Home Vom Bedauern und dem Gewissen

 

 

Manuskript für einen Volkshochschulkurs „Entscheiden und Verantworten im Alltag“, Sommer 1987

15.6.1987

 

 

Jede Alternative ist in einer bestimmten Hinsicht optimal

 

Was ist die Botschaft die ich Ihnen das letzte Mal vermitteln wollte?

Es waren zwei Botschaften:

1. Auch wenn wir uns mit dem "Entscheiden und Verantworten im Alltag" befassen, müssen wir doch zur Kenntnis nehmen, dass die Wissenschaft sich eingehend mit dem Thema Entscheiden befasst. Wissenschaft bestimmt, direkt oder indirekt, manches in unserem Alltag, und es geht nicht an vor der Wissenschaft einfach die Augen zu schliessen.

 

Die Wissenschaft macht vielfach den Eindruck, ungeheuer kompliziert zu sein. Es scheint oft, sie verwirre mehr als dass sie kläre. Dennoch müssen wir sie ernst nehmen. Denn es sind manche kluge Köpfe, die untersuchen, was uns gewöhnliche Bürger bewegt. Dass das, was sie schreiben, in unseren Ohren meist unverständlich klingt, spricht nicht gegen die Wissenschaft. Es spricht nur gegen die einzelnen Forscher und Denker, die, wie so viele Menschen,. zuerst einmal ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. Das Hauptinteresse dabei ist das Bestehen im wissenschaftlichen Wettbewerb. Sie kennen die. Devise: "Publish or perish".

 

2. Ich habe wohl zuwenig herausgestrichen, was das wichtigste Ergebnis der Entscheidungstheorie für uns ist. Es ist ein erstaunliches Ergebnis, nämlich:

Je nachdem, was wir für eine Entscheidungsregel befolgen, ist eine andere Handlungsalternative optimal.

Oder umgekehrt:

Jede Alternative, wie wir handeln können, ist in einer bestimmter Hinsicht optimal. Es kommt ganz einfach darauf an, was wir erreichen wollen.

 

Was bedeutet das? Es sind nicht die Umstände, sondern die Ziele, welche die "beste Lösung" in einer Entscheidungssituation bestimmen. Die Entscheidungsregeln werden ja durch die Ziele definiert, und diese Ziele können ganz verschieden sein.

 

Vom Bedauern, Ziele nicht erreicht zu haben

 

Ziel kann man auf zwei Arten unterscheiden: formal und inhaltlich. Formal gibt es vier unterschiedliche Ziele:

1. etwas soll einen festen Betrag erreichen

2. etwas soll einen Mindestbetrag erreichen

3. etwas soll möglichst gross werden

4. etwas soll möglichst gering gehalten werden.

 

Was einen bestimmten Betrag erreichen soll, ist in der Entscheidungstheorie meist etwas Finanzielles. Im Vordergrund steht üblicherweise der Gewinn. Man kann sagen, das Gewinndenken hat uns verhext. Ob im unternehmerischen Geschehen, ob im Privatleben, wir fragen viel zuviel: "Was bringt’s?"

 

In der heutigen gesellschaftlichen und ökologischen Lage sollten wir aber versuchen, die Optik umzukehren, und nach den Verlusten Ausschau halten. Unser Bestreben sollte sein, nicht den Gewinn zu maximieren, sondern das Bedauern zu minimieren. Wir haben gehört, dass es dafür auch in der Entscheidungstheorie eine Regel gibt. Einer der ersten, der dies gefordert hat, war ein Schweizer, Prof. Walter Adolf Jöhr. Er war vor etwa 40 Jahren der höchste Mann im Verwaltungsrat der Schweizerischen Kreditanstalt.

 

Das Bedauern lässt sich mathematisch fassen. Es ist die Differenz zwischen dem grösstmöglichen und dem kleinsten Gewinn. Das ist also noch gar nicht psychologisch. Psychologisch ist das Bedauern, wenn wir sehen, was uns durch die Wahl einer Handlungsalternative entgangen ist.

 

Ich habe schon ganz am Anfang dieses Kurses betont, dass eine Entscheidung für eine Möglichkeit immer die Vernichtung von andern Möglichkeiten bedeutet. Und diese Vernichtung beachten, heisst sich mit dem echten Bedauern befassen. Das führt von der Psychologie rasch zur Philosophie. Deshalb müssen wir noch einige Klärungen vornehmen.

 

Der Basler Mathematiker Daniel Bernoulli hat vor 250 Jahren die Nutzenfunktion in die Entscheidungstheorie eingeführt. Was ist eigentlich dieser Nutzen? Es ist ganz einfach der Beitrag, den eine Handlung zur Erreichung eines Zieles leistet. Dazu müssen wir die Ziele inhaltlich bestimmen.

 

Inhaltliche Ziele

 

Im realen Leben der Menschen gab es nie nur ein Ziel. Zwar hatten die Philosophen im alten Griechenland versucht, ein einziges Ziel aufzustellen: die "eudaimonia", die Glückseligkeit oder genauer: das geglückte Dasein, aber das war zu abstrakt, und dieses eine Ziel musste in andere Ziele unterteilt werden. Als Leitidee hat sich freilich das Glück bis heute durchgehalten. Wiederbelebt wurde das Glücksstreben besonders in der Aufklärung, im 18. Jahrhundert also.

 

Das lässt sich schön an der Entstehung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 zeigen. Fast hundert Jahre zuvor, 1690, hatte der Philosoph John Locke drei höchste menschliche Werte aufgestellt:

·        Leben, Freiheit und Eigentum.

 

Sie müssen vom Staat geschützt und vom einzelnen verteidigt werden. Zwar hat auch schon Locke - und vor ihm Thomas Hobbes, 1650 - das Glück als Ziel des menschlichen Begehrens gesehen, doch erst in der französischen Aufklärung wurde Glück zum beherrschenden Thema. Zwei Genfer beteiligten sich an der Diskussion: Jean Jacques Bourlamaqui und Jean Jacques Rousseau. Als es dann in den 1770er Jahren um die Formulierung der Unabhängigkeitserklärung der USA ging, griff einer der Autoren, Thomas Jefferson, auf Bourlamaqui zurück und änderte die Formel von John Locke um, auf:

·        life, liberty and the pursuit of happiness.

 

Manche Mitglieder der amerikanischen Gründerväter und der verfassunggebenden Versammlung der 1780er Jahre waren Freimaurer. Die Freimaurer waren eine der wichtigsten Gesellschaften in der Aufklärungszeit. Sie hatten eine eigene Dreiheit von Werten aufgestellt:

·        Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

 

Wir kennen diese Formel aus der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789. Sie bildet auch den Titel für Artikel 1 der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", welche die Generalversammlung der UNO 1948 verkündet hat. In der Präambel ist  die Rede von

·        Freiheit, Gerechtigkeit und Friede.

 

Damit haben wir bereits acht verschiedene Ziele des Menschen. Wenn wir sie hoch achten, sind es Werte, wenn wir sie vom Staat geschützt haben wollen, sind es Rechte.

 

Das sind alles hohe Ziele. Es gibt ähnliche Dreiheiten aus der Verhaltenswissenschaft, beispielsweise

·        Überleben, Entwicklung, Entfaltung.

 

Auch diese Ziele sind ebenso umfassend wie allgemein.

 

Es gibt unterschiedliche persönliche Ziele

 

Wenn wir uns ein bisschen in die Niederungen des menschlichen Alltagslebens hinunterbegeben, was finden wir denn da an Inhalten?

 

Man kann die konkreten Ziele des Menschen in vier Gruppen zusammenfassen:

  • materielle/ finanzielle
  • körperliche/ sinnliche
  • seelische/ geistige und

·    moralische/ soziale.

 

Ich habe einige Beispiele zusammengestellt. Es gibt auch andere Zusammenstellungen. Es gibt ferner ähnliche Zusammenstellungen, die unter dem Titel "Bedürfnisse des Menschen" stehen. Das ist gar nicht so verwunderlich, weil Bedürfnisse ja auf etwas gerichtet sind. Da kommt es eben auf die Blickrichtung an, ob man eher auf die sog. Triebkräfte des Menschen schaut, oder dorthin, wohin er strebt.

 

Wichtig ist zweierlei:

l. Es gibt verschiedene Arten von Zielen. Einen Haufen Geld zu haben, auf einer Reise romantische Schlösser zu besichtigen und Leute herumkommandieren zu können, ist nicht dasselbe.

2. Die verschiedenen Arten von Zielen hängen aber untereinander zusammen. Geld in den Händen zu halten, kann körperliche oder auch seelische Befriedigung geben. Macht kann mit Geld oder mit Fitness oder mit Können zusammenhängen.

 

Wenn die Ziele klar definiert sind, ist es leicht, den Beitrag einer Handlung zur Erreichung eines Ziels, also den Nutzen, zu bestimmen. Aber vielfach sind unsere persönlichen Ziele gar nicht so klar. Sie sind häufig so vage wie die "allgemeinen Menschenrechte". Sie lauten etwa: "Ich möchte tun, was mir Spass macht", oder: "Ich möchte glücklich sein".

 

Wenn das Ziel derart allgemein ist, dann fällt es schwer, den Nutzen von Handlungen zu bestimmen. Auch von daher ist vielleicht eine Umdrehung der Optik empfehlenswert. Ich kann mich fragen: "Was verliere ich, wenn ich dies oder das tue?" Und wenn wir unseren Horizont etwas über die eigene Nase hinaus ausweiten, dann können wir auch fragen: "Was verlieren die andern, wenn ich dies oder das tue?"

 

Führen viele Wege nach Rom?

 

Ein weiterer Punkt ist, ob es überhaupt viele verschiedene Alternativen gibt, ein Ziel zu erreichen. Zwar sagen wir im Alltag: "Viele Wege führen nach Rom", doch wenn wir unseren Alltag genau betrachten, beruhen die allermeisten Entscheidungen auf der Frage: "Soll ich, oder soll ich nicht?"

 

Denken Sie an die Beispiele aus unseren früheren Stunden: Soll ich aufs Trottoir fahren, soll ich den Zigarettenstummel auf den Boden werden, soll ich Kinder schlagen, ein Grundstück in Florida kaufen, usw.? Wenn wir nicht einfach einem Impuls nachgeben oder gewohnheitsmässig handeln, dann lautet die Frage schlicht: "Ja oder Nein?". Sagen wir "Nein", dann erst stellt sich uns eine Aufgabe, nämlich Alternativen zu finden.

 

Die vielen Wege, die nach Rom führen, tauchen vor unserem geistigen Auge also erst auf, wenn wir uns einen Ruck geben und uns fragen: "Was tue ich eigentlich?" Ein richtiger Entscheidungsprozess ist also mehrstufig. Leben wir einfach in den Tag hinein, dann stehen wir gar nicht so häufig vor Entscheidungen. Alles scheint uns mehr oder weniger klar, weil wir einfach draufloswursteln. Nur wenn uns mit der Zeit ein Unbehagen ergreift oder wenn wir von aussen her einen Anstoss erhalten, dann sagen wir uns: "Hoppla".

 

„Einmal heisst: immer wieder“

 

Das heisst auch: Im allgemeinen stehen wir nicht plötzlich vor einer Entscheidung. Vielfach manövrieren wir uns im Lauf der Zeit erst in Entscheidungssituationen hinein, beispielsweise in Partnerschaften respektive Dreiecksverhältnisse, oder im Berufsleben. Wie häufig lassen wir es einfach "darauf ankommen" und denken: "Es wird schon gut gehen".

 

Streng genommen sind wir also am Entscheidungsstress selber schuld. Wir haben das Überlegen und Abwägen so lange verpasst, bis es brenzlig wird oder uns jemand unsanft aufrüttelt.

 

Was hätten wir denn tun sollen? Die Antwort ist einfach: Beim ersten Mal, als wir eine neue Handlung ausführten, hätten wir überlegen sollen. Es gibt fast immer ein erstes Mal. Und diese Volksweisheit ist fatal: "Einmal ist keinmal". Psychologisch gesehen gilt nämlich: "Einmal heisst: immer wieder“.

 

Das hängt mit der Lernfähigkeit zusammen. Schon vor der Jahrhundertwende entdeckte ein amerikanischer Forscher das Erfolgsgesetz: Wir lernen am Erfolg. D. h. hat eine Handlung Erfolg, wird sie bald wiederholt. Das gilt auch für unerlaubte Handlungen, wenn sie nicht bestraft werden. Wenn es die andern nicht merken oder nicht sehen oder nicht darauf reagieren, ist das ein Erfolgserlebnis, das zum Ergebnis des Handelns noch dazukommt. Das fängt schon im zarten Kindesalter an. Und bei Erwachsenen ist es nicht anders.

 

Wenn sich aber allerlei schon auf diese Weise eingeschliffen hat, was dann? Dann können wir uns eben den berühmten Ruck geben und sagen: „Halt, so geht es nicht weiter!" Wenn wir soweit sind, kommt uns ein ganz probates Mittel zu Hilfe: das Gewissen.

 

Das Gewissen

 

Das Gewissen ist für manche Menschen heutzutage etwas fürchterlich Altmodisches. Ein Relikt aus alten Zeiten, etwa wie das Krokodilhirn in unserem Kopf. Aber, auch wenn es uns nicht gefällt: Wir haben sehr "alte" Teile in unserem Gehirn und wir haben auch ein Gewissen.

Sogar im ersten Artikel der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der UNO wird es erwähnt. Vertreter von mehr als 50 Nationen der Erde stimmten nämlich folgenden Sätzen zu:

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen."

 

Vernunft und Gewissen haben damit auch politische Anerkennung gefunden. Dass nicht alles, was anerkannt ist, auch praktiziert wird, ist bedauerlich.

 

Das Gewissen ist schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte entdeckt worden. J. H. Breasted schrieb 1933 ein ganzes Buch über "Die Geburt des Gewissens". Wo und wann war das? Bei den Alten Ägyptern etwa vor 4500 Jahren. Also zur selben Zeit wie die vier Gebote, die wir schon kennen. Die vier Gebote

·        Ehrfurcht,

  •   Hinhören,
  •   Rechtschaffenheit und

·        Güte

hangen selbstverständlich mit dem Gewissen zusammen. Sie sind ein Ausdruck desselben. Breasted sieht das Gewissen bei den Alten Ägyptern als soziale Macht einerseits, als Bestandteil der Persönlichkeit, des individuellen Charakters anderseits. Das rührt davon her, dass der Mensch eben nicht ein isoliertes Wesen, sondern als Person auch ein soziales Wesen ist.

 

Schon die Alten Ägypter sahen, was dann Sigmund Freud nach 1900 wieder betonte, dass das Gewissen die Frucht der menschlichen Gemeinschaft, insbesondere der Familie ist. Vor allem durch die elterliche Erziehung wird das Gewissen gebildet, von Freud Über-Ich genannt. So richtig warm wurde Freud jedoch nicht damit. Auch seine Nachfolger widmeten sich dem Gewissen eher unwillig. Das Gewissen ist als seelische Instanz wie als Thema lästig. Es steht dem „Es“, den Triebwünschen, entgegen.

 

Nun kommt noch etwas dazu. Fast alle Dinge haben zwei Seiten. So auch das Gewissen. Es ist nicht nur eine von aussen in die Seele hineingenommene Autorität, sondern auch etwas im Innern selbst angelegte Sache. Schon bei den Alten Griechen, etwa bei Sokrates, ist das Gewissen eine Art "innere Stimme", die zum Menschen spricht, und zwar immer vor Entscheidungen und stet im Sinne des Abratens von einer bestimmten Handlung.

„Gewissen (syneidesis, conscientia) ist das subjektive - gefühlsmässige oder deutliche - Bewusstsein des Rechten oder Unrechten, Seinsollenden oder Nichtseinsollenden, Guten oder Bösen, zu Tuenden oder zu Unterlassenden. Es tritt vor der Tat mahnend, ratend oder warnend, abhaltend auf und folgt der Tat billigend oder missbilligend (Gewissensbiss).

Das G. ist eine Reaktion der sittlichen Persönlichkeit gegenüber dem Wollen und Handeln im einzelnen; es ist ein Niederschlag sozialer Wertungen und Forderungen, die der Persönlichkeit einverleibt sind, die Stimme des Gesamtgeistes, die im einzelnen sich geltend macht, wobei aber zuweilen die sittliche Persönlichkeit in eigenartiger, neuer, feinerer Weise, als das soziale Gewissen es einschliesst, wertet und urteilt.

Das G. ist sozial erworben und wirkt dann auf den Gesamtgeist zurück, geht oft über die historisch gewordene Moral hinaus. Angeboren ist nicht das G. selbst, sondern nur eine gewisse Disposition zur Gewissenhaftigkeit.

Auch ist das G. keineswegs unfehlbar; ein „gutes" G. muss noch nicht ein objektiv richtig urteilendes G. sein.“

(Eislers Handwörterbuch der Philosophie, 1922, 252-253)

 

Diese Auffassung ist dann in den christlichen Glauben eingeflossen. Darüber gibt es unzählige Abhandlungen. Festhalten wollen wir hier nur, dass das Gewissen in dieser Sicht ein "unmittelbares Bewusstsein des Guten und Bösen" ist, das der Mensch auch nach Adams Sündenfall nicht verloren hat (siehe Eislers Handwörterbuch der Philosophie, 1922, 649, Stichwort „Synteresis“).

 

Bei Thomas von Aquin ist es ein Vernunfturteil über das Rechte und Unrechte, das dem Menschen von Gott eingepflanzt worden ist; bei den Mystikern, etwa bei Meister Eckart, ist es ein "Fünklein" der Seele, das gegen das Schlechte aufbegehrt und zum Guten antreibt.

 

Gewissen und Verantwortung

 

Wie die am Anfang dieser Stunde angeführten hehren Ziele ist auch das Gewissen eines der interessantesten Phänomene des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Und auch hierbei ist nicht so wichtig herauszufinden, was es genau ist, als vielmehr überhaupt darüber nachzudenken. Nicht umsonst sprechen wir von Gewissenserforschung, die der Mensch betreiben sollte.

 

Wo finden wir das Gewissen? Da können wir erneut auf die Alten Ägypter zurückgreifen. Sie wussten bereits, dass das Gehirn der Sitz des Bewusstseins und der motorischen Kontrollen ist. Doch der Ort des Gewissens war für sie das Herz. Im Herzen war für sie der eigentliche Sitze des Lebens, der Seele, des Denkens, des Verstehens und der Vernunft. Sie unterschieden nicht so streng wie wir nach physiologischen Funktionen; bei ihnen gehörte alles viel enger zusammen. Gewissenserforschung bedeutet demnach: Tief in sich hineinhorchen.

 

Das eben erwähnte "Zusammen" kommt auch in den Bezeichnungen für Gewissen bei den Alten Griechen und Römern zum Ausdruck. Beide Völker hatten für Gewissen und Bewusstsein dasselbe Wort, und dieses Wort enthielt die Silbe „zusammen“: gr. syneidesis (syn = zusammen), lat. conscientia (con = zusammen).

 

Erinnern Sie sich noch an meine Definition von Verantwortung? Zusammenhänge beachten. Und genau dies heisst syneidesis: Zusammenschau. Die Verantwortung ist also nicht weit vom Gewissen entfernt. Wenn das Gewissen in der Auseinandersetzung mit uns selber und unserer Umwelt entsteht - wie die Psychologie sagt - und wenn es in uns als göttlicher Funke immer schon angelegt ist, dann zeigt es uns, wenn wir auf es hören: Zusammenhänge. Nehmen wir diese Zusammenhänge ernst, können wir Verantwortung tragen.

 

Das Gewissen wirkt in die Zukunft wie in die Vergangenheit.

Im bereits zitierten philosophischen Wörterbuch heisst es:

"Es tritt vor der Tat mahnend, ratend oder warnend, abhaltend auf und folgt der Tat billigend oder missbilligend (Gewissensbisse)".

 

Diese Gewissensbisse werden häufig negativ erlebt und negativ bewertet. Das muss nicht sein. Gewissensbisse bieten nämlich auch Anstösse, genau die Anstösse, von denen ich vorher gesprochen habe, Anstösse zu sagen: "Halt, jetzt muss etwas anders werden!"

 


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