Home Fragen zur Wissenschaft

                     als Grundlage der interdisziplinären Arbeit

 

Fortsetzung siehe:    Fragen der interdisziplinären Arbeit

 

Siehe auch:    Ein Lehrstuhl für Methodologie an der ETH Zürich, Juli 1975

 

 

Wenn es stimmt, dass die Systemwissenschaft einerseits eine Orientierungshilfe für interdisziplinäre Arbeit darstellt, anderseits Denkhilfen für das Verständnis komplexer Probleme und Zusammenhänge vermittelt, wenn also diese Wissenschaft sowohl Übersicht und Ganzheitsschau bietet als auch eine methodologische und terminologische Basis für interdisziplinäre Arbeit abgibt, dann gilt es zunächst zu fragen, was denn solche Arbeit sei.

 

Die Frage nach der Wissenschaft

 

Diese Frage verweist allerdings sofort auf eine andere, nämlich diejenige nach der Wissenschaft überhaupt.

Antwort geben, wie auf fast jede Frage, ganze Bibliotheken von Büchern und Aufsätzen. Zwei Schriften fragen sogar ganz direkt in ihrem Titel «Was heisst Wissenschaft?» (Alwin Diemer, 1964, 83 Seiten) resp. «Was ist Wissenschaft?» (Rudolf Wohlgenannt, 1969, 204 Seiten).

 

Beachtenswert ist die kleine Variante: «heisst» und «ist». Schon um diese beiden Wörtchen streiten sich die Philosophen seit Jahrhunderten. Und es sind auch hauptsächlich Philosophen, die sich mit der Frage herumplagen, was eigentlich Wissenschaft sei. So verwundert es nicht, wenn es eine ganze «Richtung» gibt, welche «Philosophie der Wissenschaft», «Wissenschaftsphilosophie», «Wissenschaftstheorie» oder «Philosophy of Science» heisst, wobei diese vier Bezeichnungen nie ganz dasselbe bedeuten.

 

Die «Wissenschaft von der Wissenschaft»

 

Klingt dies schon kompliziert, so wird es noch schlimmer, wenn wir hören, dass es auch eine «Wissenschaft von der Wissenschaft», eine «Science of Science», eine «Wissenschaftsforschung» oder gar «Wissenschaftskritik» gibt. Diese Disziplin oder Richtung ist eben erst im Entstehen. Es geht mit ihr nur langsam vorwärts, weil an ihrem Aufbau nicht nur Philosophen, sondern auch exakte wie unexakte Wissenschafter (oder Wissenschaften) beteiligt sind: Biologen, Psychologen, Soziologen, Historiker, Ökonomen usw. Es ist also eine interdisziplinäre Wissenschaft.

Eines ihrer Geschäfte ist nun gerade, nicht nur die einzelnen Disziplinen, sondern auch das interdisziplinäre Arbeiten zu untersuchen. Dieses rückbezügliche Unterfangen kann durchaus an Münchhausens Versuch erinnern, sich selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. (Karl Kraus hätte es anders gemacht, er hätte ganz einfach den «Phrasensumpf» trocken gelegt.)

 

Abgrenzung, Aufgliederung, Zuordnung, Gruppierung

 

Da es wenig sinnvoll ist, Dutzende von Bänden über Wissenschaftstheorie zu studieren - Rupert Lay führt in seiner fast tausendseitigen «komplexen Wissenschaftstheorie» (1971/73) 666 Titel an - oder abzuwarten, bis die Wissenschaftswissenschaft fundierte Ergebnisse vorlegt, nur um eine Ahnung davon zu erhalten, was Wissenschaft und was interdisziplinäre Arbeit ist, gehen wir von einigen Banalitäten aus, die in Erinnerung zu rufen doch recht fruchtbar sein dürfte.

 

1. Wir sprechen von «der» Wissenschaft etwa im Unterschied zur Kunst oder zur Religion, genauso wie wir von «der» Gesellschaft im Unterschied zur Wirtschaft oder Politik sprechen.

2. Genauso wie es aber auch möglich ist, von bildender und anderer Kunst, Volks- und Gebrauchs-Kunst oder von Aussenpolitik, Landwirtschaftspolitik, Bildungspolitik, usw. zu sprechen, können wir auch von Human- und Naturwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften, Real- und Idealwissenschaften, usw. sprechen.

3. Sind bei den bildenden Künsten weitere Unterteilungen möglich wie Malerei, Plastik, Baukunst, Grafik und Kunstgewerbe oder bei der Bildungspolitik Unterteilungen wie Vorschul-, Volksschul-, Berufsschul-, Gymnasial-, Hochschul- und Erwachsenenbildungs-Politik, so kann man auch die Wissenschaftsgruppen weiter aufgliedern, womit man zu den Disziplinen, Fächern oder Richtungen gelangt.

 

Statt eine schrittweise Aufgliederung zu betreiben, kann man natürlich auch umgekehrt vorgehen und von einzelnen Gebieten wie Musik, Literatur, Tanz. Theater oder Physik, Chemie, Zoologie, Botanik ausgehen und daraus Gruppen bilden und schliesslich zu «Kunst» oder zu «Wissenschaft» vorstossen.

 

Genauso wie die Unterteilungen bleiben jedoch auch die Zusammenfassungen Ermessenssache. Einerseits ist das Bilden von Gruppen oft fragwürdig - was gehört beispielsweise zu den Human-, was zu den Realwissenschaften? -, anderseits ist das Aufteilen oft willkürlich - ist die Mathematik eine Disziplin, aber auch die Infinitesimalrechnung, ist die Medizin ein Fach, aber auch die Anatomie?

Umgekehrt stellt sich oft die Frage: Fallen beispielsweise Parapsychologie, Paramedizin, Publizistik, Pädagogik, Architektur oder Kybernetik unter «Wissenschaft», zählen Volkskunst, Kunstgewerbe oder Design zur «Kunst»?

 

Schliesslich spielt auch die historische Entwicklung eine nicht zu unterschätzende Rolle sowohl für die «Gesamtgebiete» als auch für die Disziplinen oder Gattungen, aber ebensosehr auch für die Unterteilung respektive Einordnung oder Zuordnung.

 

 

(Anfang eines Manuskripts für eine Vorlesung über Interdisziplinarität am INDEL, ETH Zürich, Anfang April 1975;
zusammen mit der viel längeren Fortsetzung erschienen unter dem Titel „ Fragen der interdisziplinären Arbeit“ in „Civitas“, 31. Jg., Nr. 1/2, Oktober 1975, 19-34)

 



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