HomeTheoretisches Schema des Problemlösungsablaufs

 

inspiriert von

Dietrich Dörner, Heinz W. Kreuzig, Franz Reither, Thea Stäudel (Ed.): Lohhausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Bern: Huber 1983; Nachdruck 1994; Kapitel 6: Die Erklärung des Verhaltens, 397-448.

 

 

1. System

2. Abbild der Struktur

3. Teilzielbildung

4. Schwerpunktbildung und Absichtsrangierung

5. Planung der Eingriffe

6. Eingreifen und Effekte beobachten

7. Ergebnisse bei Misserfolg

 

 

1. System

 

Gegeben ist ein Realitätsausschnitt als "System" mit einem (zu erforschenden) Anfangszustand, der hinsichtlich mehrerer (ebenfalls zu bestimmender) Kriterien optimiert werden soll. Dabei sind:

 

  • Teile des Systems unbekannt
  • Teile des Systems undurchsichtig (intransparent)
  • das System komplex, d. h. nicht alle Merkmale in nützlicher Frist oder Genauigkeit feststellbar und verarbeitbar
  • manche Variablen nur indirekt beeinflussbar (partiell manipulierbar)
  • die Variablen nicht isoliert beeinflussbar, d. h. das System ist vernetzt
  • manche Elemente des Systems aktiv, d. h. das System ist eigendynamisch
  • die Beziehungen zwischen den (aktiven und passiven) Elementen des Systems kausal oder aber stochastisch (zufallsabhängig, statistisch)
  • Beziehungen zwischen Elementen wie auch zwischen Beziehungen selber vielfältig und zeitlich verschieden
  • auf Grund der Wechselwirkungen manche Entwicklungen exponentiell
  • Fremdeinflüsse von aussen und Wirkungen nach aussen vorhanden.

 

 

2. Abbild der Struktur

 

Dieses System ist als möglichst präzises und vollständiges "Abbild" im Gedächtnis oder auch in einem "externen" Gedächtnis (Aufzeichnungen, Karteien, Tabellen, Strukturdarstellung) aufzubauen, ständig zu verbessern und à jour zu halten.

 

Das Abbild umfasst die Elemente und Relationen des Systems und die Handlungsmöglichkeiten des "Manipulators", also die Eingangs- und Ausgangsvariablen des Systems.

Das Bild kann richtig, aber zu grob oder zu detailliert sein. Es kann aber auch falsch sein, und zwar auf drei Weisen:

  • Elemente und Relationen sind falsch dargestellt
  • Elemente und Relationen sind angenommen, die es im System  gar nicht gibt (also Illusionen)
  • Elemente und Relationen fehlen (also Unvollständigkeit)

 

Der Abbau solcher Fehler und von Unkenntnis erfolgt

a)     durch Sammeln von Informationen, also Fragen und Nachlesen, und wenn dies nicht ausreicht durch

b)     Hypothesenbildung mittels zunehmend abstrahierender Analogiebildung, die in drei Stufen erfolgt:

·        Suche eines gut bekannten Realitätsbereiches, der dem teilweise  unbekannten in gewisser Hinsicht ähnlich ist (z. B. Wasser fliesst, Geld "fliesst")

·        Loslösung der Struktur des gefundenen Realitätsbereichs von ihrer konkreten Realisierung (z. B. Ersetzung von Bächen und Wehren durch abstrakte Vorstellungen von Fluss und Stau)

·        Einsetzen konkreter Objekte und Vorgänge des unbekannten Realitätsbereichs in die "Leerstellen" der abstrakten Struktur (z. B. Fluss = Zahlungsverkehr; Stau = Konto).

 

Die Bestimmung des richtigen "Auflösungsgrads" (der Feinheit) der Struktur erfolgt im Gleichklang mit der Bildung von Teilzielen. Da "Ziel" als "Sollzustand einer kritischen Variablen" definiert ist, muss die Struktur soweit verfeinert werden bis eine differenzierte Einwirkung gerade auf diese Variable möglich ist.

 

Ein weiteres ist die Bestimmung des Diskriminanzgrades für Zustände einzelner Elemente: Die Unterscheidung der Zustände einer kritischen Variablen sollte so fein sein, dass man nicht nur zwischen erwünschten und unerwünschten Zuständen unterscheiden, sondern auch Distanzen zum Sollzustand feststellen kann. Damit verfügt man über ein Kriterium des Erfolgs oder Misserfolgs des Eingreifens ins System.

 

 

3. Teilzielbildung

 

Meist verfolgt ein "Manipulator" mehrere Ziele, die zudem ganz vage formuliert sind, z. B. Wohlstand, Wohlergehen, Freiheit, Gleichheit, Rechte, Chancen oder Sanierung, Modernisierung, Gewinn und Ansehen.

 

Die Ziele müssen daher präzisiert und aufeinander abgestimmt werden. Das geschieht durch eine Bildung von handhabbaren Teilzielen (Sollwerte kritischer Variablen). Mittel dazu sind:

  • Komponentenanalyse: Man fragt: "Woraus besteht X?" und bestimmt die Elemente und Relationen
  • Dependenzanalyse: Man fragt: "Wovon hängt X in welchem Ausmass und  in welcher Form ab?"
  • Subordination: Man fragt: "Welche Arten von X gibt es?"
  • Superordination: Man fragt: "Wovon ist X ein Spezialfall?"

 

Diese Analysen erfolgen vorwiegend durch Suche im eigenen Gedächtnis: Komponenten werden im Gang "abwärts", Abhängigkeiten im Gang "rückwärts" gefunden.

Im Hinblick auf die angestrebte Zielerreichung sind ferner zwei weitere Analysen hilfreich:

  • Effektanzanalyse: Man fragt: "Worauf wirkt eine Veränderung von X  sonst noch?"
  • Komplexionszuordnung: Man fragt: "In welchen grösseren Zusammenhang  gehören die Variablen, auf die X 'sonst noch' wirkt?"

 

Bedeutet Dependenzanalyse eine Kausalanalyse "rückwärts", so die  Effektanzanalyse Kausalanalyse "vorwärts" (420). Die erstere ergibt Faktoren,  von denen die kritische Variable abhängt, letztere Variablen, auf die die kritische Variable wirkt.

Die Komplexionszuordnung ist der Superordination ähnlich, genauso wie die Komponentenanalyse der Subordination ähnelt.

 

Da die im Gedächtnis auffindbaren Bilder von Komponenten und Abhängigkeiten abstrakt sind, d. h. viele Leerund Unschärfestellen aufweisen, muss man sie durch Information von aussen (Fragen gezielte Beobachtung) differenzieren, was weitere Ansatzpunkte für gezielte Betrachtungen und Fragen gibt.

 

"Die Verfügbarkeit über abstrakte und differenzierte Gedächtnisbilder ist die beste Voraussetzung für die Erfassung der Struktur eines unbekannten Bereichs" (400). Erstere ermöglicht die Anwendbarkeit auf viele verschiedene Sachbereiche, letztere die gezielte Betrachtung und das gezielte Stellen von Fragen.

 

Durch eine Aufeinanderfolge solcher Analysen lässt sich ein zunächst globales Ziel in immer feinere Teilziele zerlegen.

Will man sich dies sparen, kann man auf Problemsuche gehen (z. B. durch Befragung des Mannes auf der Strasse, "Briefkasten").

Während aber das erste Verfahren eine Zielhierarchie ergibt, führt die Problemsuche nur zu einer Anhäufung von Zielen.

Ähnliches gilt für die Beachtung von Alarmsignalen (wie Streiks, fehlender Materialnachschub, Zahlungsunfähigkeit). Der Stellenwert einer Alarminformation kann beim Vorliegen einer Zielhierarchie besser bestimmt werden als bei einer blossen Zielanhäufung. Die Reaktion darauf kann demnach gezielter erfolgen.

 

Nicht zu vergessen ist schliesslich die Angabe von Werten, welche als Sollzustände der den Teilzielen entsprechenden kritischen Variablen zugewiesen werden.

 

 

4. Schwerpunktbildung und Absichtsrangierung

 

Manche Teilziele sind gegenläufig, z. B. minimale Umweltbelastung und minimale Produktionskosten oder maximaler Gewinn und minimales Risiko, grosse Genauigkeit bei geringem Zeitaufwand, usw.

Ferner ergeben sich aus der "untersten" Ebene der Zielhierarchie einzelne Absichten, die nicht alle zur selben Zeit und mit den selben Mitteln realisiert werden können.

 

Man muss daher im Folgenden zwei Blickweisen unterscheiden:

  • In Hinblick auf das System sind Schwerpunkte des Denkens und  Handelns zu setzen, wobei dennoch stets der Hintergrund im Auge zu behalten ist.
  • In Hinblick auf die Zielerreichung sind die Absichten in eine Rangfolge zu bringen, und die Zeit zur Realisierung der Massnahmen  ist zu planen.

 

Ein erster Anhaltspunkt für das weitere Vorgehen ergibt sich daraus, dass sich mehrere verfolgte Ziele zu einem bestimmten Zeitpunkt hinsichtlich Wichtigkeit und Dringlichkeit unterscheiden. Daher können sie in eine Rangfolge gebracht werden. Diese ergibt sich aus der Grösse des Produkts von Wichtigkeit und Dringlichkeit.

 

  • Die Wichtigkeit bemisst sich nach dem Ausmass, in welchem die kritische Variable andere Variablen (insbesondere "höhere" Zielvariablen) beeinflusst.
  • Die Dringlichkeit ergibt sich aus Grösse, Geschwindigkeit und  gegebenenfalls Beschleunigung der Sollwertabweichung der kritischen Variablen.

 

Ergibt sich aus diesen beiden Faktoren die Rangierung der Ziele (mithin die Schwerpunktbildung), so kommen bei der Umsetzung in Absichten noch einige Differenzierungen hinzu:

  • die aktuelle Dringlichkeit in Abhängigkeit von der zur Verfügung stehenden Zeit im Verhältnis zur geschätzten benötigten Zeit
  • das Aktualitätsgewicht in Abhängigkeit davon, was einem gerade unter die Augen fällt
  • die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Erledigung der Absicht in Abhängigkeit von Wissen, Können und Zeit.

 

Auf Grund dieser Angaben kann die Zeitplanung erfolgen.

 

 

5. Planung der Eingriffe

 

Da nun der Zeitfaktor zunehmend bedeutsamer geworden ist, muss man sich erinnern, dass das System dynamisch ist. Einzelne Teile oder Variablen können sich daher "von selbst" auf das Ziel hin zu bewegen. Jedenfalls verändern sie sich.

Daher ist eine Trendanalyse nötig. Dabei muss man sowohl den gegenwärtigen Zustand des Systems als auch frühere Zustände kennen. Daraus ist nun aber nicht eine "Fortschreibungsautomatik" zu entwickeln, sondern der Trend ist abzuschätzen unter Berücksichtigung des Umstandes, dass viele ökonomische wie ökologische Vorgänge exponentiell verlaufen.

Sind wichtige Variablen des Systems unsichtbar, muss man nach Indikatoren suchen, welche einen Rückschluss auf den Zustand der unsichtbaren Variablen erlauben.

 

Ergibt die Trendanalyse die Notwendigkeit von Eingriffen, so muss man fragen:

  • Welches ist der Zustand kritischer Variablen und gegebenenfalls die Abweichung vom Sollwert?
  • Welche manipulierbaren Variablen muss man verändern, damit die angestrebten Ziele erreicht werden?
  • Wie stark muss eingegriffen werden?
  • Hat der gewählte Eingriff nicht negative Wirkungen auf andere  kritische Variablen, die momentan ihren Sollzustand schon haben?

 

Die richtig ausgewählten Variablen sind solche, die sich maximal in der gewünschten Richtung beeinflussen lassen und am wenigsten unliebsame Neben- und Fernwirkungen haben.

Die Eingriffsplanung erfordert also den Blick auf den gegenwärtigen Zustand des Systems wie in die Vergangenheit und Zukunft.

 

Eine häufig vielversprechende Massnahme ist die Einführung "bedingter Entscheidungen": Eine Masszahl wird als Steuergrösse z. B. für die Produktion eingesetzt.

Ferner sind "kombinierte Massnahmen" oft wirkungsvoll.

 

 

6. Eingreifen und Effekte beobachten

 

Nach erfolgten Eingriffen ergeben sich Veränderungen des Systems, die zu dessen Eigendynamik hinzutreten. Es gilt, sie genau zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen. Insbesondere ist nicht nur zu fragen, ob Ziele erreicht wurden, sondern auch weshalb respektive weshalb nicht.

Ergebnisse davon können sein:

  • Ziele werden weiter präzisiert oder fallengelassen
  • Ziele werden gewichtiger
  • neue Ziele tauchen auf
  • Eingriffe werden feiner dosiert
  • bessere Eingriffspunkte werden gesucht
  • es wird gezielt über das eigene Vorgehen nachgedacht
  • das Bild der Systemstruktur muss modifiziert oder erweitert werden
  • der Auflösungsgrad des Systems oder von Teilen davon muss verändert werden
  • Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Variablen werden modifiziert
  • Schwerpunkte werden verschoben und damit auch der zu beobachtende Hintergrund.

 

 

7. Ergebnisse bei Misserfolg

 

Eine ganz andere Art von Ergebnissen, die in der Praxis häufig vorkommen, soll der Vollständigkeit halber ebenfalls erwähnt werden. Sie ergeben sich vor allem bei Misserfolg der Zielerreichung:

 

  • die Verantwortung wird abgeschoben
  • Ergebnisse werden als unabänderlich hingestellt
  • Ergebnisse werden ignoriert
  • Konzentration auf irrelevante Details
  • Zuwendung zu Bereichen, die persönlichen Vorlieben entsprechen
  • das Eingriffsschema wird stur durchgehalten
  • man wartet auf Einfälle, statt nach solchen zu suchen
  • spontan auftauchende Ideen werden realisiert

 

Oder eine Reihe von Notfallreaktionen

  • Radikalisierung: wie Durchbruchstrategie oder Holzhammermethode ohne Rücksicht auf Nebenwirkungen
  • Untätigkeit und Beklagen der eigenen Unfähigkeit
  • Redseligkeit, Aggressivität
  • Abwendung vom ganzen System, Flucht.

 

(zusammengestellt im Herbst 1983)

 



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