Geist und Leben bei Ludwig Klages
Als Anfang zu einer längeren Auseinadersetzung mit den wichtigsten Thesen von Ludwig Klages gedacht; geschrieben im Herbst 1972 Dazu zwei Fragmente mit wichtigen Grundsätzen
Inhalt Teil I: Die philosophischen Thesen Der Geist urteilt - das Leben erlebt Das Weltbild beruht auf dem gewahrenden und erfassenden Menschen Klages will die Alten Griechen „umdenken“ Was passiert, wenn wir einen Baum sehen? Es gibt zweierlei Zeit und Raum: erlebbar und denkbar Klages geht von den Phänomenen aus Teil II: Das geistfreie Geschehen entbindet Anschauungsbilder Teil III: Das Zusammenspiel von Geist und Leben im persönlichen Ich
Teil I: Die philosophischen Thesen
Am prägnantesten fasst Ludwig Klages seine philosophischen Thesen im 8. Kapitel, dem kürzesten des ursprünglich vierbändigen Hauptwerks "Der Geist als Widersacher der Seele" (= W.; 1929-32; ab 1960 in 4. Auflage in einem Band) zusammen.
Der Geist urteilt - das Leben erlebt
Ausgehend vom Menschen formuliert er: "Das persönliche Ich ist Träger sowohl des Geistes als auch des Lebens, zweier Mächte, deren Verhältnis zueinander wir aus dem Verhältnis des Seins zur Wirklichkeit vorweg wir jetzt folgendermassen bestimmen:
Das Wesen des "geschichtlichen" Prozesses der Menschheit (auch "Fortschritt" genannt) ist der siegreich fortschreitende Kampf gegen das Leben mit dem (allerdings nur [dieser Zusatz in Klammern erst ab 2. Aufl.]) logisch absehbaren Ende der Vernichtung des letzteren. -" (W. 68f)
Dies ist der Kern der biozentrischen Weltanschauung, enthaltend die Grundlagen zu einem Menschen-, Geschichts- und Weltbild von beachtlicher Geschlossenheit wie Tragweite.
Das Weltbild beruht auf dem gewahrenden und erfassenden Menschen
Beginnen wir mit dem Weltbild, stets eingedenk der Tatsache, dass es immer der geschichtliche Mensch in dem von Menschen selbst geschaffenen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten sowie "sonstigen" Umweltbedingungen ist, der diese Weltbilder entwirft und revidiert.
Das biozentrische Weltbild also orientiert sich an den Zweiheiten von Wirklichkeit und Sein sowie Makrokosmos und Mikrokosmos, ferner von Heidentum und Christentum, d. h. Herkunft und Zukunft. Ob dies einen Monismus, Dualismus oder gar Pluralismus bedeutet, ist nicht ohne weiteres auszumachen. Da der Mensch nicht auszuklammern ist, geht Klages auch für das Weltbild von ihm aus, der vermöge des Lebens gewahrt und vermöge des Geistes erfasst. Was der Mensch sieht sind "nicht Dinge, sondern Bilder, nicht Existenzen, sondern Unbeständigkeit, Wandel, Geschehen" (W. 67). Exemplifizieren lässt sich das an der Baumwahrnehmung, einem Paradebeispiel der Philosophen und am sogenannten "Eleatenproblem”, einem Problem das die in Elea (einer westionischen Kolonie in Unteritalien) beheimateten Philosophen des 5. Jahrhundert v. Chr. beschäftigte.
Klages will die Alten Griechen „umdenken“
Klages beginnt - und er hat nur für die 3. Auflage das "Vorwort" durch ein ungleich kürzeres ersetzt, sonst aber nur geringe Korrekturen an seinem Werk angebracht -, was auch heute für eine systematische und grundlegende Betrachtung beinahe unvermeidlich ist, bei den alten Griechen, denn "es gibt kaum eine Frage der Philosophie und kaum eine grundsätzliche Antwort darauf, die wir nicht verzeichnet fänden in der Geistesgeschichte der Griechen" (W. 1). Die "vielleicht grösste Entdeckung der Griechen" war "die metaphysische Annahme einer dreifachen Substanz des Menschen" (W. 6) nämlich: Leib, Seele und Geist als die "drei Wesenselemente des geschichtlichen Menschentums" (W. 7), wobei Leib und Seele untereinander sowie mit dem Geist in verschiedenem Verhältnis stehen.
Die andere "grosse Entdeckung" war diejenige "des tiefsten aller Gegensätze" (W. 59), nämlich: Phainomena und Noumena. Beides sind "früheste Errungenschaften des Denkens" (W. 6), wurden jedoch von den Griechen und Späteren fehlgehend bewertet: 1) der Leib als das Unterste, die Seele als leidvolles Mittelglied und der Geist als das Höchste; 2) die Phainomena als Schein, die Noumena als einzig wirklich oder einer höheren Wirklichkeit zugehörig.
Klages’ erklärte Absicht ist nun, diese Wertungen ins richtige Lot zu rücken; er nennt das in Anlehnung an Kant "Umdenken" (W. XII), ja eine "kopernikanische Umkehrung" (W. 174, 204).
Was passiert, wenn wir einen Baum sehen?
Wir befassen uns vorderhand nur mit dem zweiten Punkt, der die Zweiheit von Erscheinung und Gedankending betrifft und mit der Zweiheit des Wirklichen und des Seins, mit Vergänglichkeit und Dauer zusammenhängt.
"Wenn jemand einen Baum wahrnimmt, ... so empfängt er nicht etwa nur den Eindruck der Baumerscheinung, sondern er hat zugleich das Bewusstsein der Gegenwärtigkeit eines seienden Dinges. Bringt er das in die Form eines Urteils, so erhellt ohne weiteres, dass es sich gerade nicht auf die Erscheinung des Baumes bezieht” (W. 18). Die Erscheinung des Baumes wandelt sich je nach Standort und Stimmung des Betrachters sowie der Beleuchtung, Windstärke, Jahreszeit usw. Dennoch ist der "existierende Baum" für uns immer derselbe. Das ist nur möglich, wenn zum leib-seelischen Eindruckserlebnis ein geistiger, "zeitlich unausgedehnter Akt" (W. 19, 144) hinzutritt, welcher trotz den Verflüchtigungen und Veränderungen der Erscheinungen den Baum als selbigen festhält, indem er ihn fest-stellt. Das erfassende Vermögen des Menschen entreisst also seinen Gegenstand der Erscheinungswelt und vermag ihn dann in seinen noch so verschiedenen "Ansichten" identisch wiederzufinden: Es abstrahiert und bildet Invarianten. Diesen zweistufigen Prozess werden wir später noch genauer betrachten.
Wichtig ist nur, dass das Ding den "unausgedehnten Beziehungspunkt für eine zeitlich fliessende Mannigfaltigkeit von Bildern" (W. 23; ähnl. 19) darstellt und an beliebig nahe oder weit auseinanderliegenden Zeitstellen identisch zugegen ist, "existiert". "Dauer" des gedachten Dings bezeichnet dann die durch zwei Zeitstellen begrenzte Spanne dieses im Sein Bestehens, die zeitliche Erstreckung. In Klages Worten: "Da alles Wirkliche zeitlich veränderlich, alles Seiende ausserzeitlich-identisch ist, so bedeutet Existenz Einerleiheit inbezug auf den Zeitverlauf oder innerhalb zeitlicher Grenzen und Dauer die Grösse des Abstandes der begrenzenden Punkte. Nehmen wir die Grenzen fort, so hat das Gemeinte augenblicklich seine unmittelbare Beziehung zur Zeit verloren, indem es entweder das Zeitunabhängige wurde, das wie etwa das Dreieck nicht mehr in der Zeit existiert, oder indem es das Zeitlichwirkliche selber wurde, von dem wir gesehen haben, dass es, weil immer sich wandelnd, überhaupt nicht erfasst werden könne" (W. 28).
Es gibt zweierlei Zeit und Raum: erlebbar und denkbar
Zeit und Raum sind hier ins Spiel gekommen, und ohne sie kann nicht von Erleben und Denken gehandelt werden, drehe es sich nun um einen unbewegten Baum oder wie beim "Eleatenproblem" um einen fliegenden Pfeil. Wir werden uns Zeit und Raum in besonderen Kapiteln widmen. Vorderhand beschränken wir uns darauf, festzuhalten, dass der Mensch Zeit und Raum ebenso zu erleben wie zu denken vermag. Jedoch: Es ist die wirkliche Zeit, der wirkliche Raum, die erlebt, eine andere Zeit, ein anderer Raum, die gedacht werden und damit erfassbar sind. Oder umgekehrt: Die Wirklichkeitszeit und der Wirklichkeitsraum sind nicht erfassbar, Wir erfassen die Zeit nur unter Bezugnahme auf der dauerlosen Gegenwartspunkt; indem wir aber mit diesem mathematischen, d. h. ausdehnungslosen Punkt die pausenlos fliessende Wirklichkeitszeit in "vorher" und "nachher" gliedern, haben wir diese Zeit in das Zeitobjekt verwandelt, d .h. in die gegenständlich messbare Zeit. Genauso ist der gedachte Raum das Raumobjekt oder der gegenständliche Raum. Nur gegenständliche Zeit und gegenständlicher Raum sind erfassbar.
Klages geht von den Phänomenen aus
Ein Modell des Klagesschen Welt- und Menschenbildes sähe nun in erster, vereinfachter Form etwa so aus:
Weicht nun Klages' scharfe Unterscheidung von Wirklichkeit und Sein von der üblichen Fassung des "Seins" und der "Wirklichkeit" ab? Indem wir dieser Frage nachgehen, wird sich sowohl die Nähe zur Tradition als auch die grosse Brauchbarkeit und Praktikabilität dieser Unterscheidung zeigen.
Saubere begriffliche Abgrenzungen sind heute nötiger denn je; das Cartesianische "clare et distincte" war stets und ist immer noch unabdingbare Forderung allen philosophischen und auch wissenschaftlichen Bemühens.
Obgleich Klages meistens von der Sprache, den Namen ausgeht - ist doch für ihn "das Hauptmittel der metaphysischen Wissensbildung die Untersuchung der Namen" (W. 133) - tut er dies gerade in diesem Fall nicht, sondern er geht hier von den Phänomenen aus. Hierbei erweist er sich wie mancherorts als dialektischer Denker, welcher der Ontologie, dem Monismus, mag er noch so explikativ sein, ein grosses Misstrauen entgegenbringt.
Fortsetzung dieses Manuskripts: siehe: Sein, Wahrheit, Ursprung
Teil II: Das geistfreie Geschehen entbindet Anschauungsbilder
1. Grundlage von allem und für alles ist das Geschehen. Es ist ein rhythmisches Ganzes ohne Anfang und Ende, das überorganisch lebt (W. 827) und demnach beseelt ist. Seine Kennzeichen sind Pulsen und Polarität. Grundlegendste Polaritäten sind Makrokosmos (kosmische oder planetarische Abläufe) und Mikrokosmos (organische Abläufe) sowie Wirken und Erleiden oder Empfangen und Befruchten (W. 1206).
2. Im Miteinander (Paarung) von empfangender Seele (des Mikrokosmos) und hineinwirkendem Geschehen (Makrokosmos) im Lebensvorgang (Erlebnis) werden Urbilder entbunden. Diese wandelbaren Bilder sind "völlig Erscheinung und völlig Geschehen in einem" (W. 844). Die "in grenzenloser Vielfältigkeit ausgebreitete Erscheinungswelt" (W. 83) ist "die einzig mögliche Form der Offenbarung des Geschehens" (W. 1223).
3. Grundlage des organismischen Erlebens ist das Schauen, auf dem das Empfinden beruht: Das Schauen gibt uns die Bilder, die Empfindung deren Körperlichkeit. Im Anschauungsvorgang verschmelzen Schauung und Empfindung und lassen das Anschauungsbild entstehen.
4. Organe des Schauens und Empfindens sind die Sinne, welche wir am "beseelten Zellenverband des Leibes" feststellen, ist doch in den Eigenwesen des Mikrokosmos die Seele "eingekörpert", d. h. einem Leib gegenpolig verbunden. Hierbei gilt: „Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn des lebendigen Leibes“ (Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, 2. Aufl. 1921, 16; Neuausgabe 1968, 37; ähnl.: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 1936, 9. Aufl. 1970, 71; statt „ … des lebendigen Leibes“: „ … der Leibeserscheinung“; erneut anders: Vom kosmogonischen Eros, 1922, 7. Aufl. 1968, 61: „ … das Bild des Leibes“; anders auch: Die Sprache als Quell der Seelenkunde, 1948, 2. Aufl. 1959, 160).
5. Das Anschauungsbild wird insofern erlebt als es Lebensäusserung oder eindruckgebende Erscheinung des Geschehens (bezüglich des organismischen: von Seelen; bezüglich des kosmischen und planetarischen: von Wesen) ist und damit einen Sinn hat. Es ist eine Bedeutungseinheit, die als Ausdruckszug erscheinender Wesen und Seelen ein "anschauliches `'Ganze" (W. 177) bildet.
6. Strenggenommen sind es nicht die ursprünglichen Bilder, die erscheinen - sie wirken als Urbilder als bildende Mächte z.B. in der Fortpflanzung und Ontogenese sowie als wandelbare als Zug im Triebleben -, sondern "Wiederscheine von schon erlebten" (W. 285). Die seelische Seite des Erlebnisvorgangs ist (wie auch die Empfindung) nämlich gegliedert, einer Wellenbewegung vergleichbar, an welcher Zwischenstrecken des Schauens mit Abschlussstrecken des Zu- oder Anschauens wechseln. An den Umkehrpunkten der Lebenswelle werden die geschauten Bilder gespiegelt. Im Vorgang dieser "vitalen Spiegelung" entsteht also das Anschauungsbild im gleichfalls gespiegelten Sinnenraum, welcher das "schlechthin Gegenwärtige" (W. 311) oder den "je gegenwärtigen Querschnitt des Urraumes (W. 324) bildet.
7. Diese Spiegelung leistet eine (seelische) Vergegenwärtigung des Geschehen. Als vollzogene ermöglicht sie erst dessen (leibliche) Verkörperung, da der leibliche Pol des Lebensträgers vom seelischen abhängt (W. 331). Beim Imaginieren, Wachträumen und Träumen haben wir nur Phantasmen, im Wachzustand jedoch werden sie durch die zur Schauung hinzutretende Empfindung mit Körperlichkeit belegt.
8. Bis hierher spielt sich alles ohne das Zutun des Geistes, ohne Bewusstsein ab. Da nun aber im Menschen - nach dem Einbruch in der Spätzeit der vorgeschichtlichen Phase - der Geist sich unlösbar mit dem Leben verkoppelt hat, übt er seine Wirkung in folgender Weise aus: Genötigt vom Erleben …
Teil III: Das Zusammenspiel von Geist und Leben im persönlichen Ich
... 2. Es ist "letzten Endes ein einziger Grundirrtum, nämlich die Vertauschung des Lebens mit dem Geiste, auf den alle Spielarten falscher Systembildungen zurückgehen" (W. 79). "Alles, was wir bereits bekämpft haben und weiterhin bekämpfen werden, erweist sich zuletzt bedingt durch den einen und selben Zwang, aufgrund der Verwechslung des Erlebens mit dem Erkennen die Wirklichkeit umzulügen in eine Geistestat" (W. 106).
3. "Denkgegenstände sind nur für ein denkendes Bewusstsein da, nicht ohne es in der Wirklichkeit selbst". - "Die Wirklichkeit der Farbe... [als Beispiel] hängt nicht von der Anwesenheit eines Sehvermögens ab, wohl aber die Existenz der Farbe von der Anwesenheit eines Denkvermögens" (W. 116).
4. "Durch eingehende Zergliederung der Ermöglichungsgründe des Bewusstseins haben wir gefunden: damit vom Erlebten und später dann auch vom Erleben ein Bewusstsein entstehe, muss zur raumzeitlichen Vitalität des individuellen Lebensträgers eine ausserraumzeitliche Macht hinzugetreten sein, die mittelst zeitlich unausgedehnter Taten eine Gruppe von Lebensvorgängen spaltet" (W. 746). Diese ausserraumzeitliche oder akosmische Macht mit Namen Geist findet sich ausschliesslich im Menschen, in den er gegen Ende der vorgeschichtlichen Epoche "von aussen her" eingebrochen ist, womit der Mensch vom (bereits hiefür vorbereiteten) Lebensträger zum Träger von Leben und Geist geworden ist.
5. Die "Form des Zusammenhanges von Leben und Geist" (W. 413) im Menschen ist das persönliche Ich. Es ist einerseits der "ausdehnungslose Beziehungspunkt ihres Zusammenwirkens" (W. 516), anderseits "Träger sowohl des Geistes als auch des Lebens" (W. 68), hat also als existierendes auch Wirklichkeit. „Die Wirklichkeit des Ichs ... wird damit zum zentralen Problem der Metaphysik" (W. 120).
Weiter von Bedeutung sind die Grundsätze:
1. "Es gibt kein geistiges Tun ausser inbezug auf stattgehabte Eindrücke der 'Sinnlichkeit', und es gibt erst recht keine eindrucksfähige 'Sinnlichkeit' ohne das Aussereinander, das ein Empfangendes und ein Gebendes allererst zu sondern gestattet!" (W. 144; ähnl. 806). 2. "Nicht der Geist von sich aus ist Schöpfer der logischen (= sachlichen) Haltung, sondern der Geist unter dem Zwange von Nötigungen, die aus dem Erleben der Wirklichkeit stammen" (W. 1419).
Der Wissenschaft ist eine physikalische (W. 39) oder allgemeiner: mechanistische Weltbetrachtung (W. 41), ein mechanistisches Denken (W. 51) zu eigen, welche zu "logozentrischen Konstruktionen" (W. 57) führt und den Glauben an eine 'mechanische Welt' (W. 58) nährt.
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