Zur Geschichte der Wissenschaft
mit Schwergewicht auf Mathematik, Experiment und Naturwissenschaften
Ein Brief, 28.- 31. März 1973
Lieber Herr Professor,
wir haben gestern Abend über das Experiment und die Naturwissenschaften gesprochen. Das Experiment ist es, was primär über die Richtigkeit einer Theorie entscheidet. Gelingt es, die von der Theorie vorhergesagten Ergebnisse in einer Versuchsanordnung zu erzeugen, gilt die Theorie als bewiesen. Auf meinen Einwand, dass die Experimentalanordnung die Theorie ja voraussetze und ihr gemäss aufgebaut werde, antworteten Sie, das sei eben das Problem, zwar nicht den Wissenschaften bewusst, jedoch das Grundlegendste.
Es gibt planmässige und zufällige Entdeckungen
In vielen Fällen ergibt sich tatsächlich ein Zirkel: Man sucht, was man finden will. Beispiele sind die Entdeckung des Planeten Pluto (1930) auf Grund der Berechnung von Bahnstörungen des 8. Planeten Neptun, oder der Nachweis, dass auch nicht-radioaktive Elemente mehrere Isotope haben - daher die Bruchzahlen der Atomgewichte - durch Sir J. J. Thomson mit dem Massenspektrographen (1913).
Zufällige Entdeckungen gibt es auch, z. B. die Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) oder der Radioaktivität durch Becquerel (1896). hier wie in andern Fällen kommt entweder dem Zufall einer bestimmten Anordnung von Gegenständen (Zinkblende-Platte bei Röntgen, Photoplatten in einer Schublade bei Becquerel) tragende Bedeutung zu oder dann die vielleicht ebenso zufällige Beachtung, die der bisher unberücksichtigte Nebeneffekt eines Experiments durch einen Forscher findet. Drittens kann man einfach basteln und pröbeln und dann abwarten, was herauskommt.
Die heutige Wissenschaft: Machtstreben und Maschinendenken
Dagegen ist nichts einzuwenden. Was Sie aber bis aufs Blut reizt, ist die Ausrichtung der heutigen Forschung aufs Geldverdienen. Schon die Studenten studieren Physik und vor allem Chemie, um später reich zu werden. Das Ziel der Naturwissenschaft ist heute nicht mehr Erkenntnis, sondern durch technische Anwendung erreichte Macht. Das ist heute das Mass für Erfolg. Nicht die experimentelle Sachprüfung.
In der Tat haben heute Naturwissenschaft und Technik die Welt erobert. Dabei stehen 95 % der Bevölkerung und auch der Studenten diesen Gebieten und der ihnen zugrundeliegenden Betrachtungsweise zumindest interesselos gegenüber. Doch das mechanistisch-deterministische Prinzip und die differentiell-kausale Betrachtungsweise beherrschen die gesamte Erde. Materialismus in Ost und West. Die Ansicht der Welt, der Lebewesen und der Atome als Maschinen. Die Meinung, man könne das Leben mit physikalisch-chemischen Gesetzmässigkeiten voll beschreiben und erfassen. So dass etwa Denken und Fühlen nur Produkte biochemischer und -elektrischer Vorgänge wären.
Schuld sind das Christentum und die Renaissance
Die Wurzeln dieser Betrachtungsweise liegen im Christentum. Sie schrieben vor sechs Jahren, die Wiege der Technik und des wissenschaftlichen Experiments scheine in der Renaissance-Zeit in der Toskana gestanden zu haben und die Gründe und Voraussetzungen dafür lägen im biblisch-christlichen Glauben.
"Das Christentum gab dem Denken diejenige Freiheit, die für eine wissenschaftliche Tätigkeit erforderlich ist. Nämlich eine Freiheit der Welt gegenüber, in der wir leben. Die Jenseitigkeit der christlichen Weltbetrachtung lässt den Menschen Zuschauer der Welt sein. Allerdings wollen wir ... betonen, dass er dabei Zuschauer eines Spieles ist, in dem er selbst mitspielt. Die Voraussetzung für die Subjekt-Objekt-Trennung ist durch das Christentum gegeben. Ganz im Gegensatz zur in sich geschlossenen antiken Welt ist die christliche Welt geöffnet."
So waren es auch Christen, die im 15. bis 17. Jahrhundert den Weg des wissenschaftlichen Experimentierens und der differentiell-kausalen Betrachtung weise beschritten.
Die alten Inter begründeten die moderne Mathematik
Wenig beachtet wird die Tatsache, dass die Mathematik, die als Grundlage der Naturwissenschaft der Neuzeit dient, ausgerechnet von den Indern stammt, erfanden diese doch die Null, die Ziffern und das Stellenwertsystem. Sachen, die weder den Ägyptern (trotz Feldvermessung, Kanal- und Pyramidenbau), den Babyloniern (ausser dem Stellensystem mit der Grundzahl 60) noch den Griechen und Römern bekannt waren.
Rechneten die Ägypter bereits mit Brüchen und Winkeln, so lösten die Babylonier bereits Gleichungen zweiten Grades, kannten den "Satz des Pythagoras" als allgemeine Gesetzmässigkeit, beobachteten den Lauf der Gestirne und Planeten systematisch, freilich unter astrologischen Vorzeichen (Tierkreis, Benennung von Sternbildern), und besassen eine verblüffend genaue Zeitmessung und -rechnung. Übrigens waren die Kenntnisse in angewandter Chemie (z. B. Metallurgie, chemische Analyse) beachtlich.
Die Hauptentwicklung der indischen Mathematik fand allerdings erst seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. statt. Die Inder konnten Wurzeln ziehen, negative Grössen und trigonometrische Aufgaben berechneten. Sogar Ansätze zur Differentialrechnung finden sich! Es waren dann die Araber, welche diese Kenntnisse dem christlichen Abendland übermittelten.
Mathematik, Astronomie und Mechanik der alten Griechen
Selbstverständlich haben auch die Griechen und Alexandriner u. a. in Mathematik (die Pythagoräer, Eudoxos, Menaichmos und Apollonios, Euklid und Archimedes) und Astronomie (Anaxagoras, der Heliozentriker Aristarch, Hipparch) Grosses geleistet. Sogar Ansätze zu Experimenten (die Akustik Pythagoras'; der Stechheber von Empedokles; die Statik, Hydrostatik und Mechanik von Archimedes; die Tierexperimente des Erasistratos) finden sich.
Warum diese "Forschungen" nicht weitergeführt, ausgebaut und praktisch angewendet wurden, ist ein Rätsel der Geschichtsforschung. Die Geistesverfassung und Sozialordnung der letzten zwei Jahrhunderte vor Christus und auch nachher sowie das Fehlen einer allgemein verbreiteten und verständlichen Symbolsprache mögen Schuld daran sein.
Erst 300 Jahre später, wohl gegen Ende des ersten Jahrhundert nach Christus führte Heron die Archimedische Mechanik und die angewandte Mathematik weiter. Mitte des 2. Jahrhunderts fasste Ptolemäus die bisherige Astronomie zusammen, zeichnete Erdkarten (die noch Kolumbus benützte) und experimentierte mit der Lichtbrechung. Auch der Mediziner Galen experimentierte. Im 3. Jahrhundert schliesslich begründete Diophantes die Algebra. Der "Physiologus", das Buch der wunderbaren Eigenschaften von Tieren, Pflanzen und Steinen, entstand zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert.
Danach folgt eine weitere Pause (während der, wie erwähnt, die Inder u. a. auch die Algebra entwickelten) von einem halben Jahrtausend.
Die grosse Bedeutung der Araber
Im Bereich des Islam wurden im 8. und 9. Jahrhundert die Schriften der griechischen Philosophie und Naturwissenschaft - nicht aber der Dichtung - zum Teil von syrischen Übersetzungen, zunehmend aber von Originalen ins Arabische übertragen. Viele Werke antiker Autoren sind uns überhaupt nur auf diesem Weg erhalten geblieben. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden sie dann schliesslich von Christen ins Lateinische übersetzt; oft übersetzte man auch die Urtexte; gleichzeitig entstanden die "Universitäten".
Nach 800 übernahm der Mathematiker Al Khwarizmi in Bagdad die indische Zahlenschreibweise mit dem Stellenwertsystem. Sein Buch heisst in lateinischer Übersetzung "Algoritmi de numeros indorum", wobei das erste Wort nichts anderes als den Namen dieses Arabers darstellt. Sein zweites Buch behandelt das "Einrichten von Gleichungen" („al dschebr Walmukala“; Algebra). Ein Kreis, die Null, wurde von den Arabern sifr (das Leere) genannt, davon kommen die Begriffe Ziffer und Zero.
Die Araber haben auf jedem Gebiet Bewundernswürdiges zustandegebracht. Hier sei nur an die alchemistischen Experimente Gebers (Jabirs, 8. Jh.), welche sich unter anderem mit dem "Stein der Weisen" befassten und nach dem Elixier (al iksir), das ewiges Leben verleihen sollte, suchten, an die ungemein präzisen astronomischen Berechnungen, die Musiktheorie und die optischen Experimente Alhazens (um 1000) erinnert.
Erst im 14. Jahrhundert wurde die „neue“ Mathematik akzeptiert
Die Rechnungsweise der Araber, also Algorithmus und Algebra, um 1100 von dem nur als Dichter bekannten Omar Khayyami zur Vollendung gebracht, machte erstmals 1202 Leonardo Fibonacci aus Pisa im "Liber abaci" den Christen bekannt. Freilich wurde noch ein Jahrhundert später in Florenz die Verwendung dieser "neuen" Zahlen verboten. Doch die fortschreitende Ausbildung von Geldwirtschaft, Handel und Seefahrt stellte bald Anforderungen, denen man nur mit der neuen Methode gerecht werden konnte. So wurde sie zuerst in Italien akzeptiert, was vielleicht mit ein Grund ist, dass sich die "Wiege der Technik" ebenfalls dort befindet.
Der Franzose Nikolaus von Oresme schrieb darauf als erster Abendländer im 14. Jahrhundert eine Abhandlung über Nationalökonomie, eine Theorie des Geldes. Ferner führte er in der Mathematik gebrochene Exponenten und in seiner "Abhandlung über die Breite der Formen" die Funktion und ihre graphische Darstellung ein. Resultat: Man kann die mathematische Betrachtungsweise auf die Naturerscheinungen anwenden und den Verlauf von Veränderungen an bestimmten Erscheinungen in einer Zeichnung (Koordinatensystem) darstellen. Das ist beinahe eine Vorahnung der von Descartes geschaffenen analytischen Geometrie. Im Gegensatz zu Roger Bacon focht er schliesslich einen Kampf gegen die Astrologie, den hundert Jahre später Giovanni Pico della Mirandola weiterführte.
13. Jahrhundert: Echt neu: das methodisch betriebene Experiment
Das methodisch betriebene Experiment ist ein echtes Novum und nur im Abendland, in Mitteleuropa entstanden. Der Franzose und Kreuzfahrer Petrus Peregrinus gab 1269 in seinem Brief "über den Magneten" die erste Beschreibung des Magnetismus sowie der Methode des Experimentierens.
Er forderte vom Naturforscher nicht nur allgemeine Kenntnisse, sondern auch Handfertigkeit und Fleiss, "damit er beim Umgehen mit diesem Stein (dem Magneten) in kurzer Zeit einen Irrtum korrigieren kann, welches er möglicherweise nicht könnte mittels seines Wissens über Natur und Mathematik, wenn ihm Sorgfalt im Gebrauch seiner Hände fehlte".
13. Jahrhundert: Der vielseitige Roger Bacon landete im Kerker
Sein Schüler Roger Bacon, der Doctor mirabilis des 13. Jahrhunderts, untersuchte zahlreiche optische Erscheinungen, konstruierte möglicherweise bereits Fernrohre, Mikroskope und Brillen und fand u. a. die Gesetze der Reflexion und Strahlenbrechung. "Erfahrung, Experiment und Mathematik sind ihm die drei Hauptsäulen der Wissenschaft. Er rief die Wissenschaft seiner Zeit von den Autoritäten zu den Sachen, von den Meinungen zu den Quellen, von der Dialektik zur Erfahrung, von den Büchern zur Natur", heisst es im "Philosophischen Wörterbuch" von Schmidt/ Schischkoff (18. Aufl. 1969, 49). "Doch spielen bei ihm auch mystische Gedankengänge und astrologische, alchimistische und magische Interessen (Suchen nach den Lebenselixier u. ä) eine Rolle, so dass seine Bedeutung als eines der Zeit vorauseilenden Denkers nicht überschätzt werden darf.“ Die letzten 15 Lebensjahre verbrachte er im Kerker des Franziskaner-Ordens.
War ein anderer Lehrer Roger Bacons, Robert Grosseteste, der erste, der sich in seiner Naturphilosophie bewusst auf Mathematik stützte, so war Bacon der erste, der die Bedeutung von Mathematik und Experiment für die Naturwissenschaft erkannte. Methode der Forschung ist das Experiment; es dient zum Auffinden der Gesetze, die dann, als Sätze über die Natur, mathematisch formuliert werden müssen.
Freilich war Bacons mathematisches Wissen nicht gross, und er erzielte weniger erstaunliche Resultate als dass er geradezu mit prophetischer Sehergabe ausgestattet war. Er erkannte die Bedeutung der Naturwissenschaft darin, dass sie die erkannten Gesetze zum allgemeinen Nutzen praktisch anzuwenden habe und spricht dabei von Flugzeugen, Automobilen, Dampfschiffen und Unterseebooten. Für die Herstellung von Schiesspulver gab er genaue Anweisungen.
Trotz alledem stellte er die Moralphilosophie über alle Wissenschaften. Diese eine Wissenschaft, die vom menschlichen Verhalten, von Tugend und Laster, von Glück und Unglück handelt, muss das gute und richtige Leben lenken. Wichtiger als die Naturwissenschaft, das Wissen von den Dingen und Gesetzen, ist die Erkenntnis von Gut und Böse und vom richtigen Leben! Das gilt noch siebenhundert Jahre später.
Chemische Entdeckungen dank Alchemie
Dass die Alchemie - seit dem 8. Jahrhundert von den Arabern stetig ausgebaut - die erste echte Experimentalwissenschaft ist, dürfte bekannt sein. Sie verfolgte die Prinzipien „probieren und herausfinden", und "die Natur selbst befragen".
Also stellte man "Versuche" an, beobachtete deren Verlauf und zeichnete die Ergebnisse auf. Zahlreiche Einzelentdeckungen wurden gemacht, man lernte immer mehr Stoffe kennen (z. B. vier niedere Metalle: Kupfer, Eisen, Blei, Zinn und die zwei Edelmetalle Silber und Gold). Mit der Verfeinerung der Apparaturen und der Verbesserung der gewerblichen Herstellungsprozesse - teils aus asiatischen Ländern eingeführt - gelangte das ausgehende christliche Mittelalter zu beachtlichen Ergebnissen. Im 12. Jahrhundert kennt man bereits die Destillation von Alkohol, und im 13. Jahrhundert die erwähnte Herstellung von Schiesspulver sowie von Ölfarben; die Herstellung des schon den alten Ägyptern bekannten Glases erreichte in Venedig eine hohe Vollendung. Porzellan wurde wohl aus China bezogen.
13. Jahrhundert: Tiere und Pflanzen, Medizin und Entdeckungsreisen
Der massgeblichste Förderer der Philosophie und Wissenschaften im 13. Jahrhundert, der Hohenstaufenkaiser Friedrich II., bekannt durch seine "Kunst des Jagens mit Vögeln", hielt sich einen Zoo und veranlasste Züchtungsversuche mit verschiedenen Tierarten, erliess auf der Grundlage der Beobachtung der Paarungs- und Aufzuchtperioden Jagdgesetze und liess auch Vogelflug und Vogelzüge beobachten.
Sein Zeitgenosse, der Doctor universalis Albertus Magnus, räumte mit den Vorstellungen, welche der "Physiologus" über 1000 Jahre bestimmt hatte, auf, indem er sich auf Erfahrung, nüchtere Beobachtung und präzise Beschreibung („experimentum solum certificat") stützte. In seinen bahnbrechenden Werken über die Tiere und Pflanzen gelangte er deshalb weit über Aristoteles und Theophast hinaus. Er "fasste den Kosmos als krafterfüllte Gestalten-Gesamtheit auf und entwickelte bereits eine Lehre von der realen Ganzheit. Erkenntnis kommt nach Albert nur durch das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Denken zustande; denn die Vernunft ist auf die Sinne zurückbezogen und ist von ihnen bzw. ihrer ganzheitlichen Zusammenarbeit nicht trennbar" (Schmidt/ Schischkoff, 18. Aufl. 1969, 11).
Das 13. Jahrhundert bedeutet unzweifelhaft einen Meilenstein in der Geschichte der Wissenschaften (Mathematik, Physik, Alchemie, Biologie), der Medizin (Chirurgie, Gesundheitsregeln, Anatomie), der Entdeckungsreisen und Kartographie (portolani), der Übersetzungen und Enzyklopädien, der Jurisprudenz (Magna charta, Sachsenspiegel, Accorso) sowie der Philosophie (Thomas von Aquin; Duns Scotus, welch letzterer erstmals Glauben und Wissen - "hic et nunc" - trennte).
14. Jahrhundert: Befreiung der Wissenschaft aus dem Glauben
Das 14. Jahrhundert brachte nicht nur die Pest, sondern auch den Humanismus (Dante, Petrarca, Boccaccio, Salutati), die iuristischen Kommentatoren (Bartolus, Baldus und Giovanni de Legnano, welch letzterer erstmals den Krieg unter rechtlichen Gesichtspunkten betrachtete) und schliesslich den Sieg des Nominalismus über den mittelalterlichen Universalienrealismus. Nach Wilhelm von Occam (1290-1349), der die Suppositionstheorie in die Logik einführte und den Primat der Induktion gegenüber der Deduktion hervorhob, sind die Einzeldinge das einzig Wirkliche und damit Erlebnis des Subjekts, die Universalien hingegen sind nur Namen (nomina) oder gar Zeichen (Begriffe des Geistes; fictum oder abstractum) für die Dinge. Glaubenswahrheiten sind nicht nur übervernünftig, sondern widervernünftig ("credo quia absurdum").
Damit wurden Philosophie und weltliche Wissenschaften aus der Botmässigkeit des Glaubens befreit und daher zur weiteren Entwicklung fähig.
"Wilhelms Schule legte den Grund zur modernen Mechanik und Astronomie; sie muss nach den Forschungen von Pierre Duhem als der Ausgangspunkt der modernen Dynamik (Trägheitsgesetz, Kraftbegriff, Fallgesetz), der Himmelsmechanik, des Kopernikanismus und der Koordinatengeometrie bezeichnet werden" (Schmidt/ Schischkoff, 18. Aufl. 1969, 661f).
Mit einem Wort, der Sieg der nominalistischen Betrachtungsweise, d. h. die Befreiung der Wissenschaft von der Theologie ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entstehung der modernen Wissenschaft.
15. Jahrhundert: Folgenschwere Wiederentdeckung Platons
Ein weiteres bedeutendes Ereignis ist hundert Jahre später – neben der Erfindung des Buchdrucks - die Wiederentdeckung Platons und die Neubelebung des platonischen Denkens. Obwohl Platon "Heide" wie Aristoteles war, gelangte man zur Überzeugung, dass sich von ihm und Plotin her besser ein neues Weltbild aufbauen liesse, das die christliche Religion aufheben und die Kultur im Hellenismus verankern könne. 1459 stiftete Cosimo de Medici in Florenz die Platonische Akademie, deren Haupt Marsilio Ficino war, an der auch griechische Gelehrte wirkten und die 1521 wieder geschlossen wurde. Forschungsthemata waren nun nicht mehr Gott und die Seele, sondern das Individuum (Mikrokosmos) und der Kosmos.
Vor allem Nikolaus Cusanus (1401-1464) hatte dieses Fenster zur Welt aufgestossen, indem er ihre räumlich-zeitliche Unendlichkeit spürte und sich mit Vorliebe mathematischer Denk- und Ausdrucksweisen bediente, besonders um die Probleme des unendlich Grossen und Kleinen zu bewältigen "Die einzig sichere Wissenschaft ist die Mathematik", befand er. In seiner Schrift "De ludo globi" (Über die Umdrehung der Erde, 1464) vertrat er schon vor Kopernikus die Ansicht von der Kugelgestalt der Erde und ihrer Achserdrehung sowie "dass die Erde nicht in Ruhe sein kann, sondern wie andere Sterne bewegt wird".
Leuchtendes Symbol der Renaissance ist jedoch Leonardo da Vinci (1452-1519), der uneheliche Sohn eines toskanischen Bauernmädchens, der am Hofe des Ludovico Sforza in Mailand lebte, Kriegsingenieur für Cesare Borgia (Florenz) war, zwei Jahre am päpstlichen Hof verbrachte und schliesslich von Franz I. von Frankreich unter die Fittiche genommen wurde. Sein Werk ist unerschöpflich, man denke an die anatomischen Zeichnungen, die Beschäftigung mit Physiologie und Geologie, seine Bauten, Werkzeuge und Maschinen, seine Gemälde, Skulpturen und Tierfabeln.
Für unsere Betrachtung ist das Wichtigste die Verbindung von philosophischer und wissenschaftlicher Wahrheitssuche mit Handwerk und Technik. Als Grundlage sah er das Experiment an ("Das Experiment irrt nie, sondern es irren nur eure Urteile"). Obwohl die Natur mit der Ursache beginnt und mit dem Experiment endet, meinte er, muss die Wissenschaft vom Experiment ausgehen und "dann mit der Ursache ... zeigen, weshalb selbiges Experiment gezwungen ist, in solcher Weise zu wirken". Von diesen Ursachen gelangt man zu Naturgesetzen ("Die Natur bricht ihre Gesetze nicht"), welche nur mathematisch zu fassen sind. Die Mathematik gibt die höchste Gewissheit.
Leonardo gelangte so zu wichtigen grundsätzlichen Erkenntnissen über die Proportionen, die Gravitation, die gleichmässige Beschleunigung bei der Fallbewegung, das Prinzip der kleinsten Wirkung und die Unmöglichkeit eines perpetuum mobile. Es findet sich bei ihm sogar der Satz: "Die Sonne bewegt sich nicht."
Auch Kopernikus war vielseitig und stand noch im Banne Platons
Die astronomische Beobachtungstätigkeit wurde unterdessen von den Deutschen Peurbach, Johannes Müller (Regiomontanus) und Bernhard Walther in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder aufgenommen. Darauf konnte sich Kopernikus (1473-1543) stützen. Bei der Durchforschung der "Schriften aller Philosophen, derer ich habhaft werden konnte", fand er bei Cicero und Plutarch Hinweise, dass bereits einige Denker - wie wir wissen Aristarch und Apollonius - des Altertums "eine Bewegung der Erde angenommen" hatten. In seinem Todesjahr erschien sein epochemachendes Hauptwerk "De revolutionibus orbium coelestium“, freilich in purgierter Form der abschliessenden Drucklegung durch den lutherischen Geistlichen Osiander. Beachtung verdient die Tatsache, dass die Hauptgedanken bereits zu Lebzeiten Leonardos vorlagen; man nennt gerne die Jahreszahl 1507.
Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet war Kopernikus' System keine Revolution, die schuf erst hundert Jahre später Kepler mit seiner "Neuen Astronomie" (1609). Weshalb? Zwar durchbrach Kopernikus die Vorstellungen der Aristotelischen Naturphilosophie, die noch in der Scholastik so machtvoll gewirkt hatten, doch vertrat er noch die platonische Auffassung von den mit konstanten Geschwindigkeiten durchlaufenen Kreisbahnen als den Idealformen der Bewegung der Planeten. Es triumphierte also noch eine Idealmathematik über die im Sonnenschein gegebene und wahrnehmbare physikalische Aussenwelt.
Kopernikus dürfte überdies schon in seiner Studentenzeit in Krakau, dessen Universität unter dem starken Einfluss der Florentiner Akademie und damit des Platonismus stand, von heliozentrischen Systemen gehört haben. Ficino hatte nämlich einem Freund des Onkels von Kopernikus einen Sonnenhymnus (1489) übersandt, in welchem der Sonnenkult der byzantinischen Neuplatoniker wiederaufgenommen wurde. Darin sitzt Helios (die Sonne) auf dem Weltenthron, und ihm allein kommt die Ruhe als höchste Qualität zu.
Immerhin wurde damit die biblische Forderung von der zentralen Stellung der Erde zu Fall gebracht. Was das für die Kirche bedeutete, musste Kopernikus' Anhänger Giordano Bruno erfahren. Er wurde 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Nicht zuletzt weil er philosophische Konsequenzen aus dem heliozentrischen Ansatz zog: Es gibt unendlich viele mögliche belebte Welten; weshalb sollte gerade nur die auf Erden gelehrte, durch Christus vermittelte Religion die wahre und einzige sein? Eine Frage, die sich auch im Gefolge der Entdeckungsreisen stellte, waren doch die Konquistadoren auf ganz andere Religionen (z. B. den blutigen Sonnenopferkult in "Amerika") und Kulturen (Ost-Indien, Sibirien, China, Japan, Philippinen, Südsee) gestossen.
Überdies steht bei Kopernikus die Sonne exzentrisch; auch die Planetenbahnen sind exzentrisch, und der Mond bewegt sich auf einem Epizykel sogar in entgegengesetzten Richtungen, weshalb man sagen kann, Kopernikus sei noch ptolemäischer als Ptolemäus selbst gewesen.
Daneben, als Kuriosität sei es erwähnt, setzte er sich wie Nikolaus von Oresme und später Newton für die Revision des Münzwesens sowie für einen gerechten Brotpreis ein und verfasste, da er auch Medizin studiert hatte, in der Tradition der Schule von Salerno (seit dem 9. Jh.) "Gesundheitsregeln", freilich mit astrologischem Einschlag. Das ist gar nicht so abwegig, wandte sich doch sein Schüler Joachim Rhetikus der Medizin und "Metalltherapie" des Paracelsus (1493-1541) und sein Studiengenosse Girolamo Fracastoro ebenfalls der Medizin zu (letzterer gilt als Begründer der Infektionstheorie und des Namens "Syphilis"). Im Todesjahr Kopernikus erschien übrigens auch das erste Werk der neuen Medizin, Vesals "De Humani Corporis Fabrica".
Kurz, Kopernikus' System steckt voller Archaismen und Unklarheiten und bietet bestensfalls eine quantitative Vereinfachung des alten Systems; auch die Beobachtungsgrundlagen waren unkritisch übernommen und unvollkommen. Erst Tycho Brahe (1546-1601) schuf präzise in über zwanzigjähriger geduldiger und sorgfältiger Arbeit. Freilich liess er in seinem Weltsystem die Planeten um die Sonne, diese jedoch um die Erde laufen.
Erst Johannes Kepler fand die drei richtigen Gesetze der Planetenbewegungen (1609-1619) und gelangte bereits zur Annahme einer Art universeller Gravitation.
Wurde Galilei zu Recht verurteilt?
1610 schliesslich machte Galileo Galilei mit seinem Fernrohr bisher ungeahnte Entdeckungen. Paradoxerweise sah er aber die Planetenbahnen immer noch als Kreisbahnen an und begriff Kepler nicht; zudem wurde er für die kopernikanische Auffassung von der Unbeweglichkeit der Sonne im Weltzentrum vor die Inquisition geladen, obwohl das Kopernikus ja gar nicht gelehrt hatte. Dass er wegen der zweiten Behauptung, die Erde drehe sich um die eigene Achse, verurteilt wurde, ist ebenso unverständlich, hatten doch schon vorher Johann Fabricius und der Jesuit Christoph Scheiner die Sonnenflecken entdeckt und aus ihrer Bewegung zumindest auf die Eigenrotation der Sonne schliessen müssen. Nochmals paradox ist, dass die Inquisition mit der Bewegung der Sonne im Recht war, wissen wir doch, dass das ganze Sonnensystem mit etwa 30 km/sec durch das Weltall rast.
2. Hälfte 16. Jahrhundert: die eigentliche Naturwissenschaft beginnt
Legen wir einen strengen Massstab an, dann müssen wir feststellen, dass nach dem ersten breiten Aufschwung im 13. und 14. Jahrhundert erst 200 Jahre später - nach einer vorwiegend künstlerisch und literarisch, alchemistisch und naturmedizinisch orientierten Epoche -, also kurz vor dem Beginn des 17. Jahrhunderts die eigentliche Naturwissenschaft beginnt.
Neben dem Mathematiker Gerolamo Cardano (†1576), dem Kartographen Gerhard Mercator (†1594) und Tycho Brahe sind hier vor allem Franciscus Vieta, dessen "Einführung in die analytische Kunst" 1591 erschien, zu nennen, ferner der erste medizinische Experimentator Sanctorius von Padua (Stoffwechsel) und der Ingenieur Simon Stevin, der 1586 experimentell die Aristotelische Auffassung widerlegte, Körper fielen entsprechend ihrem Gewicht mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Er entdeckte das Parallelogramm der Kräfte (bereits Aristoteles bekannt), zahlreiche statische Gesetze und das hydrostatische Paradoxon. Schliesslich erschien 1600 die Schrift von Wilhelm Gilbert "über den Magneten", worin er die Erde selbst als Magneten sowie zahlreiche elektrische Erscheinungen als etwas dem Magnetismus Verwandtes beschrieb.
Galileo Galilei glaubt an die Mechanik und die Vernunft
Darauf, sowie auf Versuche und Forschungen des 14. Jahrhunderts, vorab von Jean Buridan (Kraft- und Trägheitstheorie), Albert von Sachsen und Nikolaus von Oresme, konnte sich schliesslich Galileo Galilei (1564-1642) stützen, um seine Wissenschaft von der Bewegung, die "Dynamik" zu begründen. Er war weniger Theoretiker und Systematiker als ein Mann der angewandten Mathematik, der "praktischen Geometrie" wie er sagte. Seine Hauptleistung besteht in der Verbindung von Induktion aus dem Experiment und Deduktion aus der Mathematik. Wie Kepler ist er der Ansicht, das Buch der Natur sei in mathematischen Zeichen geschrieben und der menschliche Geist sei am besten zum Auffassen quantitativer Verhältnisse geeignet. Er sucht nicht mehr wie das Mittelalter nach dem Warum, nach dem höheren Zweck in oder hinter allen Dingen der göttlichen Schöpfung, sondern nach dem Wie und Wieviel, auch nicht mehr, wie noch Giordano Bruno, nach der Graden der Teilhabe am ewigen Geist und Leben., also nach Stufen der Vollkommenheit und damit einer Rangordnung.
Galilei ist, wenn man so will, der erste Rationalist, der glaubte, die Welt auf rein mechanistische Weise, mit Hilfe von Mathematik und geometrischen Figuren, also mit Mechanik und Vernunft begreifen zu können.
Weitere führende Köpfe des 17. Jahrhunderts
Seither ist das Weltbild der Naturwissenschaft so uniform. Die führenden Köpfe seien hier nur aufgezählt:
Es war nicht das Christentum ...
Der langen Aufzählung kurzer Sinn: Die Thesen vom Christentum als Wegbereiter der Subjekt-Objekt-Spaltung sowie davon, dass die Wiege des Experiments in der Toscana gestanden habe, sind zumindest revisionsbedürftig.
1. waren es die islamischen Araber, welche einerseits die (von Indien stammenden) mathematischen Grundlagen, anderseits das heidnisch-griechische Erbe dem Abendland des 13. Jahrhundert zur Verfügung gestellt hatten und drittens nicht nur universaler Gelehrsamkeit huldigten, sondern äusserst genaue astronomische Beobachtungen sowie optische und alchemistische Experimente, botanische (v. a. für die Heilkunde), geographische und geologische Forschungen durchführten und die wissenschaftlicher Medizin (Hygiene, Chirurgie, usw.) auf einem staunenswerten Leistungsstand hielten.
2. hat die Renaissance kaum etwas zum Fortschritt der Wissenschaft, von Mathematik und Experiment beigetragen, vielmehr fanden die entscheidenden Schritte entweder vor 1380 oder nach 1580 statt - dies trotz so illustren Namen wie Leonardo, Kopernikus, Paracelsus und Vesalius, Machiavelli, Erasmus und Morus, der Reformatoren und Seefahrer.
3. war es gerade die Gegenbewegung
zur klerikalen Theorie der Hochscholastik, welche den Grund legte für eine
neue Betrachtung der Welt, des Menschen, seiner Stellung in ihr und seiner
Erkenntnisse.
4. war es wie gesagt, das
griechische Erbe, das durch die arabische und byzantinische (Originalschriften
und Neuplatonismus) Bewahrung und Überlieferung dem mittleren Europa zugänglich
gemacht wurde.
5. Kurzum, die Forscher, denen die Begründung der neuzeitlichen Naturwissenschaft zugeschrieben wird, wandten sich nicht gegen die Antike, sondern "nur gegen bestimmte Vertreter antiker Anschauungen und gegen die allmählich dogmatisch erstarrte, angeblich aristotelische Lehre der Spätscholastik ... Man brach also nicht mit der Antike, sondern mit dem Mittelalter" (Fritz Krafft, I, 1971, 25) und knüpfte bewusst an die Antike an, wobei auch Platon und Aristoteles, obzwar auf der einen Seite gewiss bindend für den Gang der antiken Wissenschaft, durchaus positive Einflüsse ausübten, wäre doch das Kopernikanische System nicht ohne die Platonischen Ideen und die Naturwissenschaft überhaupt nicht ohne die aristotelische Logik und Aufteilung des Seins in Kategorien möglich gewesen.
Literatur
Heinrich Schmidt, Georgi Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 11. Aufl. 1951, 18. Aufl. 1969. Fritz Krafft: Geschichte der Naturwissenschaft I. Die Begründung einer Wissenschaft von der Natur durch die Griechen. rombach hochschul paperback, Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau 1971.
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