Vorgeschichte und Frühgeschichte der Bauhütten
Anhang 7
Zum Bauhüttenbuch von Villard de Honnecourt (1235) und den praktischen Anleitungen der Gotik
Literatur zu Villard siehe: Literatur: Modell: einzelne Sachgebiete
Das Buch in seiner Gesamtheit stellt eine Sammlung vorbildlicher, allgemeingültiger Typen malerischer, plastischer, konstruktiver oder mathematisch-geometrischer Provenienz dar, wie sie der gotische Architekt für die Gestaltung plastischer, malerischer oder architektonischer Werke immer zur Hand haben musste.
Es handelt sich nicht um ein Kompendium ikonographischer oder konstruktiver Einzelfälle zur einmaligen Verwendung und ist nicht nur ein persönliches Album, Skizzenbuch oder Promemoria, das sich Villard anlegte, als er um 1235 nach Ungarn ging, sondern ein Merk- und Arbeitsbuch, das aus der Tradition einer pikardischen Bauhütte heraus entstanden ist und von zwei nachfolgenden Baumeistern der gleichen Hütte benutzt und ergänzt wurde. Für den Bereich des gotischen Kirchenbaus und dessen künstlerischer Ausgestaltung besitzt es durchaus den Charakter einer echt mittelalterlichen "Summa scientiae et artis", ist Kompendium alles Wissens und Könnens einer Bauhütte. Den Ausmassen nach vom Rang einer Enzyklopädie, kam ihm auf seinem Gebiet eine ähnliche Bedeutung zu wie den großen Bilderbibeln und -chroniken im Rahmen der mittelalterlichen Buchmalerei und den umfassenden Summae und Specula innerhalb der Scholastik des 13. Jahrhunderts. Es ist - obwohl als einziges seiner Gattung überliefert - nicht als Einzelfall zu betrachten, sondern wir müssen annehmen, dass solche persönlichen Lehrbücher der Hüttenmeister üblich und gebräuchlich waren.
Villards Bauhüttenbuch enthält eine ganze Sammlung von Schnittmustern für Bogenprofile von der Art, wie sie Gervasius in seinem Baubericht von Canterbury erwähnt. Solche zum Gebrauch wohl aus Holz gefertigten Schablonen in Originalgröße dienten dem Steinmetzen als unmittelbare Vorlagen, die auf den entsprechenden Werkstein gelegt, nachgezogen, und nach deren Form dieser dann behauen wurde. Die Kölner Dombauhütte verwendet heute noch solche originalgroßen Schablonen aus Metallblech.
Zwischen dem Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt und Roriczers Fialenbuch liegen 250 Jahre, aus denen uns keine ähnlichen Schriften erhalten sind; möglicherweise sind ähnliche Manuskripte verlorengegangen, vielleicht wurden solche Regeln auch nur mündlich von Meister zu Geselle weitergegeben, sicher ist jedoch, dass Bauregeln bestanden und nach ihnen gearbeitet wurde, denn alle Verfasser berufen sich auf Traditionen und auf die Baukunst der Alten. Ein Verbot einer schriftlichen Fixierung aufgrund der Hüttenordnungen bestand nicht. Man kann allgemein feststellen, dass nicht nur diese Manuskripte selten überliefert sind, sondern dass auch nur mehr oder weniger zufällig erhaltenes Planmaterial der einzelnen Bauhütten der Gotik erhalten ist, das weder quantitativ noch qualitativ einen repräsentativen Querschnitt über das ehemals vorhandene Material der Bauhütten gibt.
(Lucie Hagendorf und Elke Weber in Günther Binding, Norbert Nussbaum: Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, S. 2, 17 u. 23.)
Dr. phil. Roland Müller,
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