Home Fragen zu den Wissenschaften

 

Auszüge aus einem Manuskript vom August 1974 (mit Einfügungen aus einem früheren Manuskript)

 

Siehe auch:    Gruppierung von Wissenschaften

                        Disziplinen der Wissenschaft

                        Einteilung der Wissenschaften

 

Siehe auch:    www.bfs.admin.ch   SHIS-Fächerkatalog

                        ISCED

 

 

Inhalt

28 bis 35 Wissenschaften  resp. Bereiche

Was ist X für eine Wissenschaft?

Grundlagenbesinnung

Fast alle Schranken scheinen zu fallen

Die Tragweite der Wissenschaft

Die Anwendung der Methode verändert das Objekt

Die Fragestellung bestimmt die Methode

Die gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft

 

 

Je nach Art und Weise der Unterteilung zählt der Kosmos der Wissenschaften etwa drei bis fünf Dutzend Grundwissenschaften.

 

28 bis 35 Wissenschaften  resp. Bereiche

 

Im "Forschungsbericht" (1973) des Schweizerischen Wissenschaftsrates beispielsweise sind die Empfehlungen nach 34 Wissenschaftsbereichen gegliedert, wobei etwa Ingenieurwissenschaften, Zukunftsforschung, Archäologie, soziale Arbeit und Theologie als in ihrer Eigenständigkeit gleichwertig betrachtet werden.

 

In seiner zweibändigen "Wissenschaftskunde" (1973) bespricht Oskar Holl 28 Wissenschaften, fasst dabei allerdings "Anthropologie, Völker- und Volkskunde“, "Rechts-, Staats- und Politikwissenschaft“ sowie „Betriebs- und Volkswirtschaftslehre“ zusammen; dafür gliedert er nicht wie der Wissenschaftsrat Wissenschaftsforschung, Bauforschung, Ost- und Südostasienforschung, Computerwissenschaft und Biochemie aus; umgekehrt unterscheidet er im Bereich Technik dann 15 Einzelwissenschaften.

 

Holl stützt sich zum grossen Teil auf die vom Werner Schuder herausgegebene "Universitas Litterarum" (Handbuch der Wissenschaftskunde, 1955), in der 30 Wissenschaften abgehandelt werden. Enthält hier etwa die Philologie Sprach- wie Literaturwissenschaft, so sind sowohl Theaterwissenschaft, Kunstwissenschaft und Musikwissenschaft als auch Geologie, Mineralogie/ Petrographie, Paläontologie und Geographie sowie Anthropologie, Völkerkunde und Volkskunde je voneinander getrennt.

 

Finden sich bei Schuder nur die Publizistik und die "Wissenschaft vom Buch", so bei Holl einerseits Buch- und Bibliothekswissenschaft (enthaltend auch "Schrift" und "Dokumentation"), anderseits Kommunikations- oder Informationswissenschaft (worunter Kybernetik, Publizistik, Medienkunde, Nachrichtentechnik und -verarbeitung).

Im "Forschungsbericht" wird schliesslich aufgeteilt in Informatik (Computer-Wissenschaft), Massenkommunikation und Dokumentation.

 

Die systematische Übersicht der "Deutschen Bibliographie" (Frankfurt am Main, ab 1951) - der sich die Nationalbibliographien der Schweiz, der DDR und Österreichs weitgehend angeschlossen haben - teilt endlich die Erscheinungen des Buchhandels in 35 Hauptgruppen auf, worunter sich auch Hauswirtschaft, Sport, Spiel und Unterhaltung sowie Theater, Tanz, Film und Rundfunk befinden.

 

Was ist X für eine Wissenschaft?

 

... Schwierig sind schon so simple Fragen wie; ob Psychologie eine Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaft sei, ob sie quantifizierend oder qualifizierend vorgehe, ob sie primär zum Verständnis des Menschen beitragen solle oder ob ihre praktische Anwendung im Vordergrund stehe usw. Freilich kämpfen manche andern, vor allem die neueren Wissenschaften, die Zwitterwissenschaften wie man sie auch nennen könnte, z. B. die Biophysik, physikalische Chemie, Radio-Astronomie und Psychosomatik, die Morphologie, Meteorologie, Völkerkunde, Mineralogie, Paläontologie, Agronomie ebenfalls mit Selbstdefinitionsproblemen.

 

Sogar bei der Jurisprudenz kann man fragen, ob sie nun eine Geistes-, Gesellschafts-, Staats- oder philosophisch-historische Wissenschaft, eine normative oder beschreibende, eine analytische oder empirische, eine Formal- oder Realwissenschaft, ja eine verstehende oder erklärende Wissenschaft sei, ob sie mehr politisch oder sozial, moralisch oder kulturanthropologisch ausgerichtet sein müsse.

Und etwa "Anthropologie" enthält philosophische, theologische, kulturhistorische, ethnologische, psychologische, medizinische, physiologische, biologische Komponenten.

 

Grundlagenbesinnung

 

... Damit in Zusammenhang steht die Frage nach der Wissenschaft überhaupt. Ist eine Wissenschaft eine Kunst oder Lehre, eine Kunde oder Wissensform, eine Ideologie oder ein Beruf, eine Art des Denkens, eine Weise des Forschens oder Wahrheitssuchens oder eine Methode, Probleme zu bewältigen?

Worin unterscheidet sie sich von den bildenden Künsten, dem Handwerk oder der Technik, worin unterscheidet sich "Wissen" von Überzeugung, Glauben und Meinen, worin Theorie von begründeten Vermutungen und Annahmen, worin reine Wissenschaft von angewandter, praktischer und technischer, worin Ideal- von Real-, Struktur- von Formalwissenschaft, exakte von induktiver, empirischer und experimenteller, worin Human- von Sozial-, Natur- von Geisteswissenschaft, worin die "cultural sciences" (engl.) von den "sciences morales" (frz.), worin schliesslich Architektur von Heilkunde, Jurisprudenz von Elektrotechnik, Linguistik von Geographie, Pharmazie von Mediävistik, Militärwissenschaft von Handelslehre, Ökologie von Hochschulkunde?

 

Solche und viele andere Fragen gehören zur Grundlagenbesinnung-, die jeder Wissenschafter, gleich welchen Fachgebiets, früher oder später auf sich zu nehmen hat, soll er an seinem Tun nicht irre werden - oder wenn er in seiner Arbeit keinen Sinn mehr sieht.

Was ist Wissenschaft und wozu dient sie, was muss, sollte und darf der einzelne Wissenschafter tun, was will und kann er ausrichten?

Wie hängen Theorie, Praxis und Forschung, wie Hochschule , Industrie und Staat zusammen; was vermag ein einzelner Geistesarbeiter unter Millionen, was ein Institut, was eine Arbeitsgruppe, was eine Akademie in Lebensbedingungen, die nicht so sind wie sie sein sollten - und könnten?

Weshalb sind "die Verhältnisse nicht so": Liegt es an der Wissenschaft selbst oder an der Technik, an den wirtschaftlichen Gegebenheiten, liegt es an der Zeit oder den politischen Machtverhältnissen, an Moden und Ideologien, an der Zivilisation überhaupt oder - schlicht und letztlich am Menschen selbst?

 

Fast alle Schranken scheinen zu fallen

 

... Die herkömmliche populäre Formel, dass sich die einzelnen Disziplinen nach Gegenstandsbereich, Erkenntnisziel, Methode, Instrumentarium und Ergebnis, Terminologie und Theoriebildung voneinander abhöben, stimmt nur bedingt. Das hat sich in unserem Jahrhundert [20. Jh.] in zunehmendem Masse gezeigt. Und besonders seit dem Bemühen um interdisziplinäre Zusammenarbeit scheinen fast alle Schranken zu fallen, Unterschiede sich zu vermischen, Einteilungen überflüssig oder gar hinderlich zu werden.

 

Dennoch oder gerade deswegen ist eine nähere Beschäftigung mit den Fragen nach den vielleicht doch vorhandenen Differenzen oder auch den Gemeinsamkeiten, nach den Resultaten, Verfahren, Zwecken und Objekten notwendig. Sie dient, indem sie die Bestimmung des Standorts einer Wissenschaft im Gesamt der Wissenschaften erleichtert, dem Verständnis von Sachen und der Verständigung darüber mit andern Wissenschaften. Ja noch mehr, indem sie auch mithilft, Sinn und Bedeutung, Stellung und Funktion einer Einzelwissenschaft im gesamten Kultur- und Sozialleben der Menschheit wie in der Natur näherungsweise zu umreissen, bildet sie die Grundlage für dir Bildung des gesellschaftlichen Bewusstseins der Notwendigkeit, aber auch der Gefahren der Wissenschaft.

 

... Die Gefahr der "Verwischung von Grenzen" liegt nicht im praktischen, sondern vielmehr im theoretischen Bereich. Sie liegt, wenn man so will, im Gerede von Leuten, die sich der Eigenheiten ihres Fachgebiete oder des Wissenschaftsbetrieben überhaupt nicht bewusst sind. Vielleicht müssten Journalisten und Publizisten, Politiker und Direktoren da etwas mehr Vorsicht walten lassen. Nicht alle Probleme sind für die Öffentlichkeit geeignet, nicht alle auch für Experten einer andern Disziplin. Schliesslich kann man auch in der Chemie über Verbindungen nur Sinnvolles aussagen, wenn man ihre Komponenten, Ihre Zusammensetzung und Eigenschaften präzise kennt.

 

Die Tragweite der Wissenschaft

 

... Solche Überlegungen mit dem schmückenden Beiwort "moralisch" abzutun und deshalb für die tägliche Studien- oder Forschungspraxis als irrelevant zu bewerten, zeugt von wenig Gespür für die "Tragweite der Wissenschaft".

Der Einfluss der Wissenschaft ist heute in allen Lebensbereichen derart dominierend, ihre Ergebnisse verfolgen Mensch und Natur bis in die letzten Erdenwinkel, und die dadurch herbeigeführten Probleme sind so beängstigend an Zahl und Komplexität gewachsen, dass die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindende Arbeit im Labor oder Seminar, in der Bibliothek oder im Feld endgültig der Vergangenheit angehört, handle es sich beim "Objekt" einer Wissenschaft um eine aussterbende Tierart, um politische und ökonomische Entscheidungen oder chemische Gift- und Kunststoffe, um genetische Veränderungen, atomare Kräfte oder miniaturisierte Sender und Empfänger.

 

In den meisten Fällen freilich ist Forschung "an sich" nicht schädlich. Erst die Verwertung der Resultate - von der Unterschlagung über die Propagierung bis zur Anwendung in der technischen Konstruktion und Produktion - birgt Gefahren. Bei den Human-Wissenschaften allerdings bedeutet schon die Forschung einen oft schwerwiegenden Eingriff. Das betrifft etwa Fragen über das Intimverhalten, die Prüfung von Medikamenten an Patienten, Experimente mit Schulklassen und die Beobachtung steinzeitlicher Kulturen.

 

Die Anwendung der Methode verändert das Objekt

 

Im letzten Satz sind gerade die wichtigsten Methoden fast aller Wissenschaften genannt: Fragen,

Beobachten,

Experimentieren,

Prüfen.

Werden diese Methoden in irgendeiner Weise auf den Menschen angewandt, verändert sich der Mensch selbst: Nicht nur der Wissenschafter lernt, sondern auch sein Objekt. Das Objekt wird, ob gewollt oder ungewollt, verändert. Das Wissen um den IQ kann jemanden in seinem Selbstbewusstsein stärken oder schwächen, Beobachtung kann ihn verunsichern oder seine Leistung fördern, ein Experiment kann seine üblichen Verhaltensweisen durcheinanderbringen, Wiederholungen zu Prüfungszwecken können ihn irritieren. Der Mensch als Forschungsobjekt verändert sein Selbstbild wie seine Meinung über die wissenschaftliche Forschung im positiven oder negativen Sinne.

 

Die Fragestellung bestimmt die Methode

 

Das ist längst bekannt, doch tut es gut, sich auch dies stets vor Augen zu halten. Wie steht es nun mit der Behauptung, dass die Methoden dem Gegenstand angemessen sein sollen oder dass gar die Eigenarten des Objekts die Verfahren zu seiner Erforschung vorzeichnen?

Wenn heute je länger je mehr dasselbe Objekt, derselbe Problemkreis von verschiedenen Wissenschaften aus verschiedenen Richtungen angegangen wird, dann muss diese Behauptung dahingehend modifiziert werden, dass weniger der Gegenstand als die darauf bezogene Fragestellung das methodische Vorgehen bestimmt.

 

Gerade diese Fragestellung ist ein zentrales Problem der Wissenschaft. Ist das Fragen Stellen eine Kunst, und wie hängt sie mit Ziel und Ergebnissen der Forschung zusammen?

Wie steht sie zur "Betrachtungsweise" in Beziehung?

Wie ist sie schliesslich mit dem gesellschaftlichen, politischen oder ideologischen Hintergrund des Wissenschafters verbunden?

 

Die gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft

 

Die Frage nach der Fragestellung ist weder für die Selbstdefinition noch für die gesellschaftliche Bedeutung einer Wissenschaft müssig. Wenn etwa in einem gewichtigen Band mit dem Titel "Grundlagen und Methoden der Psychologie" (Autor: Werner Traxel, Verlag: Hans Huber, Bern, 1974) eine Fragestellung lautet: "Wie viele Ziffern können nach einmaligem Hören noch fehlerfrei in derselben Folge nachgesprochen werden", so kann man sofort etwa folgende Fragen anbringen:

  • Ist das, was mit dieser Fragestellung erforscht werden soll - nämlich die "Gedächtnisspanne" -, tatsächlich ein psychologisches Phänomen und nicht eher ein physiologisches, biochemisches oder was auch immer?
  • Zweitens: Sind Hören und Nachsprechen derart einfache Vorgänge, dass auf ihre Untersuchung verzichtet werden kann?
  • Drittens: Ist die Fragestellung überhaupt von irgendwelchem Interesse, das über blosse Forscherneugierde hinausgeht, das heisst, lassen sich damit irgendwelche für die Wissenschaft oder die Gesellschaft bedeutsame Ergebnisse erzielen?

 


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