung, ist nun die Ausarbeitung des Weltbildes ins Spiel zu bringen. Im buddhistischen "rechten Gedenken" muss ich fragen: Was habe ich für ein Verhältnis zur Natur und Kultur, zu den Schöpfungen Gottes wie zu denjenigen des Menschen, seien es künstlerische Werke oder Taten, seien es Institutionen wie Staat und Militär, Versicherungen oder Verkehrsgesetze?

Hier gilt es zu prüfen, wie weit ich bereit bin, auch selber etwas zu leisten und nicht nur zu nehmen. Hier gilt es, etwas zu anerkennen und nicht einfach nur zu kritisieren. Hier müssen wir uns die Frage stellen: Hätte ich selber es besser machen können, und wenn ja, auf Kosten wovon?

 

Daher hat Friedrich Schiller die "Pflicht für jeden" aufgestellt, die da lautet: "Immer strebe zum Ganzen, und, kannst du selber kein Ganzes werden, als dienendes Glied schliess an ein Ganzes dich an!"

 

3.2. Selbstveredelung in Harmonie

 

Das ist ein Hinweis darauf, dass zur Entfaltung noch etwas Weiteres gehört: die Selbstveredelung. Wer denkt hier nicht an das Goethewort: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut"? Das bedeutet nichts anderes als das buddhistische "rechte Leben".

 

Es gilt also, alle Eigenschaften, Fertigkeiten und Kenntnisse, sämtliche Strebungen, geheimen Wünsche und Ideen in eine Harmonie zu bringen. Wiederum hat das Schiller trefflich ausgedrückt: "Denn wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes paarten, da gibt es einen guten Klang."

 

3.3. Die Selbstverwirklichung ist nie ganz erreichbar

 

Damit ist der zweitletzte Schritt vollendet. Alle acht Schritte führen zu dem hin, was man als Selbstverwirklichung bezeichnet. Die Psychologen nennen es "Individuation".

 

Zu diesem Vorgang gehört vor allem, nach der Psychologie von C. G. Jung, die dunklen Seiten, den eigenen "Schatten" anzuerkennen und in die Gesamtpersönlichkeit aufzunehmen.

Der Schatten ist "alles, was das Subjekt nicht anerkennt und was sich ihm doch immer wieder - direkt oder indirekt aufdrängt, also z. B. minderwertige Charakterzüge und sonstige unvereinbare Tendenzen". Da dieser Schatten aber mit seinen "letzten Ausläufern bis ins Reich der tierischen Ahnen hinaufreicht und so den ganzen historischen Aspekt des Unbewussten umfasst", ist er aber nicht nur "die Quelle alles Übels", sondern er weist auch eine Reihe guter Qualitäten auf, "nämlich normale Instinkte, zweckmässige Reaktionen, wirklichkeitsgetreue Wahrnehmungen, schöpferische Impulse u. a. m."

 

Könnte der Mensch dieses Unbewusste ganz akzeptieren und fruchtbringend einsetzen, dann hätte er auch den Mitmenschen, ja die ganze Welt in sich eingeschlossen, wäre er ganz er selbst, eine bewusste wie unbewusste Ganzheit. Soweit wird er auf seinem langen Weg nur annäherungsweise gelangen. Der Fährnisse sind zuviele, als dass er je ungestört das eigene Selbst, ein unvergleichbares, unteilbares und welthaltiges Individuum sein könnte.

 

Wie kaum ein anderer hat sich der Schweizer Psychiater C. G. Jung mit der Individuation des Menschen befasst. Hören wir zum Schluss, nicht was er theoretisch darüber befindet, sondern was er am Ende seines Lebens über seine eigene Selbstwerdung sagt. Es führt uns nochmals an den Ausgangspunkt unseres "Umwegs zum eigenen Ich" zurück und macht uns in seiner Widersprüchlichkeit nachdenklich:

 

"Ich bin zufrieden, dass mein Leben so gegangen ist. Es war reich und hat mir viel gebracht. Wie hätte ich so viel erwarten können? …

Ich bin enttäuscht über die Menschen und bin enttäuscht über mich selber. Ich habe Wunderbares von Menschen erfahren und habe selber mehr geleistet, als ich von mir erwartete. Ich kann mir kein endgültiges Urteil bilden, weil das Phänomen Leben und das Phänomen Mensch zu gross sind. Je älter ich wurde, desto weniger verstand oder erkannte oder wusste ich mich.

 

Ich bin über mich erstaunt, enttäuscht, erfreut ... Ich ... kann die Summe nicht ziehen. Ich bin ausserstande, einen definitiven Wert oder Unwert festzustellen, ich habe kein Urteil über mich und mein Leben. In nichts bin ich ganz sicher. Ich habe keine definitive Überzeugung - eigentlich von nichts. Ich weiss nur, dass ich geboren wurde und existiere, und es ist mir, als ob ich getragen würde ...

 

Die Welt, in die wir hineingeboren werden, ist roh und grausam und zugleich von göttlicher Schönheit. Es ist Temperamentssache zu glauben, was überwiegt: die Sinnlosigkeit oder der Sinn ... Ich habe die ängstliche Hoffnung, der Sinn werde überwiegen und die Schlacht gewinnen" („Erinnerungen, Träume, Gedanken“, 1962, 359-360).

 



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