HomeTiefe des Erlebens und metaphysische Einsicht

                     Zur Philosophie von Ludwig Klages

 

siehe auch: Der verhängnisvolle Einbruch des Geistes ins Leben

                     Geist und Leben bei Ludwig Klages

 

 

Benützte Werke von Klages:

 

AG = Ausdrucksbewegung: und Gestaltungskraft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1968.

G = Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. Bonn: Bouvier 1970.

GCh = Die Grundlagen der Charakterkunde. Bonn: Bouvier 1969.

HCh = Handschrift und Charakter. Bonn: Bouvier 1968.

KE = Vom Kosmogonischen Eros. Bonn: Bouvier 1968.

ME = Mensch und Erde. Stuttgart: Kröner 1973.

RR = Rhythmen und Runen. Leipzig: J. A .Barth 1944.

SQ = Die Sprache als Quell der Seelenkunde. Stuttgart: Hirzel 1959.

U = Ursprünge der Seelenforschung. Stuttgart: Reclam 1956.

W = Der Geist als Widersacher der Seele. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1972. (Die Zitatangaben mit römischen Ziffern beziehen sich auf das "Vorwort für die Zeitgenossen", das nur in der 1. und 2. Aufl., 1929 resp. 1937, erschien und erst wieder im Abdruck des W in der Reihe der SW, Band 1 und 2, Seiten 1525-1544, zu finden ist. VII: 1527; VIII: 1527f; XI: 1530f; XII: 1531.)

WB = Vom Wesen des Bewusstseins. München: J. A. Barth 1955.

SW = Sämtliche Werke Bonn: Bouvier 1964ff.

 

Die Nomenklatur der Abkürzungen richtet sich nach Hans Kasdorff: Ludwig Klages, Werk und Wirkung. Einführung und kommentierte Bibliographie. Bonn: Bouvier 1969, Seite 795,

worin auf Seiten 389-410 sämtliche Auflagen der selbständigen Veröffentlichungen von Klages samt Hinweisen auf die im Laufe der Zeit erfolgten Änderungen angegeben sind.

 

Literatur

 

Bode, Rudolf: Der Rhythmus als wertbildende Macht.
In Herbert Hönel (Herausg.), Ludwig Klages, Erforscher und Künder des Lebens - Festschrift zum 75. Geburtstage des Philosophen am 10. Dezember 1947. Linz: Österreichischer Verlag für Belletristik und Wissenschaft, 1947, 51-56.

Haeberlin, Carl: Einführung in die Forschungsergebnisse von Ludwig Kluges. Kampen: Kampmann 1934.

Hager, Wilhelm: Ludwig Kluges in memoriam. München: J. A. Barth 1957.

Kasdorff, Hans: Ludwig Kluges. Die Neue Schau 18 (Januar 1957), 1, 17-18.

Schröder, Hans Eggert: Der bildnerische Mensch. Der Tatmensch. Hestia 1963/64. Wien: Braumüller 1964, 29-48, 49-71.

Schröder, Hans Eggert: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Erster Teil: Die Jugend. Bonn: Bouvier 1966 (= SW, Supplement, Erster Teil).

 

 

 

"Die Stunde der Gegenwirkung wurde versäumt, und wir alle, die wir aus leidenschaftlicher Liebe des Lebens so Grauenvolles beweinen müsse, sind 'letzte Mohikaner'" (W, 768; auch SQ, 76).

Dies schrieb Ludwig Klages 1929 in seinem philosophischen Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele", einem insgesamt 1500 Seiten umfassenden "Monument" oder "Tempel" des Lebens (W, VII; vgl. RR, 15, 20, 236).

 

Bereits in der ersten grösseren Jugenddichtung, der Tragödie "Desiderata", die Klages zwischen dem 14. und 19. Lebensjahr verfasste, taucht das Leitmotiv all seiner weiteren Schriften auf: der Götze oder Fetisch "Herrschsucht ". Dessen Wurzeln im Charakter aufzuspüren und seine Absichten und Folgen darzulegen, galt fortan das Bemühen, ineins mit der Aufdeckung von leitenden Interessen (Triebfedern) und des Kampfs von Christentum und Heidentum, genauer: des letzten Aufstands der abendländischen Götterwelt gegen den Eingott des Orients, wenn man will von Dionysos gegen Jahwe, endend mit der Zerstörung der "Wirklichkeit der Bilder" durch den seelenfeindlichen Geist.

Mit den Seelen der Elemente, der Landschaften und der Vergangenheit in kosmischen Strömen zu atmen, dichterische Chöre aus Horizonten der Vorwelt und der chthonischen Unterschicht in mystischer Tiefe wie im Rausch zu vernehmen, versunkene Schätze der Sage und des Mythos zu heben, darin sah Klages die Essenz seiner Jünglingsjahre; mit Ibsen und Nietzsche die Selbsttäuschungen, die bourgeoisen Lebenslügen einer unlauteren Konvention und Moral zu entlarven, kam erst später dazu.

 

In Schlaf und Traum, in (zumeist kindlicher) Seelenausfahrt und Dämmer entbinden sich die dämonischen und schöpferischen Gewalten; mythische Mächte nähren den Schauer. Doch ans Licht gerissen, zerbricht die Hülle, der Schleier der Urbilder. Wachheit verbraucht das quellende Innenleben. Macht- und Geldgier, Grössenwahn, Maschine und Lärm zerstören das Fatum, welches das Weltgeschehen spinnt. Das Hirngespinst "Zukunft" der Fortschrittsgesinnung erschlägt die Wirklichkeit des Gewesenen, der Herkunft; die Bilder der Heimat schwinden dahin (Vaterländerei jedoch war Klages verhasst).

Der Mensch ist von der Natur abgefallen, ein Stäubchen im aeonenhaften Geschehen. Nicht umsonst stellten Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und Klages in ihrer "Kosmischen Runde" kurz vor der Jahrhundertwende das All-Leben über das Einzelleben und suchten in jenem das Vorbild für die symbiotischen Verbände unter Menschen.

"Trauer um das verlorene Heidentum der pelasgischen Welt erfüllte Klages von den Tagen der Bachofenlektüre an und hat ihn nie mehr verlassen", schreibt Hans Eggert Schröder in seiner Klages-Biographie (1966, 242).

 

Wie wäre dieses Heidentum zu bewahren und zu erneuern? Indem man in den Charakteren der Menschen die Elementarseelen aufspürte, die sich, obzwar verdeckt und verschüttet, in ihnen bis heute manifestieren.

Das hiesse Götterbote, nicht Schwärmer sein, von der Wirklichkeit unbegreiflicher Mächte künden, unter dem Nachtblau des (kosmogonischen) Eros der Ferne eine "Erneuerung des Altertums durch Umwandlung der Gegenwartsseele" vollziehen - und sei es auf einer "heidnischen Insel" in einer Kolonie von Gesinnungsgenossen, wie das die "Kosmiker" planten.

Wünschen wir, die Wesen wieder zu "entdecken", müssen wir in allen Vorgängen die elementaren Lebensvorgänge sehen lernen, sind doch alle Erscheinungen - ja der gesamte Kosmos - Ausdruck lebendigen Geschehens und leben auch die Individuen wie die einzelnen Zellen nur dank ihrer Teilhaberschaft am Leben des Alls.

 

Dem Verstand des Menschen ist diese Auffassung verschlossen. Er kann nur die unserem Ich gegenüberstehende, gewissermassen dingliche Welt der Gegenstände, Begriffe und Tatsachen er-fassen, ist doch sein Hauptgeschäft, die Fülle der Erlebniswelt in eine nüchterne Welt des Be-greifbaren, Erfassbaren, in Kalkül und Manipulation Beherrschbaren umzuwandeln - die einzige Verwandlung übrigens, die sich nicht gleich dem "ewigen Kommen und Gehen, Wachsen und Welken, Aufleuchten und Wiederverlöschen" (KE, 19303, 191, 19687, 178) in den kosmischen Rhythmen des unaufhörlich pulsenden Geschehens abspielt.

Der Verstand stellt mit seinem unterscheidenden und damit identifizierenden Vermögen die in dauerlosem Wandel befindliche "Wirklichkeit der Bilder" fest, macht sie zu einer "Sache" der Tat. Er operiert mit Feststellungen, Tatsachen, die das Ich in den Griff nehmen, festhalten und demgemäss willkürlich unterdrücken kann. Die Dingwelt steht dem Ich als dessen eigenes, in der Erkenntnisarbeit (nicht Erfahrung; vgl. W, 122ff, 197, 446) geleistetes Produkt entgegen, ist sein Objekt (Gegen-stand), an dem es sich in den Willensakten betätigen kann.

 

Damit haben wir das Paradoxe, dass das Ich - in seinem geistigen Aspekt das einzig Unveränderliche in der Welt (W, 119, 483) - an Projektionen oder Spiegelscheinen (W, 442) seiner selbst arbeitet, womit einerseits der Selbstbetrug des ichhaften Menschen, anderseits die völlige Auflösung der Wirklichkeit beginnt: Denn wie wir uns den Weg zu uns selbst durch Ichprojektionen oder menschliche Verblendung verstellen (daher Ver-stand; R. Bode, 1947, 53), richten wir auch eine dingliche Mauer zwischen uns und unserer Umwelt auf; ja, nicht nur dies, sondern die Denkgegenstände werden rückwirkend in die Wirklichkeit hineingedeutet oder eingefälscht.

Wie sagte doch Nietzsche: "Wir haben nur nach dem Vorbild des Subjekts die Dinglichkeit erfunden und in den Sensationswirrwar hineininterpretiert."

 

Klages' Verdienst ist, dabei eine doppelte Abhängigkeit aufgewiesen zu haben: diejenige des Objektes vom Subjekt und diejenige beider von der Lebenswelt. Der "Geist" wird vom Erleben der Wirklichkeit "genötigt" sowohl zur Ichfindung als auch zur Dingfindung, also zur Konstituierung des Selbstbewusstseins wie der Seinswelt, des "zeitentzogen wachsenden Baus des Noumenalen, ... des gradlinig aufsteigenden Eiffelturms der Wissenschaft" (W, 129f).

Der circulus vitiosus wird hernach geschlossen, indem der solchermassen erstarkende Geist einerseits mit spaltenden und hemmenden Taten auf die leibseelische Einheit und Ganzheit zurückwirkt und im letzten eine "atomisierende Wirkung ... auf den ihm zugeordneten Lebensspielraum (wie sie am Bilde der Welt sich durch dessen Zerstückung in einen Haufen von Einzeldingen erwies!)" (W, 74; ähnl. 384) ausübt, anderseits eben den Blick auf die Wirklichkeit durch Begriffe und Gedankendinge, Tatsachen und ihre Beziehungen verstellt.

 

Die vergänglichen Bilder sind das Wirkliche. Illusionäre Züge trägt dagegen die Gedankenwelt. Das hat nichts mit Mystik zu tun. Vielmehr eröffnet die mystische Schauung - keineswegs dasselbe wie in der "klassischen" Mystik - die unendliche Erscheinungswelt der Wesen oder Seelen; und die Begriffswelt vermag erst richtig Platz zu greifen, wenn die Schaukraft erlahmt, das ursprüngliche Leben verdorrt.

 

Wie aber kann der Mensch, der nun einmal den Verstand zu besitzen wähnt, von der mit endlicher Dauer behafteten Seinswelt zurückfinden in die unbegreifliche Welt des Geschehens? Dies ist eine der brennendsten Fragen, die sich dem "zivilisierten" Menschen stellen, und Klages hat es nicht versäumt, immer und immer wieder Antworten zu entwerfen. Eine Marke auf diesem Weg zurück (W, 129) ist bereits erreicht, wenn wir den Charakter des seine eigenen Erlebnisse feststellenden Ichs und der von ihm abhängigen Welt im Sein verharrender Dinge "erfasst" haben. Eine vorwiegend geistige Leistung!

Deshalb schätzt auch Klages diese Art der verstandesmässigen Tätigkeit des Menschen durchaus positiv ein. Er hat ja selbst in nimmermüder Fleissarbeit die scharfsinnige Durchleuchtung der gesamten philosophischen Problematik von "Geist und Seele" (so der ursprüngliche Titel des "Widersachers") bewerkstelligt. Dabei geht es nicht um die Aufhebung der Begriffswelt, denn da bestünde die Gefahr, dass auch die Wirklichkeit selbst ins leere Nichts entglitte: Hinter der blossen Scheinwelt - dem buddhistischen Maja (W, 340) oder der Klagesschen Welt der Phantome - gähnt ein Abgrund, sofern nicht das beseelte Leben dahinter aufersteht, aufblüht.

 

Das ist möglich, weil wir im Ding "eine Verbundenheit des Geistes mit der Wirklichkeit" (W, 676) anerkennen müssen. Das Ding als "objektiv Uridentisches" - analog zum Ich als "subjektiv Uridentischem" - hat teil an der Seinswelt wie aber auch an der Wirklichkeit (W, 539, 967f), ja es stellt "gewissermassen den Schnittpunkt des Seins mit der Wirklichkeit" (W, 624) dar. Nur von diesem Schnittpunkt aus lässt sich die Welt der Bilder wiederfinden.

Wenn wir schon nicht wie die Zen-Buddhisten des "schweigenden Verstehens" mächtig sind, welches uns das Wesentliche "unmittelbar, ohne Vernunftgründe und ohne Zögern sehen" lässt, und wenn wir "das Ereignis der Schauung unsagbarer Bilder" (KE, 19303, 107, 19687, 100) kaum noch erfahren, so können wir uns doch eines "biozentrischen" Denkens befleissigen. Untersuchen wir, was darunter zu verstehen ist.

 

Klages war wohl auch zu sehr ein Theoretiker und Denker - zumindest seit er nach dem 32. Altersjahr seine aus Schwärmen und Träumen geborenen dichterischen Versuche aufgab und sich ganz der Forschung zuwandte als dass er die im "Kosmogonischen Eros" (1922) meisterhaft geschilderte Ekstase selbst nachzuvollziehen imstande gewesen wäre.

Jedenfalls schreibt er nicht in Ichform über das "Ereignis" des kosmogonischen Eros: "Wie aber es dennoch stattfinden könne, das dürfte, ohne zu freveln, nur der enthüllen, den das Wunder verwandelt hätte, ihn entrückend unter die Götter" (KE, 19303, 198, 19687, 184).

Insofern trägt also alles heutige Bemühen um Eros, Ekstase und Mystik historisches Gepräge, sei es in der Forschung, sei es in der Versenkung. Der Mensch ist schliesslich aus dem "Paradies" - auch aus demjenigen der Kindheit - vertrieben worden. Es ist ihm freilich nicht verwehrt, sich dahin zurückzusehnen.

 

Gehen wir systematisch vor: Klages unterscheidet unter anderem zwischen begreifendem (begrifflichem) und hinweisendem (symbolischem, sinnbildlichem) Denken, flacher und tiefer Besinnung, Willen zur Wahrheit und Tatwille sowie schauender und begreifender Wachheit - so Formulierungen in Kapitelüberschriften des "Widersachers".

Zudem wünscht er, dass sein "Werk" als "Forschungsleistung", die den "Wissensschatz", unser tatsächliches und verbindliches Wissen vermehren oder vertiefen soll, ernst genommen .werde(W, XI). Es geht ihm um (manchmal "esoterische", W, 830, 1213) Wahrheit, Allgemeinverbindlichkeit und Gewissheit, strenge Sachlichkeit und Beweisbarkeit sowie endgültige Antwort und Klärung, obgleich er im "Vorwort für die Zeitgenossen" (1929) mehrfach betont, dass er auch geirrt haben könne und deshalb eine Prüfung auf Richtigkeit und Stichhaltigkeit sogar verlange.

Sorgsam aber vermeidet er es, sich als Wissenschafter zu bezeichnen, obwohl er seine Charakterkunde und Ausdruckslehre vorwiegend als Wissenschaften sieht, von "biozentrischen Gedankensystemen" (W, 375) spricht und die "Lehre" oder "Wissenschaft vom Wesen und der Entstehung des Bewusstseins" (W, VIII, ähnl. 253, 341, 1454f) aufzubauen und abzuschliessen verspricht:

Klages zählt sich einerseits zu den Forschern und Denkern, distanziert sich jedoch als "Metaphysiker" vom "'Fürsprech' der Vernunft" (W, 122), da "jedes echt metaphysische Forschen vom mustermässig wissenschaftlichen" (W, 127) zu unterscheiden ist.

 

Die leichte Inkonsequenz nur schon in der Verwendung dieser wenigen Begriffe setzt sich fort, wenn es um die Frage geht, was der begeistete Mensch heute tun solle, sofern er nicht zum Dichter oder Künstler begabt ist.

Stark schematisiert kann man sagen, auf der Ebene des Leibes gehe es um die Einbettung in den lebendigen und kosmischen Rhythmus, auf der Ebene der Seele um die "Rückbettung in den stetigen Fluss des Bilderwebens" (Wilhelm Hager, 1957, 24) und auf geistiger Ebene um die "Besinnung auf den mütterlichen Lebensgrund" (Hans Kasdorff, 1957, 17). Noch schärfer: Es geht um die Tiefe, Ursprünglichkeit oder Lebensfülle in Ausdruck, Herz und Wahrheit.

 

Beginnen wir mit der geistigen Ebene, stets dessen eingedenk, dass Leib, Seele und Geist im Menschen aufs engste verwoben sind, dass also auch die Anwesenheit des Geistes sich seelisch und leiblich manifestiert.

Eine der geistigen Tätigkeiten ist das Urteilen. Jedem Urteil nun liegt entweder eine flache oder eine tiefe Besinnung- zugrunde, und "es gravitiert demzufolge die Wissensentwicklung entweder nach der Seite der Vermehrung der Kenntnisse oder nach der Seite der Vertiefung der Einsicht" (W, 126).

"Die vermeinte Unparteilichkeit des 'Suchens nach Wahrheit' ist ein frommer Betrug, von der flachen Besinnung ausgeheckt, um der tiefen Besinnung den Anspruch auf Wissenschaft [!] abzuschneiden. Es gibt so wenig ein unabsichtliches Fragen, dass vielmehr der Zustand des Fragens der reinste Ausdruck des geistigen 'Tendierens' ist, und dieses steht unausweichlich im Dienste entweder des Lebens oder des Logos. Mit dem Entweder-oder des 'wahr' oder 'falsch' hat man noch garnichts darüber entschieden, von welchem Bedürfen das System der Befunde ein Werkzeug sei: ob des Willens zur Vergegenständlichung der Welt und zur Inbesitznahme ihrer durch den erfassenden Geist oder aber des Willens zur Wiederentmischung des Nurgegenständlichen und zur Erzeugung des Bewusstseins von unbesitzbaren Wesen" (W, 130).

 

Die flache Besinnung fragt nicht nach dieser Wirklichkeit der Wesen, sondern sucht unablässig neue Tatsachen, die sie durch rechenbare Beziehungen verknüpft, weil "erst ein lückenloses System von Tatsachen den Erkenntnistrieb zufrieden stellt ... So aber muss es zuletzt geschehen, dass den Sachlichkeitswillen des Wissenschaftlers mit der Wirklichkeit nur noch ein dünnes Fädchen zusammenhält, welches im selben Masse dünner wird, als die Menge der Urteile gewachsen ist, deren er sich bedienen muss, um seinerseits zu einem Urteil zu kommen.

Das findende Erleben sieht sich vom findenden Erfahren und das Erlebte selber in weitem Ausmass vom bloss Erlernten verdrängt ... Aus Erkenntnissen werden unablässig Kenntnisse; aber der Vorgang der Erkenntnisgewinnung (=Entdeckung) bleibt abgründig verschieden vom Vorgange der Erlernung des Entdeckten" (W, 123f).

 

Kurz: Die Erlebnisfülle wird, wie wir früher schon sagten, durch eine Mauer von angehäuften Urteilen und Tatsachen eingeschnürt. Die Forschungsrichtung nun, welche diese Mauer von gegenständlichen Kenntnissen, die nur lernbar, aber nicht erlebbar sind, zu durchbrechen trachtet, hat "sich den Rückgang auf den Erlebnisinhalt zum Ziel gesetzt" (W, 133f; vgl. SQ, 13). Das erfordert die Untersuchung der Entstehungsbedingungen, -veranlassungsgründe und -prozesse wissenschaftlicher Aussagen (Behauptungen, Urteile).

Forschungsgegenstand einer solcherart "lebengesättigten Kontemplation" (W, 125, 1112) oder "kontemplativen Geistigkeit" (W, 4, 511) ist also das Erleben, das den Geist zu seinen Taten - Auffassen und Wollen - nötigt, indem es ihn Tat-Sachen finden lässt. Die Metaphysik kann alle Tatsachen, auch diejenigen der Wissenschaft verwerten, jedoch diese nicht alle Ergebnisse metaphysischen Forschens.

Weit wichtiger als die Frage nach der Kohärenz eines Systems von Urteilen ist, "welcher Grad von Wesentlichkeit den Befunden innewohnt" (W, 126). Diese "Wesenhaftigkeit" (W, 382) zeigt sich nun in den "Namen", da diese "notwendig auch etwas vom findenden Erleben sagen: auf andre Weise in den ursprünglichen Wurzeln und wieder auf andre in deren Ableitungsformen" (W, 134). Es ist also "die metaphysisch richtunggebende Macht ... für den Weltmann wie ebenso den Bücherwurm die überkommene Sprache" (W, 137), in der es keinen Zufall der Namensprägung gibt, denn die Sprache ist "nicht ein Erzeugnis des Denkens, sondern ein gewachsenes Gebilde".

 

Wichtigstes Kennzeichen der tiefen Besinnung und damit "Hauptmittel metaphysischer Wissensbildung" ist also die "Selbstbesinnung anhand der Prüfung der Namen" (W, 131).

 

Die "Besinnung auf den Gehalt der Namen" definiert das lebensabhängige Denken als "sprachgeleitete Meditation" (W, 1) und damit "wesenmeinendes". Es weist mit seinen Ergebnissen auf die unbegreifliche Wirklichkeit und damit auf den Anlass seiner eigenen Entstehung, den mit den Denkgegenständen gemeinten, aber nie zu begreifenden Erlebnisinhalt hin.

Insofern nun die "Wortbedeutungsinhalte vom Wirken elementarer Ähnlichkeit" (W, 379) zeugen und, indem sie in sprachbildnerischen Vorgängen gewachsen sind, "niemals Dinge allein, sondern immer auch Erscheinungen nennen und das will sagen von Wesen" (W, 383), kann man das metaphysische Forschen, die "tiefdringende Wesensforschung" (W, 389), auch als sinnbilderndes oder symbolisches Denken bezeichnen, denn nicht nur bei "eigenschafsartigen Bedeutungseinheiten", sondern auch bei dingartigen (=Symbolen) beruht "ihr Bedeutungsgehalt auf elementarer Ähnlichkeit der Bilder" (W, 391); er rührt aus "an und für sich unanschaulicher Wesensverwandtschaft" (W, 393) her.

 

Der entscheidende Zug des symbolischen Denkens ist, "dass es, weit entfernt, in ... Sprachzeichen Gleichnisse zu erblicken, die bezeichneten Inhalte für bewusstseinsunabhängige Wirklichkeiten" (W, 385) nimmt; in ihm sind die Wesen und nicht die Begriffe (Idealismus; Rationalismus) oder Dinge (Materialismus; Sensualismus) das Wirkliche. Jedes Symbol oder Zeichen ist, was es bedeutet (W, 1269-1277; 1405f).

Im Gegensatz zur verstandesmässigen Denkweise unterwirft die seelenmässige "das System der Dinge, soweit sie es hat, dem Zusammenhang der Bilder durch Übertragung des Einerleiheitsgedankens auf Erscheinungscharaktere von wesentlicher Ähnlichkeit". Oder umgekehrt: "Ein Denken erweist sich als lebensabhängig, soweit es aus Wesensverwandtschaft erschauter Bilder zur Findung seiner Einheiten kommt, die darnach sofort polar auseinandertreten" (W, 386).

Man kann dieses lebensabhängig-symbolische Denken auch als "Bilderdienst", im Unterschied zum Tatsachendienst des begrifflichen Denkens, bezeichnen, womit es in die Nähe des "Ahnendienstes", der "Vergegenwärtigung der Vergangenheit" rückt, den Klages so meisterhaft im "Kosmogonischen Eros" beschrieben hat und der inspiriert ist von den Aufschlüssen Johann Jacob Bachofens über die Mutter- und Totenkulte sowie von der Mysterienforschung Alfred Schulers.

 

Das Denken vertieft sich mit der Wirklichkeitsnähe des Geistes, und diejenige "Beschaffenheit der Seele", welche dies zur Folge hat, heisst "persönlicher Wirklichkeitssinn" (W, 613).

Dieser hat, so Klages, eine motorische Seite, den "Wahrheitswillen". "So gewiss der Wirklichkeitssinn die Empfänglichkeitsanlage meint, derzufolge tiefgreifende Auffassungsakte stattfinden, so gewiss wird der Wirklichkeitssinn zur Triebfeder der Wahrheitsliebe, nachdem auch nur eine einzige Auffassung stattgefunden hat, mit der das Wirklichkeitsgewicht des Erlebten sich geltend machte" (W, 615). Die Heftigkeit des Erlebens spricht aber noch keineswegs für das Wirklichkeitsgewicht des Erlebten und kann noch nicht den Wahrheitswert der damit verbundenen Urteile gewährleisten.

Intuitionen oder Einfälle müssen im Urteil erst erprobt werden, und zwar indem der Wahrheitswille den Geist in die Tiefe hinunterzwingt, zu den Ursprüngen. "Wir haben ... überhaupt keinen Massstab, um Wahrheiten zu bewerten, solange wir nur die fertige Wahrheit statt den Vorgang betrachten, durch den sie ins Dasein tritt" (W, 122).

Die Gültigkeit der Wahrheit wird "gekennzeichnet durch Rückgang auf die Bedingungen der Wahrheitsermittlung. Und deren sind nun zwei grundsätzlich und metaphysisch voneinander verschiedene. Das Urteil, damit es richtig sei, muss dem Gesetz des Geistes gehorchen ..., und es muss der Antrieb zum Urteil aus einer erlebten Wirklichkeit kommen" (W, 117).

 

Indessen trägt der Wahrheitswille wie jede Triebfeder ein Janushaupt, da sich in ihm sowohl der Wahrheitsdurst der Seele (Wirklichkeitssinn) als auch der Bemächtigungswille des Geistes bekunden, "sahen wir doch im Gestaltungswillen jedes schöpferischen Dranges, eingerechnet den Wahrheitswillen der tiefen Besinnung, den Willen mit sich selbst in Widerstreit geraten durch willkürwidrige Wirkungen des Zuges der Bilder" (W, 627).

Was kann da eine Lösung bringen? Es ist das Absehen von "persönlichen Wünschen", vom zweckgerichteten Wollen, das immer mit Persönlichem, d. h. mit Interessen und damit Parteilichkeit verbunden ist. "Kann darnach vom Willen das Persönliche nie gänzlich abgetrennt werden, so wird ... seine Nichteinmischung vonseiten eines Denkens gefordert, dem Wahrheitsfindung beschieden sein soll" (W, 517).

"Die auf höchster Ebene urteilender Besinnung allein noch mögliche Form der Lebensabhängigkeit des Geistes [heisst] Logik oder Sachlichkeit" (W, 1418), und diese "Sachlichkeit der Auffassungsweise" (W, 518) rührt nicht von der Willkürfähigkeit her: "Nicht der Geist von sich aus ist Schöpfer der logischen (= sachlichen) Haltung, sondern der Geist unter dem Zwang von Nötigungen, die aus dem Erleben der Wirklichkeit stammen" (W, 1419).

Wahrheit wird "allein im Rahmen der sachlichen Haltung gefunden"; alles andere ist persönliches Belieben, Individualismus, ja Irrationalismus, der "aus Eigenherrlichkeit der Willkür ... den immerhin noch genötigten Akt zugunsten des absoluten Befehls" entwertet und es damit "niemals zu irgendwelcher Einsicht in die sinnbildernde Unterströmung des Denkens" (W, 518) bringt.

 

Das Denken ist mithin aus der Abhängigkeit des Geistes und damit des "ego triumphans" (W, 725) herauszulösen. Klages fordert ein radikales und durchdringendes "Umdenken" (W, XII), eine "lebensabhängige Bewusstseinsbetätigung" (W,374),die das Bewusstsein wieder mit dem Erleben verknüpft und die Ergebnisse des begreifenden Denkens in den Dienst des hinweisenden Denkens stellt (W, 1124).

Dem "lebensgelösten Sachdenken" spricht er jede "Fähigkeit zur Gewinnung metaphysischer Einsichten" (W, 380) ab. Wir müssen uns also um Urteile bemühen, "zu denen der Geist Stoff wie Gestaltungsantrieb allein aus der Tiefe des Lebens empfängt" (W, 129; ähnl. 375). Wer solchermassen "beschaulich und biozentrisch" denkt, "der hat ein Labyrinth betreten mit unzähligen Gängen unzähliger Richtungen, die aber sämtlichst zusammenlaufen im einen und selben Mittelpunkt: dem nur zu erlebenden Wesen der Wirklichkeit" (W, 129f).

 

Metaphysik, so formuliert Klages in der Schrift "Vom Wesen des Bewusstseins" (WB, 19554, 81f), "bewegt sich mit der Wissenschaft auf dem Boden des Denkens, jedoch nicht zu dem Zwecke, um Rätsel zu lösen, sondern um alles Tatsächliche, soweit es Zeichenwert beanspruchen darf [nämlich: "für das in der Welterscheinung sich offenbarende Wesen"], gedanklich zu knüpfen ans Weltgeheimnis. Sie ist mit jeder Einzelaufgabe durchaus am Ende, sobald es ihr gelang, die Beziehung aufzudecken zwischen dem fragebedürftigen Tatbestande und dem Geheimnis.

Geheimnisse, wie man bemerkt, wollen weder noch können sie enträtselt werden. Ein entschleiertes Geheimnis wäre ja kein Geheimnis mehr. Unentschleierbarkeit gehört zum Wesen dessen, was die Metaphysik anstatt einer 'Lösung' bietet. Das Ereigniswerden des Urgeheimen heisst ihr 'Erkenntnis'.

Man darf sie nicht nach Ursachen fragen; aber man darf sie fragen nach dem Wesen, z. B. des Lichtes oder der Wissenschaft oder der Kopula 'und', und sie wird hinzuweisen haben auf das eine und selbe Urgeheimnis, wie es lauter oder getrübt gegenwärtig ist im Licht, in der Wissenschaft, in der Kopula 'und' ...

Die Erklärungsbegriffe der Metaphysik haben gleich denen der Röte, des Schalles, der Wärme eine bloss hinweisende Bedeutung und werden nur dem etwas erklären können, der sich an ihrer Hand zu den Quellen des erfüllenden Erlebens zurückfindet.

Das metaphysische Forschen enträt also nicht der Logik, ist also keineswegs, wie man behauptet hat, irrational, sondern es verwertet sie gleich der Wissenschaft, aber im Dienste einer überlogischen Aufgabe."

 

Selbstverständlich hat der Mensch eine Zwienatur. Es gibt weder reine Tatmenschen, noch reine bildnerische Menschen (die grundlegende Unterscheidung bei Hans Eggert Schröder, 1964). Auch das künstlerische Schaffen ist ein Handeln und deshalb nicht möglich ohne Mitbeteiligung des Wollens. Es gilt aber, das Wollen nicht selbstherrlich werden zu lassen, sondern es "im Dienste bejahender Regungen und schöpferischer Gestaltungsantriebe" zu verwerten; es darf nicht von der "richtunggebenden Rückenkraft der Vitalität" gelöst werden (GCh, 19285und6, 155, 195111, 137).

Wenn also der Mensch nicht ohne abzuzwecken leben kann, vermag er doch die Zwecke zu heiligen, und zwar auf folgende Weise: "Nicht der Eingriff überhaupt ins Leben ist notwendig schon Verletzung des Lebens, sondern der eigenmächtige Einriff, der den Rhythmus zerbricht, statt ihn fortzuleiten.

Wer sich ein Dach zimmert, muss Bäume fällen, wer ein Grabmal errichtet, Steine brechen: das wäre ein Frevel am Bilde der Welt vonseiten dessen, der es im Bewusstsein der Herrschaftlichkeit seines Geistes täte und dazu den Plan nur aus sich selber hätte; es ist dagegen zugelassene und selbst geforderte Mitwirkerschaft am Webstuhl des Schicksals vonseiten dessen, der - hingegeben den Stimmen der Seele - traumwandlerischen Zwanges mit dem eigenen Tun nur die Wachstumswünsche der Erde erfüllt ... Sein Tun wird vom Eros zum Bilde bestimmt" (W, 1369).

 

Klages verschärft diese Absage an die Eigenmächtigkeit noch, wenn er fordert, dass der Mensch an der Landschaft unangetastet lassen soll, "was unberührt bleiben muss, soll ihr Rhythmus ungestört weiterrollen durch das vom Menschen Geschaffene" (W, 1209).

Dieser geistabgekehrten Haltung - deren Leistungsehrgeiz die "Vollkommenheit des Werkes" (W, 1427) ist - entspricht die "Unterlassung". Betrachten wir diese noch etwas näher. "Man male sich aus, wieviele Handlungen deshalb unterblieben", wenn die Menschen "es nicht für erstrebenswert, sondern sogar für ein Übel hielten: mehr zu besitzen als der Nachbar, einen 'öffentlichen Namen' zu erlangen, andern zu 'imponieren', fremde Personen von der eigenen Person abhängig zu machen, ein 'Vermögen' zu erwerben zwecks Machtsteigerung derer, an die man es zu vererben hofft" (W, 1427). Solche Menschen erfüllten ihr Leben damit, "die Kluft zu verschliessen ... zwischen Ausdruck und Tat" (AG, 19233und4, 151, 1968, 175), indem sie alles, was sie tun, so vollkommen wie möglich verrichten. Denn wie einem solchen Menschen "die Tat gleichgültig oder nichtswürdig wäre, so wüsste er, dass mit dem Werk und mit ihm allein dem Menschen die Möglichkeit wurde, auf den Wegen des Tuns hinzugelangen zu einer, ob auch noch so bescheidenen, Art der Vollendung.

Die Augenblicke des grossen Erlebens kommen oder kommen nicht, und sind sie gekommen, so gehen sie wieder: kein Wollen, keine Tätigkeit zwänge sie her. Allein jedes vollendet Geleistete beschenkt mit einer Minute des Glücks ..."(W, 1424f).

 

Nun geht Klages noch weiter, wenn er die "Selbstverneinung des Wollens" (W, 623, 644; ähnl. 1478) fordert. Diese einzig lebenbejahende Leistung des Wollens vermag "von den Lockungen des beglückenden Bildes ... wirklich auf neue Weise etwas zum Vorschein" (W, 661) kommen zu lassen.

Ist das Wollen also völlig ausgeschaltet, gelangen wir in den Bereich der Seele und damit in die nächste Nähe der schauenden Wachheit. In diesem Zustand nämlich "ist der Träger der Wachheit ein von den Bildern hingenommenes, eben deshalb mit der Erscheinung der Ferne seelisch verknüpftes und höchstenfalls in sie entrückbares Wesen; im Zustand begreifender Wachheit ist er ein (unbewusst) tätiges Wesen, dessen recht eigentlich messende Haltung nur aus dem Willen, den sie fordert, verstanden wird ...

Für das wesentlich wache Bewusstsein vertauscht sich die Erscheinung der Ferne mit der Entfernungserscheinung, im Hinblick auf die es nur eines beschäftigt: wie man die Abstände messe, damit man sie tilgen (W, 840f). "Nicht 'erobern' lässt sich die Ferne, wohl aber ertöten vom vermeinten - Eroberer" (W, 664), schreibt Klages mit Wehmut und meint, "das Pathos ... lege ein elastisch machendes Fernblau noch über die täglichen Dinge, die Nüchternheit aber raube den entrückenden Schauer selbst dem Firmament, mache das Feuchte trocken und das Weiche hart" (W, 843).

 

"Den Schauenden umfängt die Vergangenheit, wie ihn die Raumesferne umfängt, und sein Erinnern ... ist gedächtnisloses Wiederinnewerden des gewesenen Augenblicks oder Rückflug in die Ferne der Zeiten" (W, 845).

Ganz anders als die wissenschaftliche Forschung über die Vergangenheit Aufschlüsse zu erlangen vermag, indem sie wie Johann Jacob Bachofen Symbole und Mythen "erdeutet" (W, 488) oder die "gestaltenden Kräfte gewesener Zeitabschnitte" vergegenständlicht (W, 279), treten wir im Seelenzustand der Schauung mit der Wirklichkeit des Vergangenen in unmittelbare Verbindung und vermögen von dieser zu wissen, "soweit wir vom schauend Erlittenen eine Erinnerung daran in die Wachheit des Begreifens hinüberretten" (W, 845). Zudem "widerfährt uns in der Wachheit des Schauens die Erscheinung der Wirklichkeitszeit, und davon die gleichsam bewusstseinsbenachbarte Peripherie ist der Vergänglichkeitsschauer, den jeder besinnliche Geist bestätigen wird" (W, 849).

Lebewesen wachsen, indem sie Nährstoffe ihrem Bild assimilieren (anähnlichen), also Stoffe in Erscheinungen der Seele verwandeln. "Darum, wer in den Bildern Leben erschaut, erschaut in den Körpern Wandlung; und wieder, wer Wandlungen nicht mehr erschaut, dem ist auch das Leben der Bilder entglitten, und es blieben ihm seelenlose Gegenständen (W, 841).

 

Wir dürfen also für die Seele und den rhythmischen Wandel der Bilder nicht blind werden. Dem Auge muss die schauende Wachheit erhalten bleiben, es darf der "Überwachheit" (W, 676), der "Wachheit des Begreifens" nicht erliegen.

 

Was beglückt, das nährt, und zwar auf der geistigen Stufe den metaphysischen Erkenntnistrieb. Was aber vermag die Seele zu nähren?

Es sind dies nach Klages' "Brief über Ethik":

1) das Wunder, welches die Seele in Landschaft, Dichtung und Schönheit findet;

2) "die Liebe im weitesten Wortsinn, wozu auch gehört Verehrung, Anbetung, Bewunderung";

3) das Vorbild der Götter, Dichter und Heroen.

Wenn die Seele "an keinem dieser drei erblüht, dann ist ihr keine Blühkraft gegeben, und kein Seelenführer kann solche hervorzaubern. Denn dies ist das Geheimnis der Seele, dass sie nur im Geben reicher wird. Nicht die Liebe, die eines empfängt, sondern die Liebe, die durch empfangene Liebe in ihm selbst entzündet wurde, die ist es, welche die Seele nährt" (ME, 19293, 130, 1973, 209).

 

Damit in Zusammenhang steht der Wunsch, "dass man die Impulse zum Werten aus den Tiefen des Gefühls empfange" (G, 19709, 298; vgl. AG, 19233und4, 123ff, 1968, 146ff), liegt doch "der wahre Grund aller wirklichkeitstreuen Wertestufung ... im Grade der Lebensfülle" (G, 19709, 299;vgl. AG, 19233und4, 128, 1968, 152): Je "ursprünglicher" ein Mensch ist, desto grösser seine Gabe, "irgendein Tun bis an den Rand mit Ausdruck zu füllen" (G, 19709, 314; AG, 19233und4, 161, 1968, 186) und sich die (geistige) Regel einzuverleiben (AG, 19233und4, 140, 1968, 165; G, 1936, 302, 19709, 305; HCh, 19213und4, 37, 196826, 37), dem persönlichen und kosmischen Rhythmus einzuschmelzen (G, 19709, 314). Der Lebensreichtum des Menschen besteht in der "in seinen besten Augenblicken ihm erreichbaren Tiefe, Intensität und Mannigfaltigkeit des Erlebens" (HCh, 196826, 32).

 

Oberstes Unterscheidungsprinzip der "Artung" des menschlichen Charakters (welche die Triebfedern, Interessen oder Gefühlsanlagen umfasst) sind die Strebungsrichtungen auf Hingabe an das Leben oder Selbstbehauptung als Geist.

 

Selbsthingebung also verwirklicht sich unter Leitung der Seele. Das ist die "leidenschaftliche Liebe des Lebens". Klages ist aber weit davon entfernt, hiefür ein Programm (W, 1422ff) oder einen Moralkodex aufzustellen, sondern "er kennt und anerkennt, wie Nietzsche, nur die Sittlichkeit und die Güte, die im Instinkt und im Herzen wurzeln, die nicht aus Regeln und Geboten stammen, sondern in der Lebendigkeit einer unerschöpflichen Fülle in Menschenseelen wachsen ...

Die verlorene Verbindung mit den kosmisch schöpferischen Mächten wiederzugewinnen und zur Neuverknüpfung mit ihnen zu gelangen, in Ehrfurcht vor dem Geheimnis die Fülle des Lebens zu empfangen, das ist der Sinn dieses Zurückfindens zum Leben und seinen Zusammenhängen ...

Die Wiederbeseelung jedes in Arbeit entstehenden Werkes durch Knüpfung der eigenen Hervorbringung an das grössere Wirken von Volk und Welt führt zu einer Lebensgestaltung, in der der Geist aus einer lebensbedrohenden Macht wieder zum Diener des Lebens wird" (Carl Haeberlin, 1934, 81ff).

 

Was die Seele erfahren soll, ist Verwandlung, indem sie sich durchdringen lässt von Wunderwerken der Geschichte, beim Anblick von Palästen, Kirchen und Burgen, beim Lesen von alten Texten oder beim Hören von Musik, "den noch heute bisweilen ans Magische streifenden Wirkungen der Tonkunst und Sangesweisen" (W, 1118). Auch auf Reisen und in Museen kann man sich "recht mit Inbrunst versenken in die Erzeugnisse ursprünglicher Völker ( (AG, 19233und4, 149, 1968, 172; G, 19709, 326), in den Anblick von Tanzmasken und Idolen oder kultlichen Bildwerken (W, 1232f).

Auch beim Betrachten von Landschaften können in jedem einzelnen "Stimmungen" "aus Anlass der auf ihn wirkenden Erscheinungen" entstehen. Voraussetzung hiefür ist die "wenigstens augenblicksweise platzgreifende Verwandlung der eigenen Seele in die fremde ..., mag es die der ausserorganismischen Landschaft sein oder die organismische eines lebenden Wesens. Es ist die durch kein Wollen zu erzwingende, sondern nur durch die Anlage zur Hingebung mögliche und durch Gunst der Stunde geförderte Fähigkeit vorübergehender Selbstverwandlung ..." (U, 58f).

 

Freilich ist für den Künstler und Dichter dies noch nicht genügend: "Die seelische Empfängnis allein gewährleistet das Werk ebensowenig wie die leibliche des Weibes das Kind" (U, 61f). Es muss ein Gestaltungsimpuls hinzukommen, der nicht erlahmen darf.

Die Verrückung in die Vergangenheit ist vergleichbar einem Wunder. Überkäme es den Schauenden "mit solcher Gewalt, dass es ihn augenblicksweise durch und durch wandeln würde, so wäre in ihm die Zeitenferne erwacht, und das ihm jetzt Gegenwärtige wären die Dinge nicht, es wäre die Wirklichkeit der Bilder, die endlos verkettet zurückreicht ins Anbeginnlose" (W, 846).

 

Steigen wir nun von der geistigen und seelischen Sphäre nochmals zum Leib hinab! Der Mensch ist das einzige mit dem Geist und damit dem Willen behaftete Wesen. Und dieser Wille ist nun nach Klages' Auffassung keine Bewegungsursache, sondern das pure Gegenteil: eine universelle Hemmung, beruhend auf dem dem Lebenspulsschlag fremden Prinzip des Geistes. Während die Bewegungen aller andern Wesen von den Triebantrieben abhängen, greift der Mensch in seine Bewegungsgesamtheit ständig mit Zwecksetzungen und Normen ein.

 

Die körperlichen Bewegungen sind nicht mehr nur Ausdruck einer seelischen Regung und entsprechen dieser nach Stärke, Richtung und Ablauf (die sog. Ausdrucksbewegung, welche die seelische Eigenart eines jeden Einzelwesens ausdrückt), sondern sie werden durch "Kommandos des Geistes" geregelt, gebremst oder gar unterdrückt (ohne allerdings ihrer Ausdruckshaltigkeit ganz verlustig zu gehen). Aus der lebendigen Bewegungsfülle wird schon beim Kleinkind - in der Erziehung - eine "gemessene" Bewegungsweise, die gesellschaftlich geforderte Haltung, herangezüchtet, welche allein den Menschen kennzeichnet:

Der Mensch hat eine durch dieselbe Gesetzlichkeit, die ihn auch zum "Bau" von geraden Betonkanälen, Schienenwegen und Strassen sowie Präzisionsapparaten, staatlichen Organisationen und widerspruchsfreien Hypothesensystemen führt, hervorgerufene habituelle Bewegungsgehemmtheit, die nicht mehr einen Wechsel von Spannung mit Lösung vollzieht, sondern Spannung an Spannung knüpft.

 

"Diese schon früh einsetzenden und im Laufe des Lebens durch Wiederholung sich verstärkenden Spannungen können, wie man weiss, besonders erfolgreich durch rhythmische Gymnastik angegangen werden. Kehrt der Rhythmus wieder, dann kann die habituelle Gehemmtheit samt vielen ihrer verderblichen Folgezustände zum Schwinden gebracht werden, und unter dieser Wandlung vollzieht sich zuweilen wie mit einem wohltuenden Zauber eine wirkliche Neugeburt der Seele", schreibt der Arzt Carl Haeberlin (1934, 43).

 

Wer "möchte es leugnen, dass eine gesunde, starke und durchgebildete Leiblichkeit zu Höhen der Lebensfreude beflügeln kann, wo das Entzücken in Tänzen sich löst, in jauchzenden Liedern überschwillt:" Es "sänke alles in Trümmer, was uns aus Wort und Bild und lebendiger Gegenwart vom rhythmischen Spiel der Glieder beglückend bekannt geworden, wäre die Wirklichkeit ihrer Körperlichkeit beraubt" (W, 997).

Analog der "Ergriffenheit durch das Bild" auf seelischer Ebene (die Schaukraft der erwachten Seele) geht es also hier darum, die Ausdrucksfähigkeit des einzelnen zu erhalten oder wiederherzustellen.

Dies kann durch rhythmische Erziehung geschehen. Hier liegt ein Ansatzpunkt tatsächlich für die Pädagogik, meinte doch Klages 1935: "Die Erziehung zur Ehrfurcht vor dem Lebendigen ist ein und dasselbe mit der Erziehung zur Strenge gegen sich selbst" (ME, 1973, 144).

 

Das ist aber auch alles. Sonst nämlich gilt, was Klages schon 1913 über die Umkehr sagte "Keine Lehre bringt uns zurück, was einmal verloren wurde. Zur Umkehr hülfe allein die innere Lebenswende, die zu bewirken nicht im Vermögen von Menschen liegt" (ME, 19334, 39, 1956, 22).

 

Geschrieben im Mai 1972; erschienen in Hestia 1976/77, 90-113.

 



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