HomeWovon handelt die heutige Psychologie?

 

Zu Dietrich Dörner, Herbert Selg (Hrsg.): Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder. Stuttgart: Kohlhammer 1985; 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. 1996.

 

 

... In einer neueren "Einführung" in die Psychologie (D. Dörner, H. Selg, 1985) wird im einleitenden, gemeinsam verfassten Kapitel ein ganzes Kunterbunt von Bestimmungen angeboten. Sie werden hier in 13 Thesen vorgestellt.

Anschliessend werden, davon inspiriert, 13 eigene Thesen vorgelegt.

 

 

Dietrich Dörner, Herbert Selg: Was ist Psychologie?

 

1. Psychologie ist zur Zeit "eine Modewissenschaft mit einer grossen Expansion" (16).

 

2. Psychologie lässt kaum einen kalt," denn wir alle sind der Stoff, von dem die Psychologie handelt. Das Wissen in der Psychologie ist Wissen um uns" (16).

 

3. Psychologie ist nicht mit Psychoanalyse gleichzusetzen (16).

 

4. Gelegentlich wird Psychologie als "die Lehre von der Seele" umschrieben; aber das ist "nur die Übersetzung des griechischen Wortes, und es stellt sich die Frage, was mit 'Seele' gemeint sei, und hier könnte es gleich Streit mit den Religionen geben.

Die Seele als etwas unsterblich Gedachtes, als Immaterielles, das vom Körper gelöst existieren kann, oder die Seele als ein sündenfrei zu haltendes Etwas ist jedenfalls nicht Gegenstand der Psychologie" (17).

 

5. Amerikanische Texte umschreiben Psychologie vielfach als "Wissenschaft vom Verhalten". "Uns ist diese Definition zu eng. In deutschsprachigen Lehrbüchern kreisen die Umschreibungen mehr um Aussagen wie: 'Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben'. Das schliesst die Untersuchung von Ursachen und Wirkungen der Erlebens- und Verhaltensweisen ein."

Aber Erleben ist schwer zu umschreiben, "und nicht alles Verhalten wird Gegenstand der Psychologie" (17).

 

6. "Dörner stellt die Psychologie daher akzentuierend als die Wissenschaft von den offenen oder variablen Regulationen vor." Dabei wird Bezug auf die Biologie genommen: "Bei niederen Lebewesen werden fast alle Lebensprozesse durch feste 'Programme' exakt gesteuert. Je weiter man aber in der phylogenetischen Reihe aufwärts steigt, desto mehr werden feste Regulationen durch variable oder offene ersetzt" (17).

 

7. "Nach Dörner fällt es nicht schwer, psychische Phänomene ganz allgemein als Vorgänge offener Regulation zu interpretieren: Wenn die 'festverdrahteten' Regulationsprozesse nicht mehr greifen, kommt es zu Motivationen, Wünschen und Bedürfnissen. Die zugehörigen, zur Befriedigung führenden Verhaltensweisen aber müssen gelernt werden" (18).

 

8. Das Bewusstsein war der Gegenstand der "klassischen" Psychologie im 19. Jahrhundert (20).

 

9."Gegenstand der Psychologie kann alles werden, was erlebbar ist und/oder sich im Verhalten äussert" (21).

 

10. "Wir sehen die Psychologie als eine empirische Wissenschaft, d.h. sie beruht auf Erfahrungen" (21).

 

11.Es können fünf Aufgaben und Ziele der Psychologie unterschieden werden, die aufeinander aufbauen:

·        "menschliches Erleben und Verhalten möglichst umfassend und systematisch zu beschreiben"

·        Erklärungen: "Wenn wir etwas erklärt bekommen, können wir es leichter verstehen."

·        "Vorhersage von Verhalten"

·        Kontrolle (gezieltes Beeinflussen), "die durch Erklärung und Vorhersage möglich wird"

·        "Beiträge liefern zur Emanzipation des Menschen" (22 -23) .

 

12. Die Psychologie stösst bei ihren Bemühungen, ihre Probleme zu lösen, auf fünf Schwierigkeiten:

·        "Es sind in der Regel nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich."

·        "Interessante psychologische Sachverhalte sind immer in komplexe Zusammenhänge eingebettet."

·        "... die Plastizität des Gegenstandes der Psychologie, Psychische Phänomene verändern sich permanent in der Zeit."

·        "... die Erfassung des menschlichen Erlebens. Die hier interessierenden Zustände und Prozesse sind verborgen (verdecktes Verhalten), nicht objektiv beobachtbar."

·        "... dass ethische Überzeugungen uns nicht jede denkbare Untersuchung erlauben" (25-26).

 

13. "Die Psychologie droht, zu einem Sammelbecken für Ersatzreligionen zu werden" (29).

 

 

Roland Müller: Was ist Psychologie?

 

1. Psychologie ist eines von verschiedenen Bemühen des Menschen, über sich selber und andere mehr Klarheit zu erlangen und dementsprechend zu handeln.

 

2. Gegenstand der Psychologie ist in erster Linie der gesunde Mensch. Der Mensch versucht, in sich selber und andere hineinzuhorchen und zu -sehen. Da er mitunter auch Tiere und Pflanzen in dieser Art "erfassen" möchte, kann man allgemein formulieren:

Psychologie befasst sich mit dem Innenleben von Lebewesen, und zwar zwecks Verständnis, Beurteilung und Beeinflussung derselben.

 

Psychologie als Ursachenforschung

 

3. Auch wenn Psychologie heute als "Wissenschaft vom Verhalten" definiert wird, lautet die Grundfrage: "Was steckt dahinter?" Denn die blosse Beobachtung und Beschreibung von Verhalten ist selten interessant (auch nicht in Literatur, Film und auf der Bühne). Sogar "Action", "Spektakel", "Situation" oder "Skandal" sind nur mit Vorgeschichte und Hintergrund fesselnd.

 

4. Psychologie ist also zur Hälfte Ursachenforschung: Sie versucht herauszufinden:

a) was ein bestimmtes Verhalten veranlasst oder bisheriges Verhalten verändert, und

b) wie die Regulation des Verhaltens erfolgt.

Dieses "Dahintersehen" kann intuitiv, spekulativ oder empirisch erfolgen. Es kann wortlos geschehen, sich im eigenen Verhalten direkt oder in vielfältigen Verlautbarungen, Texten und Kunstwerken äussern. Absicht des empirischen, d. h. wissenschaftlichen Vorgehens ist es, zur Formulierung von "Gesetzen" zu gelangen.

 

5. Ziel dieser Ursachenforschung ist ein dreifaches:

a) Verständnis für fremdes, aber auch eigenes Verhalten zu gewinnen, und, damit verbunden,

b) Anhaltspunkte für die Charakterisierung und Beurteilung desselben zu finden sowie

c) Hinweise oder Rezepte für individuelle oder soziokulturelle Problemlösungen zu erarbeiten.

 

Absichten: Menschen beurteilen und Probleme besser lösen

 

6. Die zweite Hälfte der Psychologie besteht sowohl im Wunsch nach Charakterisierung und Beeinflussung des Verhaltens als auch in der Durchführung von Beurteilungen und Manipulationen, sei es von sich selber oder andern Menschen, sei es aus eigenem Antrieb oder im Auftrag eines Klienten oder von dritter Seite.

 

Die Praxis der Psychologie auf der Grundlage psychologischen Wissens geht in fünf Richtungen:

 

a) Beurteilung von Individuen (Menschenkenntnis, Diagnostik) in drei Hinsichten:

·        eher habituell: Charakter, Temperament, Wissen, Fähigkeiten,  Schwächen, Vorlieben

·        eher aktuell: Störungen, Schwierigkeiten oder Krisen

·        eher prospektiv: Eignung, Förderungsmöglichkeit, Nachholbedarf, Rückfallgefahr

 

b) Problemlösungen, Konfliktbearbeitungen, Krisenbewältigungen

durch Selbstprüfung, Bewusstseinsbildung, Arbeit an sich  selber, Selbsterziehung

im direkten Umgang mit Menschen durch:

·        emotionale Manipulation; Überzeugung, Ermunterung, Humor, List, Zwang, Strafe

·        psychosoziale Hilfe: emotionale Unterstützung, praktische  Hilfe, Krisenintervention, Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Training, Verhaltensmodifikation, Therapie, Überwachung,  Rehabilitation oder -sozialisation, Hilfe zur Selbsthilfe

durch Aufklärung, Bewusstseinsbildung, Beratung, Prävention

durch Mithilfe bei der Durchführung resp. Gestaltung soziokultureller Tätigkeiten, Vorhaben oder Institutionen, z. B.

·        Erziehung und Ausbildung

·        Personalauslese, Partnerwahl

·        Arbeitsgestaltung und Mitarbeiterführung

·        Absatzförderung, Werbung, Propaganda

·        Justiz und Strafvollzug

·        Haus- und Strassenbau, Quartierplanung

·        Gesundheitsversorgung, Klinik und Krankenpflege

·        Verwaltung und Gesetzgebung

·        Militär und Geheimdienst

·        Freizeit und Sport

·        Umgang mit Randgruppen

·        Dienst für andere Wissenschaften

 

Der Mensch lebt in komplexen Zusammenhängen

 

7. Die Annäherung an die Innenwelt des Menschen hat drei Besonderheiten zu berücksichtigen:

a) Was darin wirkt und abläuft, ist von vielerlei abhängig, z. B. vom Erbe (Genom) und der individuellen Entwicklung (Reife,  Geschichte), von früheren Umwelten (Milieu) und der aktuellen Umwelt sowie der konkreten Situation resp. Zuständen sowohl  der Innen- wie Aussenwelt. Daher kann man sagen: "Interessante psychologische Sachverhalte sind immer in komplexe Zusammenhänge eingebettet" (D. Dörner, H. Selg 1985, 25).

b) Es sind Menschen mit (historischen) Innenwelten, die das (historische) Innenleben anderer Menschen erfassen möchten. Forscher (oder Versuchsleiter, Deuter) und Objekt oder Versuchsperson) Gegenüber) sind also von derselben Art.

c) Selbsterforschung (als "Introspektion" bezeichnet) beruht auf völliger Gleichheit. Sie ähnelt dem Unterfangen des Barons von Münchhausen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu wollen.

 

Der Mensch war und ist schon immer ein Psychologe

 

8. Das bedeutet für die Psychologie viererlei:

a) Es gab Psychologie schon lange, bevor sie zur Wissenschaft wurde (genauso wie es Naturforschung schon lange vor der Naturwissenschaft gab). Psychologie ist also nicht nur eine Wissenschaft.

b) Auch als empirische Wissenschaft ist sie etwas Besonderes, weil erstens Untersuchungsmittel und -objekt von derselben Art sind und zweitens der Forscher seinen Gegenstand im Forschungsprozess auf andere Weise beeinflusst als in anderen Wissenschaften.

c) Beobachten und Deuten, aber auch Experimentieren und Registrieren erfordern bereits psychologisches Wissen (z. B. Menschenkenntnis) und Können (z. B. Einfühlung, Formulierungs- und Instruktionsgabe)

d) Schon das Verstehen eigenen und fremden Verhaltens geht über "Wissenschaft" hinaus, ist eine "Kunst", genauso wie Beurteilen, Beraten, Helfen und Mitgestalten.

 

Die Psychologie ist nie allein

 

9. Die Psychologie ist keinesfalls das einzige menschliche Bemühen, sich mit der Innenwelt zu befassen:

a) Verhaltensbeschreibungen und Erklärungsversuche finden sich auch in Mythen und Legenden, Sagen und Märchen, in Literatur und Kunst, Philosophie, Theologie und Mystik.

b) Auch Praktiker wie Politiker und Richter, Manager und Militärs, Lehrer, Pfleger und Sozialarbeiter rätseln oft über das Verhalten des Menschen.

c) Da das Innenleben vielfältig bestimmt ist, befassen sich auch zahlreiche andere Wissenschaften damit, z. B. medizinische und biologische Disziplinen, insbesondere Physiologie und Neurologie, Pathologie, Psychopathologie und Psychiatrie, Genetik und Zytologie, Pharmakologie  und Biochemie sowie "Verhaltenswissenschaft", ferner Pharmazie, Anthropologie, Ergonomie und Kriminologie.

Eher mit Einwirkungen auf das Verhalten oder Auswirkungen  befassen sich die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften wie Pädagogik, Politologie und Ökonomie, auf besondere  Art die Wissens- und Glaubens-, Ideen- oder Mentalitätslehren von Ethnologie, Folklore und Religionswissenschaft, von Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaft, Soziologie und Geschichte.

 

10. Auch als Manipulationslehre oder -"Kunst" steht die Psychologie nicht allein:

a) Vielfach möchten auch Literatur und Kunst, Philosophie und Theologie aufklären oder aufrütteln, trösten oder erfreuen.

b) Praktiker und Berater aller Art, Ärzte und Erzieher, Führer und Betreuer versuchen Verhalten und Lebenswandel oder Meinungen und Vorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen anderer zu verändern.

c) Alle Wissenschaften drängen zur Anwendung (z. B. Agronomie, Tier- und Pflanzenzucht sowie Betriebswissenschaft zu Ertragssteigerungen, Physik und Chemie zu neuen oder besseren Verfahren und Produkten) oder zumindest dahin, dass man aus ihren Erkenntnissen Lehren zieht (z. B. historische Wissenschaften). Mehr oder weniger direkt auf das Innenleben wirken einige Anwendungen der unter Pt 9 c) genannten Wissenschaften.

 

Die Psychologie ist in komplexe Zusammenhänge eingebettet

 

11. Psychologie ist also selber, wie ihr Gegenstand, "in komplexe Zusammenhänge eingebettet". Weder sie noch eine andere Wissenschaft kann das Verhalten von Lebewesen allein und umfassend erklären. Desgleichen braucht es für Problemlösungen mehr als nur den Rat oder Beitrag des Psychologen.

Keine Wissenschaft steht allein oder isoliert da. Psychologie bildet einen Knoten in einem wissenschaftlichen Netzwerk. Sowohl Ursachenforschung wie Beurteilung und Manipulation erfordern interdisziplinäre Zusammenarbeit.

 

12. Wissenschaft ist nicht alles. Forschung wie Anwendung erfordern auch "Kunst". Da Psychologie im besonderen Masse "Kunst" ist, können alle Menschen Psychologie betreiben, und sie tun es wohl auch. Wie die "professionellen" Psychologen versuchen sie "Wissen" zu erarbeiten und anzuwenden, sei es aus eigenem Antrieb oder weil sie um Rat, Unterstützung, Betreuung oder Führung gebeten werden.

Genauso wie das Hauptobjekt der Psychologie, der Mensch, steht auch der Profi wie Laie im Netz seiner Erziehung und Ausbildung, seiner Familie, Nachbarschaften und Freundschaften, Arbeitsverhältnisse, Rollen und Verpflichtungen. "Kein Mensch ist eine Insel", sagte John Donne um 1600.

 

Psychologie ist ein soziokulturelles Phänomen

 

13. Psychologie ist damit ein soziokulturelles Phänomen. Sie unterliegt persönlichen Interessen wie allgemeinen Zeitströmungen, sie ist sowohl in gesellschaftliche wie akademische Gepflogenheiten und Institutionen eingespannt. Und diese wiederum stehen in Kultur, Geschichte und Natur.

Soll Psychologie erfolgreich sein, erfordert dies ein Zusammenspiel von Forschung, Theorie und Praxis, Wissenschaft und ,"Kunst", Profis und Laien, aber auch von Auftraggebern und "Objekten", Manipulatoren und Betroffenen.

 

November 1989

 



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