Home Gedanken zu "System" und "Systematik" anhand von Ludwig Klages' Werk

 

 Notiert im Herbst 1972

Die Zwischentitel wurden nachträglich eingefügt

 

 

siehe auch:

Ludwig Klages (Biographisches)

Ludwig Klages (1872-1956): Die Entwicklung seiner Ideen und Werke

„Das verzwistete Ich“

 

 

Systematik - was heisst das für Klages, für die Philosophie, für uns? Umfassen "Sämtliche Werke" eines Autors wie im Falle von Klages neun Bände sowie einen Registerband, so ergibt sich ganz gewiss für uns der Wunsch, diese Fülle schriftlicher Verlautbarungen in vertretbarer Kürze und Übersichtlichkeit geordnet in einem Band vorliegen zu haben.

 

In der auf Vollständigkeit und Genauigkeit bedachten kommentierten Bibliographie von Hans Kasdorff (1969) sind nahezu 200 Einzelveröffentlichungen von Klages angeführt (346-379). Ein Anhang nennt weiter 36 Vortragsthemen (380f); sie "bewegen sich innerhalb des Kreises, den die Titel der Aufsätze, Abhandlungen und Bücher umschreiben" (380). Ferner sind die 30 "selbständigen Veröffentlichungen" gesondert, ebenfalls in chronologischer Reihenfolge, mit ihrer Gliederung sowie den verschiedenen Auflagen und Übersetzungen angegeben (390-404).

Von den "Sämtlichen Werken" (SW), die als "kommentierte Textausgabe ... alle von Klages selbst veröffentlichten Arbeiten sammelt" (404), sind seit 1964 fünf Bände (SW I, II, VI, VII und VIII) zu je 600 bis 800 Seiten erschienen; eine Biographie aus der Feder von Hans Eggert Schröder schliesst sich als Supplement an (Teil 1, 1966; Teil II, 1972).

 

[Insgesamt erschienen 1964-1979 acht Bände der SW, dazu 1982 ein umfangreicher Registerband von Hans Kasdorff. Die Biographie von Schröder wurde fertiggestellt von Franz Tenigl 1992.]

 

Klages selbst hat seine Schriften zu Gruppen zusammengefasst

 

Klages selbst hat seine Schriften am Ende von "Rhythmen und Runen" (1944, 535f) und gleichlautend im Anhang zum „Wesen des Rhythmus“ (1944, 107f) zu Gruppen zusammengestellt; die "Sämtlichen Werke" (SW) halten sich recht eng an diese Gliederung.

 

1) Zur Gruppe "Philosophie" zählt Klages den

„Geist als Widersacher der Seele" (1929-32 ; SW I und II)

"Vom Wesen des Bewusstseins" (1921)

"Vom kosmogonischen Eros" (1922)

"Vom Wesen des Rhythmus" (1934)

"Geist und Leben" (1934)

Die letzten vier Publikationen werden III. Band der SW abgedruckt, ergänzt durch "Geist und Seele" (1916, 1917 und 1919), "Vom Traumbewusstsein" (1914 und 1919) sowie "Abhandlungen und Aufsätze zur Philosophie", worunter auch die von Klages hierhergestellte Sammlung "Mensch und Erde" (1920) fällt.

 

2) Zur Gruppe "Charakterkunde" zählt Klages

„Prinzipien der Charakterologie“ (1910; SW IV)

"Die Grundlagen der Charakterkunde" (1926 ; SW IV)

"Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches" (1926; SW V)

 "Goethe als Seelenforscher" (1932; SW V)

"Ursprünge der Seelenforschung" (1942; SW IV)

In den SW Band IV treten Abhandlungen, Aufsätze und kleinere Arbeiten zur Charakterkunde hinzu, worunter auch die von Klages hierhergestellte Schrift "Persönlichkeit" (1927).

Band V der SW enthält zudem "Die Sprache als Quell der Seelenkunde" (1948).

 

3) Klages hat auch seine graphologischen Schriften zur Gruppe "Ausdruckslehre" gezählt.

Die SW trennen aber Ausdruckskunde (SW VI) und Graphologie (SW VII und VIII).

 

Klages nennt also hier:

"Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" (1913; SW VI die 2. Aufl. von 1921)

"Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck" (1935; SW VI)

 

Die im - von Klages hierhergestellten - Sammelband "Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde" (1927) vereinigten 21 Abhandlungen werden in den SW aufgeteilt: drei davon erscheinen in SW Band VI (als "Frühe Abhandlungen zur Ausdruckswissenschaft"), der noch "Die Ausdrucksbewegung und ihre diagnostische Verwertung" (1913) sowie "Kleinere Arbeiten zur Ausdruckswissenschaft" enthält.

 

Von den graphologischen Büchern erwähnt Klages hier:

"Die Probleme der Graphologie" (1910; SW VII)

"Handschrift und Charakter" (1917; SW VII)

"Einführung in die Psychologie der Handschrift" (1924; SW VII)

"Graphologisches Lesebuch" (1930; SW VIII die Einleitung)

„Graphologie" (1932; SW VII).

 

Band VIII der SW enthält zudem "Frühe Arbeiten zur Graphologie", "Graphologische Abhandlungen" und "Aufsätze über die Handschrift bekannter Persönlichkeiten/ Graphologische Gutachten" - worunter insgesamt neun Artikel aus "Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde" - sowie "Kleinere Arbeiten zur Graphologie" und den Brief "Was die Graphologie nicht kann" (1949).

 

4) Die fünfte Abteilung der SW umfasst im Band IX [nie erschienen] den zu Klages Lebzeiten (1944) herausgegebenen "Nachlass" unter dem Titel "Rhythmen und Runen", berichtet über Herausgeberarbeiten und bringt "Aufsätze zur Dichtung, Kunst und Musik".

Band X der SW schliesslich umfasst das Register und eine Bibliographie. [Der umfangreiche Registerband, ohne Bibliographie, erschien 1982].

 

Soweit die Gliederung wie sie Klages vornahm und die SW sie mit wenigen Abweichungen befolgt. Für unsere. Systematik werden wir jedoch ein anderes Gliederungsprinzip befolgen, geht es doch darum, die biozentrische Weltanschauung in ihrer Gesamtheit und ihrem inneren Zusammenhang übersichtlich vorzustellen.

 

Was heisst Systematik?

 

Was heisst denn Systematik in der Philosophie? Es ist eben diese „Kunst, einen Stoff nach seinem sachlichen und logischen Zusammenhang zu gliedern" (J. Hoffmeister,  1955, 599). Resultat ist dabei ein "System", etwas planmassig oder methodisch - d. h. nach Prinzipien (Be-gründungen wie Grund-Sätzen) und Regeln der Verknüpfung - Dargestelltes, einer bestimmten Ordnung entsprechend Gestaltetes, das somit „zu einem Ganzen verbunden oder geordnet, in sachlicher und logischer Ordnung befindlich“ (J. Hoffmeister, 1955, 599) ist. Das "systematische" Vorgehen nimmt dabei als rein sachliches auf Geschichtliches wenig Rücksicht, unterscheidet sich also von der historischen Betrachtung, obgleich diese nie ganz auszuschliessen ist.

 

Was ist ein System?

 

Was wäre demnach ein System? Es ist mehr als eine Sammlung und Zusammenstellung (Aggregat), nämlich der "Zusammenschluss eines Mannigfaltigen zu einem einheitlichen und wohlgegliederten Ganzen, in dem das Einzelne im Verhältnis zum Ganzen und zu den übrigen Teilen die ihm angemessene Stelle einnimmt. Ein philosophisches System ist die Vereinigung grundsätzlicher bzw. grundlegender Erkenntnisse zu einer organischen Ganzheit, zu einer Doktrin, einem 'Lehrgebäude’" (Schmidt/ Schischkoff, 1969, 602). "Die Systeme der Philosophie haben je nach dem Ansatz, Prinzip oder Standpunkt, nach der Denkform und der Weltanschauung der Philosophen verschiedene Formen und Inhalte" (J .Hoffmeister, 1955, 598).

 

Es ist hier nicht der Ort, die Problematik der Systematisierung und des Systembegriffs aufzurollen, noch die verschiedenen Typen von Systemen (Gedankensystem, Planetensystem, Pflanzensystem, Wertsystem, Wirtschaftssystem, Regierungssystem, Transportsystem; physikalische, chemische, parlamentarische, soziale Systeme, usw.) aufzuzählen und ihre Unterschiede zu erläutern oder sie in Beziehung zu "Schema", „Konzept“, „Konstruktion“, „Architektonik“, „Typologie“, „Modell" und „Theorie" zu bringen.

 

Dass die Systemidee auch sinnwidrig werden kann, "z. B. wenn sie zu einem Formalismus des blossen Unterordnens konkreter Gehalte unter abstrakte Schemata, Gegensatzpaare, Stufengesetze usf. wird" (J. Hoffmeister, 1955, 598f) ist immerhin festzuhalten. " Nicht mit Unrecht wird darauf hingewiesen, dass das Beste aus der Philosophie der grossen Systematiker oft genug gerade das ist, was in ihre Systeme eigentlich nicht hineinpasst" (Schmidt/ Schischkoff, 1969, 602).

Das zeigt sich eindrücklich im modernen Paradebeispiel für Systematik in der Philosophie, im zweibändigen „Grundriss der Philosophie“ (1962-64; 1419 Seiten) Alwin Diemers, der Klages’ Ansichten nicht einzuordnen vermag und deshalb schlicht weglässt.

 

Dennoch feiert heute der Systembegriff in Biologie, Physik, Informatik und Kybernetik Urstände. Karl Steinbuch geht soweit, dass er die "Systemanalyse" als unabdingbare Voraussetzung für eine rationale Zukunftsplanung ansieht. Helmar Frank sieht in ihr die Möglichkeit der Überwindung der Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, und Peter Menke-Gluckert meint in dem Sammelband mit dem bezeichnenden Titel "Systems69": "System ist für die heutigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ein ebenso wichtiger Schlüsselbegriff wie für die Physik Masse und Energie" (1970, 53).

 

Klages: Systeme beruhen auf einer “Verdünnung des Erlebens”

 

Die dritte Frage lautet nun, wie fasst Klages das System und betrachtet er sein "Werk" als System?

"Solange die Menschheit mit dem Verstande sucht, hat sie Gedankenziele ähnlich dem hiermit angedeuteten Schema verfolgt und grade in ihren Bemühungen um Wissenssysteme das Erkennen nach Art des Auferbauens und Wohnlichmachens von Häusern betrieben ... Welches System ... hätte uns nicht Weltordnungen vorgelegt? Sieht aber in Wirklichkeit geordnet aus eine Welt, in der noch keine Ordnung jemals bestehen blieb, die ihr der Staatsmann, der Techniker oder der Schulmeister aufgenötigt? ... Es gehört ein Verstandeskult von Jahrtausenden dazu, um uns mit Glaubensbereitschaft voreinzunehmen für Wissensgebäude, die sich vermessen, in der Gestalt einer schlechtweg seienden Ordnung das, wie uns bedünken will, schlechterdings Ordnungslose auszusprechen" (W. 35f – vgl. Fritz Mauthner: „Wörterbuch der Philosophie“, 2. Aufl. 1923, 380; demgegenüber Edmund Husserl, „Logische Untersuchungen“, I, 2. Aufl. 1913, 15).

 

An drei weiteren Stellen des W. zeigt Klages, dass eine Verdinglichung - nämlich des stehenden Sinnenenraums - "die Grundlage aller Gedankensysteme Europas" (W. 317) bildet, d. h. "dass umfassende Urteilssysteme nur aufgrund einer zunehmenden Verdünnung des Erlebens konnten geschaffen werden" (W. 126). Das bedeutet auch: "Systeme im engeren Sinne entstehen erst, wo die Gedankenbewegung, statt unmittelbar aus der Sprache zu schöpfen, vielmehr im Mittel eines schon festen Bestandes philosophischer Begriffe geschieht" (W. 852).

 

Klages: System = Weltbild = Gedankengebilde

 

Vier Seiten vor dem Abschluss des W. kommt Klages nochmals auf das System zu sprechen und kennzeichnet gleichzeitig sein Werk - wie auch dessen Absicht:

"Während aber im mechanistischen Denken Sachlichkeit und Logik bestenfalls der Aufgabe dienen, gegenständliche Beziehungen zwischen Denkgegenständen zu stiften, behält das metaphysische Denken den Namen der 'Wahrheit' ausschliesslich den Einsichten in Charakterzüge der Wirklichkeit vor und stiftet seine Beziehungen im Hinblick auf diese. Indem das so verstandene Wissen zuletzt aus Aufweisungen, 'Demonstrationen', ja Vergegenwärtigungen von 'Urphänomenen' besteht, hat es notwendig zugleich die Form einer Weltanschauungslehre und ähnelt in Ansehung seines Gehalts einem Weltbilde oder auch einem Erkenntnisbau.

Das sind zwar Gleichnisse, aber sie bringen auf unverfängliche Weise zum Ausdruck, warum die Vertiefung in ein solches 'System' oder, allgemeiner gefasst, die Teilnahme an einem Gedankenbilde vom Sinn der Welt für den, der dazu willens und dessen fähig ist, ein spezifisches Glück bedeuten könne und einem wetterleuchtenden Schein, der grundsätzlich jeden Lebensweg zu erhellen vermag, indem er Bedeutungstiefen aufleuchten lässt sogar noch in den vermeinten Nichtigkeiten des trübsten Alltags; worin denn von den möglichen Auswirkungen des Werkes die stärkste und höchste beschlossen läge" (W. 1429).

 

Mit diesen Sätzen gibt Klages zu verstehen, was auch die Wörterbücher nicht verhehlen, dass es nicht so sehr auf die Bezeichnung "System" ankommt. Wenn er dann noch "Wissenschaft" als "das System der Urteile, sofern es in Tatsachen seine Stütze findet" (W. 121), definiert, der "tiefen Besinnung" den "Anspruch auf Wissenschaft" zubilligt (W. 130) und in diesem Zusammenhang auch sein eigenes Werk als "System der Befunde" (W. 130), im Zusammenhang mit "begründeten Forschungsergebnissen" kurz als "System" (W. 1422) kennzeichnet und von "biozentrischen Gedankensystemen" (W. 375) spricht, so ist es gewiss nicht vermessen, eine Systematik dieses Werks an die Hand zu nehmen.

 

Darf man Klages’ Werk systematisieren?

 

Nach welchen Ordnungskriterien und Methoden dies zu erfolgen hat, stellt hingegen einen Streitpunkt dar, der nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist, zumal dem Verfasser von Hans Kasdorff vorgeworfen wurde, er habe in seiner Dissertation über den W. "einen grossen Teil der Gedankenmasse des Hauptwerks in ganz eigener Gruppierung" (Zeitschrift für Menschenkunde, 3/1971) diskutiert, ja er sei "nach einem eigenen System" ("Hestia 1970/71“, 254) vorgegangen.

 

Wie sah dieses "eigene System" des Verfassers aus? Laut der Zusammenfassung auf dem "Waschzettel" wurde in einer textgetreuen Nachzeichnung aller wichtiger Gedankenzüge ein systematischer Aufbau angestrebt. "Dieser führt vom geistfreien Geschehen (=Wirklichkeit), dem elementaren und kosmischen Leben über die menschliche Wahrnehmung und die geistigen Akte zur Geisteswelt (=Sein) mit den Dingen, Begriffen, Theorien und dem lebensfeindlichen Willen." Dies wird anschliessend genauer skizziert. Es wird damit eine genetische Betrachtungsweise nachvollzogen, die eine gewisse Systematik in die "Genealogie" (wie Erich Rothacker 1954 formulierte) des Bewusstseins und des Willens zu bringen versucht.

 

Bietet die Reihenfolge der Kapitel ein System?

 

Hans Kasdorff macht seine Darstellungen des Hauptwerks demgegenüber "von der Entwicklung des Gedankengangs in der Reihenfolge der Kapitel bei Klages abhängig" ("Hestia 1970/71", 254) - vgl. "Um Seele und Geist" (1954) sowie "Einführung in den 'Widersacher" (in "Ludwig Klages - Werk und Wirkung", 1969, 21-249 resp. 323).

 

Dies ist zumindest ein fragwürdiges Unternehmen, wenn man die sich über 16 Jahre hinziehende Entstehungsgeschichte dieses Werks verfolgt, worüber Hans Eggert Schröder im Anhang zum Nachdruck des W in den SW eingehend berichtet (SW II, 1551-1555).

Die Willenslehre war vor Beginn der Arbeit am Widersacher bereits abgeschlossen und sollte zuerst nicht in ihn aufgenommen werden. Ebenso war die Darstellung des pelasgischen Weltbildes - um 1920 entstanden; basierend auf dem Fragment "Hestia" (Entwurf der Metaphysik des Heidentums, 1903) und ausformuliert im "Kosmosgonischen Eros", 1922, erweitert 1926 - anfänglich als selbständige Veröffentlichung vorgesehen.

 

Im übrigen schreibt Klages selbst im "Vorwort für die Zeitgenossen": „Gemäss der mäandrischen Gedankenführung, die eine weit innigere Verkettung aller Gründe und Tatsachen ermöglicht, als es die geradlinige vermöchte, gibt es offne Fragen, unerledigte Einwände, scheinbare Schwierigkeiten, die erst fünf, zehn, ja zwanzig Kapitel später zum Austrag kommen, dergestalt dass niemand imstande wäre, über die Stichhaltigkeit einer Behauptung zu entscheiden, der nicht mit dem Gesamtinhalt des Werkes sich vertraut gemacht hätte" (W. X).

 

Schliesslich schreibt Klages im "Einführenden Vorwort zur dritten Auflage" des W. (1954) von einer "teilweise weitgehenden Umgestaltung", die er, wäre er nicht seit langen Jahren schwer leidend, gerne unternommen hätte. Im besondern "bedürften die ersten 214 Seiten [die in Kasdorffs Darstellung genau einen Drittel der Nachzeichnung ausmachen] einer Umarbeitung. Wie ich anderswo angegeben habe, sind sie nämlich zusammengestückt aus einer Reihe längst zuvor veröffentlichter Aufsätze und bleiben, weil nicht aus einem Guss, inhaltlich wie stilistisch hinter dem folgenden Text zurück" (W. 1954, VII - dazu H. Kasdorff, 1969, 12-14, 26).

 

Eine Systematik des Gesamtwerks nach sachlicher Zusammengehörigkeit

 

Dies bezieht sich alles nur auf das Hauptwerk, den W. Es wird sich nun im Folgenden darum handeln, das Gesamtwerk als ein System vorzustellen. Dass Klages dazu selbst nicht imstande war, tut seiner Leistung keinen Abbruch, er teilt diesen "Mangel" mit einer beachtlichen Schar von Forschern und Denkern. Systematisieren ist eben ein bevorzugtes Geschäft für Nachfahren. Diejenigen von Klages sind freilich damit noch nicht sehr weit gekommen. Diesem Mangel soll die vorliegende "Systematik" abhelfen.

 

Wie aber wird sie gestaltet sein? Sie wird weder der von Klages aufgestellten und in den SW fortgeführten Unterscheidung von Philosophie – Charakterkunde – Ausdruckskunde - Graphologie und weiteres wie "Nachlass" – Dichtungen – „Aufsätze zur Dichtung, Kunst und Musik", noch dem Gang in der Dissertation des Verfassers, nämlich der aufsteigenden Reihung von Schauen – Empfinden – Anschauen – Wahrnehmen – Auffassen - Begreifen sowie Getriebensein - Wollen, noch dem "Gang der Untersuchungen" (Hans Kasdorff, 1954, 7) des Widersachers in der Reihenfolge der Kapitel folgen, sondern die Inhalte des Gesamtwerks "nach ihrer sachlichen Zusammengehörigkeit und logischen Folge, die vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Theorie zu ihren Anwendungen auf besondere Gebiete führt" (J. Hoffmeister, 1955, 598; hier für die "Systeme der Wissenschaften") ordnen.

 

Gruppierung nach sieben Bildern

 

Die Gruppierung wird hierbei nach Bildern erfolgen:

  • Bild der Philosophie und Wissenschaft,
  • Weltbild,
  • Gottesbild,
  • Menschenbild,
  • Kulturbild,
  • Geschichtsbild,
  • Gesellschaftsbild.

 

In der Logik und wissenschaftlichen Systematik erfolgt die Zerlegung eines Gattungsbegriffs in seine Artbegriffe oder die Gruppierung von Begriffen nach ihren Umfängen anhand eines Einteilungsgrundes (principium divisionis) in mehrere Einteilungsglieder (membra divisionis). Die Einteilung "darf auf jeder Stufe nur nach einem Einteilungsgrund erfolgen, der die Glieder so voneinander trennt, dass sie sich gegenseitig ausschliessen (disjunktiv); sie muss erschöpfend und stetig sein, d. h. von einem zum andern Merkmal ohne Sprung (hiatus divisionis) fortschreiten" (J. Hoffmeister, 1955, 193).

 

Solches ist für unser Vorhaben unmöglich, da die verschiedenen "Bilder" einander bedingen und stützen. Das verhindert auch klare Unterscheidungsmerkmale. Immerhin sollte eine gewisse Methode angebbar sein, nach der diese Systematik erfolgen soll. Sie kann nicht anders als in einer Orientierung an den Begriffen und dem eben erwähnten "sachlich Zusammengehörigen" sowie in ihrer "logischen” Anordnung bestehen. Mittel dieser Systematisierung wird das denkende Erarbeiten sein.

 

Diese Formulierungen befriedigen gewiss nicht, da sie dem Ermessen – ein bedeutsamer Begriff in Recht und Politik (Regierung, Verwaltung) – einen grossen Spielraum einräumen, doch bessere lassen sich für derart komplexe Unternehmungen kaum finden.

Immerhin kann als Ausgang dieses "Wegs" (methodos)  die Hypothese bestimmt werden, das Gesamtwerk von Klages lasse sich in diesen sieben Bildern einigermassen vollständig und sinnvoll unterbringen. Ziel des "Wegs" wird diese Unterbringung als geleistete sein. Was unterwegs "verlorengeht" oder ausgeschaltet wird, könnte weiteren Nachfahren von Klages Anreiz zu anderen Versuchen einer hinreichend geordneten Darstellung seines Gesamtwerks geben.

 

Die lange Entwicklungszeit eines „Systems“

 

Das systematische Vorgehen nehme wenig Rücksicht auf die geschichtliche Entwicklung eines Oeuvres, sagten wir früher, könne aber diese nicht ganz vernachlässigen, wie wir das auch bei den „Standardwerken“ gesehen haben.

 

Die vorhandenen Niederschriften von Klages erstrecken sich über einen Zeitraum von 1889 (in “Rhythmen und Runen") bis 1955 (Vorwort zur 4. Aufl. "Vom Wesen des Bewusstseins”), also über zwei Drittel eines Jahrhunderts.

Da stellt sich also die Frage, wieweit der Entwicklungsgang eines "Systems" für dieses selbst bedeutsam ist und ob überhaupt aus verschiedenen Niederschriften aus verschiedenen Jahren sich ein kohärentes System herstellen lasse.

 

Das rührt an die grundlegende Frage, ob ein philosophisches oder wissenschaftliches „System“ überhaupt möglich sei. Bedenken wir nur, dass Hegel, dessen „System“ als letztes in der Philosophie gepriesen wird, hiefür etwa vierzig Jahre ( ca. 1790-1831) Arbeitszeit aufgewendet hat.

Bezeichnenderweise gibt es in der Sekundärliteratur – abgesehen von Karl Rosenkranz (1840) und James Hutchison Stirling (1865) – keinen neueren Titel „Hegels System“. Kuno Fischer spricht von „Hegels, Leben, Werke und Lehre“ (1901; 5. Aufl. 1976), die meisten andern Autoren von seiner „Philosophie“, und sie untersuchen deren Entwicklung, Systematik und Methode. Peter Heintel nennt Hegel 1970 den „letzten universellen Philosophen“.

 

Die Wurzeln des Werks liegen in der Jugendzeit

 

Bis 1905, also bis zum 33. Lebensjahr, hat Klages gedichtet.

Fortan konzentrierte sich seine Arbeit auf das wissenschaftliche Werk. Das zeigt die ausführliche Biographie von Hans Eggert Schröder über "Die Jugend" und "Das Werk".

 

Die ersten Veröffentlichungen von Klages erschienen in Stefan Georges "Blättern für die Kunst" (1894-1903) sowie in der "Gegenwart" (1896/97). Daneben aber hatte er bereits 1896 zusammen mit Hans H. Busse und Georg Meyer die "Deutsche Graphologische Gesellschaft" gegründet und fortan in deren "Berichten" (1897/98) und dann "Graphologischen Monatsheften" (1899-1908), graphologische und charakterkundliche Artikel geschrieben.

 

Genaueste Auskunft hierüber geben die Bibliographie von Hans Kasdorff (1969, 346ff) und dessen Aufsatz "Zu den ersten Veröffentlichungen von Klages" (1969).

Klages ist also nicht plötzlich vom Dichter zum Forscher geworden und hat das Dichten insofern nicht aufgegeben, als z. B. im Widersacher grössere Abschnitte dichterische Tiefe aufschimmern lassen. Ebenso ist zu bedenken, dass die Wurzeln seiner "Weltanschauung" oder seines "Weltbildes" in der Jugendzeit liegen und bereits in Gedichten, Aufsätzen über Dichtung, Kunst und Künstler sowie charakterologischen Untersuchungen zum Ausdruck kommen. Davon berichtet selbstverständlich Schröder.

 

Es gelang nicht, „den tausendfältigen Ertrag zu einem Werk zu ballen“

 

Im Widersacher schreibt Klages selbst über sich, in der dritten Person: "Die Erlebnisniederschläge, auf denen sein ganzes Forschen bis zum heutigen Tage fusst, stammen aus den Jahren 1889-1892" (W. 919); und dass er die eine Entdeckung, "zu der sich meine sonstigen Neubefunde, mochten sie unter wie grossen Schwierigkeiten errungen sein, doch schliesslich nur wie zum Lehrsatz die Folgerungen aus ihm verhalten, ... mit achtundzwanzig Jahren, also um die Jahrhundertwende" (W. VII) gemacht habe. "Der sogleich wiederholt unternommene Versuch, den tausendfältigen Ertrag des Gedankens zu einem Werk zu ballen scheiterte an innerer wie auch an äusserer Schicksalsungunst und wurde 1903 endgültig aufgegeben. Mein 1914-15 zusammengestellter Nachlass [1944 erschienen als "Rhythmen und Runen"] überliefert späteren Geschlechtern wenigstens einige prachtvolle Bauglieder eines Tempels, den von neuem zu planen ich nicht mehr wagen könnte" (W. VII).

 

Immerhin vermochte Klages 1932 den 1500seitigen Widersacher abschliessen.

 

 

Literatur

 

Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner 1955.

Hans Kasdorff: Um Seele und Geist - Ein Wegweiser zum Hauptwerk von Ludwig Klages. München/ Basel: Reinhardt 1954.

Hans Kasdorff: Ludwig Klages - Werk und Wirkung. Einführung und kommentierte Bibliographie. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1969, fortgesetzt in den "Hestia"-Schriften desselben Verlags [Der 2. Band dieser Bibliographie erschien 1974; Fortsetzungen erschienen in „Hestia 1978/79“, „Hestia 1982/83“ und „Hestia 1984/85“]

Hans Kasdorff: Zu den ersten Veröffentlichungen von Klages. Zeitschrift für Menschenkunde 4/1969, 169-191.

Hans Kasdorff: Ludwig Klages – Werk und Wirkung. 1974, Nr. 2533 (Müller, Roland: Das verzwistete Ich), S. 216-218 (auch in „Hestia 1970/71“, 1972, 254-256; zweieinhalbseitige Darstellung, stark verändert gegenüber der Rezension von 1971, 390).

Heinrich Schmidt/ Georgi Schischkoff: philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 18. Aufl. 1969.

Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages – Die Geschichte seines Lebens. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1966-72; die abschliessende Fortsetzung erschien in der Bearbeitung von Franz Tenigl 1992.

Systems69. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1970.

 



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