Der mündige Mensch
Manuskript für einen Volkshochschulkurs „Entscheiden und Verantworten im Alltag“, Sommer 1987 13.7.1987
siehe auch: Der mündige Mensch- Stichworte
Die letzte Viertelstunde am vergangenen Montag - mit unserer Reise nach Rom - hat einige Fragen gebracht, die uns gerade zum heutigen Thema führen:
1. Müssen wir
eigentlich all das machen, was wir meinen, wir müssten es?
2. Studieren wir nicht
zuviel den Mitteln nach statt den Zielen?
3. Verwechseln wir nicht
häufig Absicht mit Ziel?
4. Müssen wir überhaupt
an ein Ziel kommen?
5. Nach welchen Regeln
wählen wir eigentlich die Ziele aus?
Das sind Fragen, die von mündigen Menschen gestellt werden.
Die Bildungsaufgabe der Eltern
Was ist ein mündiger Mensch? Denken Sie an die ursprüngliche Bedeutung Es ist einer, der aus einer notwendigen Phase der Abhängigkeit herausgewachsen ist, auf eigenen Füssen steht und nun sein Leben, sein Denken und Handeln selbst in die Hand nimmt. Ich sage: Vorher war er in einer notwendigen Abhängigkeit. Sie ist auch beim Menschen biologisch bedingt. Das Kleinkind ist von der Mutter oder einer anderen Bezugsperson abhängig. Es bedarf, wie ein Ausdruck der Biologie lautet, der Brutpflege. Es muss aufgezogen werden. Beim Menschen nennen wir das bald einmal Erziehung. Der junge Mensch bedarf der Erziehung. Ja er hat ein Recht darauf. In der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der UNO von 1948 heisst es etwas allgemeiner (Art. 26): "Jeder Mensch hat Recht auf Bildung." Nun fällt Bildung nicht einfach vom Himmel. Es muss jemand da sein, der den andern bildet. Eltern haben also eine Bildungsaufgabe gegenüber ihren Kindern, sie müssen Menschenbildung leisten.
Der noch nicht mündige junge Mensch muss also zweierlei von andern erfahren: - in biologischer Sprache Brutpflege - in vornehmer humanistischer Sprache Bildung.
Im deutschen Grundgesetz von 1949 heisst es deutlich (Art. 6.2): "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."
Vier Gründe stecken dahinter: - die physische, materielle und finanzielle Abhängigkeit des Kindes von den Eltern; - die für später zu erwartende Notwendigkeit, dass der dannzumal "erwachsene" Mensch selber Pflege- und Bildungsaufgaben gegenüber jüngeren, abhängigen wahrnehmen muss; - solche Pflege- und Bildungsaufgaben im Sinne von sorgfältiger und aktiver Gestaltung gibt es auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft überhaupt sowie gegenüber allem, was Menschen schaffen; - und schliesslich erstrecken sich die Aufgaben auch auf Pflege und Bildung dessen, was der Mensch nicht geschaffen hat, der Natur.
Der tiefere Grund für alle vier Gründe liegt darin, dass der Mensch ein biologisches, ein soziales und ein kulturelles Wesen ist. Und das bedeutet ein Doppeltes: abhängig sein und Aufgaben erfüllen müssen.
Die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“
Nun ist der Mensch aber auch ein personales Wesen. Es ist anzunehmen, dass er sich als eigenständige Person entwickeln und behaupten möchte, und er hat auch ein Recht auf die "freie Entfaltung der Persönlichkeit". Diese Formel kommt in der'' Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ dreimal vor.
Diese volle und freie Persönlichkeitsentfaltung findet aber nach dem bisher Gesagten nicht im leeren Raum statt, sondern im biologischen und soziokulturellen Rahmen. Und das sind einerseits die Abhängigkeiten, Umwelt- und Bildungseinflüsse, anderseits das Recht und die Ansprüche der andern Menschen auf ihre Persönlichkeitsentfaltung. In der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" wird diese Verschränkung in einem einzigen Artikel (29) sehr schön zusammengefasst: „1. Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist. 2. Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschliesslich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.“
Besonders deutlich wird dies den jungen Menschen in der Pubertät bewusst. Deshalb ist dies eine enorm wichtige Zeit im Leben. Merkwürdigerweise wird das Wort Pubertät heute nicht mehr häufig verwendet In der Zeitung werden schon 16jährige Mädchen als Frauen bezeichnet. Möglicherweise schieben die Erwachsenen damit ihre Pflicht beiseite, den Pubertierenden Beistand zu leisten. Vielfach haben sie sich ja schon gegenüber jüngeren Kindern um Pflege und Bildung gedrückt, und gegenüber Pubertierenden tun sie es noch mehr.
Wir könnten lange darüber lamentieren. Das habe ich für Sie im stillen Kämmerlein bereits gemacht. Lamentieren ist nämlich ein guter Ansatz für Problemlösungen, wenn man sich dabei fragt: "Warum ist es so herausgekommen?" Die nüchterne wie phantasievolle Suche nach Ursachen gibt meist Hinweise auf die Lösung. Was ist bei meiner Ursachenforschung herausgekommen? Ich habe es schon mehrmals erwähnt, das Verständnis für Zusammenhänge, speziell für solche, wie ich sie eben geschildert habe, ist vielerorts verloren gegangen. Daher nehmen Eltern ihre Verantwortung nicht mehr wahr. Wenn sie nun selber schon in ihrer Jugend nicht die richtige Bildung erfuhren, dann müssten sie sich eben der Erwachsenenbildung unterziehen. Die Volkshochschule bietet dazu einen Beitrag.
Der „mündige Mensch“
Zurück zu den jungen Menschen! In der Pubertät erkennen sie unter anderem, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Sie fangen an zu kritisieren. Zweitens spüren sie gewaltige biologische Triebe wirksam werden, die sie irgendwie im Zaum halten möchten. Doch gerade wegen der Kritik an sozialen Institutionen, Ritualen und Regeln ist das schwer. Es kommt zu Konflikten aller Art. Was sollte im Idealfall aus diesen Konflikten herauswachsen? Ein mündiger Mensch.
Was. zeichnet diesen aus? Das Wissen um die delikate Balance zwischen eigenen Ansprüchen und denjenigen anderer, ein Wechselspiel zwischen Selbstkritik und Kritik an anderen, zwischen Rechten und Pflichten, Geboten und Verboten, kurz: ein Einblick in Polaritäten und Paradoxien, in das nie abgeschlossene Pendeln zwischen Anpassung und Auflehnung, Streben nach Verbesserung und Einsicht in die Fehlbarkeit alles Menschlichen.
Der mündige Mensch ist also einerseits ein aktiv zupackender, anderseits ein philosophischer Mensch.
Und nun komme ich zu den eingangs gestellten fünf Fragen zurück. Wir hatten uns ja am letzten Montag auf der "untersten" Ebene, derjenigen der Regeln, bewegt. Wichtig dabei waren: Einteilung des Problemlösungsprozesses in Phasen, Beachtung all der unterschiedlichen Bestandteile oder Elemente, Beizug von Hilfsmitteln oder Methoden. Wir haben uns diese etwas genauer angesehen und entdeckt - genauer: Sie haben es entdeckt -, dass dabei wichtige Fragen nicht gelöst sind, insbesondere Fragen nach den Zielen und Absichten. Wir müssen also wieder in höhere Ebenen aufsteigen.
Mit einem etwas gewagten Vergleich können wir sagen: Mit dem Aufenthalt in der untersten Ebene verbleiben wir im Kindesalter und in der Pubertät; mündig werden heisst, daraus herauswachsen und in höhere Ebenen vorstossen. Was sind das für Ebenen? Wir kennen sie längst: - Metaregeln, - Lebenskunst, - Lebensweisheit. Was ich vorher über den mündigen Menschen berichtet habe, gehört zur Lebensweisheit.
Vorstellungen und Methoden
Von der untersten Ebene nehmen wir aber etwas mit, nämlich Modelle und Methoden. Was heisst das? Ich habe das letzte Mal den Begriff "abstrakte Schemata" gebraucht. Sie gehören zu den Modellen. Die Phaseneinteilung von Vorgängen, die 4er Schemata, die Bilder des Januskopfs, der gespaltenen Zunge, der Waage, der Bühne und der Brille - all dies sind Modelle, d. h. Vorstellungen, die wir bilden, um etwas besser verstehen zu können.
Methoden habe ich ebenfalls kurz skizziert: Negation mit nachfolgender Konstruktion ist eine, Analogien suchen eine andere, die Optik verändern, W-Fragen stellen, 4er Schemata zeichnen, all das sind Methoden.
Unklare Ziele und Absichten
Der mündige Mensch nimmt also Modelle und Methoden mit, und dazu das Wissen, dass diese vielfach nicht ausreichen, ein Problem zu lösen. Denn oft sind die Ziele unklar oder die Absichten.
Zum Unterschied zwischen Ziel und Absicht. Wir bleiben beim Ferien-Bild: Rom oder Babylon sind Ziele. Die Absicht verbindet den gegenwärtigen Ort mit dem Ziel, also ganz banal: Absicht heisst: Mit dem Ziel vor Augen dorthin gelangen zu wollen. Nun kann die Absicht aber auch lauten: Velo fahren (statt Auto oder Zug) oder: Kunstgenuss, gutes Essen, oder pauschal: etwas Erleben. Dann aber fehlt das Ziel.
Warum verwechseln wir oft Ziel mit Absicht? Weil wir eben meist nur das eine haben: - Wir haben ein Ziel, aber es fehlt die beharrliche Absicht, der Einsatz, die hartnäckige Anstrengung, es auch erreichen zu wollen. - Oder wir haben eine heftige Absicht, beispielsweise, das Leben zu geniessen, es schön zu haben, aber kein klares Ziel.
Das sehen wir auch in der Politik: In manchen Parteiprogrammen werden schöne Ziele skizziert, aber es fehlt der Wille, sie zu erreichen. Dafür haben Politiker Absichten: z. B. Macht zu gewinnen und zu vergrössern, Ansehen zu gewinnen, Geld und Besitz zu erwerben. Das sind keine Ziele, denn sie sind nicht definiert.
Ein Beispiel: An einem bestimmten Zeitpunkt in Rom zu sein, ist ein definiertes Ziel. 1995 dieselbe Schadstoffbelastung der Luft wie 1950 (oder 1960) zu haben, ist ein Ziel. Aber im letzteren Fall fehlt, so scheint es wenigstens, die Absicht, es zu erreichen.
Es fehlt also immer etwas. Ich vermute, es seien weniger die Absichten als die Ziele. Ziele aber sind wichtig, weil sich daraus die Bewertungskriterien für unser Tun ergeben. Am Ziel kann ich bemessen, ob mein Tun mich diesem Ziel näher bringt, einen Nutzen hat. Was aber, wenn ich nur eine Absicht habe? Ein gutes Essen kann ich noch ohne Ziel beurteilen. Beim Velofahr-Erlebnis und beim Kunstgenuss ist es schon schwieriger. Ich muss nämlich vorher eine interessante Landschaft (also ein Zielgebiet) oder eine Stadt mit vielen Museen und Kirchen auswählen, also ein Ziel suchen. Und anhand dieses Zieles - für den Kunstgenuss etwa Florenz oder Rom, Paris, Madrid, London, St. Petersburg - kann ich dann Vorbereitungen treffen, beispielsweise Kunstführer und Bildbände studieren. Das erhöht mit grösster Wahrscheinlichkeit meinen künftigen Kunstgenuss. Ich weiss, was ich ansehen möchte, ich habe eine Beziehung zu einigen Bildern und Künstlern erarbeitet. Beim Velofahren ist es ähnlich: Wenn ich mich körperlich vorbereitet habe, fällt mir das Strampeln leichter; wenn ich mich geistig vorbereitet habe, erlebe ich mehr. Wenn ich z. B. weiss: Hier ist Leonardo da Vinci aufgewachsen, da Franz von Assisi durchgepilgert, dort drüben spielte sich die bekannte Familientragödie ab, daneben wohnte einst der und der, hier wächst der Wein, den ich zu Hause trinke, dann bereichert das wohl mein Erleben.
Übertragen wir das nun auf grössere Ziele im menschlichen Leben.
Was sind „echte“ Ziele?
Was kann denn der Mensch für echte Ziele haben? Sie erinnern sich, dass ich einst eine kleine Tabelle gezeichnet habe mit vier Arten von Zielen: materielle/ finanzielle: z. B. Besitz und Gewinn körperliche/ sinnliche: z. B. Gesundheit und Lust seelische/ geistige: z. B. Freude, Wissen und Können moralische/ soziale: z. B. Rechtschaffenheit und Autorität.
Ich habe schon damals gesagt, diese Ziele könnten in umgekehrter Sichtweise auch als Bedürfnisse gefasst werden. Jetzt können wir noch weiter gehen und sagen, sie sind "weder noch", es sind bloss Absichten.
Diese Einsicht zeichnet den mündigen Menschen aus. Was aber wären nun echte Ziele? C. G. Jung hat ein solches genannt: das Selbst. Das Selbst ist der ganze Mensch. Die Absicht heisst Selbstverwirklichung. Der Weg geht über die Entdeckung, Anerkennung und Handhabung der gegengeschlechtlichen und der dunklen Seiten in uns. Das Ziel ist nicht erreichbar, aber wir können es vor Augen haben. Es richtet unser Überlegen und Handeln aus. Das Selbst ist das Ziel des Menschen als personales Wesen.
Was wäre das Ziel des Menschen als soziales Wesen? Die Gemeinschaft.
Als Bild hiefür können wir uns eine Art vergrössertes "Selbst" denken. Es umfasst die ganze Menschheit mit ihren zwei Geschlechtern und ihren Schattenseiten. Die Absicht wäre: Gemeinschaft zu verwirklichen, der Weg dazu: Auseinandersetzung und Zusammenarbeit.
Gibt es noch ein höheres Ziel? Ja. Für den Menschen als Kulturwesen ist es die Schöpfung. Was heisst: die Schöpfung verwirklichen? Auch hier ginge es darum, die Polarität Natur-Kultur sowie die Schattenseiten beider zu erkennen, zu ertragen und zu gestalten.
Und der Mensch als biologisches Wesen? Da ist das Ziel: Leben. Es ist nicht die Absicht. Leben als Ziel heisst: Wahrnehmen und beobachten, aufnehmen und verarbeiten, reagieren und aktiv sein können. Es bedeutet nicht: in den Tag hineinleben, vegetieren.
Vier Fragen
Ist das alles nicht blauäugig, also viel zu schön, um wahr zu sein? Nein, denn wir haben ja gesagt, dass ein Ziel unseren Bemühungen eine Richtung gibt, auch wenn wir es nie erreichen oder nicht erreichen können. Und es ist auch eine Richtschnur. Wir können das, was wir tun daran bemessen. Die vier Fragen die sich daraus an unser Tun ergeben lauten:
Diese Fragen klingen hart. Sie werden selten in solcher Schärfe gestellt. Aber sie stecken hinter vielen Forderungen, denen wir in den Massenmedien und in Fachliteratur oft begegnen. Ich nenne nur zwei: "Umweltschutz" ist eine Formel, die weitherum gebraucht werden darf. Wissenschafter fordern, dass der Arbeitsplatz "persönlichkeitsfördernd" gestaltet werde.
Zum mindesten bei grösseren politischen und wirtschaftlichen Projekten sind die vier Fragen zu stellen. Konflikte bei der Beurteilung und Abwägung wird es immer geben, aber die Richtung ist klar. Dass die Konflikte nicht immer optimal gelöst werden, hängt mit den menschlichen Unzulänglichkeiten zusammen, spricht aber jedenfalls nicht gegen die Ziele und die daraus abgeleiteten Kriterien.
Der mündige Mensch denkt nach und ist mutig
Wie sieht das nun aber bei privaten Vorhaben aus, z.B. bei der Ferienreise? Steht Fliegen oder Autofahren in Einklang mit der Schöpfung? Sich diese Frage stellen, bedeutet zumindest einmal, sich Rechenschaft darüber abzugeben, was wir überhaupt tun. Das kann Folgen haben. Nicht, dass wir ganz darauf verzichten sollten, aber das Nachdenken kann zu weiteren Fragen führen: Was zum Teufel haben wir eigentlich in Rom oder gar auf den Seychellen oder Malediven zu suchen? Einfach nur so hinfliegen aus Plausch, d. h. weil es Mode ist? Oder beim Autofahren: Müssen wir unbedingt in einem Tag hinunterrasen, müssen wir überhaupt dorthin? Würden wir nicht mehr erleben beim Wandern im Berner Oberland, Wallis oder Bündnerland? Wir können sogar mit dem Pferdewagen im Jura herumfahren. Ich kann aus eigener Erfahrung berichten: Es ist ein Erlebnis, und Abenteuer stellen sich von selbst ein.
Einmal mehr: Nachdenken schadet nichts, im Gegenteil: Es fördert sogar den Kunstgenuss, das Erleben. Wir können sagen: Der mündige Mensch denkt nach. Und tatsächlich hat das Wort mündig schon vor vielen hundert Jahren nicht nur den juristischen Sinn gehabt, das Erreichen eines bestimmten Alters (majorenne = maior annus), sondern auch die Bedeutung "vernünftig", "mit Verstand".
Die Betrachtung der hohen Ziele bietet dem mündigen Menschen Mass. Mass im doppelten Sinn, - als Massstab, an den wir unser Tun messen können, als Richtschnur; - als "richtige Mitte", als "nie zuviel".
Das goldene Mittelmass wird sogar von der Neurophysiologie gefordert, Optimal für das Wohlbefinden wie für Leistungen ist ein mittleres Aktivitätsniveau, eine mittlere Aktivation zwischen Reizarmut und Überreizung.
Sie erinnern sich, dass ich als Beispiel für die Mitte zwischen Extremen den Mut genannt habe. Auch ihn hat der mündige Mensch nötig. Ich habe den Verdacht, viele Menschen seien in viel zu vielen Dingen feige. Feige, Stellung zu beziehen, das Kind beim Namen zu nennen, zu feige aber auch, um Fehler oder Unwissenheit einzugestehen.
Ich fasse zusammen: Der mündige Mensch verfügt über Modelle und kenn Methoden, hält Mass und hat Mut.
Weitere Auszeichnungen des mündigen Menschen
Diese vielen „M“ reizen zum weiteren Nachdenken: Was müsste der mündige Mensch noch haben? Macht ist gefährlich, sie kann korrumpieren. Aber wie steht es mit Moral, Menschlichkeit, Menschenkenntnis, Motivation?
Zu jeder dieser Auszeichnungen nur ein paar Sätze:
Moral kommt vom lateinischen "mos", "mores", was für das griechische "Ethos" steht, und das bedeutet nicht nur Sitte, sondern auch Sinnesart, Gesinnung, Charakter. „Diese Verdeutschungen sind modern,
sie treffen nicht den ursprünglichen Sinn, der eine kosmische Aura hat.
Ethos bedeutet nämlich Aufenthalt, Ort des Wohnens, den offenen Bezirk, worin
der Mensch lebt, wohnt und sich aufhält. (Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Vorwort des Herausgebers. In Gerd-Klaus Kaltenbrunner (hrsg.): Überleben und Ethik. München: Herder 1976 (Herderbücherei Initiative, Nr. 10), 7-15, Zitat 10-11)
Menschlichkeit ist das Ergebnis der Menschenkenntnis. Dabei muss man nicht nur die andern kennen, sondern auch sich selber. Beides gelingt nicht endgültig. Wer versteht denn schon sich selbst. voll und ganz? Daher zeigt der, der das gemerkt hat auch in der Kritik Verständnis, auch im Stolz über den Erfolg Demut, auch im Übermut Besinnung.
Auch Motivation ist etwas, was uns in Vielem und für vieles mangelt, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Politik. Ich habe erwähnt, dass, wenn ein Ziel vorliegt, oft die ehrliche Absicht nicht vorhanden ist, es zu erreichen. Es fehlt oft, wie wir sagen, am guten Willen. Wir wissen aber auch: "Wo ein Wille ist, da ist ein Weg."
Das führt mich zur allerletzten Frage: Wie steht es mit der Freiheit?
Ich behaupte, und damit nehme ich auf das ganze Thema unseres Kurses Bezug: Entscheiden und verantworten im Alltag heisst, seine Freiheit wahrnehmen. Diese Freiheit bedeutet: unter der Beachtung von Zusammenhängen neue Akzente setzen.
Der grosse Philosoph Fichte, der vor fast 200 Jahren einige Zeit in Zürich lebte und hier Vorlesungen hielt, formuliert: "Freiheit besteht nicht darin, dass ich tun kann, was ich will, sondern dass ich wollen kann, was ich will."
Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved Webmaster by best4web.ch |